Der Leib, der Raum und die Gefühle – Hermann Schmitz

Vorlesungsreihe:

Das lebende Buch der Natur, Teil III
In-der-Welt-Sein, Im-Leib-Sein. Zur Philosophie und Phänomenologie des Leibes

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2000 Dozent: Jochen Kirchhoff

Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 36

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Ich habe dieses Semester ja gewidmet einem zentral wichtigen Thema: der Frage des menschlichen Leibes. Das soll ja in allen Vorlesungen eine wichtige Rolle spielen. Und heute im Speziellen will ich Ihnen einen Denker präsentieren, ich will sozusagen zurücktreten quasi. Natürlich kann ich das nicht vollständig. Ich muss da auch kommentierend als eigener Philosoph auch zu einem anderen Philosophen [auftreten]. Ich will Ihnen einen Denker vorstellen, der für diese Thematik wahrscheinlich heute der wichtigste ist, nämlich Hermann Schmitz.

Ich will ganz kurz einige Bemerkungen zu diesem Philosophen machen, wie ich zu ihm komme und was der mit dieser Thematik zu tun hat. Ich selber habe vor relativ Kurzem den Namen noch nicht einmal gekannt. Ich hatte immer mal wieder gehört, gelesen in verschiedenen Kontexten, es gäbe einen sogenannten Leib-Philosophen Hermann Schmitz, der sei Professor für Philosophie in Kiel. Immer mal wieder hat man Zitate irgendwo gefunden, die schienen mir fast durchgängig sehr interessant zu sein. Ich bin dann zum ersten Mal vor drei Jahren, also ‘97, über ein Buch eingehender auf Schmitz aufmerksam geworden, also relativ spät, Schmitz ist Jahrgang 1922, mittlerweile ist er 78, also sehr spät. Vor drei Jahren bin ich durch ein Buch aufmerksam geworden auf Schmitz, was auch im Literaturverzeichnis ist, Günter Schulte, ein Philosoph und Bildhauer, sehr interessanter Mann aus Köln. Günter Schulte, auch relativ unbekannt, aber ein sehr interessanter, pointierter Denker. Günter Schulte hat ein Buch geschrieben, das heißt, [er hat] viele Bücher geschrieben, aber ein Buch war mir in die Hände gefallen, hatte mir jemand geschenkt: „Die Philosophie der letzten Dinge“, bezogen auf einen Buchtitel von Otto Weininger mit dem Untertitel „Liebe und Tod als Grund und Abgrund des Denkens“. Generalthese: Alles Denken dreht sich bewusst oder unbewusst um die Frage: Was ist der Tod? Und was ist die Liebe? Auch, so weist Günther Schulte nach, bei Denkern, die das gar nicht im engeren und direkten Sinne thematisieren. Und in diesem Buch wird an mehreren Stellen, an mehreren prominenten Stellen Hermann Schmitz erwähnt, die Leib-Philosophie von Hermann Schmitz erwähnt. Da gibt es einen brillanten Essay, der beschäftigt sich mit dem eher makaberen Thema einer Ganzkörper-Transplantation und den schauerlichen und erkenntnistheoretisch äußerst verzwickten, um nicht zu sagen abgründigen, ja monströsen Konsequenzen, die ein derartiger Gedanke hat. Da taucht Hermann Schmitz auf. Und dann bin ich bei einem, später im Winter 98/99, bei einem anthroposophischen Physiker, Martin Basfeld, auch wieder auf Schmitz gestoßen. Also einem Anthroposophen, der sich sehr wohlwollend, kritisch, aber doch mit viel Respekt, viel Anerkennung, zu Hermann Schmitz äußert, und dann war ich im letzten Sommer, also ‘99, in dem dickleibigen Buch von Peter Sloterdijk „Sphären II – Globen“ auch noch mal zum dritten Mal auf Hermann Schmitz gestoßen. Sloterdijk verehrt Schmitz sehr. Er ist auch stark beeinflusst von ihm, obwohl er relativ selten direkt genannt wird im Buch.

Kurzum, es waren drei Bezüge, die mich dann irgendwann dazu veranlasst haben, mir mal einige Bücher von Schmitz zu besorgen und mich da rein zu vertiefen. Nun, das war ein spannendes Unterfangen und das ist es auch heute noch, denn diese Bemühungen sind keineswegs abgeschlossen. Ich habe festgestellt, dass dieser Hermann Schmitz wirklich ein faszinierender Denker ist, der wie kaum ein Anderer, die Frage des menschlichen Leibes, darüber haben wir ja schon in den drei vorherigen Vorlesungen gesprochen, versucht hat, sehr subtil, sehr differenziert, sehr tiefgründig und vieldimensional anzugehen. Also nicht die Frage des Körpers, also des menschlichen Körpers, sondern die Frage des Leibes. Ich hab das ja schon mehrfach anklingen lassen. Also, und das will ich Ihnen versuchen darzustellen. Ich habe dann natürlich versucht, das Umfeld von Schmitz ein bisschen zu erkunden. Woher kommt er? Wovon ist er beeinflusst? Man versucht ja immer heraus­zubekommen, wovon sind Denker beeinflusst? Was sind prägende andere Denker, die ihn in irgendeiner Form direkt oder indirekt geprägt haben?

Er selber nennt einen Denker, den er sich wie keinem anderen verwandt fühlt und als dessen Erbe er sich selbst begreift. Und das ist Ludwig Klages. Ludwig Klages, ein umstrittener, von manchen ja als faschistoid verdächtigter Denker, 1872 bis 1956 sind seine Lebenszeiten, sind seine Lebensdaten, hat ein riesiges philosophisches Werk hinter­lassen. Sein wichtigstes und voluminösestes Buch trägt den Titel „Der Geist als Wider­sacher der Seele“, einen provokativen Titel, in dem eigentlich schon die ganze Grundthese des Buches enthalten ist, 1929/1930 erschienen. Grundthese ganz vereinfacht: Der Geist ist der Widersacher der Seele. Es gibt einen, quasi einen transzendenten Dämon, den Geist, verstanden als abstrakten Intellekt, der den lebendigen Fluss stört, unterbricht, ja zerstört, der also als Widersacher von lebendigen Prozessen auftritt. Und Klages hat in einem anderthalbtausend Seiten Opus, eben dem „Geist als Widersacher der Seele“, faszinierend plausibel gemacht oder zu machen versucht, dass die Ur-Wahrnehmung des menschlichen In-der-Welt-Seins sich in Bildern vollzieht. Er hat also versucht, die Vorstellung des Bildhaften in der Weltwahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken. Die Wahrnehmung der Welt vollzieht sich in Bildern, in Atmosphären. Bei ihm taucht der Begriff dann in einer Weise auf, wie wir ihm dann auch bei Hermann Schmitz begegnen, in Atmosphären. Er hat also ein Element rausgegriffen, das in der üblichen Philosophiegeschichte ja eher unter­belichtet war ‒ Atmosphären ‒ das Herausspüren von ganzheitlich verstandenen Zusam­menhängen der Weltwahrnehmung und der Wahrnehmung anderer Menschen, von Tieren und Pflanzen war ja eher in der traditionellen Philosophie ein Feld, was dem Subjektiven zugewiesen wurde. Das habe ich ja Ihnen in der letzten Stunde versucht zu erläutern im Zusammenhang mit der Frage der Genesis, der Entstehungsgeschichte des sogenannten mentalen Selbst.

Nicht, also das Fühlen wurde zwar anerkannt als eine Wirklichkeit des Seins, aber hatte keine, gewissermaßen keine eigene ontologische Wirklichkeit. Denn was ist Fühlen? Was ist Trauer? Was ist Freude? Was ist Zorn? Was sind Stimmungen? Eine Abend­stimmung, eine Morgenstimmung, eine niedergedrückte Stimmung, eine gewittrige Stim­mung? Was sind das alles für Atmosphären, die den Einzelnen ja ganzheitlich-integral ergreifen und vollkommen durchwalten und durchstimmen? Und das hatte ja in der Antike vor der Herausbildung des mentalen Selbst dazu geführt, dass der Mensch sich, das habe ich ja erläutert, immer im Blickfeld numinoser Mächte sah. Er war immer der Angeblickte, der Mensch immer als der Angeblickte, von allen Seiten des Kosmos Durchstrahlte und Durchwaltete, während sein eigenes Ich, was ganz zaghaft, zart, rudimentär im Entstehen war, im 6., 5., 4. Jahrhundert vor Christus, ganz allmählich erst diese ontologische Kehrtwendung vollzog vom Angeblickt-werden zum Selber-blicken. Und damit war eine fundamentale Kehre eingeleitet in der Betrachtung.

Der Mensch ist nun der selber Blickende, und man kann hier, wie das ja auch Heidegger und Andere getan haben, einen Akt der Selbstermächtigung erblicken. Wie immer man das jetzt bewertet im Einzelnen. Das kann man ja erst einmal phänome­nologisch betrachten. Der Mensch ergreift quasi die eigene Ichhaftigkeit, er [er]greift die eigene Subjektivität, er löst sich von diesem numinosen Angeblickt-werden, Durchwaltet- und Durchstrahltwerden und blickt nun selber. Er ist selber der Blickende und damit verobjektiviert er die Welt. Damit wird die Welt verobjektiviert, sie wird vergegen­ständlicht. Die Welt wird zum Außen. Das ist wichtig. Die Welt war vorher in einem ganzheitlichen Sinne ein schwer definierbares Ineinander von außen und innen. Außen [und] innen war nie scharf getrennt. Der Mensch hat nicht eine sogenannte objektive Außenwelt scharf getrennt von einer so genannten rein subjektiven Innenwelt. Das ist ja die moderne Universaltrennung, die erst einmal Jeden von uns mehr oder weniger direkt oder intensiv bestimmt. Es gibt eine objektiv existierende Außenwelt, und es gibt eine Innenwelt, die mehr oder weniger in den vielfältigen subjektiven Innenräumen der je Einzelnen besteht, die aber immer eine gewisse Unverbindlichkeit haben, zumal dann, wenn Gefühle ins Spiel kommen. Und das ist die Ausgangsposition. Davon geht Schmitz aus. Er bezieht sich da auch auf Heidegger, ganz stark, ich sagte das schon, auf Klages und Andere. Und er sieht, wie das Nietzsche als erster erfasst hatte, dass mit Sokrates und Platon ungefähr eine Kehre einsetzt in der Geistesgeschichte. Und das zeigt er in einem wunderbaren Essay, den ich jetzt hier an den Anfang stellen möchte, wie sich der Prozess vollzog, den ich mit ganz anderer Sprache bezeichne, eben als diese Kehre vom Angeblickt-werden, also aus dem kosmischen Ganzen ständig Durchwaltetwerden, zum Selber-blicken. In einem brillanten Essay mit dem schlichten Titel, dem sehr abstrakt theoretisch wirken­den Titel „Leib und Seele in der abendländischen Philosophie“ versucht er zu zeigen, was sich damals abgespielt hat. Und ich will das mal Ihnen darstellen, weil es auch viele Zusammenhänge aufweist mit meinem eigenen Denken.

Vielleicht noch eine Bemerkung zuvor. Warum ich von Schmitz fasziniert war, war nicht nur, oder bin, war nicht nur der Versuch, den Leib zu denken. Ja, sehr schwierig, darüber haben wir schon gesprochen. Der Leib ist ja nicht der Körper, den Leib wirklich zu denken, ihn auf prägnante oder in prägnante Begriffe zu fassen, was wirklich im innerleib­lichen Spüren und im atmosphärischen Spüren passiert, das war das Eine. Und dann hatte mich fasziniert beim Schmitz, dass er wie wenige Andere versuchte, den Raum zu denken. Das ist ein Thema, was mich seit Jahrzehnten beschäftigt. Darüber habe ich viel geschrie­ben und auch viel gesprochen in der Öffentlichkeit. Was ist der Raum? Ein Mysterium im Grunde. Es gibt keine wissenschaftlich ausdifferenzierte, wirklich fundierte Theorie des Raumes. Der Raum ist nach wie vor ein großes Mysterium. Und Schmitz wirft der her­kömmlichen Philosophie mit ihrem, wie er das nennt psychosomatischen Dualismus im Grunde vor, dass sie die Seele raumlos macht, dass sie der Seele eigentlich den ontolo­gischen Ort im Raum und als Raum streitig macht. Und er geht dann sogar so weit, auch das war ja schon angeklungen, den Seelenbegriff überhaupt erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Er sagte, er habe aufs Ganze seiner Wirkungen gerechnet eher Verwirrung gestiftet. Der Begriff der Seele oder wie er das nennt, die Innenwelthypothese, die ja jedem von uns geläufig ist, weil wir sind ja alle Erben dieser Innenwelthypothese, die ja synchron zu sehen ist zur Vergegenständlichung der Außenwelt.

In diesem wunderbaren Essay heißt es zum Beispiel über diese Frage „Leib und Seele in der abendländischen Philosophie“: „Die leiblichen Regungen, um das einfachste und vielleicht wichtigste Gegenbeispiel zu wählen“ ‒ also gegen diesen psychosomatischen Dualismus ‒ „passen nicht in dieses Verteilungsschema, hier der Körper, dort eine raum­lose, ortlose, unausgedehnte Seele. Hunger, Durst, Schmerz, Kitzel, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit und vielerlei Benanntes oder noch Namenloses dieser Art aus dem Gegenstands­gebiet des Spürens am eigenen Leibe ohne Vermittlung durch Sehen, Hören und Tasten, ist unverkennbar auf eigentümliche Weise räumlich ausgedehnt und kann schon deshalb nicht der als raumlose Innenwelt gemeinten Seele zugerechnet werden. Ebensowenig darf es als Bestandteil des Körpers, als körperlich im herkömmlichen Sinn gelten, da man sonst mittelbaren oder unmittelbaren Zugang durch Sehen und Tasten zu ihm verlangen müsste.“ Also diese Gefühle wie Hunger, Durst, Schmerz und so weiter, meint er und macht er auch plausibel, haben einen räumlichen Charakter. Sie sind nicht raumlos, sie sind nicht ortlos, auch wenn sie nicht unbedingt in einem koordinatenmäßigen Sinne am Körper, am physischen Körper, jedenfalls nicht immer, zu fixieren sind. Weiter Schmitz: „Ich kenne nur einen Fall, in dem eine fremde leibliche Regung so unmittelbar geradezu wie Körper oder Farben gesehen werden kann, nämlich als begegnender Blick.“ Das spielt in seiner Philosophie eine große Rolle, das Blicken, der Ringkampf der Blicke. Er hat sich sehr intelligent zur Frage des Blickens, des sich Anblickens geäußert. Was passiert, wenn Menschen sich anblicken, nicht psychologisch, sondern leiblich, direkt, wirklich, in der leiblichen Kommunikation? Was geschieht in diesem Blicken? „Die dualistische Tradition sucht sich die leiblichen Regungen als Organempfindungen zurechtzulegen.“ Diese These kennen sie alle. „Organ soll die körperliche Empfindung, die seelische Hälfte sein, in die das schlichte Phänomen zerrissen wird. Es gibt keine Organempfindung, wie ich gezeigt habe.“ Immer wieder, sagt er: „habe ich widerlegt, habe ich gezeigt“. Nun, das ist der … , fast apodiktisch gesagt, das kann man jetzt auf sich beruhen lassen. Er glaubt, das gezeigt zu haben. Er glaubt wirklich, diese Innenwelthypothese widerlegt zu haben. „Erst indem ich die leiblichen Regungen aus diesem Versteck am Rande der herkömmlichen Wissenschafts­systematik befreite, konnte es mir gelingen, das große und wichtige Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leibe von der Wurzel her begrifflich zu rekonstruieren und in seiner Bedeutung für das Menschsein bestimmen. Unräumlichkeit versagt also als Kriterium des Seelischen beim Versuch einer Aufgliederung des Menschen in Körper und Seele.“ Also, eine wesentliche These seiner Überlegung ist immer wieder die von der Räumlichkeit der Gefühle, auch der Räumlichkeit der leiblichen Regungen. Er sagt immer wieder, darüber haben wir ja schon gesprochen, Gefühle sind Atmosphären. Wenn ich in dem Zusammen­hang schon in der ersten Vorlesung vor drei Wochen das Wort Psycho-Atmosphären verwendet habe, dann ist das nicht im Sinne von Schmitz, weil für Schmitz gibt es keine Psycho-Atmosphären, es gibt nur Atmosphären. Das ist also das, was wir als Psycho-Atmosphäre bezeichnen, ist darin eingeschlossen.

„Nicht besser steht es mit der Privatheit, die von denen, die jedem Menschen eine private Innenwelt im Gegensatz zur öffentlichen Außenwelt reservieren möchten, als Kenn­zeichen des Seelischen empfohlen wird.“ Wir wissen alle, dass mit der Entstehung der modernen Subjektivität natürlich auch die Privatheit entstand, die sogenannte Privat­sphäre. Jeder hat seinen privaten, nur eigenen und nur eigenen Innenraum. Die Innenwelt­hypothese: Seiner Überzeugung nach hat dieser Vorgang, den ich ja auch gekennzeichnet habe, vor einer Woche in meiner Sprache, bei ihm hat das drei entscheidende Kompo­nenten, die er folgendermaßen bezeichnet:

Die erste Komponente also, was sich vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren abgespielt hat. Erste Komponente: die menschliche Selbstermächtigung, wie er das nennt, in Anlehnung an bestimmte Begriffe, die man dann auch bei Martin Heidegger und anderen findet. Die menschliche Selbstermächtigung.

Die zweite Komponente ist der sogenannte Physiologismus, die Wahrnehmungs­theorie, dass über Sinnesrezeptoren der Hauptteil der Weltwahrnehmung als eine Außen­weltwahrnehmung dann in etwas Inneres, in die seelische Innenwelt hineinkommt und dort, wie das Kant gesagt hatte, mittels des Verstandes als in sich konsistente Wahr­nehmung interpretiert wird. Er meint, das stimmt nicht. Und stellt das in einem riesigen Gedankenbogen dar, dass wir immer schon vor all dieser Art von Aufteilung eine ganz­heitliche Wahrnehmung haben, jenseits der bloßen Ordnung von Sinnesempfindungen im Sinne von Kant und Anderen.

Die dritte Komponente ist die Objektivierung der Außenwelt. Also die menschliche Selbstermächtigung ist die eine Komponente, dann, was er den Physiologismus nennt, also die genannte sinnesphysiologische Lehre und die Objektivierung der Außenwelt.

Die menschliche Selbstermächtigung fungiert für ihn als der Versuch des Menschen, sich zu befreien von der ihn ständig bestimmenden und bedrohenden Überwältigung, was ich das Angeblickt-werden nenne. Der Mensch befreit sich von der Überwältigung. Es gibt ein interessantes Wort im griechischen Denken: „thymos“, was so viel wie Liebe, Zorn heißt, aber auch herrschen und frei sein, was als bewusster Gegenbegriff gesetzt wird zu Psyche, die er …. und zunehmend mehr dann mit dem Ich verbunden wird. Das heißt, er zeigt das sehr schön, noch bei Homer, dass der Mensch noch kein klar herauskonturiertes Ich entwickelt hat, dass er sich durchwaltet fühlt vom Thymos, von einer numinosen, ihn vollständig ergreifenden Macht, und dass alle Empfindungen, Stimmungen, Aura-Empfin­dungen und Ähnliches, letztlich eigene Wirkmächte und wirkliche Mächte sind, auch Eros als eine eigene Wirkmacht.

Die Seele ergreift sich selber in dieser Selbstermächtigung und distanziert sich von diesen sie durchwaltenden und durchwirkenden, überwältigenden Mächten. Aber sie müssen irgendwo bleiben, diese überwältigenden Mächte, müssen ja ihren Ort haben, sind ja nach wie vor da, sie müssen abgedrängt werden und werden auch abgedrängt. Sie werden nun zunehmend in eine quasi unverbindliche Innenwelt abgedrängt. Bis hin zu der berühmten Lehre der primären und sekundären Sinnesqualitäten von John Locke, dass das eigentlich Objektive nur die materielle Welt, die Ausdehnung sei, die Stofflichkeit, dann gefasst als Kausalität in der idealistischen Philosophie, und dass der Rest, Gefühle, Empfindungen, Farben und Ähnliches, der nur subjektiven Innenwelt angehört. „Der nun sich so ermächtigte, ermächtigt habende Mensch“, schreibt Schmitz sehr tiefsinnig, „sei nun formal vernünftig und emanzipiert, eben deshalb, welche grausige Ironie, aber inhaltlich ratlos geworden, letztlich auch inhaltleer.“ Darüber werden wir noch sprechen.

Der zweite Punkt ist nun, dass die Sinnesphysiologie, die ja bis heute eigentlich die dominierende ist, Grundthese: es gibt eine Außenwelt, es gibt einen Organismus, der über Sinnesorgane, Information, Kunde erhält von dieser Außenwelt und der nun in seinem Geist, in seinem Gemüt, wie Kant das nennt, diese Welt zu einer konsistenten Erfahrung fügt. Schmitz wendet dagegen ein und macht das an vielen Beispielen deutlich, dass der Mensch immer schon, bevor diese Trennung, diese, wie er meint, künstliche Trennung vorliegt, eine ganzheitliche Wahrnehmung von Situationen hat, bevor er überhaupt Zeit hat, bevor auch der Organismus gleichsam Zeit hat, überhaupt zu reagieren, reagiert der Mensch bereits in einer ganzheitlichen Situation. Er hat also eine Art Universalwahr­nehmung, eine integrale Wahrnehmung des Ganzen, gleich nachdem Platon, von dem stammt das, wissen viele nicht, diese Sinnesphysiologie in dem modernen Sinne geht auf Platon zurück. Gleich nachdem Platon im „Theaitetos“ durch Deutung der Augen, Ohren usw. als Sinnesorgane, das heißt Werkzeuge der Wahrnehmung von Qualitäten wie weiß, schwarz usw. den Physiologismus endgültig etabliert hat, begründet er den Rationalismus, indem er die Sachverhalte, das etwas ist, was es ist und wie es sich zu etwas verhält, aus der Wahrnehmung verweist und der Einsicht des Verstandes oder Urteilsvermögens überträgt.

Es ist so selbstverständlich für viele sogenannte moderne Menschen, dass sie gar nicht verstehen können erst einmal, was daran ernsthaft zu kritisieren wäre, weil wir sind ja alle, das habe ich ja letztes Mal auch schon gesagt, ja Erben dieser Selbstermächtigung und der Entstehung des mentalen Selbst. Dieses mentale Selbst ist ja die conditio der gesamten modernen Denkbewegung, unser aller Grundlage, erst einmal, unser aller, wenn man so will, Abstraktionsbasis. Insofern eine vollkommene Selbstverständlichkeit. Der Sinnesphysiologe heute würde ja gar nicht akzeptieren können, dass ein Mensch über die Sinnesorgane hinaus, ohne dass es deswegen übersinnlich wäre oder jenseitig oder transzendent, eine Gesamtwahrnehmung hat. Schmitz bringt ganz viele Beispiele von etwa Jemand, der einer Bedrohung ausweicht, der in einer ungeheuren Schnelligkeit ganzheitlich auf diese Bedrohung reagiert und seinen Körper entsprechend bewegen kann, bevor überhaupt im Sinne der sinnesphysiologischen Lehre diese Reaktion möglich ist. Darüber sprechen wir noch.

Der dritte Punkt ist die Objektivierung der Außenwelt, darüber habe ich schon gesprochen. „Der moderne Ingenieur als Endprodukt, der mit nüchterner Selbstdisziplin alles Begegnende auf das Zähl- und Messbare reduziert, schließt so den Bogen zwischen diesen beiden Säulen der psychosomatischen Anthropologie, der Selbstermächtigung der Person und der Objektivierung der Außenwelt.“ Dann zeigt Schmitz das sehr schön im Zusammenhang mit Äußerungen von Klages am Eros. Er sagt mit einigem Recht zu dieser Selbstermächtigung, Sie erinnern sich an das, was ich vor einer Woche gesagt habe, zu dieser Selbstermächtigung gehört auch ein Distanzverhältnis zu dem Überwältigenden, zu dem in einem numinosen Sinne Überwältigenden des Eros. Er zeigt das an einer promi­nenten Stelle von Platon in der „Politeia“. Er paraphrasiert das und kommentiert das. „Wie prekär am Höhepunkt und Abschluss der Seelengründungszeit dieser Versuch noch ist“, also diese Selbstetablierung des mentalen Selbst, wie ich das nenne, „zeigt das schauerliche Bild der Seele, das Platon in der Politeia entwirft. Der Mensch im Menschen, die für sich allein schwache, aber zur Herrschaft berufene Vernunft“ ‒ die Geburtsstunde auch des Rationalismus, Sokratismus ‒ „bewacht zusammen mit dem Löwen im Menschen, dem Herd der aggressiven Regungen, des Stolzes und Ehrgefühls, das vielköpfige, undurch­schaubare, unheimliche Ungeheuer im Menschen, das dort den meisten Platz einnimmt: den Herd der sinnlichen Regungen.“

Also, die sinnliche Regung als ein gewaltiges Meer, als ein quasi chaotisches Meer, was ständig anflutet und dem das mentale Selbst also eine Barriere errichtet. „Dieses Gleichnis hat der Folgezeit die verhängnisvolle Doktrin des Humanismus beschert.“ Das muss man hier im Kontext sehen, nicht, es wendet sich nicht gegen den Humanismus im üblichen Sinne, im Sinne eines Antihumanismus, um das nicht misszuverstehen, „beschert der den Menschen in einen eigentlichen Menschen, den Menschen im Menschen und einen Unmenschen im Menschen spaltet. Diese Spaltung hat sich besonders stark auf die Einordnung des Geschlechtslebens in das menschliche Selbstverständnis ausgewirkt. Der Geschlechtstrieb mit seiner spontanen und heftigen Entzündbarkeit galt als besonders gefährliche Bedrohung der personalen Emanzipation und Selbstermächtigung. Darüber haben wir ja auch ansatzweise im Zuge meiner Theorie der Bewusstseinsentwicklung gesprochen, dass natürlich die Sexualität, jetzt um einen modernen Begriff zu verwenden, immer die Bedrohung war, der Eros war immer das Bedrohende, dem sich natürlich das sich selbst ergreifende Subjekt immer konfrontiert sah in irgendeiner Form.

„In Platons ,Phaidros‘ ist einerseits, wie schon gesagt wurde, seine Erregung durch den Anblick schöner Knaben beim homosexuellen Mann gleichsam die unterste Stufe der erotischen Leiter, die den Aufstieg zu den Ideen in Aussicht stellt. Andererseits aber ist er dort das böse Seelenross, das den Seelenwagen aus dem Kurs zu bringen droht und nur mit Mühe und Not gebändigt werden kann gleich dem gegen die göttliche Vernunft im Kopf wie ein wütendes Tier rebellierenden männlichen Glied nach dem ,Timaios’“. Also der Phallus als ein Ungeheuer quasi, als ein kaum zu bändigendes Ungeheuer. „Die Bemühung, den Geschlechtstrieb in die abgegrenzte und zentrierte Innenwelt des Einzelnen Bewusst­habers einzuschließen, wurde aufgrund dieser Einschätzung seiner Wirksamkeit als gefährliche Störungsquelle personaler Emanzipation besonders stark. Mit der Folge, dass die Offenheit dieses Triebes für atmosphärische Gefühle, Eindrücke und Impulse verkannt oder geschädigt wurde.“ Auch in diesem Zusammenhang, auch zu diesen Dingen, habe ich mich ja im Einzelnen schon geäußert.

Eros war ganz eindeutig noch etwa bei Empedokles, gar nichts Personales, sondern war eine den Menschen ganzheitlich ergreifende, quasi kosmische Macht. Eros war eine numinose kosmische Macht und keineswegs eine personal zu begrenzende Form von Weltwahrnehmung, die man als Sexualität im engeren Sinne bezeichnen könnte.

Das also in ganz knapper Form zu dem Versuch von Schmitz, das von mir in der letzten Woche Dargestellte in seinen Worten zu begründen und abzuleiten.

Also, nun macht er einen kolossal gewagten Versuch, und das muss man einfach sagen, das ist gewagt, mit hohem Risiko. Ob ihm das gelungen ist, kann man auf sich beruhen lassen. Aber man sollte erst mal zur Kenntnis nehmen, was er macht. Er macht nun folgenden Versuch. Er versucht nun den Bogen zurückzuspannen, ähnlich wie Heidegger, aber vollkommen anders, in diese Phase vor zweieinhalbtausend Jahren, versucht herauszuspüren, was geschehen ist und versucht nun, diese ganzheitlich ergrei­fenden, im Sinne der Antike numinosen Mächte phänomenologisch zu bestimmen, also nicht im Sinne eines Rückfalls in einer vormentale Bewusstseinsverfassung, eine Regression. Das ist nicht der Fall. Es wäre ja eine Möglichkeit. Man könnte ja sagen, gut, diese mentale Entwicklung war ein Irrweg. Wir korrigieren diesen Irrweg und sagen: Gut, wir müssen das rückgängig machen. Das geht nicht, wie wir wissen, das ist illusorisch, das ist naiv, das ist illusionistisch. Aber es gibt ja diese Ansätze, unter anderem ja im ganzen Kontext des Prä-Faschismus und Faschismus ja auf rabiate Weise, Ergreifung des Vitalen, als das unmittelbar Lebendigen, angeblich nur Wirklichen, gegen das abstrakt Rationa­listische. Also das, in dieser vereinseitigten Form ist immer, zumal dann, wenn es sich politisch artikuliert, furchtbar.

Schmitz versucht nun phänomenologisch wieder die Atmosphären dieses ganzheit­lich jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung Existierende in den Blick zu nehmen, das ist wichtig. Es ist ein Etwas, das nicht im engeren Sinne subjektiv und nicht im engeren Sinne objektiv ist, sondern in dem und durch das die Subjekt-Objekt-Dichotomie immer schon aufgehoben ist, die Subjekt-Objekt-Dichotomie immer schon aufgehoben ist. Insofern in sich etwas zutiefst Dialogisches. Und kurz nochmal einen Rückblick auf Klages, auf den er sich ja bezieht, obwohl er sich von ihm abgrenzt und auch vieles von ihm für naiv hält. Klages hatte ja einen ähnlichen Versuch Jahrzehnte vorher unternommen. Ein Versuch, von dem man sagen muss, aufs Ganze gesehen, gesehen, dass er gescheitert ist, weil Klages ein Konstrukt eingebaut hat, was so nicht haltbar war. Klages hatte, wie das ja schon der Buchtitel seines voluminösen Werkes zeigt, einen abstrakten, lebensfeindlichen Geist, sozusagen als deus ex machina postuliert, der langfristig, wie er meint, alles Leben zerstört. So war ja Klages, wie einige von Ihnen ja auch wissen, einer der Gründerväter der ganzen Ökologiebewegung. Er war ja einer der Ersten überhaupt, der schon um die Jahrhundert­wende, da war er ja erst Ende zwanzig, also um die letzte Jahrhundertwende, der als einer der ganz frühen Mahner gegen den Industrialismus und seine Zerstörung der Erde auftrat, auch in seinen Vorträgen auf …, die er auf dem Hohen Meißner 1913 gehalten hat „Mensch und Erde“ und so weiter. Er war also ein früher Mahner dessen, was man später als Umweltzerstörung bezeichnet, ein Vordenker, wie man es ja so schön oft sagt, der ökolo­gischen Bewegung.

Also Klages fingiert einen Dämon, den lebensfeindlichen Geist-Intellekt, der alles Lebendige untergräbt, und das war fatal, in dieser Form fatal, weil er dann auf eine ungenaue und gefährliche Weise von einer lebensphilosophischen Strömung dann verein­nahmt werden konnte, die den Geist überhaupt und grundsätzlich ablehnt, ja verteufelt. Trotzdem oder gleichwohl enthält das Werk von Klages faszinierende Einsichten. So polemisiert Klages als einer der ersten in der neueren Denkbewegung gegen die bloße Subjektivität der Gefühle. Das ist wichtig, gegen die bloße Subjektivität der Gefühle, als ob diese Gefühle sozusagen nur subjektive Innenwahrnehmungen wären, denen überhaupt keine Gültigkeit, auch keine ontologische Wertigkeit in der Welt zukommt. Wogegen er scharf vorgeht. Und auch die sogenannten „Atmosphären“, den Begriff führt Klages hier ein, sind den Menschen als Ganzes ergreifende Wesenheiten, nun nicht mehr numinose Mächte, göttliche oder quasi göttliche Mächte, aber Wesenheiten, Wirklichkeiten der Welt.

Ich habe Ihnen das ja am Beispiel der Raumkonzeption erläutert, wie Schmitz aus dem leiblichen Weiteraum und dem Richtungsraum in einem langen Abstraktionsprozess dann der Außenraum wird, der euklidische dreidimensionale Raum, dann später der abstrakt-vierdimensionale Raum, den er als Ortsraum bezeichnet. Ich sage ja dazu Koordi­natenraum, also wo man ganz genau festlegen kann, hier ist dieser Punkt im Kontext ganz bestimmter Koordinatenfestlegungen, während diese Räumlichkeit der Atmosphären und auch des innerleiblichen Spürens zwar Ausdehnung hat, aber diese Ausdehnung hat keine klaren Grenzen. Diese Ausdehnung hat keine Flächen. Diese Ausdehnung ist, wie er das nennt, vordimensional, prädimensional. Es ist eine Ausdehnung, aber diese Ausdehnung ist nicht genau lokalisierbar. Sie ist randlos, sie ist flächenlos. Etwas, [das] zunächst einmal für den modernen Rationalismus schwer zu begreifen ist.

Nun beschäftigt sich Schmitz sehr eingehend mit dem, was eigentlich in der Welt­wahrnehmung des Menschen und zwischen Menschen passiert. Wenn Menschen mitein­ander kommunizieren: Was passiert eigentlich wirklich? Sind das zwei oder drei oder mehr oder eine Gruppe von Körpern, die über ihre jeweiligen Innenwelten nun die jeweiligen sinnesphysiologisch verstandenen Signale interpretieren, das alles spielt sich dann nur in dem Kopf ab, wie das die moderne Sinnesphysiologie ja bekanntlich behauptet, steht ja in allen Lehrbüchern, das ist sozusagen alles nur im Kopf. Wie kommt dann eigentlich diese doch für Jedermann sofort begreifbare, ja auch seine alltägliche Erfahrung bestimmende Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zustande? Jeder kennt das doch auf eine sofort, eine spontane, eine sekundenschnelle Art Atmosphären begreifen, dass wir menschliche Kom­munikation begreifen, dass wir ein Verständnis entwickeln für eine Situation, ohne dass wir uns darum eigentlich bemühen müssten. Er zeigt das zum Beispiel an den Blicken, das habe ich ja schon angedeutet, das ist besonders interessant. In der Antike waren ja …, wurde ja das Blicken, das Sehen immer noch verstanden als etwas nach außen Greifendes. Blicken war nicht nur einfach ein physiologischer Vorgang, dass irgendwelche elektromag­netischen Schwingungen auf der Netzhaut landen, dann weiterverarbeitet werden, irgendwann im Gehirn landen, sondern Blicken war immer etwas nach außen Gerichtetes. Es war immer ein Ausgreifendes in den Raum. Und das kann man immer noch merken, spüren, wahrnehmen im Blickkontakt.

Es gibt Kulturen, das wissen Sie, wo es als absolut unschicklich, ja unmöglich gilt, einen Menschen länger als zwei Sekunden anzuschauen, das ist schon unmöglich. Das ist bei uns nicht so. Aber Sie können das beobachten, wenn Sie in der U- oder S-Bahn fahren und Sie haben einen längeren Blickkontakt, gibt es immer die Möglichkeit, ist das jetzt peinlich, ist das eine pure Neugierde, kenne ich den oder die Betreffende? Oder ist das einfach ein Grundinteresse, weil der gefällt mir oder den finde ich interessant. Auf jeden Fall kommt sofort eine eigenartige Kommunikation in den Raum, die etwas Rätselhaftes hat, die man überhaupt nicht fassen und greifen kann. Dazu mal Schmitz, zu diesem Blicken, weil das ein hochinteressantes Feld ist, was ja zunächst einmal für die Philosophie überhaupt kein Thema war. Die meisten Philosophen, ob nur Kant oder Hegel oder Descartes und wie sie alle heißen, haben sich ja nicht mit der Frage beschäftigt: Was sind Blicke? Wie wirken Blicke? „Man kann niemals einem Anderen ins Auge schauen, ohne dass sich ein Ringkampf der Blicke, in Anführungszeichen, mit ganz derselben Struktur einspielt. Das liegt nicht an irgendeiner herrschsüchtigen Absicht, sondern an der Struktur des leiblichen Befindens, die den sich begegnenden Blicken als unteilbar ausgedehnten leibli­chen Richtungen eingeprägt ist“. Der Blick ist nach Schmitz eine leibliche Richtung. Das heißt zur Weltwahrnehmung, auch zu dem, was er dann das motorische Körperschema nennt, gehört der Blick als eine Komponente: das In-die-Welt-blicken. Vielleicht erinnern Sie sich auch die, die da waren, an das, was ich über das von meiner Philosophie aus, über das Sehfeld oder das Gesichtsfeld Ihnen versucht habe zu verdeutlichen. „Blicke, die ineinander tauchen, sind wie Speere im Turnier. Sie greifen tief ins leibliche Befinden beider Partner ein, die sich dadurch bedeutsame Signale geben, sind schwer auszuhalten, werden gern vermieden, wenn die Situation nicht das Besondere erfordert und entfalten sich im Drama des Augenblicks zu einem vielfältigen Wechselspiel“, wie jeder weiß, [das] ist eine elementare Grunderfahrung beim Menschen überhaupt: Was geschieht, wenn man sich anblickt, was da in blitzartiger Form an Kommunikation geschieht jenseits des rationalen und jenseits des Physiologismus. „Es handelt sich um ein Drama, des elementar leiblichen Betroffenseins, nicht um eine Beigabe von Bedeutungen, die erst das personale Erleben hineinlegte. Das zeigt sich daran, dass Blicke ebenso über Tiere wie über Menschen Macht ausüben.“ Es gibt ja ein interessantes Beispiel, was jeder Tierdompteur ja kennt, und jeder auch weiß, ist ja ein bekanntes, aber nicht erklärtes Phänomen: warum Dompteure in der Lage sind, durch Blickkontakt ein Tier, ein sogenanntes wildes Tier unter Kontrolle zu halten. Wenn der Blickkontakt weggeht, kann das Tier außer Kontrolle gera­ten. „Es fehlt uns heutzutage noch eine ausreichende Erklärung dafür, wie der Blick eines Menschen wirkt, zum Beispiel bei Tierbändigern. Tatsache ist, dass sobald diese ihren Blick abwenden, dann die Bestien nicht mehr im Zaum gehalten werden können. Wenn man etwa einem ruhig daliegenden und noch so majestätisch unverwandt geradeaus schauen­den Löwen in die Blicklinie tritt und ihn scharf fixiert, so hält er nicht stand, dreht vielmehr sein mächtiges Haupt mit blinzelndem Auge zur Seite.“ Also, aus dem elementaren Vorgang des einander Anblickens leitet Schmitz eine grundlegende, eine quasi ontologische leibliche Kommunikation ab, die sich ständig abspielt, ununterbrochen im Kontakt mit Anderen, ob das nun Tiere oder ob das Menschen sind. Schmitz erfindet jetzt einen Begriff, der für seine Philosophie entscheidend wichtig ist, ein Begriff, der wie ein Aperçu wirkt, aber doch tief ist, den Begriff der „Einleibung“, den hat er erfunden, den Begriff, den gibt es nicht im Lexikon. Einleibung: Was ist gemeint?

Man kennt die Einverleibung in einem direkten physiologischen Sinne, die Einver­leibung etwa [bei] der Nahrungsaufnahme, ich verleibe mir das ein, dieses wunderbare Stück Kuchen oder was immer. Die Einverleibung, was immer da an mysteriösen Vorgängen jetzt dann geschieht, das ist wieder ein eigenes Ding, oder auch im Sinne einer geistigen Einverleibung. Er benutzt den Begriff der Einleibung. Ganz kurz vereinfacht gesagt und vielleicht auch allzu simplifizierend gesagt, meint er, dass im Kontakt leben­diger Wesen, also Leibwesen, ein quasi-Leib entsteht, ein höherer oder anderer Leib, der die jeweils beteiligten oder involvierten Leiber überwölbt und durchdringt, ja bildet. Nicht, das kennt man ja auf einer eher platten Form, sagen wir mal in der Psychologie, auch in der Gebärdensprache. Also es gibt eine bestimmte, jeder hat eine bestimmte Art, wie … , ich auch und jeder von Ihnen auch, bestimmte Worte, Sätze, Gedanken mit einer Gebärdensprache zu unterstreichen, eine bestimmte Gestik oder bestimmte Körperhaltungen. Man weiß ja aus Erfahrung, dass es bestimmte Synchroni­sierung von Körperhaltungen gibt, die auch verblüffend sind. Schmitz interpretiert das im Sinne seiner Theorie der Einleibung. Zitat Schmitz: „Der in Einsamkeit und Gemeinsamkeit invariante“ ‒ also sich nicht ändernde ‒ „dialogisch kommunikative Charakter des leiblichen Befindens“ ‒ das ist wichtig. Das muss ich noch vorab sagen, dass das Leibliche, sagte ich vorhin, immer dialogisch ist, immer auch kommunikativ, auch immer polar ‒ des leiblichen Befindens ist nach Schmitz die von Enge und Weite. Enge, Engung und Weitung, gezeigt etwa am Atmen, also die ständige Pulsation von Engung und Weitung. „Der in Einsamkeit und Gemeinsamkeit invariante dialogisch kommunikative Charakter des leiblichen Befindens legt die spontane Bildung und Erhaltung übergreifender, quasi-leib­licher Einheiten nahe, die die Struktur des Leibes gemäß dem Alphabet der Leiblichkeit“ ‒ wie er das nennt ‒ „besitzen, aber über den einzelnen eigenen Leib, den unmittelbaren Gegenstand des eigenen leiblichen Spürens hinausgehen. So etwas bezeichne ich als Einleibung. Sie ereignet sich zunächst im Alltag unablässig als Verschmelzung aufeinander eingespielter oder sich einspielender Leiber, zum Beispiel beim Sich-anblicken, schon dem ganz flüchtigen unter Passanten, die einander auf bevölkerten Gehwegen ohne planmäßige Koordination entgegenkommen und erstaunlicherweise ihre Bewegungen so gut auf die zu erwartenden der anderen abzustimmen verstehen, dass Zusammenstöße selten sind und mit ausdrücklicher Entschuldigung bedacht werden. Ebenso beim Händedruck, der in Deutschland üblichen Begrüßungsgeste, beim Gespräch, beim Liebesspiel, zum Beispiel zwischen Mutter und Säugling, bei jeder Suggestion und Faszination und besonders auffällig durch Ko-Agieren ohne Reaktionszeit in gut eingespielter Kooperation bei gemein­samer Handwerksarbeit, gemeinsamem Musizieren, Wettkämpfen, Boxen, Fechten, Tennis, Rudern, Ballspiel in Paaren und Mannschaften und so weiter. Wie die Glieder usw. eines Leibes, etwa bei den Bewegungen und Gewichtsverlagerungen, die blitzartig einen drohenden Sturz abfangen. Die Blicke und Gliederbewegung des Autofahrers, der ebenso rasch in kritischen Augenblicken einen Unfall abwendet, so co-agieren ohne Reaktionszeit unter den angegebenen Bedingungen, die durch antagonistische“ ‒ also gegensätzliche ‒ „oder solidarische Einleibung in einer übergreifenden, quasi-leiblichen Einheit kooperativ verschmolzenen Partner ohne Reaktionszeit, also instantan“, also eigentlich augenblicklich ohne eine erkennbare Reaktionszeit. „Darüber hinaus gibt es Einleibung auch im Verhältnis zu Gegenständen der Wahrnehmung, die an sich nicht Leiber sind, wenn sie auch durch Gestaltverläufe, die mit eigenleiblich spürbaren Bewegungssuggestionen übereinstimmen und diese nahverwandte synästhetische Charaktere, eine sozusagen leibartige Physio­gnomie besitzen. Die unwillkürlichen Mitbewegungen des durch Faszination gefesselten Zuschauers, zum Beispiel mit beim Fußballspiel liefern Zeugnis von solcher Einleibung.“

Jetzt grundsätzlich. Ich sage es noch kurz vor der Pause. Er bringt es nochmal hier auf den Punkt: „Überhaupt ist normale Wahrnehmung, die ja die Sinnesphysiologie in dem bekannten Sinne interpretiert, also überhaupt ist normale Wahrnehmung nicht bloß Aufnahme und Verarbeitung von Signalen wie die Physiologie und die an dieser sich orientierende Psychologie nahelegen, sondern in erster Linie Einleibung.“ Nochmal, zum Sehen. „Eine einfache Beobachtung am Sehen macht das klar. Wenn die schnelle, bedroh­liche Näherung eines Gegenstandes gesehen wird, ist der Sehende gewöhnlich in der Lage, durch zweckmäßige Körperbewegungen unwillkürlich, oft sehr geschickt und ohne Über­legung auszuweichen, sei es, dass er zur Seite springt oder nur den Kopf von einer zum Schlag ausholenden Hand wegbiegt und so weiter. Dazu ist er ja nicht dadurch in der Lage, dass er den bedrohten eigenen Körper so gut wie das gefährliche Objekt sähe. Das tut er meistens gar nicht und sich überlagern und Abstände dieser Dinge Rechenschaft gäbe. Den eigenen Kopf zum Beispiel sieht er im Allgemeinen nicht. Vielmehr ist der eigene Leib im Sehen-ohne-gesehen-zu-werden dennoch mit wahrgenommen, weil Sehen Einleibung ist und daher ein Co-Agieren ohne Reaktionszeit mit dem andringenden Objekt ebenso gestattet wie in den vorher besprochenen Fällen. Wie wenig solches Geschick selbstver­ständlich ist, bemerkt man beim Vergleich des Sehens mit dem Hören, dem es fehlt.“ Nicht, beim Hören ist es vollkommen anders. „Wenn man das bedrohliche Objekt nur heran­brausen hört, ist man viel ratloser als beim Sehen, wie und wohin man sich wenden soll, um sich zu schützen. Das liegt nicht etwa daran, dass das Hören weniger als das Sehen zur Einleibung begabt wäre, aber es hat dafür andere Kanäle. Rhythmischer Schall aller Art, Gesang, Instrumentalmusik, Händeklatschen, anfeuernde Rufe ist der stärkste Zünder der Einleibung, fähig, diese wie eine Glocke über eine Menschenmenge zu stülpen, wodurch die bekannten massenpsychologischen Effekte ausgelöst werden“, die er auch so erklärt übrigens. Er gibt auch eine ganze hochinteressante Theorie massenpsychologische Effekte, die in der Form sehr originell ist, er interpretiert das mit seiner Theorie der Einleibung, „wodurch die bekannten massenpsychologischen Effekte ausgelöst werden, aber nicht nur sie. Wenn ein anregender Gesprächspartner den anderen mitreißt, nachdem er eine Hemmschwelle der Lustlosigkeit und des Widerstandes überwunden hat, bildet sich eine gemeinsame Situation und Atmosphäre, worin die Beteiligten miteinander warm werden und sich gleichsam die Bälle zuspielen, die Spannung und Schwellung in der leiblichen Ökonomie oder die Ballspiel-Mannschaften im schon erwähnten Beispiel des sportlichen Wettkampfs für Einleibung.“

Das erstmal vor der Pause. Also der Begriff der Einleibung ist ein Kunstwort. Ich will das noch einmal versuchen, auf den Punkt zu bringen, was es meint. Es meint eine spontane, ohne erkennbaren Zeitverlust sich abspielende Herstellung eines quasi-Leibes, der nicht zum Körper gerinnt und sich nicht verdichtet, materialisiert zum Körper eines quasi-Leibes, eines ganzheitlich atmosphärischen gemeinsamen quasi-Leibes, der elemen­tar und in rasender Schnelligkeit entsteht und auch wirkmächtig ist. Das kann man nur von einer ganz oberflächlichen, rationalistischen oder physiologistischen Sicht aus leugnen, dass das so ist. Und das sind ja bewegende Fragen, die ja die herkömmliche Philosophie überhaupt nicht klären konnte, wie so etwas überhaupt zustande kommt, wie so etwas in einer Gruppensituation zum Beispiel, in einer massenpsychologischen Situation geschieht. Und da liefert er eine ganze Reihe hochinteressanter Ansätze. Wer das zum ersten Mal hört, der ist vielleicht etwas verwirrt und verblüfft und denkt vielleicht: Was ist das hier? Aber wir sprechen doch darüber.

Wir machen eine kleine Pause, sagen wir mal 6, 7, 8 Minuten, so.

… bezogen auf einen Band, der auch im Literaturverzeichnis steht, „Leib und Gefühl“, Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, in einer psychotherapeutischen Reihe erschienen. Das ist interessant, weil Hermann Schmitz ist der einzige Philosoph, der auch von vielen Psychotherapeuten nicht nur geschätzt wird, sondern auch, wenigstens partiell, in die eigene Arbeit einbezogen wird. Also, er hat sich ein Renommee verschafft und viele seiner Überlegungen, das kann ich hier gar nicht darstellen, das kann ich nur andeuten, haben auch enorme therapeutische Auswirkungen. Er hat sich zum Beispiel sehr intensiv mit der Schmerzbehandlung beschäftigt. Was ist Schmerz? Ich habe nirgends und von niemandem so etwas Tiefsinniges und Intelligentes jemals gelesen über Schmerz. Was ist Schmerz? Auch vieles sehr Feinsinnige und Tiefsinnige gesagt, über den Umgang mit Schmerz. Schmitz hat eine Fülle von Phänomenen überhaupt in die Sprache gebracht, von denen man bislang kaum wusste, dass man sie präzise begrifflich fassen kann. Was ist Erschrecken? Was passiert beim Einschlafen? Was passiert beim Aufwachen? Was passiert in ganz bestimmten Situationen mit der Raum-Empfindung? Was ist Angst? Was passiert mit der eigenen Leib-Wahrnehmung in der Angst und Ähnlichem? Also ganz überraschend hat er die Sprache in einer ungeheuren Weise verfeinert und das auf Formeln gebracht, was gemeinhin entweder im reinen Physiologisch-Medizinischen bleibt oder im Meinen und Wägen und, sagen wir mal, eher dumpfen Gefühligen. Er hat das wirklich auf Begriffe gebracht.

Also, „Material zu einer philosophischen Therapeutik“. Eine Zusammenfassung seiner Philosophie in einem kleinen Bändchen, ‘98 erschienen, ist „Der Leib, der Raum und die Gefühle“. So habe ich das hier heute genannt. Das ist die knappste Zusammenfassung, die er vor einigen Jahren gegeben hat über seine eigene Philosophie. Ich will noch mal zwei Stellen Ihnen darstellen. Ich sagte, ich will heute als Philosoph in gewisser Weise ein bisschen zurücktreten und hier dem Schmitz das Feld quasi überlassen, deswegen zitiere ich länger, als es sonst üblich ist. Aber es ist wichtig für unseren Zusammenhang, weil wir auf Schmitz in anderen Zusammenhängen immer wieder stoßen werden. In der gesamten Vorlesungsreihe in diesem Sommersemester ist er eine wichtige Figur. Noch einmal zur Frage der Gefühle.

In einem wunderbaren Essay mit dem Titel „Die Autorität der Trauer“ schreibt er Folgendes, ich zitiere das mal: „Die herrschende Lehre behandelt Gefühle als bloß subjek­tive, private Zustände des Erlebens.“ Das ist ja nur Gefühl, nicht, die rationalistische Philosophie, das ganze rationalistische Denken wertet das ja im gemeinen ab, nur Philo­sophie, nur Gefühl, nur subjektives Gefühl. Also, „die herrschende Lehre behandelt die Gefühle als subjektive, private Zustände des Erlebens, so in der neuesten Psychologie sogar als kognitive Reaktionen, das heißt Weisen der Verarbeitung von Kenntnisnahmen. Was aber auf viele Gefühle, z.B. grund- und gegenstandslose Trauer ersichtlich nicht zutrifft. Für ein solches Gefühlsverständnis muss die Autorität von Gefühlen ein Rätsel bleiben. Was könnten meine privaten Zustände und Reaktionen mir zu sagen haben, in dem Sinn, dass sie mich zu einem Gehorsam verpflichten, eventuell sogar, im Fall verbindlicher Normen, ohne Rücksicht auf mein Belieben.“

Also das ist ja das, was man in der Antike als das Überwältigende und Ergreifende gesehen hat, also im Sinne von Empedokles: Der Eros ergreift den Menschen, der ist also weder subjektiv noch objektiv. Das ist ein Etwas, ein Etwas, was den Menschen ganzheitlich ergreift, was ihn packt, das ihn vollkommen durchwaltet und durchwirkt, wo sein Ich klein ist dagegen und kapituliert. „Das Rätsel löst sich erst, wenn man solche Gefühle richtiger als Atmosphären versteht“ ‒ den Begriff hat er von Ludwig Klages übernommen in dem Zusammenhang ‒ „die den Menschen umhüllen und einnehmen wie das phänomenale Wetter, das ja keineswegs ein Zustand der mehr oder weniger warmen und feuchten Luft ist, sondern eine eigenartig charakterisierte, einbettende Weite, die bloß am eigenen Leibe gespürt wird, aber nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als eine Art Gegenspieler, der über den Leib hinaus geht und auf ihn Macht ausübt wie in anderer Weise die reißende, niederziehende Schwere, der man sich im Fallen entgegenstemmt, obwohl man sie nirgends als am eigenen Leib spürt. Luft ist ein erdachter Körper, den man sich zurecht legt, um solche gespürten Atmosphären auf das für Berechnung und Prognose handlichere Festkörpermodell zu reduzieren, dem die Luft vollends gehorcht, wenn man sie als ein aus Molekülen oder Atomen, gleichsam wirbelnden Steinchen bestehendes Gas deutet. Den Phänomenen wird man besser gerecht, wenn man solche Atmosphären wie das Wetter mit den Gefühlen zusammenstellt.“ Es ist kein Zufall, dass Menschen mit solcher Begeisterung, mit solchem Interesse, mit solchem Engagement sich zum Beispiel über die jeweilige Wetterlage unterhalten. Das ist kein Zufall, das ist auch nicht banal, wenn man sagt, ach, das ist ja banal. Das ist gar nicht banal, weil das tief eingreift in diese leibliche Grund­kommunikation des menschlichen In-der-Welt-seins. „Ein Mittelglied bilden die optisch-klimatischen Atmosphären, die keineswegs aus einem optischen und einem klimatischen Anteil zusammengesetzt sind, wie ein physiologistischer Fehlschluss von den sensorischen Aufnahme-Organen auf die Phänomene nahelegen könnte, sondern ganzheitliche Eigenart besitzen.“ Hier trifft mal dieses Wort, was ich sonst, wie ja einige von Ihnen wissen, eher vermeide, dieses modisch abgeflachte Wort des „Ganzheitlichen“. Hier trifft es wirklich.

„Als erstes Beispiel erwähne ich die kühlfahle, in eigentümliche Fremdheit sich entziehende Atmosphäre des verbleichenden Tages, worüber Nietzsche seinen Zarathustra sprechen lässt“, jetzt Zitat Nietzsche: ,Die Sonne ist schon lange hinunter, sagte er endlich. Die Wiese ist feucht. Von den Wäldern her kommt Kühle. Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was? Du lebst noch, Zarathustra? Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht eine Torheit zu leben? Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mir fragt. Vergebt mir meine Traurigkeit.’“ Zitat Ende. „Hier geht die Atmosphäre der Dämmerung in die Atmosphäre der Trauer über, freilich einer besonderen, befremdenden Trauer, die man auch als Angst und Verzweiflung bezeichnen könnte, weil alle Erstrek­kungen des Strebens, die den Menschen normalerweise an seine Umgebung binden und ihm Halt und Orientierung geben, in dieser Atmosphäre wie ins Leere führen oder wie an eine glasige Wand, die durchsichtig ist, aber nichts mehr zu greifen gestattet, das heißt, die Lebensbezüge nicht mehr zu ihren Bezugspartnern durchlässt.“

Hochinteressante Beobachtungen, gerade heute Nacht ist mir das deutlich gewor­den. Wenn man viel Schmitz liest, dann nimmt man anders wahr. Ich war auch nachts um vier wach, hellwach und war längere Zeit auf dem Balkon draußen. Und das ist ja die Zeit, wo um diese Jahreszeit schon eine gewisse Helligkeit zu spüren ist. Die Nacht ist vorbei, aber der Morgen ist noch nicht gekommen. Und diese eigenartige, fahle, gespenstische, zwischen Farbigkeit und Farblosigkeit pendelnde, changierende Atmosphäre ist wirklich hoch faszinierend, wenn man das mal wirklich zulässt und das versuchen würde, in die Sprache zu bringen. Er macht das. „Verwandt ist jede Atmosphäre, die frösteln lässt wie das trübe, feucht-kühle Novemberwetter. Ganz im Gegensatz zu der trockenen Kühle unter einem blauen Himmel eines klaren Wintertages oder zu der lauen, dunstigen eröffnend-zerfließenden Atmosphäre des Frühlings.“ Und so weiter.

Und dann gibt es, durch sein ganzes Werk sich ziehend, immer wieder Betrach­tungen, zum Beispiel zur Stille. Also das fand ich, wenn ich Schmitz lese, immer wieder begeisternd und faszinierend. Ich habe noch nie etwas Besseres und Tieferes und Feinsinniger gelesen über Stille. Wir wissen ja alle, dass Stille vollkommen verschieden wirken kann. Stille ist etwas vollkommen anderes, wenn es vorher laut war. Stille kann sich plötzlich als peinliche Stille herausstellen, als beklemmende Stille, als beängstigende Stille. Man kann das ja beobachten, wenn man Menschen in der …, etwa in der S-Bahn beobachtet. Beim Fahrgeräusch, dann ist das ein ständig mitlaufendes Geräusch. Dann werden Zeitungen geblättert, dann knistern die Zeitungen, es werden Bücher vielleicht gelesen, Gespräche mehr oder weniger laut. Wenn dann plötzlich die Bahn auf der Strecke stehenbleibt und es alles vollkommen ruhig wird, dann kommt eine ganz eigenartige Stimmung im Abteil auf. Das Knistern der Zeitung ist ganz laut, was vorher leise war und man merkt nach einigen Minuten, wenn das also länger dauert, wie eine gewisse Unbehaglichkeit sich breit macht, die Menschen, denen ist also der Geräuschhintergrund genommen und die plötzliche Stille, die eintritt, hat etwas Gespenstisches. Man lacht verlegen, es gibt plötzlich Blickkontakt, den [es] vorher nicht gegeben hat. Und plötzlich ist ein ganz anderes Fluidum im Raum. Das ist nicht banal, sondern es ist wirklich, das ist ja lebendig. Das ist ja wirklich, das ist ja keine Fiktion.

Also über die Stille: „Ich meine, das braucht aber ihrer Autorität nicht im Wege zu stehen. Im Gegenteil, die Abstandnahme von dieser durch personale Emanzipation wird dadurch schwieriger als die von der Autorität eines bequem objektivierbaren Befehls­gebers generell für solche Atmosphären. Für solche Autorität von Atmosphärischem erwähne ich jetzt noch das Beispiel einer Atmosphäre, die genauso wenig wie das Wetter als Gefühl verstanden zu werden pflegt, ja im Gegensatz zu diesem nur selten als Atmosphäre überhaupt entdeckt wird, aber als solche und durch Autorität Gefühlen mindest nahesteht.“ Schmitz sagt immer wieder, diese Atmosphären haben Autorität. Es ist keine Fiktion, es hat sich keiner ausgedacht. Das ist weit das Subjektive übersteigend. „Ich meine die Stille, die physiologisch weiter nichts als Abwesenheit akustischer Reizung ist, phänomenologisch aber ein höchst aufdringlicher Gegenstand der Wahrnehmung sein kann, und zwar ohne jede Rücksicht auf akustische Sinnesdaten, nämlich sowohl bei deren gänzlichem Fehlen als auch in Konkurrenz mit gleichzeitig gehörtem Geräusch. Ich denke an feierliche oder zarte Stille in der Natur oder in einer hohen Halle, an dumpfe, lastende, bleierne Stille, an die brütende, panische Stille zum Beispiel des mediterranen Mittags, die den Griechen als Sirene, den Kirchenvätern unter anderem als Mittagsdämon erschien.“

Ja auch die Figur des Pan in der griechischen Mythologie ist ja so etwas, Pan ist ja eine wirkliche, im Sinne der antiken Befindlichkeit, eine wirkliche Größe, der Pan, der den panischen Schrecken verursacht, der in der Mittagshitze, wenn die Sonne senkrecht steht, auftaucht, als eine eigene numinose Gewalt, den Menschen vollständig durchwirkt und durchwaltet. „Solche ausgeprägte Stille hat Weite, Gewicht und Dichte, und im Falle der feierlichen oder zarten Stille eine Autorität, mit der sie dem für sie Empfänglichen, von ihr affektiv betroffenen Menschen die verbindliche, das heißt von seinem Belieben unabhängig geltende Norm auferlegt, sie zu schonen. Das heißt, nicht ohne triftigen Grund laut zu sprechen, zu schreien oder zu lachen oder auf andere Weise, die die Stille zerreißt, Getöse zu machen. Auf einen Menschen, der in einer solchen Atmosphäre unvermittelt ordinäre Musik vom Radio oder Band erscheinen lässt, werden sich gleich die strafenden Blicke Feinfühliger richten, strafend, weil sich der Betreffende gegen einen in ihrer Sicht für alle Anwesenden verbindliche Norm vergangen hat. Eine Norm, die niemand erlassen und sanktioniert hat, die vielmehr von der feierlichen oder zarten Stille ausstrahlt.“ Und so weiter, findet sich leitmotivisch in seinem gesamten Werk immer wieder. Es finden sich [in seinem Werk] immer wieder Betrachtungen über die Stille.

Und über das Phänomen der Faszination. „Faszination“, ein Wort, das ja eigentlich Fesselung bedeutet; übrigens der erste Denker, der die Faszination in diesem umfassenden Sinne als Fesselung verstanden hat, war der von mir ja, wie Sie wissen, sehr geschätzte Giordano Bruno, wenig bekannt. Giordano Bruno hat um 1589/90 eine kleine Schrift geschrieben. „De vinculis in genera“, über die Fesseln im Allgemeinen, wo er fast im Vorgriff auf die Jahrhunderte später erst entwickelte Leib-Philosophie von Hermann Schmitz, diese Vorgänge als Fesselung beschreibt, dass also leibliches Kommunizieren immer einer Fesselung entspricht und im Sinne Schmitzs eine Einleibung, zum Beispiel, dass Jemand beobachtet einen Seiltänzer, der also mit einer Stange balanciert und in atemloser Spannung gibt es eine, wie man trivial sagt, eine Identifizierung, aber im Grunde genommen, sagt Schmitz, ist es weniger eine Identifizierung als eine spontane, synchrone Einleibung. Ein quasi-Leib überwölbt und durchdringt den ganzen Kontext, die ganze Situation.

Kritisch, negativ könnte man sagen, das ist ja eine mythologische Denkfigur, die hier wieder aufgegriffen wird. Das ist nicht so, ich muss das noch mal klar sagen. Schmitz ist da sehr präzise. Es geht nicht darum, ich möchte das noch mal betonen, eine vormentale Form von Numinosität und allseits ergreifenden Mächten in unserer Zeit wiederzubeleben. So nicht. Aber es geht sehr wohl darum, dieser ohnehin uns ständig begleitenden und ständig bestimmenden und durchstimmenden Wahrnehmung eine Würde wieder zuzugestehen, eine eigene Dignität und eine Genauigkeit der Beobachtung und eine Genauigkeit der Sprache. Gerade damit wir nicht auf eine unkontrollierte und unreflektierte Weise hineinfallen in solche ergreifenden numinosen Vorgänge, wie das ja zum Beispiel, Sie kennen das vielleicht, der Psychologe C. G. Jung am Beispiel des Nationalsozialismus verdeutlicht hat, dass die Deutschen ergriffen worden seien, seine berühmte These, von einem Wotan-Archetypus, also einem gewaltig ergreifenden numinosen Etwas.

In der Psychotherapie und der Psychoanalyse findet man natürlich auch derartige ergreifende Wesenheiten, etwa unter dem Titel der Komplexe, der Minderwertigkeits­komplex zum Beispiel. Also, die Komplexe in der Psychoanalyse sind ja ähnliche, ergrei­fende, bestimmende Wesenheiten oder auch die Jung’schen Archetypen. Da taucht das ja auf mit anderer Sprache, in anderer Begrifflichkeit, aber da hat man das ja auch, dass also den Menschen etwas ergreift, was sein Ich weit übersteigt und was er eben nicht ohne Weiteres abschirmen kann, also wo er nicht seine kleine Ichhaftigkeit einfach so einzemen­tieren kann, dass das nicht durchdringt, sondern das ist immer da. Das durchwaltet uns ständig, das ist eigentlich unsere alltägliche Erfahrung. Und das ist der Grundansatz von Schmitz: unsere alltägliche Erfahrung, das was jeder kennt und jeden Tag ohnehin lebendig wirklich schaut, wahrnimmt, dem eine Sprache zu geben, und zwar keine verschwommene, keine fluktuierende und auch im engeren Sinne keine dichterische Sprache, obwohl es bestimmt Begriffe gibt, die auch etwas quasi-Poetisches haben, sondern eine sehr genaue, eine phänomenologisch genaue Begrifflichkeit. Und das mit Engung und Weitung hört sich zunächst sehr simpel an. Engung und Weitung als Grundpulsation des Lebendigen, es [ist] fast banal. Aber wenn man das weiterdenkt, dann hat das erstaunliche Konsequenzen für auch das eigenleibliche Spüren, was ist Engung, was ist Weitung. Das kann man ja im Atmen ganz genau spüren. Wo gibt es eine Weitung, die dann wieder umschlägt, eigen­tümlich, in eine gespannte Engung, die dann wieder in eine Weitung ausläuft, in der ständigen, lebendigen Pulsation. Das macht ja überhaupt den Prozess des Lebendigen hier aus.

Also, Phänomenologie in diesem Sinne: das Ernstnehmen, was sowieso uns alle bestimmt, da müssen wir nichts dazu erfinden. Und Schmitz baut auch keine Metaphysik an diese Stelle und will es auch gar nicht, sondern er betrachtet die Phänomene. In diesem Sinne ist es Phänomenologie und erhebt allerdings einen erheblichen Anspruch, wo ich sagen würde, den er in der Form nicht einlösen kann. Der ist vielleicht auch nicht einlösbar, einen neuen Schritt im Selbstverständnis des Menschen zu leisten. Den Anspruch erhebt er, also eine neue Anthropologie zu schaffen, den Menschen also nochmal ganz neu zu betrachten und alle Dogmen und Hypothesen, ja Fiktionen von Innen, Außen, Innenwelt, Außenwelt, Seele, Geist, Körper erst einmal zu den Akten zu legen und [zu] sagen, das ist ja nicht das, was beobachtet wird. Und da liegt die kolossale Faszination dieses Denkens, dass dieses Denken tatsächlich diese Beobachtung vollkommen ernst nimmt. Und das finde ich spannend und hochinteressant und das wird auch mich weiterhin beschäftigen.

Und wir haben jetzt noch ein bisschen Zeit, in zehn Minuten, ein paar Fragen zu stellen.

Ich bin hier mal heute als Jemand aufgetreten, der quasi den Schmitz in den Mittelpunkt gestellt hat. Hab mal mein eigenes Ding eher zurückgehalten, zurückgestellt, das war mir für heute wichtig. Ich will dann das nächste Mal jetzt mehr von meinen eigenen philos­ophischen Ansätzen aus die Frage der Zeit behandeln. Und zwar nicht Zeit in einem abstrakt philosophischen oder physikalischen Sinne, auch nicht im naturwissenschaft­lichen Sinne, sondern Zeit im Sinne der Leibes-Phänomenologie. Also wie wirkt Zeit? Was ist zum Beispiel die leiblich erlebte Gegenwart? Wie manifestiert sich das? Was ist für den Leib Vergangenheit ‒ und diesen ganzen Bereich, also der Zeitwahrnehmung in der Leibes-Phänomenologie mal darstellen am Prozess, am Prozesshaften, am Prozessualen, am Rhythmischen zeigen. Das ist ja eine wesentliche Komponente der Zeit, [das] ist ja nicht einfach das Fließen, das lineare Fließen, sondern [das] ist ja das Rhythmische, die Pulsa­tionsbewegung, das rhythmisch Prozessuale, wenn man das so nennen will. Gut.

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