Das Phänomen der Farben – Goethes Farbenlehre vs. Newton’sche Optik

Vorlesungsreihe:

Das lebende Buch der Natur, Teil I
Tiefenökologie und Neue Naturphilosophie

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 1999
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 20

Transkript als PDF:


* * * * * * *

Ich will heute sprechen über einen der faszinierendsten und interessantesten und auch für unsere heutige Situation aufschlussreichsten Konflikte der Geistesgeschichte, auch der Geschichte der Naturwissenschaft, nämlich den Konflikt zwischen Goethe, jetzt nicht als Dichter, sondern Goethe als Naturforscher, der er auch war, als Naturphilosoph ‒ und Newton. Genauer gesagt geht es um den Gegensatz zwischen der Goetheschen Farbenlehre, seinem Versuch, die Farben und das Licht auf eine ganz andere Weise als Newton zu bestimmen und fruchtbar zu machen für ein grundsätzlich anderes Naturverständnis und eben der Newtonschen Optik. Der Streit ist berühmt. Es gibt eine riesige Fülle von Literatur zu diesem Streit. Goethe und Newton, nur ganz kurz geschichtlich, waren keine Zeitgenossen, Newton ist 1727 gestorben, Goethe erst 1749 geboren, also anders als bei Leibniz und Newton, wo es ja um Zeitgenossen ging, handelt es sich hier um einen Streit, den Goethe gegen Newton und die Newtoninaer quasi posthum führt.

Man muss wissen, dass, als Goethe den Streit anfing, in das Thema einstieg, das kann man genau sagen, wann das war, das war 1790, hatte das Ansehen, das Renommee Newtons ein kaum unüberbietbares Maß erreicht. Newton war die von kaum Jemandem noch ernsthaft angefochtene Autorität in Sachen Naturwissenschaft. Er war ein Halbgott in gewisser Weise der Physik, und es hat kaum einen mehr gekümmert oder beunruhigt, dass viele seiner Impulse, die er im späten 17. Jahrhundert gesetzt hatte, bereits im Laufe der Jahrzehnte verändert worden waren. Diese Physik, die dann als Newtonsche Physik bekannt wurde, ist gar nicht die Physik des eigentlichen Newton, sondern eine vielfältig abgewandelte Physik. Ich habe da im Wintersemester ja in einer Stunde auch darüber gesprochen, aber es soll jetzt um die Farben gehen, es geht um das Licht und die Farben.

Also der Ausgangspunkt ist sehr einfach zu nennen. Goethe hatte sich ein Prisma ausgeliehen und musste es zurückgeben und hat im letzten Moment, wie das häufig so ist, auch mit Büchern, die man ausgeliehen hat, im letzten Moment guckt man noch mal rein, ist ja doch interessant, also Goethe hat dann, kurz bevor er das zurückgab, mal eben da durchgeguckt. Er hatte gelesen, gehört, dass, wenn man durch ein Prisma guckt, dann zeigt sich das bekannte Regenbogen-Spektrum, und er machte das, hielt das Prisma gegen eine helle Wand und sah nichts. Er sah weiterhin die weiße Wand und stellte dann nach einiger Zeit der Bewegung des Prisma fest, dass Farben nur an den Rändern entstehen und keineswegs generell. Das hat ihn irritiert und war für ihn eine Art Initialzündung und seitdem datiert sein Verdacht, Newton irrt. Irgendetwas an dieser Newtonschen Lehre, die er bis dahin kaum beachtet hatte, stimmt nicht.

Ich gehe gleich nochmal darauf ein, was Newton zentral überhaupt behauptet hatte, weil das in der Literatur über dieses Thema fast unkenntlich geworden ist. Denn es wird in vielen Darstellungen dieses Thema ungefähr folgendermaßen präsentiert, mal ganz verkürzt: Da ist der exakte Naturwissenschaftler und Mathematiker, der in seiner Optik gezeigt hat, etwa, wie Licht gebrochen wird, die Brechungsgesetze, Brechungswinkel errechnet. Er hat bestimmte Hypothesen aufgestellt, die tausend, hunderttausendfach, millionenfach verifiziert werden konnten, nicht, das berühmte Experiment, man verdunkele den Raum, lasse Licht durch eine kleine Öffnung, gebe dahinter ein Prisma, in einiger Entfernung dann ein Schirm, und dann wird man das berühmte Gespenst, wie es dann Goethe nannte, dort sehen können, nicht. Und es ging also um die Frage Licht und Farben. Goethe war primär …, ach so, ich will das noch vorher sagen, wie das meistens dargestellt wird. Also diese exakte Naturwissenschaftler, unzählige Male verifiziert, auf der einen Seite. Und der Dichter, der Augen- und Sinnen-Mensch, der einfach nicht einsehen will, dass man die Natur auch auf diese analytisch-experimentelle Weise betrachten kann.

Im 19. Jahrhundert war es gang und gäbe in der herkömmlichen Naturwissenschaft, Goethe zu verspotten. Berühmt eine Aussage des Rektors dieser Universität du Bois-Reymond, 50 Jahre nach Goethes Tod, der meinte, Goethe sei ein bedeutender Mann und großer Dichter, gar keine Frage, aber was die Farbenlehre betrifft, so habe er sich auf eine geradezu peinliche Weise verrannt. Die Farbenlehre sei ein tot geborenes Kind, ein schlichter Irrtum. Goethe sei einem schlichten physikalischen Irrtum aufgesessen. Schon mal vorab ganz plakativ gesagt.

Goethe hatte ja die Behauptung aufgestellt, das Licht, das Regenbogen-Spektrum ist nicht in dem weißen, strahlenden Tageslicht enthalten, sondern das Regenbogen-Spektrum, Farbe überhaupt entsteht erst im Wechselspiel zweier Entitäten, zweier Wesenheiten im Sinne Goethes, nämlich Licht und Finsternis. Also Farbe entsteht im Wechselspiel, in der Wechselwirkung zweier elementarer, urtümlicher, urphänomenaler Entitäten, nämlich Licht und Finsternis.

Nun hat man häufig dann auch gesagt, na ja, Goethe ist eben als Augen-Mensch von den Phänomenen ausgegangen. Jeder weiß, wer den Abendhimmel betrachtet, der kann feststellen, dass das Blau, wenn es sich abdunkelt, zunehmend in ein sehr dunkles Blau-Violett übergeht und an einer bestimmten Grenze dann ins quasi Schwarze hinein geht. Man kann diese Grenze nicht genau angeben. Irgendwann ist das dunkle Violett zum Schwarz geworden. Nicht, wie man umgekehrt sagen kann, also dass Gelb, wie das Goethe auch gesagt hat, dem Licht, dem Weißen, am nächsten steht. Also phänomenologisch relativ einfach. Goethe meinte einfach Gelb steht dem Licht näher, blau und violett stehen der Finsternis näher, die anderen nehmen eine mittlere Position ein.

Wenn das so wäre, wenn das diese einfache Gegenüberstellung wäre, wäre das Thema einfach ein großes Missverständnis von Goethes Seite. Das ist auch verschiedentlich so gesagt worden. Man könnte ja sagen, Goethe hat einfach einen vollkommen anderen Ansatz gehabt, der muss dem Newtons überhaupt nicht widersprechen. Man kann die Dinge so betrachten, wie das Newton getan hat, wie ich das kurz skizziert habe, und man kann die Dinge so betrachten, wie es Goethe getan hat, einfach von den Phänomenen aus. Das muss sich gar nicht widersprechen.

Nun ist aber Goethe, und das ist ja beunruhigend und ja auch wichtig, im Goethe-Jahr noch einmal zu erwähnen, an keiner anderen Stelle in seiner langen und großartigen Biographie so vehement, leidenschaftlich, polemisch, ja böse geworden. [Er bezeichnete] Newton als Schwätzer, als Scharlatan. Also er hat eine ganze Kaskade von abwertenden Formulierungen verwendet, was ganz untypisch ist für Goethe, weil er sich normalerweise in solche scharfen Auseinandersetzungen gar nicht einmischte und die versuchte zu mildern. In dem Punkt wollte er nichts mildern. Er wollte bewusst Dinge ganz scharf herausmeißeln. Er sah sich als Jemand der, der Einzige, ja der Erste überhaupt, der verstanden hat, was Farben sind, eben Phänomene der Natur, die im Wechselspiel von Licht und Finsternis entstehen, wohlbemerkt im Sinne einer Polarität von Licht und Finsternis, dass Licht und Finsternis eigene Entitäten sind. Das ist wichtig. Goethe war durch und durch Licht-Metaphysiker.

Es gibt viele Ausdrucksformen der Licht-Metaphysik. Eine davon hat Goethe favorisiert, er hat immer wieder betont das Licht ist quasi das Göttliche. Er hat das nicht unbedingt gleichgesetzt, obwohl es bei ihm auch Formulierungen gibt, aus denen man schließen kann, dass er mehr oder weniger sagt, das Licht, das wir wahrnehmen, ist in gewisser Weise auch das metaphysische, das göttliche Licht. Sie kennen ja vielleicht die Quelle dieser Überlegungen, das geht ja bis auf Echnaton zurück, findet sich dann im Neuplatonismus bei Plotin, Ammonius Saccas und anderen. Also die Vorstellung, dass das Licht letztlich, dass hinter dem physisch-sinnlichen Licht quasi ein anderes, ein metaphysisches, ein göttliches Licht steht, sozusagen das physisch-sinnliche Licht als eine abgeleitete, sekundäre Form der primodialen Form des ewigen göttlichen Lichtes. Und Goethe argwöhnte, dass Newton dieses reine, quasi sakrale, quasi göttliche Licht zerspaltet. Nur mal ein Beispiel für seine rüde Polemik, auch in vielen seiner Gedichten, die übrigens eigenartigerweise dann sprachlich-poetisch zu den eher schwächeren Gedichten gehören.

Vielleicht können Sie noch ein bisschen einrücken, dass Sie dann auch alle sitzen können.

Zum Beispiel, ein Gedicht gegen die Newtonianer: „Absurder Pfaffe! Wärst du nicht / in Unnatur verschlämmet?“ Das hat er erfunden, das Wort, alles Schlamm bei dir geworden, verschlammt. Du bist also …, der Pfaffe, ist der Naturwissenschaftler, der Physiker. „[Du] Absurder Pfaffe! Wärst du nicht / in Unnatur verschlämmet, / wer hätte dir eigenes Augenlicht / Vom Ur-Licht abgedämmet? / Du Esel! willst zur Demut mich / Demütigsten ermahnen, / Höre doch den Narrenstolz und dich / und Pfäfferei iah-nen!“, also wie ein Esel I-A machen. ‒

Wenn man die Polemik Goethes sich anschaut, dann kommt man immer wieder auf diese Stelle, dass Goethe theologische Begriffe benutzt, um gegen Newton vorzugehen. Ein sehr schönes Buch zu diesem Thema stammt von dem Germanisten und einem, wohl einem der besten Goethe-Kenner und -Forscher, Albrecht Schöne mit dem Titel „Goethes Farben-Theologie“. Die Grundthese dieses Buches, was ich sehr empfehlen kann, kleines Buch eigentlich, der eigentliche Text ist kaum mehr als 200 Seiten, dann kommen Quellen und Zitate, die Grundthese dieses Buches besteht darin zu sagen, diese Auseinandersetzung von Goethe und Newton war im Grunde eine theologische. Das ist insofern auch interessant, weil, wie vielleicht sich diejenigen sich erinnern, die im Winter dabei waren, als ich über Newton sprach, Newton immer der Auffassung war, Naturwissenschaft ist Gottesdienst, quasi Gottsuche, Dienst an der Erkenntnis um der Gottes-Suche willen. Newton war nie der Auffassung, dass man naturwissenschaftliche Theorien quasi heuristisch, vorläufig aufstellt, ohne die Frage nach Gott zu stellen. Nicht, die Frage der Gravitation zum Beispiel, die ihn jahrzehntelang beschäftigt hatte, ich habe darüber ja ausführlich gesprochen, hatte er dann dahingehend irgendwann beantwortet, für sich beantwortet, die Gravitation ist Gott. Letztlich manifestiert sich in der allgegenwärtigen Schwere der Wille Gottes oder das, was er von den antiken Philosophen [den Begriff übernehmend] als „Pneuma“ bezeichnet hatte. Das war quasi dann seine letzte, wenn man so will, theologische Lösung des Themas. Insofern ist es berechtigt, wenn man von einem auch theologischen Konflikt spricht.

Ich meine, Schöne, das muss man dazu sagen, wendet sich gegen Verflachung in dieser Auseinandersetzung, die es ja in jeder Weise gibt, auch übrigens bei Autoren, die sich eigentlich wohlwollend mit dem Thema beschäftigen, gibt es die Verflachung, die ungefähr folgendermaßen lautet, ob das Steiner ist oder Heisenberg und viele andere, in einem Punkt sind sich alle gleich. Sie sagen nämlich: Goethe redet von vollkommen anderen Dingen als Newton. Das heißt, wo die Physik endet, beginnt Goethe. Das hat Goethe nie so gesehen. Also wenn man, was ich in den letzten Tagen auch noch mal gemacht habe, die Farbenlehre studiert, dann stellt man immer wieder fest, das hätte Goethe nie akzeptiert. Goethe war wirklich der Auffassung, dass er physikalisch eine Lösung gefunden hatte für das Rätsel der Farben, und zwar durchaus im Sinne eines konkurrierenden Anspruchs gegen Newton. Er hätte das niemals akzeptiert, wenn man gesagt hätte, gut, du siehst die Dinge phänomenologisch, du siehst die Dinge so, wie die Phänomene erscheinen, du siehst sie quasi theologisch, von mir aus auch dichterisch, und Newton sieht sie physikalisch. Er sah seine Natur-Forschung als Physik, als Naturwissenschaft. Das ist wichtig.

Diese Fragen sind zentral wichtig, wenn ich das sagen darf, ich habe vor vielen Jahren, Mitte der 70er Jahre, kurz vor seinem Tode, mit Werner Heisenberg über diese Fragen gesprochen, der ja einer der derjenigen war, die diese Frage überhaupt wieder aktualisiert haben, von den eher traditionellen Naturwissenschaftlern. Er hat sich immer über Jahrzehnte hinweg brennend für Goethe interessiert, was viele gar nicht wissen, hat mehrere interessante Aufsätze zu Goethe geschrieben und hat immer betont, dass die Goethesche Naturbetrachtung für eine erweiterte, eine neue, eine andere, heute würden wir sagen: ganzheitliche, Naturwissenschaft, unverzichtbar ist, dass wir den Goethe brauchen.

Nicht dagegen hat er natürlich akzeptiert, den enormen Anspruch, den Goethe erhob. Und das muss man nochmal ganz scharf herausstellen. Goethe war wirklich der Auffassung, er hat ein Stück Wahrheit erschlossen, ihm ging es um Wahrheit. Und Goethe war, was diesen Punkt betraf, fern jeglicher Ironie und bar jeden Humors. Goethe hat überhaupt keinen Spaß verstanden, was diesen Punkt betrifft. Das kann man an einem Beispiel sehen, unter anderem an einem Beispiel sehen, das Eckermann berichtet. Eckermann wagt es einmal, der Adlatus und Mitschreiber der Gespräche, Eckermann wagt es an einer Stelle einmal, Goethe auf einen Fehler hinzuweisen. Später sah Goethe auch ein, dass war wirklich ein Fehler. Goethe ist außer sich, verbannt quasi Eckermann für eine Weile, er darf sich ein paar Tage nicht blicken lassen und beschimpft ihn als Ketzer und, typisches Argument, das in dem Zusammenhang immer kommt: Er hat nichts verstanden. Das ist das Grundmuster aller Diskurse, sage ich mal in dem Zusammenhang, er hat nichts verstanden. Später hat er dann kleinmütig, reuig eingeräumt, dass Eckermann tatsächlich Recht gehabt hat. Ich weiß nicht im Moment genau den Punkt, um den es da in diesem Falle ging. Auf jeden Fall, Goethe hat da keinen Humor gehabt. Das war für ihn eine Sache auf Leben und Tod, da er da keinen Spaß verstanden.

Und er selber hat sich ja, das muss man auch noch mal erwähnen, primär dann, seit den 90er Jahren im 18. Jahrhundert als Naturwissenschaftler verstanden, in zweiter Linie als Politiker und in dritter Linie überhaupt erst als Dichter. Er war Naturwissenschaftler, in seinem Verständnis, Politiker und dann in dritter Instanz Dichter. Er hat gesagt zu Eckermann, zum Beispiel: Auf das, was er als Dichter geleistet habe, bilde er sich überhaupt nichts ein. Es hat viele gute Autoren vor ihm gegeben, es gibt gute Dichter mit ihm, es wird auch nach ihm gute Dichter geben. Aber dass er in der Farbenlehre der Einzige überhaupt sei, der das Richtige, der das Wahre erkannt hätte, darauf bilde er sich dann doch etwas ein und habe ein Gefühl, so wörtlich, der Superiorität, der Überlegenheit seinen Zeitgenossen gegenüber.

Gut, das vorab. Ich will das jetzt mal in kurzer Form versuchen darzustellen, worum es eigentlich ging. Ich nehme mal eine kleine Passage aus der Newtonschen Optik, die schlaglichtartig das Problem beleuchtet. Das Zitat findet sich in einem recht interessanten, aufschlussreichen Buch mit dem Titel „Der Glanz von Kopenhagen – Geistige Perspektiven der modernen Physik“ von einem Physiker, Chemiker, Jos Verhulst, 1994 erschienen. Jos Verhulst vertritt die These, nur als Zentralthese dieses Buches jetzt mal herausgestellt, dass die Quantenphysik im Grunde genommen im Geiste Goethes geforscht hätte. Und er bringt auch den Zusammenhang Heisenberg − Goethe, Heisenberg als Goetheaner. Eine ziemlich weitgehende, kühne, man kann auch sagen, weit hergeholte These, aber es ist ein Stück Wahrheit da dran. Also, er zitiert hier eine Passage, eine Schlüsselpassage aus der Newtonschen Optik. Ich lese mal diese kurze Passage vor. Newton schreibt: „Das Licht der Sonne besteht aus Strahlen, die sich durch bestimmte Grade der Brechbarkeit unter-scheiden. Strahlen, die sich in der Brechbarkeit unterscheiden, unterscheiden sich, wenn sie getrennt werden, auch verhältnisgleich in den Farben, die sie zeigen. Diese beiden Aussagen sind Tatsachen.“ Nicht, er hatte diese berühmten, ja auch schon angedeuteten Versuche gemacht und festgestellt, Violett wird stärker gebrochen. Das ist einfach so, ist eine empirische .., ein empirisches Faktum, und [er] hatte daraus geschlossen, das, was da aufgefächert wird an Farben, im Grunde genommen in dem weißen Licht, in dem Tageslicht, enthalten ist.

Nun muss man dazu sagen, wie kommt Newton dazu, zu sagen, diese Beobachtungen sind Tatsachen, denn es sind ja blanke Spekulationen, Hypothesen. Denn Newton vermengt an der Stelle, wie sehr häufig bei naturwissenschaftlichen Argumentationen, das Faktum mit einer bestimmten Theorie und einer bestimmten Hypothese über das Faktum. Denn was hat er wirklich beobachtet? Er hat ja wirklich nur beobachtet, dass in einer bestimmten experimentellen Situation, eben bei einem Punkt, quasi punktförmig, bei einer quasi punktförmigen Öffnung, wenn man ein Prisma dazwischen legt, dann auf einem Schirm das Spektrum erscheint. Daraus hatte er geschlossen, Atomist, der er war, dass Licht, letztlich eine Art Teilchen, ein permanenter Hagel, ein Geschoss, ein Feuer von winzigsten kleinen Geschossen darstellt. Newton war Atomist, er glaubte, das Licht besteht aus winzigsten Korpuskeln, die quasi von der Sonne ständig abgefeuert werden. Es gab schon andere Theorien zu seiner Zeit, die Vorstellung, dass Licht eine transversale Wellenerscheinung ist, die hat er ganz scharf abgelehnt, gegeißelt als vollkommen unmöglich, unter anderem deswegen, weil man so, so meinte er, die geradlinige Ausbreitung des Lichtes gar nicht erklären kann. Das ist übrigens wirklich schwierig, zunächst einmal, wenn man sich damit nicht näher beschäftigt, zu erklären, wie aus einer transversalen Wellenschwingung überhaupt die Geradlinigkeit des Lichtes hervorgeht. Also er glaubte, das geht nicht. Er hielt es für physikalisch unmöglich. Er glaubte also, Licht ist ein Teilchenschauer. Permanent werden also von der Sonne winzigste Teilchen ausgestoßen. Und diese Teilchen haben verschiedene Brechungsindizes, eben Violett den stärksten Brechungsindex und Rot den am wenigsten starken.

Nun glaubte er, wenn wir die Farben auf diese Weise wahrnehmen, dann können wir eine Korrelation herstellen zwischen dem Brechungswinkel und der jeweiligen Farbe. Er hat also mit einer gewissen, sagen wir mal, Naivität etwas durcheinander gebracht an der Stelle. Das muss man ganz nüchtern sagen, auch wenn man Goethes Überzeugung gar nicht teilt. Newton hat hier nicht unterschieden, nicht streng unterschieden, zwischen der sinnlichen Qualität einer Farbe und dem in seinem Verständnis quasi materiellen Korrelat. Verstehen sie, das ist ja ein großer Unterschied. Also wenn man sagt: Was ist Farbe? Könnte man sagen, na gut, Farbe ist halt eine Wellenerscheinung, nicht, vier tausendstel Millimeter als Violett zum Beispiel oder sechs tausendstel Millimeter als rot. Das ist überhaupt keine Aussage. Es ist nur eine Aussage über das Korrelat, über das, was offenbar mit der Farbempfindung im menschlichen Auge zusammengeht. Das ist ja nicht die Farbe selbst. Das muss man erst mal unterscheiden, das hat Newton nicht unterschieden. Punkt eins. Das ist ein typischer Fehler, wenn man das so will, dessen, was dann später im 20. Jahrhunderts als Repräsentations-Paradigma auch kritisiert wurde. Nicht, der Physiker, überhaupt der Naturwissenschaftler, sieht sich als das quasi allwissende Subjekt und reflektiert gar nicht darüber, welche Bedingungen in seiner eigenen Subjektivität überhaupt die Wahrnehmung bestimmen. Denn wenn ich das so sage, von vier bis sechs, sieben tausendstel Millimeter, dann habe ich nur etwas gesagt, um es noch einmal zu betonen, über das Korrelat, nicht über die Farben selber. Denn innerhalb dieser Bandbreite ist ja ein Auge denkbar, das 70 oder 80 oder 100 Farben sieht, oder überhaupt nur eine Farbe oder drei oder vier oder fünf.

Allein die Anzahl der Regenbogenfarben ist ja so, wie man das kulturgeschichtlich interessant zeigen kann, gar nicht festgelegt. In Asien hat man über lange Jahre hinweg primär von fünf Farben gesprochen, nicht. Und Goethe übrigens spricht interessanterweise von sechs Farben. Newton spricht von sieben Farben. Es gibt andere Kulturen, die sprechen von drei Regenbogenfarben. Also, das ist schon erstmal ein grundsätzlicher Unterschied. Man muss unterscheiden zwischen der qualitas, die die Farbe bedeutet und dem, was die Farbe offenbar erst einmal auf der Ebene begleitet. Das hat Newton nicht getan.

Dann ist natürlich der nächste Punkt. Das Licht besteht aus Strahlen, die sich durch bestimmte Grade der Brechbarkeit unterscheiden. Er ging dann soweit zu sagen, ja, das weiße Licht enthält die farbigen Lichter. Goethe sagt: Warum? Warum soll das weiße Licht die farbigen Lichter enthalten? Da wird eine Auffächerung gemacht, und jetzt entstehen die Farben. Aber wo entstehen sie? Und da setzt er an. Er versucht zu zeigen, dass da ein zweiter [Vorgang], eine zweite Entität hinzukommen muss, nämlich die Finsternis.

Man muss vielleicht einen Moment in Erinnerung rufen, dass man Licht nicht sehen kann. Ich habe auch schon Physiker gesprochen, die, wenn sie das zum ersten Mal hören, denken, sie hören nicht richtig und dann anfangen, irgendwie unsinnig zu polemisieren und sagen, das kann nicht sein. Es ist aber tatsächlich so. Licht selber ist nicht sichtbar. Sie können das sich beliebig und ganz einfach mal verdeutlichen. Wenn sie hier eine sehr starke Lichtquelle haben und hier einen Schirm, der von hier nach dort geht, gleißend helles Licht, die ganze Scheibe, der Schirm ist gleißend hell. Sie haben aber eine Blickachse, die von hier geht [im rechten Winkel dazu], da sehen sie nichts, gar nichts, absolut nichts. Wenn sie also hier sozusagen das ausschalten, sie sehen nichts. [Betrifft also den Blick 90 Grad von der Seite auf den Weg des Lichtes] Und viele andere Überlegungen dieser Art kann man anstellen. Das ist nicht ernsthaft zu bezweifeln.

Es ist nur für den ersten Moment ein bisschen irritierend, weil man zunächst denkt, na ja, Licht ist das, was man sieht. Das ist nicht richtig. Man sieht Licht nicht. Was sie [sehen], wenn sie Lichtstrahlen sehen oder zu sehen glauben, dann sind das meistens das kleinste materielle Teilchen, etwa Staubteilchen, die reflektiert werden, die ihnen als Lichtstrahl erscheinen. Aber das Licht, den Lichtstrahl selber sehen sie nicht. Und das ist ein wesentlicher Punkt, den Goethe immer wieder betont in seiner Farbenlehre, dass ein Lichtstrahl eine Fiktion ist. Er sagt es wörtlich, an mehreren Stellen in der Farbenlehre.

Er bedient sich auch dieser Fiktion. Wenn Sie die Farbenlehre lesen, werden Sie feststellen, auch Goethe bedient sich der Fiktion der Lichtstrahlen, betont aber ausdrücklich, diese Strahlen gibt es eigentlich nicht. Sie sind nur ein Bild und ein Hilfsmittel. Ich gebe ihnen mal eine Stelle aus der Farbenlehre, wo das ganz schön deutlich wird, wo er auch ausdrücklich warnt davor, dass man diese Bilder, derer auch er sich bedient, für Wirklichkeit hält. „Ein freies physisches Phänomen, das nach allen Seiten wirkt, Licht, ist nicht in Linien zu fassen und im Durchschnitt anzudeuten. Niemand fällt es ein, chemische Versuche mit Figuren zu erläutern, bei den physischen Nahverwandten ist es jedoch herge-bracht, weil sich eins und das andere dadurch leisten lässt. Aber sehr oft stellen diese Figuren nur Begriffe dar. Es sind symbolische Hilfsmittel, hieroglyphische Überlieferungs-weisen, welche sich nach und nach an die Stelle des Phänomens, an die Stelle der Natur setzen und die wahre Erkenntnis hindern, anstatt sie zu befördern.“

Also wenn jetzt so getan wird, das sagt Goethe an mehreren Stellen der Farbenlehre, als ob diesem Bild eine objektiv existierende Wirklichkeit entspricht, dann geht man heillos in die Irre, wie er sowieso meinte, dass die Art der Versuchsanordnung, wie sie Newton vorstellt, im Grunde genommen künstlich ist. Nun ist da ein wesentlicher Unterschied. Die Naturwissenschaft der Neuzeit hätte das Verdikt des Künstlichen in diesem Sinne nie akzeptiert. Es ging ja immer um die Frage bei Newton zentral, bei Galilei und anderen, im Grunde bis heute, geht es immer um die Frage einer Wirklichkeit jenseits der Sinnen-wirklichkeit, die diese immer unzulängliche, vielfältig vermischte Wirklichkeit der Erscheinungswelt überschreitet. Man hat verschiedentlich gesagt, Goethe wollte die Phänomene, die Erscheinung, die bunte Vielfalt der Phänomene retten vor der Abstraktion der Physiker. Da ist eine Teilwahrheit dran. Bis zu einem gewissen Grade kann man das sagen.

Also die Physiker, wenn man das so nennen will, favorisierten seit Galilei eine Art transzendenten Realismus. Das eigentlich Reale, siehe Galilei, sind die mathematischen Formen, ganz platonisch gedacht, und die physisch-sinnliche Welt ist nur eine Annäherung daran und Farben, auch das ist ja bei Galilei und anderen dann, sind Phänomene rein subjektiv-physiologischer Art. Farben an sich, wird gesagt, existieren gar nicht. Auch dagegen hat Goethe scharf polemisiert. Er meint, Farben seien eine eigene Seinsqualität der Natur, also nicht einfach eine rein psychologisch-physiologisch zu erklärende Tatsache. Dann sagt Newton, Strahlen, die sich in der Brechbarkeit unterscheiden, unter-scheiden sich, wenn sie getrennt werden, auch verhältnisgleich in den Farben, die sie zeigen. Denken sie an das, was ich über die Korrelate gesagt habe. Also, nun könnte man sagen, das ist eher eine erkenntnistheoretische Kritik, die hier vorgenommen wird von Seiten Goethes, die bis zu einem gewissen Grade ja auch leicht verständlich ist. Nicht, man könnte mal sagen, nur Newton macht den Fehler, dass er einfach seine experimentelle Anordnung absolut setzt und gar nicht mehr hinterfragt, wie man heute sagen würde. Ich habe gerade hier noch ein schönes Zitat über diese Fiktion, auch der des Lichtstrahls bei Goethe, das zitiert ja der [Autor] Verhulst. „Man hüte sich aber, diese Fiktion wieder zum Phänomen zu machen und mit solchen fingierten Phänomenen weiterfort zu operieren.“ Und: „Zur Bequemlichkeit gewisser Lineardarstellungen nehme man das Sonnenlicht als parallel einfallend an, aber man wisse, dass dieses nur eine Fiktion ist, welche man sich gar wohl erlauben kann, da, wo der zwischen Fiktion und der wahren Erscheinung fallende Bruch unbedeutend ist.“

Nun es ist interessant, dass da Goethe in gewisser Weise sogar von der Quanten-physik her Recht hat. Es gibt nicht den quasi unendlich dünnen Lichtstrahl, es gibt nicht den rein monochromatischen Strahl, den rein einfarbigen Strahl, von dessen Existenz Newton absolut überzeugt war. Also in diesem Punkte hat sogar Goethe, das muss man ihm zugestehen, Recht gehabt. Er hat immer wieder betont, das geht nicht. Newton war der Auffassung, diese Lichtstrahlen sind quasi monochromatisch. Er hat es am Beispiel des Violett versucht zu zeigen. Schon Zeitgenossen hatten Einwände dagegen erhoben. Das geht gar nicht. Heute kann man bestimmte Beugungsphänomene niemals ausschalten. Insofern kann man keinen rein pur monochromatischen Lichtstrahl überhaupt herstellen.

Nun ins Zentrum jetzt der Grundauseinandersetzung. Also ich sage, es wäre zu schwach zu sagen, Goethe ist der Phänomenologe. Er ist der Augen- und Sinnen-Mensch und da ist der analytische Experimentator [Newton]. Auch Goethe war ein leidenschaft-licher Experimentator. Wer die Farbenlehre liest, der staunt, was Goethe sich für Experimente ausdenkt, um wirklich zu beweisen, dass er Recht hat. Er liebte Experimente. Er hatte überhaupt nichts gegen Experimente. Er hat nur immer wieder versucht zu sagen, dass ein grundsätzlicher Fehler darin besteht, dass man die Experimente vom Menschen ablöst, dass man sie rausnimmt aus der lebendigen Ganzheitlichkeit der Subjektivität von Menschen. Nicht, er meinte, dass der Mensch selber, in seinem In-der-Welt-Sein durch seine Sinnesorgane einen unmittelbaren Zugang zur Welt hat und dass er über Hilfsmittel, über technische Hilfsmittel nicht wirklich in das Innere der Natur gelangen kann, dass das zu einer Selbsttäuschung führt. Der Grundansatz von Goethe ist sicherlich auch ein phänomenologischer, aber es geht noch wesentlich weiter.

Ich will mal eine kurze Passage ihnen zeigen, die das verdeutlicht aus dem Vorwort zur „Farbenlehre“, wo Goethe das eigentlich auf eine sehr schöne Weise auf den Punkt bringt. Da heißt es hier, zunächst einmal wird gesagt, das kann ich paraphrasieren: Wer nach den Farben fragt, müsste auch nach dem Licht fragen. Goethe sagt, wir wissen nicht wirklich, was das Licht ist, aber wir können über die Beobachtung der Farben Rückschlüsse ziehen auf das Licht. Um das Licht ging es ihm in erster Instanz, auch das wird in den meisten Darstellungen zu dem Thema falsch dargestellt. Es geht Goethe in erster Linie um die Bewahrung der Reinheit, um die Absolutheit des einen unteilbaren Lichtes, erst sekun-där um die Farben. „Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten. Farben und Licht stehen zwar untereinander in dem genauesten Verhältnis, aber wir müssen uns beide als der ganzen Natur zugehörig denken, denn sie ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges besonders offenbaren will. Ebenso entdeckt sich die ganze Natur einem anderen Sinn. Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft, ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so dass ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann. So spricht die Natur hinabwärts zu anderen Sinnen, zu bekannten, verkannten, unbekannten Sinnen. So spricht sie mit sich selbst und zu uns durch tausend Erscheinungen. Dem Aufmerksamen ist sie nirgends tot, noch stumm.“

Goethe liebte den Begriff der Totalität, Totalität, Ganzheitlichkeit. Er benutzt meistens das Adjektiv „ganz“. Die ganze Natur spricht sich in jedem ihrer Phänomene aus, eben auch in der Farbe. Die Farbe sei die ganze Natur im Hinblick auf den Sinn des Auges, im Hinblick auf den Sinn des Auges. Der Schlüsselbegriff für Goethes Verständnis als Naturphilosoph, das muss ich jetzt sagen, weil das für seine Farbenlehre zentral ist, ist der des Urphänomens. Goethe hat diesen Begriff, soweit ich weiß, erfunden. Mag sein, dass er ihn irgendwo gelesen hat und dann in seinem Sinne verwendet. Auf jeden Fall, er verwendet ihn ganz bewusst im Gegensatz zur platonischen Idee. Nicht eine Idee ist es, aus der die Phänomene abgeleitet werden, sondern es gibt quasi ein urtümliches Phänomen, aus dem sich alle anderen Phänomene ableiten lassen, eben primär und in erster Linie das Licht und dann die Finsternis. Auch hier mal eine Passage aus dem Mittelteil der „Farbenlehre“ über diese sogenannten Urphänome. Denn für Goethe ist wichtig, dass diese Urphänomene nicht weiter hinterfragt werden können, ja sollen. Sie sollen so stehen bleiben, sie sind nicht weiter analysierbar. In diesem Sinne hielt er es für einen fatalen Irrtum zu meinen, die farbigen Lichter seien in dem einen weißen, quasi göttlichen Licht enthalten. Er sah das als einen Frevel, quasi gegen das Göttliche.

Goethe: „Das, was wir in der Erfahrung gewahr werden, sind meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen.“ Dem würde jeder Physiker sofort zustimmen. „Diese sub-ordinieren sich abermals unter wissenschaftliche Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse unerlässliche Bedingungen des Erscheinenden näher bekannt werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber“, jetzt kommt der Punkt, „die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen“ ‒ man muss immer sagen durch mathematische Hypothesen ‒ „dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene, dem Anschauen offenbaren.“

Er setzt also das Urphänomen an die Stelle der als mathematische Hypothese vorgestellten Naturgesetze, „die sie aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene, dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänome, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, dass man stufenweise, wie vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Urphäno-men ist dasjenige, das wir bisher dargestellt haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der anderen die Finsternis, das Dunkle. Wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mithilfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich gleichfalls in einem Gegensatz die Farben, deuten aber alsbald durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück.“

Also das Urphänomen ist das Letzterreichbare für die Naturforschung nach Goethe. „In diesem Sinne halten wir den in der Naturforschung begangenen Fehler für sehr groß, dass man ein abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle“ ‒ also diese farbigen Lichter das Gespenst in der Höhe, in der physikalischen Folterkammer, wie das Goethe öfters nannte ‒ „das Urphänomen an die niedere Stelle setzte, ja sogar das abgeleitete Phänomen wieder auf den Kopf stellte und an ihm das Zusammengesetzte für ein Einfaches, das Einfache für ein Zusammengesetztes gelten lässt, durch welches hinterzuvörderst die wunderlichsten Verwicklungen und Verwirrungen in die Naturlehre gekommen sind, an welchen sie noch leidet.“

Noch ein Abschnitt: „Wäre dann aber auch ein solches Urphänomen gefunden“ und Goethe glaubte, er hätte diese gefunden „so bleibt immer noch das Übel, dass man es nicht als ein solches anerkennen will, dass wir hinter ihm und über ihm noch etwas weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten.“ Ein Naturwissenschaftler wird natürlich sagen: Da wird eine Grenze errichtet, eine Barriere, die durch nichts gerechtfertigt ist. Hier wird sozusagen autoritativ gesagt: Hier dürfen wir nicht mehr forschen. Wir wollen aber weiter forschen. „Der Naturforscher lasse die Phänomene ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf, und er wird finden, dass ihm nicht in einzelnen Fällen allgemeine Rubriken, Meinungen und Hypothesen, sondern im Grund und Urphänomen ein würdiger Stoff zu weiterer Behandlung und Bearbeitung überliefert werde.“ Das ist zentral für die Goethesche Argumentation. Es gibt Urphänomene, die nicht weiter hinterfragt werden können, ja dürfen. In seiner, ich sage bewusst „dürfen“, in seiner Eigenschaft als Politiker, das erwähnt hier Albrecht Schöne in seinem Buch halb ironisch spöttisch, es ist ganz interessant, hat er tatsächlich versucht, Studenten einmal zum Vorlesungsboykott der physikalischen Vorlesungen aufzurufen. Das wusste ich gar nicht, das habe ich erst dort festgestellt. „Wenn euch die Herren Physiker in den Hörsälen wieder einmal das lutherische Gespenst vorführen, steht auf und geht raus.“ Also, ganz klare Geschichte.

Ich weiß nicht, wie diese, Goethe war ja auch Staatsminister in Sachsen-Weimar bekanntlich, ich weiß nicht, ob diese Aufforderung von Jemandem je befolgt worden ist. Auf jeden Fall: Er wollte auch das politisch wirklich durchsetzen. Also geht raus, steht auf, wenn der wieder seinen alten Schwachsinn erzählt, verlasst den Hörsaal.

So, nun, also was spricht eigentlich dafür, dass die Goethesche Grundüberzeugung überhaupt eine nennenswerte Konkurrenz oder Gegenthese darstellen kann? Das ist gar nicht so einfach zu erläutern. Was ist es überhaupt, was den entscheidenden Punkt ausmacht? Wir hatten zunächst ja nur festgestellt: Hier ist ein analytisch-experimentelles, konstruktives Verfahren mit immer weiteren Schlussfolgerungen. Man kann leicht sehen, dass Newton bei all seinen Verdiensten sich in entscheidenden Punkten geirrt hat. Nicht, also seine sehr enge Zuordnung, der Brechungsindex zu den Farben überspringt erkennt-nistheoretische Grundfragen und so weiter. Auch der Atomismus Newtons ist vielfältig angreifbar. Aber was macht es nun eigentlich aus? Dann könnte man sagen: Gut, Goethe favorisiert die ganze Natur. Heute würde man sagen, würde man das „holistisch“ nennen, oder „ganzheitlich“, sind ja fast Mode-Begriffe geworden. Deswegen ziehe ich den Begriff „integral“ in dem Zusammenhang vor.

Goethe favorisiert in gewisser Weise eine integrale Betrachtungsweise. Zentral wichtig für Goethe ist, und das betont er unermüdlich, ist die Einbeziehung des Menschen. Der Mensch ist nach Goethe ein integraler Teil jeder nur möglichen Naturbetrachtung und kann nie aus der Naturbetrachtung eliminiert werden. Nicht, das auf ganz andere Weise, kennt man ja auch von anderen Naturforschern, beispielsweise von Wilhelm Reich, der das immer wieder betont hat, dass der einzelne Mensch in seiner Subjektivität, in seiner gesamten Konstitution, als Forscher, auch mit dazu beiträgt, was als Ergebnis heraus-kommt. Das ist ja das Dogma, kann man sagen, die Grundannahme der neuzeitlichen Physik überhaupt, dass es überhaupt keine Rolle spielt, wer es macht. Da genau an diesem entscheidenden Punkt setzt Goethe an: Dieses anonyme „man“, diese auch totale Austauschbarkeit ist nicht gewährleistet und damit in der Tat geht er an die Substanz der neuzeitlichen abstrakten Naturwissenschaft, wie das Heisenberg mit einigem Recht genannt hat.

Das muss man wissen, dass Naturwissenschaft der Neuzeit seit Galilei immer in diesem Sinne abstrakte Naturwissenschaft ist. Es geht immer um das quasi platonische Skelett der Erscheinung. Es geht nicht um die bunte Fülle der Erscheinungen. Das ist was ganz anderes. Kann man in seiner privaten, in seiner Freizeit betreiben, kann man die bunten Farben lieben und sich an den Blumen erfreuen oder einen Sonnenuntergang schön finden. Das ist etwas anderes.

Ein weiterer wichtiger Punkt bei Goethe, den er unermüdlich betont, der auch sehr interessant und aufschlussreich ist, dass alles Faktische, so wörtlich Goethe, schon Theorie ist, alles Faktische ist bereits Theorie. Wörtlich Goethe, und dann: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen. Sie selbst sind die Lehre.“ Das ist ein entscheidender Punkt. Der ist auch erkenntnistheoretisch schwindelerregend. Die Phänomene sind bereits die Theorie. Das kommt in gewisser Weise schon zutage, wenn man das mit dem Urphänomen richtig durchdenkt. Nicht, wenn das stimmt, was Goethe meint, dass das Urphänomen oder die Urphänomene, in diesem Fall Licht und Finsternis, tatsächlich wirklich Urphänomen sind, dahinter ist nichts, was ich mehr erforschen ließe, dann müsste es so sein, dann sagt Goethe eben: Das Himmelsblau ist bereits die Theorie dieser Farbe blau.

Das gebe ich Ihnen mal quasi als kleine, wenn Sie das gestatten, als Denkaufgabe auch nebenbei fürs nächste Mal [mit]: Warum ist der Himmel blau? Warum ist der Himmel blau, und warum ist die Morgen- und Abendröte rot? Versuchen sie mal eine Antwort darauf zu finden, die in irgendeiner Form Plausibilität hat. Ich will Sie nicht daraufhin befragen. Das wäre irgendwie müßig und irgendwie auch dann nicht im Sinne unserer Veranstaltung hier. Aber nur mal, weil wir … und ich mach es einfach mal aus Zeitgründen und um Ihnen einen Anstoß zu geben: Denken Sie mal darüber nach: Warum gibt es Himmelsbläue? Nicht, Kinderfrage: Mama oder Papa ‒ warum ist es eigentlich blau da oben? Die meisten Erwachsenen, fast, fast alle, können es nicht beantworten, wissen nichts dazu zu sagen. Können Sie [es]? Ach ja, das ist so. Haben sie irgendwas von Physik gehört. Dispersion und Refraktion. Es gibt verschiedene Überlegungen, und dann aber es wird nicht wirklich beantwortet. Also warum ist der Himmel blau, und warum gibt es das Abendrot? Und warum gibt es das Morgenrot? Goethe gibt darauf bestimmte Antworten und leitet weitreichende Schlussfolgerungen daraus ab. Wichtig ist, dass er immer in Verbindung mit dem Menschen auch die Wirkung der Farbe einbezieht. Das nennt er die sinnlich-sittliche Wirkung, beispielsweise jetzt noch mal Blau und Rot. Er sagt mit Recht, da gibt es wunderbare, ja auch selbst für Kritiker kaum zu bezweifelnde Aussagen über die Wirkungsweise von Farben, etwa von Blau und Rot, jeder weiß das, dass Räume, die rein blau sind, immer größer wirken.Nicht, Blau, hat eine eigenartige Eigenschaft, sich auszudehnen. Es flieht gleichsam den Betrachter. Sie können das ja am Horizont auch beobachten. Die Berge etwa ganz am Horizont sind blau.

Auch wenn man, wie ich das jahrelang auch immer gemacht habe, Aquarell gemalt hat, muss man das immer berücksichtigen. Da muss man das Blau malen, den Horizont, also es wird blau. Die Ferne ist blau, und gleichzeitig ist damit eine gewisse Kälte verbunden. Die blaue Farbe scheint zu fliehen, und sie ist vergleichsweise kalt, während die rote Farbe immer etwas Anspringendes, etwas Zupackendes hat. Nicht umsonst hat man natürlich das Rot in politischen Zusammenhängen, zuvörderst natürlich bei den Kommunisten, und dann von den Kommunisten haben es die Nazis übernommen, auf andere Weise, auch den Effekt weiß, schwarz, rot. Diese Dreiheit, bewusst als etwas Plakatives, was in die Seele greift. Also das Rot hat etwas sich-Näherndes. Es kommt quasi auf den Betrachter zu. Es nähert sich, während das Blau sich entfernt, eine quasi … , eine Saugwirkung auch auslöst.

Goethe hat sich mit diesen Fragen sehr intensiv beschäftigt, und man muss sogar sagen, dass dieser Aspekt der Farbenlehre bei Goethe zwar zentral wichtig ist, aber nicht konsequent durchgehalten wird. Also Goethe lässt dem, sagen wir mal, oberflächlichen Leser eine gewisse Lücke, eine Nische. Er lässt ihm nämlich folgende Überlegung: Weil er nicht konsequent und ständig in seiner Farbenlehre genau diesen Punkt betont, dass er immer die Wirkung auf den Menschen, das Sinnlich-Sittliche mitbedenkt, kann man das auch ablösen, das ist auch zum Teil geschehen, und daraus eine letztlich auch subjekt-freie Farbenlehre machen. Nicht, der berühmte Farbenkreis, den Goethe ja auch mitkreiert hat, die Komplementärfarbe und all das andere, hat man ja später auch in der Sinnes- und Farben-Physiologie und -Psychologie verifiziert. Man musste zugeben, Goethe hat viele Dinge vollkommen richtig gesehen, gar keine Frage, er hat wirklich als Erster Dinge gesehen, auch die sogenannten physiologischen Farben, die vorher nur als Sinnestäuschung galten, also wenn man etwa einen Augapfel kräftiger drückt, dass man dort Farben sieht, das hat er dargestellt, aber da gibt es eine gewisse Schwachstelle bei ihm. Er hat das nicht konsequent durchgehalten, und so konnte man dann den eigentlichen Punkt auch leicht wieder verdekken. Der eigentliche Punkt eben, der darin besteht, dass das Auge des Betrachters ein integraler Bestandteil ist. Denn Farbe gibt es nicht für sich und an sich. Ohne ein Auge, was die Farbe sieht und als solche wahrnimmt, ist sie nicht da. Auch die Farben als solche sind nicht existent. Man kann es sogar kulturgeschichtlich nachweisen. Ich habe das ja mal vor Jahren auch hier genannt, dass man, wie das Goethe übrigens als Erster herausbekommen hat, und andere haben das dann verifiziert, etwa Arthur Zajonc und andere, dass die Antike kein Blau kennt. Nicht, wer da in Griechenland ist und die blendende Fülle des Blau wahrnimmt, der kann es kaum fassen, dass die Griechen in ihrer großen Dichtung, Philosophie, die Farbe Blau gar nicht kennen. Sie haben ein Wort dafür, was so viel wie dunkel heißt, nicht, also es ist klar, keine eigene Farbqualität. Also auch da spielen natürlich auch vielfältige kulturhistorische Phänomene einfach hinein und die Frage ist sehr berechtigt: Was ist zum Beispiel Ultraviolett für eine Farbe?

Bodo Hamprecht, ein Physiker und Anthroposoph, der sich mit der Frage seit Jahrzehnten beschäftigt, stellt die zum Beispiel in einer seiner Arbeiten über die Farbenlehre. Wir haben darüber oft gesprochen, ich glaube sogar, er hat diesen Punkt aus unseren Gesprächen. Ich habe nämlich immer gefragt, und ja, was [ist das] eigentlich? Man könnte Ultraviolett oder Infrarot ja auch als Farbe bezeichnen. Was wäre das für eine Farbe? Haben wir ein Kriterium so sagen, was ist das für eine Farbe? Nein, haben wir gar nicht. Der menschliche Wahrnehmungsapparat versagt vollkommen. Wir können uns das nicht vorstellen.

Und doch ist es möglich. Man könnte sich ja ohne weiteres ein Auge vorstellen, was in diesem berühmten optischen Fenster, wo da eine gewisse Verlagerung vorgenommen wird, was man ja auch in anderer Form von Tierwahrnehmungen dann sagt. Warum soll man nicht dann das Ultraviolett als Farbe sehen und etwa Rot dann nicht mehr als Farbe oder umgekehrt? Das sind also Qualitäten, die ganz tief gehen. Das ist also nicht quantisierbar, warum genau dieser Ausschnitt vollzogen wird und kein anderer, ist letztlich ein Mysterium, es könnte auch ganz anders sein. Wenn wir von einem Moment auf den anderen dieses Regenbogenfenster verändern würden, würden wir schlagartig eine vollkommen andere Welt wahrnehmen. Nicht, das ist gar keine Frage.

Also, der Punkt ist, dass Goethe, ich muss zum Schluss kommen, es ist schade, weil man den Bogen natürlich weiter spannen muss, sie müssen das bitte entschuldigen. Ich mache das nächste Mal noch weiter. Ich bräuchte im Grunde jetzt noch mal eine Dreiviertelstunde, um das wirklich auszuführen. Also ganz verkürzt noch mal gesagt für heute als Resümee: Goethe als Licht-Metaphysiker, für den das Licht etwas Sakrales, Heiliges, quasi Göttliches ist, besteht darauf, dass sich von der urphänomenalen Qualität des Lichtes aus die Erscheinungen ableiten lassen und von der Qualität der Finsternis. Und da möchte ich dann auch noch beim nächsten Mal einiges sagen zu der Frage des nicht sichtbaren Lichtes, auch Materie, das wissen wir ja, ist nicht sichtbar. Es ist ja ein Phänomen, über das die wenigsten Menschen nachdenken, dass die dunkle Materie und das dunkle Licht im Zusammenwirken plötzlich die farbige Welt ergeben. Wenn sie hier also einen Gegenstand reinhalten, wird der erleuchtet, wenn er weg ist, ist das nicht da. Was ist hier? Gibt es hier etwas als eine pure Potentialität? Da ist eigentlich gar nichts, wie das sehr extrem hier der Verhulst sagt, ich finde auch nicht ganz hundertprozentig haltbar. Aber man kann erst mal so sagen, ich kann von einem Lichtstrahl nicht sprechen. Ich kann nur von einer Möglichkeit sprechen, die sich erst aktualisiert, wenn ich einen Gegenstand da in diesen Lichtstrahl hineinhalte. Und diese Licht-Metaphysik, die Lehre von den Urphänomenen ist also ein radikales Gegenbild zu einer analytisch-experimentellen, primär abstrakten Vorgehensweise, also ein radikaler Gegensatz. Hier wird das Licht zerkleinert, zerlegt, verdingt. Auf der einen Seite bleibt es in seiner Würde und Quasi-Göttlichkeit bestehen. (…)

* * * * * * *