Östliche Spiritualität und moderne Naturtheorien – Buddhismus und Chaostheorie

Vortrag

Urania Berlin
06.04.1998
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 51

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Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu diesem, ich hoffe sehr spannenden Thema: Gibt es eine Möglichkeit, östliche, asiatische Spiritualität, im Besonderen den Buddhismus in irgendeiner Form zusammenzuführen, zusammenzudenken mit neuen Naturtheorien? Und das soll am Beispiel geschehen der sogenannten Chaostheorie und am Beispiel der sogenannten Systemtheorie.

Grundsätzlich und sehr allgemein gesagt geht es ja um die Frage, die glaube ich jeden von uns in irgendeiner Form beschäftigt: Sind das nun zwei grundsätzlich und auf alle Ewigkeiten getrennten Stränge ‒ der naturwissenschaftlich-technische auf der einen Seite und der spirituell-religiöse auf der anderen Seite? Ich will das mal an einem kurzen Zitat verdeutlichen, das hier als eine Art Motto an den Anfang gestellt sei von einem bedeutenden Denker unserer Zeit. Nach meiner Überzeugung dem vielleicht bedeutendsten gegenwärtigen Philosophen, dem Amerikaner Ken Wilber. Der hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht, „Naturwissenschaft und Religion“, wo es auch zentral um diese Frage geht und hier schreibt er gleich zu Beginn, und ich darf mal diese Passage vorlesen, weil sie den Finger genau auf die Stelle legt, um die es geht. Im ersten Kapitel, das Wilber nennt „Die Herausforderung unserer Zeit ‒ die Integration von Wissenschaft und Religion“, schreibt er: „Es gibt wohl kaum in der modernen Welt ein bedeutsameres und dringenderes Thema als das Verhältnis von Wissenschaft und Religion. Die Naturwissenschaft ist zweifellos eines der tiefgründigsten Verfahren, die die Menschheit bisher entwickelt hat, um Wahrheit zu entdecken. Während Religion diejenige Kraft ist, die wie keine andere, Sinn stiftet. Wir brauchen Wahrheit und Sinn, Wissenschaft und Religion. Aber wir wissen nicht, wie man beides in einer Weise zusammenführt, die von beiden Seiten akzeptiert wird. Die Versöhnung von Wissenschaft und Religion ist nicht nur von flüchtigem akademischem Interesse. Diese beiden gewaltigen Kräfte Wahrheit und Sinn liegen in der heutigen Welt in heftigem Widerstreit miteinander. Die moderne Wissenschaft und die prä-moderne Religion ringen mit ihren je unterschiedlichen Mitteln auf diesem Erdball um die Vorherrschaft. Früher oder später muss sich eines von beiden geschlagen geben. Wissenschaft und Technik haben ein weltweites und transnationales Netz industrieller, wirtschaftlicher, medizinischer, naturwissenschaftlicher und informationstechnischer Systeme geschaffen. Wie nutzbringend aber alle diese Systeme auch sein mögen, sie sind doch als solche sinn- und wertfrei. Wie die Vertreter der Wissenschaft selbst immer wieder betonen, sagt uns diese ‚was ist’“, also die Wissenschaft, „nicht ‚was sein sollte‘. Die Wissenschaft sagt uns etwas über Elektronen und Atome, Moleküle, Galaxien, Daten, Bits und digitale Netzwerke. Sie sagt uns, was ein Ding ist, aber nicht, ob es gut oder schlecht ist oder was es sein könnte oder sollte. Daher ist diese gewaltige globale wissenschaftliche Infrastruktur als solche ein wertfreies Gerippe, wie funktionell auch immer sie sein mag. Dieses enorme Wertvakuum füllt die Religion gern aus. Die Wissenschaft hat hier einen außergewöhnlichen, weltweiten und globalen Rahmen geschaffen, der frei von jeglichem Sinn ist. Und in diesem ubiquitären Rahmen haben sub-globale Nischen der prä-moderne Religion Milliarden von Menschen in allen Teilen der Welt Wert und Sinn gegeben. Zugleich bestreiten diese prä-modernen Religionen dem naturwissenschaftlichen Rahmen, in dem sie leben und der den größten Teil ihrer Medizin, ihrer Wirtschaft, ihres Bankwesens, ihrer Informationsnetze, ihres Verkehrswesen bereitstellt, oft jegliche Gültigkeit. Religiöser Sinn versucht sich innerhalb des wissenschaftlichen Wahrheitsgerippes zu behaupten, wobei er oft den naturwissenschaftlichen Rahmen als solchen bekämpft. Dies ist freilich die Haltung eines Menschen, der munter an dem Ast sägt, auf dem er selbst sitzt.“

Damit ist also ein Problem umrissen. Eine Kernfrage: Ist es möglich, diese beiden Stränge in irgendeiner Form zusammenzuführen? Es geht hier substanziell um den Gegensatz der Welt der Tatsachen, der Dinge, der Phänomene da draußen, der Fakten und auf der anderen Seite der Welt der Werte, der Welt der Wertsetzungen. Wissenschaft, im Besonderen Naturwissenschaft, ist ja in diese Welt getreten mit dem Anspruch, eine Welt, wie sie ist, wie sie da draußen als solche wirklich und wahrhaftig existiert, abzuspiegeln, wiederzugeben, in Modellen darzustellen. Und Spiritualität, auch als organisierte Religion, ist immer davon ausgegangen, dass es einen spirituellen, einen metaphysischen Sinn in der Welt gibt, einen Sinngehalt, dass die Welt in der Tiefe werthaltig ist. – Das schließt sich aus.

Nun muss man klar feststellen, das wissen Sie wahrscheinlich alle, die These von der Nicht-Wertgebundenheit der neuzeitlichen Naturwissenschaft des Abendlandes hat sich mittlerweile als nicht haltbar herausgestellt. Wir wissen heute sehr genau, dass auch die angeblich wertfreie Wissenschaft basiert auf ganz bestimmten fundamentalen Weichen­stellungen und damit auf Werten. Wissenschaft, auch wenn sie wertfrei zu sein vorgibt, basiert auf Werten. Ganz bestimmte Wertentscheidungen in bestimmten Phasen der kon­kreten Geschichte sind der Ausgangspunkt.

Nun ist es leicht, die Spaltung von Religion und Naturwissenschaft zu bedauern. Es gibt gute Gründe, das zu bedauern, aber man sollte vielleicht einen kurzen Blick darauf werfen, dass es auch vorteilhaft, dass es auch fruchtbar war, dass es auch produktiv war, dass hier irgendwann seit der Renaissance, seit der Aufklärung, eine Weichenstellung erfolgt ist. Hier haben sich nämlich grundlegende Zugänge zur Welt herausdifferenziert und auch mit gutem Grund. Es ist ja nicht ganz unsinnig zu sagen: Ich kann mich beschränken in meinem Zugang zur Welt auf das, was tatsächlich vorliegt. Muss ich denn, wenn ich einen Fallvorgang beschreibe, beispielsweise in der Physik, Zuflucht nehmen zu spirituellen oder religiösen oder sonstigen Wertvorstellungen? Natürlich nicht. Das muss ich in keiner Weise, ich kann das in sich konsistent beschreiben, darstellen. Ich muss dazu keinerlei Spiritualität und keinerlei religiöse Formen irgendeiner Form heranziehen. Das ist also bis zu einem gewissen Grade durchaus auch ein Gewinn, ein Gewinn, den, wenn man so will, die abendländische Kultur vor jeder anderen voraus hat. Denn in keiner anderen Kultur, soweit wir das überhaupt beurteilen können, ist diese Ausdifferenzierung in dieser Form so erfolgt.

Nun gibt es ja seit gut 20 Jahren im Abendland bestimmte Bestrebungen, nicht nur in der sogenannten New-Age-Szene, bestimmte Theorien der modernen Physik mit den asiatischen, im Besonderen den buddhistischen Ansätzen der Weltbetrachtung zu verbin­den, ja, die These aufzustellen, dass die moderne Naturwissenschaft, in gewissen Grenzen, geradezu beweise, geradezu letztgültig mathematisch-physikalisch belege, was östliche Weisheit ohnehin schon seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden behauptet habe. Das berühmteste Buch dieser Art erschien Mitte der 70er Jahre, Fritjof Capras „The Tao of Physics“, das „Tao der Physik“. Capra, ein österreichisch-amerikanischer Physiker, [hat] damals, zunächst in einem kleinen Verlag und ohne dass das viel Aufsehen erregt hätte, dieses Buch veröffentlicht und hat versucht zu zeigen, dass man die moderne Quanten­theorie auch östlich-buddhistisch interpretieren kann.

Er selbst ist mittlerweile von diesen Thesen ein bisschen abgerückt, er hat sie relativiert. Sie sind ja auch arg überstrapaziert worden und arg popularisiert worden und auch verflacht worden. Aber da war doch etwas enthalten, was zumindest viele aufmerken ließ. Geht das dann? Ist das möglich? Nun ist auch das nicht neu, schon die Gründerväter der Quantentheorie, etwa Niels Bohr oder Werner Heisenberg oder Erwin Schrödinger und andere, hatten ja diesen Gedanken erwogen, ob nicht vielleicht die moderne Physik, in diesem Falle die Quantentheorie, in irgendeiner Form zusammengedacht werden könnte mit östlich-asiatischen Gedanken.

Nun will ich Ihnen das versuchen zu erläutern am Beispiel der Chaostheorie und der sogenannten Systemtheorie und versuchen zu zeigen, welche Ansätze es gibt, das zusammenzudenken mit dem Buddhismus. Ich muss das noch etwas genauer sagen. Es geht nicht um den Buddhismus schlechthin als ein religiöses oder spirituelles System. Es geht meistens bei diesen Versuchen, das zusammenzudenken, um eine bestimmte Facette des Buddhismus, um eine bestimmte Facette des Mahayana-Buddhismus. Es geht weniger um den traditionellen, den Ur-Buddhismus, den sogenannten Hinayana-Buddhismus, es geht in erster Linie um jene mächtige Strömung seit dem zweiten, dritten nachchristlichen Jahr­hundert, die man als den Buddhismus des „großen Fahrzeugs“ bezeichnet, als den Mahayana-Buddhismus. Und es geht da zentral um einen Begriff, der in der westlichen Diskussion, auch konkret der Wissenschaftler mit dem Dalai Lama etwa, immer wieder auftaucht, nämlich um den Begriff der Leere. Nicht mit ‚eh‘, sondern Doppel ‚e‘, Leere, das Leer-sein der Phänomene, die Nicht-Substantialität, die Nicht-Dinghaftigkeit, als ein zentra­les Element der mahayana-buddhistischen Weltüberzeugung. Der Begriff der Leere taucht im traditionellen oder im Ur-Buddhismus kaum auf. Ganz selten finden wir im klassischen Pali-Kanon den Begriff „shunyata“, „Leere“. Aber im Mahayana-Buddhismus ist er der Schlüsselbegriff überhaupt. Die Welt ist leer. Sie ist nicht Selbst, sie ist nicht Atma, sondern sie ist An-Atma. Sie ist in der Tiefe wirklich und Maya-Schein zugleich. Und das hat Interpreten, übrigens nicht nur in Europa, auch in Asien, bis heute nicht losgelassen. Was meinen die Buddhisten, wenn sie von shunyata reden? Und es liegt natürlich nahe, hier zu sagen, natürlich, das wissen wir ja in der neueren Physik, der Äquivalenz von Masse und Energie. Die Welt hat diese Dinglichkeit im naiven, realistischen Sinne nicht. Und es lag natürlich nahe, hier Zusammenhänge herzustellen. Also es geht um den Mahayana-Buddhismus. Es geht um den zentralen Begriff der Nicht-Dinghaftigkeit, der Nicht-Substantialität, der Leere der Welt.

Nun, die sogenannte Chaostheorie war ja viele Jahre sehr populär. Es gab eine Unzahl von Büchern, auch gelegentlich kritische Darstellungen, vor 4, 5 Jahren der berühm­te Zweiteiler im „Spiegel“, und es hat viele Diskussionen um die sogenannte Chaostheorie gegeben. Ich will Ihnen mal versuchen, die Chaostheorie von einem Gesichtswinkel aus in ganz kurzer Form nur zu umreißen, der meistens nicht genannt wird. Ich bin darauf gekommen durch einen der führenden Mathematiker der Chaostheorie [Ralph Abraham], den ich vor drei Jahren in Wien bei einem Symposion kennengelernt hatte, was ich selber moderieren sollte, auch moderiert habe. Wir haben eingehend über diese Fragen gesprochen, und er hat mir eine erstaunliche Sache mitgeteilt, die ich jetzt erst kürzlich in einem seiner Bücher auch nachgelesen habe. Er hat nämlich Folgendes gesagt: Die Entwicklung der sogenannten Chaostheorie, die ursprünglich ein Zweig der Komplexen Mathematik war, die niemand in der breiten Öffentlichkeit irgendwie interessiert hat, war ein paralleles Phänomen zur psychedelischen Revolution. Viele der maßgebenden Leute haben selber LSD genommen. Sie haben ganz bestimmte psychoaktive Substanzen genommen, übrigens auch Abraham selbst. Und sie haben in den 60er Jahren in einem ganz bestimmten, auch kulturell gefärbten Untergrundmilieu diesen Begriff „Chaos“ für diese neue Theorie geprägt. Und dieser Begriff als ein Pop-Begriff, als ein Pop-Begriff im Rahmen der psychedelischen Kultur Kaliforniens der 60er Jahre, hat dann weltweit Furore gemacht. Normalerweise hätte diese hochschwierige, hochkomplexe Theorie der dynamischen Systeme niemanden ernsthaft interessiert, und sie ist auch zunächst auf ganz große Abwehr gestoßen bei durchgängig allen Naturwissenschaftlern. Es hat, was man heute fast vergessen hat, mehr als zehn Jahre gebraucht, ehe es zaghaft überhaupt anfing, dass Physiker sich interessierten für diese sogenannte Chaos-Mathematik. Zehn Jahre lang hat sie es überhaupt nicht interessiert. Es gab Stellungnahmen von führenden Physikern gegen diese Chaostheorie. Seit ungefähr 1973 kann man sagen, beginnt dann, was man als „chaos-revolution „bezeichnet, also die sogenannte Chaostheorie.

Ich sage es noch mal: „Chaos“ war ein Pop-Begriff, denn ursprünglich ist ja „Chaos“ ein Begriff, der ganz anders besetzt war, ein Begriff in der griechischen Mythologie. Er steht, wenn ich es richtig weiß, in der Kosmogonie des Hesiod, parallel zu den Begriffen Gaia, Erde und Eros. Gaia, Eros und Chaos werden gleichzeitig geschaffen und Chaos war in der altgriechischen Weltvorstellung der nicht geordnete Weltengrund, der ungeformte Urgrund der Welt, aus dem dann die geformte kosmische Welt erwuchs. Und die gesamte griechische Geistigkeit kann man verstehen als das Bemühen zu denken, wie der Kosmos aus dem Chaos entstand. Und in der neueren Denkbewegung auch der Naturwissenschaft seit dem 16., 17. Jahrhundert, war Chaos immer negativ belegt, immer als ein extrem negativer Begriff. Chaotisch ist alles, was wir heute noch im Sprachgebrauch, alles das, was ungeordnet ist. Der Kosmos, so hieß es ja seit Galilei, Newton, Laplace und anderen, der Kosmos ist gerade geordnet. Der Kosmos ist die Ordnung. Das Chaos ist das, was der Kosmos gerade überwunden hat, was er hinter sich gelassen hat.

Nun macht Abraham in seinem Buch „Chaos, Gaia, Eros“ auf faszinierende Weise deutlich, was der Ursprung der Frage nach dem Chaos im Denken über die Natur überhaupt war. Und auch das findet sich eigenartigerweise in vielen der populären Darstellungen über die Chaostheorie überhaupt nicht, deswegen erwähne ich das. Der Ausgangspunkt, meint Abraham, war eine Preisfrage, vor knapp 100 Jahren, gestellt von einer französischen Akademie der Wissenschaften an die scientific community der Zeit, an die Elite der Naturwissenschaftler und Mathematiker, nämlich folgende Frage: Warum ist das Sonnen­system stabil?

Und jetzt [könnte man] denken: Was ist das für eine Frage, was soll diese Frage? Aber sie ist sehr ernst gemeint und sehr tief. Warum ist das Sonnensystem stabil, d.h. warum bewegen sich die Planeten mit dieser doch erstaunlichen, mit dieser frappanten Regelmäßigkeit, von ganz geringen Abweichungen einmal abgesehen? Und das wusste man immer, dass es Abweichungen gibt, dass die Planeten in keiner Weise ganz genau, ganz präzise den Newtonschen Gesetzen folgen. Man musste dann immer wieder fiktiv neue, unbekannte Planeten entdecken, in Anführungszeichen, die es gar nicht gab, um diese Anomalien zu erklären. Ohne Erfolg, bis heute ist es so, das weiß jeder Astronom, dass Ungenauigkeiten, Anomalien in den Bahnen vorliegen. Also die Frage, warum ist das überhaupt so konstant geordnet? Das hat schon, auch das ist meistens vergessen worden in der Wissenschaftsgeschichte, Newton beschäftigt und hat … war ein Element seiner berühmten Kontroverse mit Leibniz, nämlich die Frage: Wie ist es mit der Ordnung in der Welt? Newton meinte ja, eine in sich konsistente Ordnung, eine immanente Ordnung, die sozusagen einmal von Gott in Gang gesetzt wird und nun in alle Ewigkeit weiterläuft, kann es nicht geben. Gott müsste von Zeit zu Zeit in diese Welt eingreifen, um zu verhindern, dass das Weltensystem dem Chaos anheimfällt. Das hat ja den Spott von Leibniz und der Leibnizianer hervorgerufen. Und das war eine Kontroverse: Ist das ein immanentes mechanistisches System? Einmal angestoßen, läuft es bis in die Ewigkeit weiter? Oder muss der Schöpfer, der das Ganze in die Welt gebracht hat, immer wieder eingreifen? Newton nahm an, der Schöpfer müsste eingreifen, und es gab einen Zeitgenossen Newtons, den heute keiner mehr kennt, einen gewissen Wiston, William Wiston, der war eigentlich in gewisser Weise schon ein Protagonist der Chaostheorie, der meinte, der Kosmos ist eigentlich gar nicht kosmisch, der ist chaotisch. Auf dem Untergrunde des Chaos und des Kosmos gibt es das Chaos, und auch das Sonnensystem ist ständig gefährdet durch Asteroiden-Impakte, damals noch Kometen-Impakte, etwas was Newton in der Form scharf zurückgewiesen hat. Also die alte, auch heute ja viel diskutierte Frage: Ist es möglich, dass etwa die Erde von einem Asteroiden getroffen wird? Wurde schon im 17., im späten 17. Jahrhundert ernsthaft diskutiert und zwar im Zusammenhang mit dem berühmtesten Kometen, der dann nach Halley auch „Halleyscher Komet“ genannt wurde. Auch das ist eine Geschichte, die die meisten heute vollkommen vergessen haben. Noch 1910, wissen Sie ja vielleicht, beim vorletzten Durchgang des Halleyschen Kometen, hatten einige Physiker errechnet, die Erde würde durch den Schweif des Kometen durchgehen, es würde eine gigantische Katastrophe geben. Angeblich soll es auch Panik gegeben haben und Massen­selbstmorde.

Nun also, wie sicher ist diese Ordnung, das war der Ausgangspunkt. Und wenn man davon ausgeht, dass diese Ordnung gar nicht so sicher ist, wie man glaubt, dann muss man den Begriff „Ordnung“ ganz anders fassen, und das macht die Chaostheorie. Die Chaos­theorie sagt ja nicht, die Welt ist chaotisch, es geht drunter und drüber, sondern die Chaostheorie versucht ja, in diese scheinbare Unordnung eine neue Ordnungsvorstellung reinzubringen. Sie versucht ja zu zeigen: Gibt es eine andere, eine neue, vielleicht eine tiefere Ordnung, die wir bisher noch gar nicht gesehen haben? Die kann man mathematisch beschreiben. Und das ist möglich, da gibt es also eine Fülle von mathematischen Verfahren, die man in dem Zusammenhang anführen kann.

Und da hat die Chaostheorie Erstaunliches geleistet, ein Element nur dazu: Zum Beispiel, ist es ja im Sinne der früheren Mathematik vollkommen unmöglich, etwa die ungeheure Komplexität einer einzigen Küstenlinie zu berechnen. Das kann man mit der Chaos-Mathematik machen. Man kann sich zu diesem Behufe ganz bestimmter Computer­simulationen bedienen. Und auch das geschieht ja, das wissen Sie alle. Die Chaos-Mathematik ist ja nicht zu denken ohne die parallell laufende Computersimulation.

Nun ist es interessant, dass dieser Ralph Abraham, von dem eben die Rede war, sich selbst als einen hochspirituellen Menschen versteht, war mal in Indien, hat Indien [in] geforscht, hatte indische Lehrer, hat sich intensiv mit indischer Spiritualität beschäftigt, und dieser selbe Abraham war der Auffassung, oder ist noch immer der Auffassung: Was die Chaostheorie mittels ihrer mathematischen Mittel und mittels der Computersimulation leistet, ist in der Essenz spirituell. Es ist nicht etwa ein Parallelphänomen oder ein Etwas, was man erst zusammenführen müsste. Das ist selber in sich schon spirituell. Durch diese, wie er das nennt, visuelle Mathematik würde die Mathematik vollkommen neu definiert, radikal neu definiert als ein System von Raumzeitmustern, die zu tun haben mit der Tiefe, mit der Tiefenstruktur der Welt überhaupt, die an sich spirituell sei. Ich habe damals vor drei Jahren in dieser Podiumsdiskussion dagegen gesprochen und habe meine Überzeu­gung vertreten, dass ich diese Zusammenführung in der Form für nicht tragbar halte. Ich habe damals gesagt, ich will das nachher auch noch andeuten, dass hier doch zwei völlig verschiedene Ebenen vorliegen und dass man sehr vorsichtig sein muss, dass man nicht allzu schnell eine spirituelle Ebene, die ja subjektiv vollkommen authentisch ist, zusam­menbringt mit dieser anderen Ebene. Denn es geht ja nicht um die Frage, ob der einzelne Naturwissenschaftler vielleicht buddhistisch orientiert ist, das kann er ja sein. Er kann ja auch Christ sein oder Moslem oder Anthroposoph oder sonst etwas. Er muss ja im Rahmen der scientific community genauso forschen, wie es die herrschenden Methoden vorgeben. Und nur so kann er ja überhaupt in irgendeiner Form wissenschaftlich Karriere machen. Nicht als Buddhist, nicht als Christ, nicht als Moslem. Das gilt ja bekanntlich als seine private Überzeugung. Er kann von mir aus einer Sekte angehören, der kann die monströ­sesten Privatvorstellungen über die Welt haben. Aber als Wissenschaftler, als Teil dieses großen Systems der wissenschaftlichen Gemeinde, der scientific communities, hat er sich streng an die herrschenden Regeln zu halten.

Also, es geht nicht darum, dass einzelne Forscher religiös sind. Das sind viele, das war Planck, das war Heisenberg, das war Einstein, das ist Carl Friedrich von Weizsäcker und viele andere. Sondern es geht um eine viel weiter reichende Frage, die über das Individuelle vollkommen hinausgeht. Es geht um etwas Kulturell-Kollektives, ob da eine Zusammenführung möglich ist. Es geht also weit über den Einzelnen hinaus.

Also, die Chaostheorie war ursprünglich, ich sage es noch mal plakativ vereinfacht, ein Feld der Mathematik, der Beschreibung sehr komplexer Systeme. Sie hat auf ungeheuer differenzierte und subtile Weise reussiert, damit Komplexität zu beschreiben. Sie war damit unvorstellbar erfolgreich, was immer man nun davon im Einzelnen halten mag.

Nun, es ist still geworden, ich sagte das schon, um die Chaostheorie. Dafür mag es Gründe geben. Andere Theorien sind mehr diskutiert in diesen letzten Jahren, etwa die sogenannte Systemtheorie. Was ist die sogenannte Systemtheorie, die vielleicht im Moment wichtigste, auch übrigens ökologisch wichtigste Theorie der modernen Naturwissenschaft? Ich will das in aller Knappheit Ihnen mal verdeutlichen und dann versuchen, die Zusam­menhänge, soweit sie zu benennen sind, auch zu benennen.

Ich habe mal die wichtigen Punkte dieser sogenannten Systemtheorie in aller Knappheit zusammengetragen, thesenhaft, und will Ihnen das mal vorstellen. Das sind 11, 12 zentrale Thesen. Die Systemtheorie, ganz kurz geschichtlich, entstand in den späten 40er Jahren aus einem bestimmten Prozess heraus, der zur Entwicklung der modernen Computer führte, entstand letztlich aus der Kybernetik. Folgende Grundthesen behauptet die Systemtheorie, weltweit, alle maßgeblichen Vertreter.

Erstens. Sie behauptet: Alles in der Natur, buchstäblich alles, ist miteinander vernetzt, sozusagen, flapsig gesagt, die Welt ist ein gigantisches Internet auf allen Ebenen, vom subatomaren Bereich bis zu den Galaxien. Alles hängt mit allem zusammen. Es gibt ein großes Netz des Lebens, „web of life“, das sogenannte „Lebensnetz“. Und, sagen die System­theoretiker, es gibt überhaupt keine isolierten Einheiten. Nichts, absolut nichts, auch nicht ein subatomares Teilchen oder ein einzelner Mensch oder ein Planet ist in irgendeiner Form isoliert. These 1. Das ist alles miteinander verbunden.

Zweitens, hängt damit eng zusammen. Man postuliert, dass die Welt als Ganzes auf den verschiedenen Ebenen nur aus dieser Ganzheit heraus überhaupt verstanden werden kann. Sie kann nur als Ganzheit und als Ganze interpretiert werden, also nur holistisch. Und das Ganze bestimmt auch die Teile. Und das gilt für die lebendige Welt, für die organische Welt, genauso für die anorganische … wie für die anorganische Welt. Und in diesem Kontext polemisieren die Systemtheoretiker seit 30 Jahren sehr scharf gegen den früheren Atomismus, gegen das frühere mechanistische Denken mit dem Anspruch, sie hätten eine höhere, eine adäquatere Ebene der Wirklichkeitserkenntnis erreicht. Also, keine Zersplit­terung, keine atomistische Vereinzelung, sondern das Ganze zählt. Naheliegend, dass auch die Ökologie sich immer wieder auf die Systemtheorie stützt.

Dritte These. Es wird behauptet, in allen Schriften, die relevant sind, der System­theoretiker, von Gregory Bateson bis heute zu Capra, seinem letzten Buch „Lebensnetz“, es gäbe, ich sage es bewusst mal im Konjunktiv, keine Trennung von Geist und Natur. Die Welt sei nicht so zu verstehen, als ob die Natur, die physisch-sinnlichen Phänomene, das, was die Naturwissenschaft beschreibt, in irgendeiner Form vom Geist getrennt werden könnte. Es gibt diese berühmte Formel von Gregory Bateson, er sagt: Der Geist hat überhaupt keine Eigen-Existenz, sondern ist ein Muster, er ist the pattern that connects, ist das Muster, das die Phänomene verbindet. Er ist immanent. Der Geist ist also kein metaphysisches Prinzip, das von außen in die Welt eindringt, sondern der Geist ist immanent. Er ist in der Welt selber, ist selber die immanente Ordnung der Welt, und damit wird jeder Geist-Körper-Dualismus vollständig zurückgewiesen. Die Welt selber, einschließlich der biologischen Welt, ist Kognition, Erkenntnis und Information; [das ist der] Punkt, einer der zentralsten Punkte überhaupt. Also Geist und Natur werden auf diese Weise zusammengeführt.

Vierte These. Mit dieser These verbindet sich bei den führenden Systemtheoretikern immer die Vorstellung einer Relativierung jeglicher Naturerkenntnis. Die früheren Absolut­heitsansprüche werden zurückgenommen, also in dem Sinne: Da draußen existiert eine Welt, hier ist der Naturforscher, und der ist in der Lage, bis zu einer gewissen Annäherung tatsächlich diese Welt da draußen abzubilden. Das berühmte Repräsentationsparadigma, was ja immer die Schwäche hatte, das haben ja die Philosophen schon im 18. und 19. Jahrhundert gesehen, dass das Subjekt, der Einzelne, der Betrachter, draußen vor blieb. Das ist ja die berühmte Subjektblindheit der Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaftler bilden eine Welt ab, und sie selber als Subjekte tauchen überhaupt nicht auf. In physika­lischen Lehrbüchern gibt es nicht das lebendige Subjekt, es gibt das anonyme Beobachter-„man“, „m a n“, und nicht den einzelnen Menschen, der leidet, der fühlt, der Schmerz empfindet, der sich freut, der spielt keine Rolle, auf den ist es nicht abgesehen. Also, eine starke erkenntnistheoretische Skepsis bis dahin, dass man sagt, jede Erkenntnis ist eigentlich zirkulär. Wir können aus der Zirkularität dieser Erkenntnis der Welt nicht ausbrechen. Wir können keinen Standpunkt, keinen archimedischen Punkt finden, von dem aus wir das Ganze einfach so souverän überblicken können. Wir sind immer Teil der Welt, Erkenntnis ist immer zirkulär. Ein ganz wesentlicher Aspekt, den vor allem die bedeuten­den chilenischen Neurophysiologen Umberto Maturana und Francisco Varela in den Vor­dergrund ihrer Forschung gestellt haben. Nicht zufällig übrigens, dass dieser selbe Varela als einer der maßgebenden Systemtheoretiker selber sich als Buddhist versteht. Er ist Buddhist und tritt als Buddhist auch auf und hält auch als Buddhist Vorlesungen und versucht das auf seine Weise zusammenzubringen.

Fünfter Punkt der Systemtheorie. Die Systemtheoretiker kritisieren den Neo-Darwi­nismus, und zwar auf eine sehr scharfe Weise. Sie zeigen aufgrund einer Fülle von Evidenzen, dass die natürliche Zuchtwahl, natural selection, und auch der struggle for life und all diese Punkte, die im Neo-Darwinismus angeführt werden, so nicht haltbar sind, dass man Evolution anders interpretieren muss, dass ein ganz wesentliches Moment bei Darwin fehlt, nämlich das eigenschöpferische Element des Naturprozesses, das eigen­schöpferische Element, was ja bis zu einem gewissen Grade immer auch zu tun hat, damit, dass die Evolution auf ein bestimmtes Ziel hingeht, auf ein Telos. Insofern ist diese Betrachtungsweise auch teleologisch. Sie zielt auf ein Telos, auf ein Ziel ab. Darwin hatte ja diese Zielvorstellung radikal abgeräumt. Das war ja ein wesentlicher Affront seinem ganzen Zeitalter gegenüber, als sein [Darwins] Epoche-machendes Buch 1859 erschien. Es gibt keine Zwecke, keine Ziele, die kann man nach wie vor glauben, aber man kann sie wissenschaftlich überhaupt nicht belegen. Es gibt nur Ursachen, die in der Vergangenheit liegen. Also, eine starke Kritik am herkömmlichen Darwinismus, auch am Neo-Darwi­nismus. Man setzt nun einen Begriff dagegen, ich nenne diesen Begriff mal, den Begriff „emergence“, „Emergenz“. In den meisten Übersetzungen, deutschen Übersetzungen dieser Texte, wird der Begriff einfach so stehen gelassen. Er meint an sich ein Heraufquellen, ein Heraufkommen eines vorher nicht Dagewesenen. Er meint einen schöpferischen, ein ur-schöpferischen Akt im Prozess der kosmischen Evolution. Wenn man sagt, ein Phänomen emergiert, meint man, es ist zwar in gewisser Weise verbunden mit der Ebene, die davor liegt, aber es erscheint etwas vollkommen Neues, also etwas, was sich nicht herleiten lässt, kausal ableiten lässt von der Ebene davor. Also schöpferische Prozesse werden im Weltall unterstellt.

Der nächste Punkt der Systemtheorie, der hängt zusammen mit der Vorstellung, was Geist ist. Ich hatte ja gesagt, Geist wird verstanden als ein Muster, „a pattern that connects“, ist der Begriff der „Autopoiesis“, berühmt geworden, mittlerweile ja weltberühmt, der Selbstorganisation. Es wird gesagt, Materie organisiert sich selbst, was immer das heißen mag. Da wird kein Selbst im Sinne der menschlichen Ichhaftigkeit angenommen. Es wird gesagt, die Materie organisiert quasi sich selbst, immanent, Autopoiesis, und wir bedürfen keines transzendenten Schöpfers von oben oder keines transzendenten Geistes von oben. Wir bedürfen im Grunde keiner metaphysischen Hinterwelt. Alles ist immanent, so in diesem Sinne natürlich zu erklären, und auch das Leben bestimmt sich durch Autopoiesis, durch Selbstorganisation auf allen Ebenen.

Dann ist der nächste Punkt, dass in all diesen Vorstellungen immer davon ausge­gangen wird, ähnlich wie in der Chaostheorie, dass man die Phänomene, die System­phänomene computermäßig simulieren kann. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Das geschieht doch ständig.

Nächster Punkt. Wir sind gleich am Ende dieser Skala von Elementen. Man nimmt an, dass zwar die einzelnen Systeme in der Welt, etwa ein Ökosystem oder ein Gesellschaftssystem oder ein subatomares System oder ein wie immer geartetes biologisches System, eine relative Autonomie hat, also eine relative Autonomie, aber im Grunde genommen wird davon ausgegangen, dass die Welt nur auf einer, gleichsam auf einer Ebene funktioniert. Es gibt also nicht in irgendeiner Form höhere Welten, etwa im Sinne der anthroposophischen Vorstellung von höheren Intelligenzen, höheren Hierarchien darüber, das alles wird radikal abgeräumt. Das Ganze wird in die pure Immanenz hinein­gezogen. Und damit wird natürlich auch der herkömmliche Dualismus scharf kritisiert. Und es gibt in all diesen Büchern nun immer wieder den Versuch, die Entwicklung der Welt nun systemisch zu begreifen, nicht systematisch. Da ist ein neues Adjektiv eingeführt worden, das im Duden, jedenfalls in dem Duden, den ich habe, noch gar nicht existiert. „Systemisch“ taucht oft gar nicht auf als Adjektiv, ist nicht „systematisch“. Man muss vielleicht noch kurz sagen, das „System“ stammt aus dem Griechischen, meint Ursprung. [Griechisch] „sistema“ ist fast synonym mit Ordnung, das Zusammengefügte, das Zusammengesetzte. Platon war einer der ersten, der das Wort „sistema“ für die Erde, für das kosmische System als Ganzes angewandt hat.

Nun, wenn das so ist, wenn die Welt so aussieht, dann ist das zunächst einmal eine abstrakte Beschreibung der Welt. Was hat das zu tun mit den sehr lebendigen spirituellen Innenwelten, die ja natürlich den Menschen erstmal primär interessieren?

Jetzt zum Buddhismus. Ich hatte gesagt, der zentrale Begriff der mahayana-buddhistischen Lehre ist der Begriff „shunyata“, der Nicht-Selbstheit. Was heißt das? Buddha war davon ausgegangen, dass das Ich, das Selbst, dass der Einzelne in sich spürt ‒ jeder Einzelne von uns hier im Raum spürt sich in sich als ein Ich, als ein Selbst, er ist er selbst, die anderen sind eben die Anderen, jeder hat sich selber nur unmittelbar ‒ , dass dieses Ich und Selbst in der Tiefe, so wie wir es wahrnehmen, nicht existiert. Das Ich oder Selbst ist eine Täuschung, es existiert nicht. Im Gegensatz dazu ja bekanntlich die abend­ländische Überzeugung, dass Ich, das Selbst, die Individualität ist das Kostbarste über­haupt, was der Mensch hat, „höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit“, heißt es ja in einem Goethe-Gedicht. Und wenn ein Leben nach dem Tode im Abendland in irgendeiner Form jemals gedacht wird, es ist ja oft gedacht worden, dann verbindet der Abendländer oder verbinden die meisten Abendländer damit die Vorstellung, dass eine wie immer geartete Individualität nun weiterexistiert. Während die Buddhisten immer davon ausgehen, der Einzelne als Einzelner existiert gar nicht mehr. Er verschwindet in gewisser Weise, er löst sich auf in einen Seinszustand, den zu beschreiben die Sprache nicht ausreicht, und es ist ja immer wieder versucht worden: Was ist denn dieser Zustand der Erleuchtung oder des Angekommenseins in diesem absoluten Seinszustand des Nirvana? Was ist das denn überhaupt? Kann man da etwas zu sagen? Ist das das Nichts? Sind die Buddhisten vielleicht im Grunde Nihilisten? Das ist ja auch verschiedentlich so gesehen worden. Schon Zeitgenossen von Buddha haben ihn als einen Nihilisten kritisiert. Wir haben dann mit einigem Recht ja auch erst mal gesagt: Du nimmst an, es gibt Wieder­verkörperung. So. Du sagst aber gleichzeitig, es gibt überhaupt keine Seele. Denn Buddha hat unermüdlich in seiner 45-jährigen Lehrtätigkeit immer wieder gesagt: es gibt nur an-atma, kein atma, es gibt keine Seele. Also die Frage: Wenn es keine Seele gibt, was rein­karniert sich eigentlich? Dann muss sich etwas Anderes reinkarnieren als die Seele. Ja, was? Und dann die große Frage: Was reinkarniert sich, ein karmischer Bewusstseinsstrom in irgendeiner Form? Da geht etwas weiter, so wird angenommen, was aber nicht identisch ist mit dem Einzelnen. Und die Frage, die dann immer wieder auftauchte, war naheliegend und ist auch heute noch ein erkenntnismäßig schwer zu verdauender Brocken.

Ja, wenn ich gar nicht der Andere oder die Andere wirklich bin und dessen oder deren karmische Last ich aber jetzt, heute hier tragen muss, und ich leide zum Beispiel, weil der oder die etwas gemacht hat, wie ist denn da die Verbindung überhaupt? Und das hat schon Buddha mit einem Paradoxon beantwortet, hat gesagt: Du bist der Andere, die Andere und gleichzeitig bist du es nicht. Das heißt, kann man sagen, er hat sich aus der Affäre gezogen. Er hat gesagt, das kann man nur paradox beantworten, nicht im Sinne der aristotelischen Logik. Ja, bist du nun, würde ja der Abendländer naiv sage, bin ich nun der Betreffende, oder bin ich es nicht? Buddha hat gemeint, die Frage ist so nicht zu beant­worten, weil du bist es, und du bist es nicht, gleichzeitig.

Was hat das für eine Konsequenz für die Überzeugung von der Existenz von Welt? Was ist die Welt für den Buddhisten, auch für den Mahayana-Buddhisten? Das ist im Laufe von Jahrhunderten eine riesige Literatur, im Mahayana-Buddhismus immer wieder versucht worden, auf den Punkt zu bringen. Diese Welt ist in gewisser Weise für den Buddhisten auch eine Art System, aber ein System, was sich ausschließlich speist durch Bewusstsein. Und nur Bewusstsein ist die eigentliche, qualitative Essenz der Welt, das ist wesentlich für den Buddhismus. Der Buddhismus ist eine Bewusstseinslehre. Er ist, wenn man das so nennen will, eine Tiefenpsychologie. Alles ist Bewusstsein und Bewusstsein erfüllt die Existenz des Einzelnen, gelingt oder scheitert am Bewusstsein. Und dieses Bewusstsein ist nicht einfach das Ego, das Ich oder das Selbst. Dieses Bewusstsein ist ein Ur-Bewusstsein. Oftmals wird im Mahayana-Buddhismus von einem Speicher-Bewusstsein gesprochen, das den ganzen Raum erfüllt, das unendlich und ewig ist, ja in gewisser Weise mit dem Raum identisch ist.

Einige westliche Interpreten haben dann einen Begriff dafür gewählt aus der europäischen Philosophietradition, den Begriff der Weltseele und ob man nicht das, was Platon und Plotin, Giordano Bruno, Schelling und Andere als die Weltseele bezeichnet haben, ob man nicht das verwenden kann für dieses Ur- oder Grundbewusstsein oder Speicherbewusstsein der Mahayana-Buddhisten. Ist die Welt nun in diesem Sinne für die Mahayana-Buddhisten einfach Schein? Das ist sehr schwer zu sagen. Sie changiert zwischen Schein und Wirklichkeit. Niemals würden die Mahayana-Buddhisten in einem direkten und absoluten Sinne sagen: Die Welt, wie wir sie sinnlich wahrnehmen, ist einfach eine Illusion. Das findet man, diese Vorstellung findet, man in den „Upanishaden“. Da wird es gesagt: Diese Welt ist Maya. Diese Welt ist in einem absoluten Sinne ein Traum eines unbekannten, absoluten Wesens, das sich in die Vielzahl der Einzel-Existenzen hinein verstrickt [hat]. Diese Welt ist Maya, Schein. Die Buddhisten sind da vorsichtiger. Sie betonen schon den Wirklichkeitscharakter der Welt, aber sagen gleichzeitig das ist keine eigentliche, keine wahre Wirklichkeit, es ist eine sehr relative Wirklichkeit. Also auch da ein paradoxes Changieren zwischen den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Schein. Und auch hier die Frage im Grunde eine Scheinfrage: Ist die Welt nun wirklich, oder ist sie Schein? Sie ist beides. Sie ist wirklich und Schein zugleich.

Nun hat nach der Vertreibung des Dalai Lama und der intellektuellen Elite Tibets in den späten 50er Jahren, der Film „Kundun“, der jetzt läuft, zeigt das hier auf eindrucksvolle Weise. Der tibetische tantrische Buddhismus [hat] einen Siegeszug um den Planeten ange­treten, der auf seine Weise wirklich einzigartig ist. Und sehr viele haben nun bestimmte Elemente dieses Denkens aufgegriffen und versucht zu zeigen oder plausibel zu machen: Gibt es vielleicht Zusammenhänge? Wenn die Buddhisten so etwas sagen, dass die Welt Bewusstsein ist und nur Bewusstsein, ein gewaltiges System des Bewusstseins, ist das nicht dann doch ähnlich, wenn die Systemtheoretiker sagen: Es gibt nur dieses gewaltige Netz, dieses Netz „web of life“ der Phänomene? Ist das nicht im Prinzip, in der Tiefe, im Kern, das Gleiche? Warum soll man da differenzieren? – Da muss man, und das soll jetzt der nächste Schritt sein, genau differenzieren, wovon man redet.

Man muss sich hüten, meine ich, dass man nicht grundsätzlich voneinander getrennte Ebenen einfach in eins setzt. Denn die Grundhaltung der neuzeitlichen Natur­wissenschaft der Welt gegenüber seit dem 16. Jahrhundert, auch die der Chaostheorie oder Systemtheorie oder wie immer, geht letztlich nicht davon aus, wie in der Spiritualität des Buddhismus, dass es höhere, dass es transzendente, dass es über die Ratio hinausgehende Erfahrungsdimensionen gibt oder Bewusstseinsdimensionen. Es gibt keine Hierarchie höherer Bewusstseinszustände, höherer Seinszustände. Das wird gerade und ist gerade hier seit der Aufklärung abgeräumt worden. Die höchste Stufe ist die rational- ichhafte die Stufe, und diese Stufe wird von der Aufklärung als die allein wichtige favorisiert. Das ist ein wesentlicher Punkt.

Die Aufklärung und mit ihr die neuzeitliche Naturwissenschaft setzt auf die rationale Ichhaftigkeit. Wenn sie sagt: Wenn es so etwas geben sollte wie diese höheren Bewusst­ seinsstufen, von denen alle spirituellen Traditionen berichten, dann sind sie nicht beweisbar. Also, eine radikale These wäre: Es gibt sie gar nicht. Das wäre eine dogmatische Geste. Was ihr für höhere Bewusstseinszustände haltet, ist letztlich Pathologie. Da würde man extrem sagen, na gut, dann ist also auch ein Erleuchtungszustand, wie ihn Buddha für sich reklamiert, letztlich ein pathologischer Zustand. Er hat zwar keine psychoaktive Substanz eingenommen, hätte er aber vielleicht tun können, und es ist letztlich eine Quasi- Pathologie. Alles, was heilige Menschen, spirituelle Menschen im Laufe der Jahrhunderte behauptet haben, existiert gar nicht, [ist] pathologisch. Oder man sagt, das ist ja eher die Meinung, gut, ich akzeptiere das, es gibt diese Zustände. Es scheint wohl so zu sein. Ich habe es nicht erlebt, wird oft gesagt, aber bitte sehr. Es scheint diese Zustände zu geben, aber, sie haben keine Relevanz für die naturwissenschaftliche Fragestellung, weil sie sind nicht verifizierbar, sie sind nicht beweisbar. Und das ist ein entscheidender Punkt, den auch Ken Wilber in seinen Schriften ja seit 20 Jahren immer wieder anspricht. Und auch in seinem letzten Buch „Naturwissenschaft und Religion“. Es wird gesagt, sie seien nicht beweisbar. Es wird so getan, als gäbe es überhaupt keine Kriterien zu unterscheiden, was ist Halluzination, was ist pure Phantasie und was ist in irgendeiner Form objektivierbare Wirklichkeit?

Nun gibt es ja buddhistisch-spirituelle Systeme, übrigens auch im Zen-Buddhismus, die durchaus Kriterien angeben für die Objektivierbarkeit dieser Erfahrungen. Es gibt durchaus Kriterien, es gibt Stufen-Modelle, auch in anderen spirituellen Traditionen. Es ist nicht so, dass diese höheren Stufen im Niemandsland vollkommener Subjektivität sich aufhalten oder einer Belanglosigkeit oder Verbindlichkeit, die die pure Glaubenssache wäre. Das kann schon deswegen nicht sein, wenn man sich mal anschaut, wie weltweit, in allen Zeiten und Kulturen ganz bestimmte grenzüberschreitende Erfahrungen beschrieben werden. Da gibt es Parallelitäten, da gibt es Ähnlichkeiten, da gibt es offenbar Zusammen­hänge. Es scheint so zu sein, dass Menschen in verschiedensten Zeiten und Epochen diese Bewusstseinszustände kontaktieren können in irgendeiner Form. Oft wird angenommen, dass ein jahrelanger, jahrzehntelanger Meditations- und Schulungsweg dazu erforderlich ist und dass dann auf den oberen Stufen bestimmte Zusammenhänge erkannt werden und dass die, die die Stufen auch erreicht haben, miteinander kommunizieren können. Dass da wirklich etwas ist, was ja auch die moderne Bewusstseinsforschung in den letzten 20, 25 Jahren denke ich, genugsam bewiesen hat. Auch die Bewusstseinsforschung, die ausgeht von den LSD-Erfahrungen der 60er und 70er Jahre, das ist ja auch versucht worden im Zusammenhang mit der transpersonalen Psychologie, diese meditativ erreichten hohen Bewusstseinszustände zusammenzubringen mit den Erfahrungen, die heute jeder Mensch machen kann, durch Psychedelika oder durch ganz bestimmte Atemtechnik, Fasten, Schlaf­entzug oder was auch immer.

Also, man muss sehr genau aufpassen, von welcher Ebene redet man, wie differen­ziert und subtil Naturwissenschaft auch immer die Welt betrachtet ‒ die Welt ist nie eigenlebendig, sie ist nie ein bewusstseinserfüllter, eigenständiger Dialogpartner. Die Naturwissenschaft ist immer in diesem Sinne monologisch. Ob ich einen Stein betrachte oder ein Ökosystem oder eine Galaxie, die spricht nicht, diese Phänomene sprechen nicht mit mir. Ich muss nicht in einen Dialog mit ihnen treten. Sie sind da, sie sind Phänomene der Außenwelt, die ich betrachte. Ich kommuniziere nicht als Mensch oder als Bewusst­seinswesen wie mit einem anderen Bewusstseinswesen. Wenn wir uns miteinander verständigen zu zweit, zu viert, zu sechst, wie immer, dann müssen wir ja immer erst einmal rausspüren, oder Sie, wenn Sie mir zuhören, was meint der Jochen Kirchhoff, wenn er diese Vokabel, diese Begriffe benutzt? Es geschieht ein Dialog in irgendeiner Form, auch wenn Sie nichts sagen, es geschieht ein Dialog, es wird etwas vermittelt über Sprache, das Sie selber innerlich nachvollziehen müssen. Es ist ja nicht eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Dies kann es ja nie geben, zwischen Menschen ist ja immer, wie Martin Buber gesagt hat, eine Dialog-Beziehung.

Und das ist schon mal ein wesentlicher Unterschied. Naturwissenschaft ist ihrem Wesen nach monologisch, sie ist nur dialogisch wenn sich einzelne Forscher untereinander verständigen über bestimmte Ergebnisse, dann ist sie natürlich auch dialogisch, dann ist sie intersubjektiv.

Und spirituelle Erfahrung ist in dem Sinne immer translogisch, sie überschreitet jede nur denkbare logische Dimension. Sie ist also nicht auf den Boden der sogenannten Wirk­lichkeit herabzubringen. Das heißt nicht, dass sie per se total unverbindlich und nur sub­jektiv wäre und dass darüber keine Verständigung möglich wäre. Ich habe ja gerade gesagt, dass das doch der Fall ist. Aber sie ist nicht mit den Gültigkeitskriterien der herkömmlichen Wissenschaft zu betrachten. Wer das versucht, muss scheitern, das kann nicht gehen, ich kann nicht ein Erleuchtungs- oder ein wie immer geartetes transpersonales Erlebnis in irgendeiner Form mit quantentheoretischen oder chaostheoretischen oder systemtheo­retischen Überlegungen verbinden. Ich kann nur sagen, hier liegt eine ganz andere Wirklichkeitsebene vor. Und da ist ein Punkt, der für mich zentral zu sein scheint bei dieser ganzen Auseinandersetzung, dass man anerkennen sollte, auch wenn einem das vielleicht schwerfällt, dass wir … dass wir in einer Welt leben, wahrscheinlich in einer Welt leben, in der es Ebenen der Wirklichkeit gibt, einfach Seinsebenen und dass wir ja alle darunter leiden, wenn wir diese Seinsebenen nicht integrieren können, wenn wir etwa die rationale, die intellektuelle Ebene, die wissenschaftliche Ebene eben nicht integrieren können, etwa mit der künstlerischen, mit der ethisch-moralischen Ebene oder der ichhaften Ebene. Aber die Aufgabe bleibt. Es kann ja nicht darum gehen, dass wir einen Punkt finden in der Vergangenheit, bevor sich diese Abzweigung, diese Bifurkation, um einen chaostheore­tischen Begriff zu verwenden, vollzogen hat, dass wir sagen, na gut, das hat sich jetzt herauskristallisiert, aber es sollte nicht so sein. Ich suche also nach einem Punkt in der Vergangenheit, wo das nicht so war. Es gibt ja viele Bücher, die in diese Richtung gehen. Man sucht einen Punkt in der Vergangenheit, wo diese als verhängnisvoll gesehene Abzweigung noch nicht vorhanden war. Man geht zum Beispiel in die frühe Neuzeit rein. Man geht noch weiter zurück. Man kann dann Platon, Sokrates heranziehen. Man kann in die frühen Hochkulturen zurückgehen, und kann sagen, da sind schon Weichenstellungen erfolgt, patriarchal, egozentrisch, machtbezogen. Schon da wurde die Welt als auszu­beutendes Objekt betrachtet. Das ist ja alles versucht worden, aber das wird nicht gehen, das ist vergeblich, weil, was vollzogen ist an herausdifferenzierenden Weichenstellungen kann nicht zurückgenommen werden. Und es ist ja gerade das, sage ich nochmal wie am Anfang, auch ein Gewinn der abendländisch-europäischen Aufklärung, ein wirklicher Gewinn, dass diese Herausdifferenzierung erst einmal erfolgt ist. Ob sie so bleiben muss in dieser ja eigentlich neurotischen Dissoziation, in der totalen Spaltung, können wir mit Fug und Recht verneinen. Nein, sie soll nicht so bleiben, bloß, das wirklich zu leisten, diese Ebene zusammenzubringen, ist eine ganz eigene und extrem schwierige und subtile Aufgabe und die ist nicht vollzogen worden, man soll sich da keinen Illusionen hingeben, auch wenn das vielleicht jetzt enttäuschend klingt. Diese … ich meine es nicht resignativ, aber bis zur Stunde kann man sagen, diese wirkliche Integration von Spiritualität, im Falle auch des Buddhismus, der mahayana-buddhistischen shunyata-Lehre, mit … also diese Verbindung, diese Integration mit naturwissenschaftlichen Denkansätzen, ist nicht gelungen.

Nun kann man fragen: Kann sie überhaupt gelingen? Wenn das stimmt mit den Ebenen, könnte man sagen: Nein, das kann nie funktionieren. Ich kann nur die Welt so betrachten, da komme ich zu den Ergebnissen, ich kann rechnen. Ich kann mittels der Technik die Welt betrachten, ich kann sie als Ich betrachten, ich kann sie als Künstler betrachten, ich kann Bilder malen oder Streichquartette komponieren oder selber Musik machen, wie immer. Und da kann ich eben auf eine ganz andere Weise sie auch spirituell meditativ betrachten. Und das kann derselbe Mensch sein, der am Vormittag in einem Labor arbeitet, Quantenphysiker ist, am Nachmittag vielleicht Zen-Meditation macht und abends als Bratscher in einem kleinen Kreis musiziert. Das wären dann drei verschiedene Facetten, die in einem Menschen zusammengeführt sind, aber damit ist kulturell nichts geleistet, damit ist die Dissoziation nicht aufgehoben. Und es gibt ja genügend Kulturen auf dieser Erde, wo ja noch nicht einmal der Anfang, diese Herausdfferenzierung überhaupt geleistet wurde, denken Sie an den Islam. Da hat es so etwas wie die Reformation oder die Aufklä­rung oder so etwas überhaupt nicht gegeben. Deswegen gibt es auch nicht diese Heraus­differenzierung. Deswegen kann sich ein fundamentalistischer Mullah vollkommen selbstverständlich, wie selbstverständlich, der modernsten Technik bedienen, das tut er ja auch, aber im Innern bedeutet es für ihn gar nichts. Für ihn hat das innerlich überhaupt keine Relevanz. Das ist in unserer eigenen Geschichte vollständig anders. Insofern, wenn man jetzt sich klarmacht, was für Möglichkeiten kann es denn überhaupt geben, da etwas wirklich zusammenzudenken, dann könnten wir heute, ohne nicht in Scharlatanerie zu verfallen, eigentlich nur sagen, mit aller Vorsicht: Was wären die Kriterien dafür, dass das möglicherweise gelingt? Was wären die Kriterien? Mehr kann man im Moment, in dieser geschichtlichen Stunde, glaube ich, nicht sagen, denn wenn man das nicht tut, wenn man nicht diese Beschränkung oder eine gewisse Bescheidung vornimmt, kommt man natürlich zu den bekannten schnellen Gleichsetzungen, die ja … von denen es ja sehr viele gibt. Also ich meine, wir können im Moment zwar feststellen, dass es in der modernen Denk­bewegung, unter anderem auch in der Chaostheorie oder in der Systemtheorie, Versuche gibt, die Natur anders zu betrachten, ganzheitlich zu betrachten und insofern den atomistischen Ansatz zurückzunehmen. Das ist ein Fortschritt, unbedingt. Darüber ist überhaupt nicht zu diskutieren. Aber wir müssen immer sehen, dass die spirituelle Welterfahrung als sie selber, von vornherein etwas Anderes ist und was immer wir, wenn wir es denn erleben, in diesen Schichten, in diesen Dimensionen, in diesen Seinsebenen wirklich erfahren, hat nichts zu tun mit system- oder auch quantentheoretischen Konzepten.

Denn das alles bleibt dann immer auf der konzeptionellen, auf der intellektuell-rationalen Ebene. Das muss man einfach sehen, sonst kommt man, meine ich, in eine heillose Klitterei hinein, eine heillose Klitterei der Phänomene hinein, die intellektuell, meine ich, übrigens auch spirituell, dann unseriös ist. Das heißt nicht, dass man da resignieren sollte an der Stelle, nur genau gucken, wovon redet man. Und dann kann man .., da müsste überhaupt erstmal, das wäre die Grundvoraussetzung, ein seriöser öffentlicher Dialog überhaupt entstehen. Der ist erst ganz zaghaft im Gang über solche über die rationale Ebene hinausreichenden Seinsstufen, Bewusstseinsstufen. Gibt es diesen seriösen öffentlichen Dialog darüber? Nein, es gibt ihn nicht. Es gibt ihn in bestimmten Zirkeln, es gibt ihn bestimmten Zirkeln der New-Age-Bewegung, es gibt ihn in der Anthroposophie, es gibt ihn in verschiedenen esoterisch orientierten Richtungen, aber einen seriösen öffentlichen Dialog über diese Fragen, über die Existenz oder Nichtexistenz dieser Phänomene gibt es in der Form nicht. Es gibt interkulturellen, interreligiösen Dialog, das ist bekannt, aber kaum ein wirklichen Austausch auf der höchsten Erfahrungsebene. Dann zieht sich jeder sehr schnell zurück, auch wenn es ihm um den Dialog geht, auf seine Glaubenspositionen, die nicht weiter hinterfragt werden ‒ ja ich glaube das eben, beweisen kann ich es auch nicht. Wenn das dabei bleibt, bei dieser puren Glaubensebene, dann ist in der Tat der Vorwurf berechtigt, das Ganze bliebe letztlich subjektiv. Man muss, glaube ich, in eine Ebene hineinkommen, wo man überhaupt diese Phänomene einer höheren Bewusstseinsmöglichkeit sich neu anschaut. Das geschieht im Ansatz eigentlich nur, wenn ich das richtig sehe, in der sog. Bewusstseinsforschung der letzten 20, 25 Jahre, die ja vor allem in Amerika ein riesiges Material zusammengetragen hat, phänomenologisch aus den verschiedensten Kulturen und versucht bestimmte Modelle aufzustellen: Wie ist das dann etwa, meinen vielleicht die mystischen Moslems, die Sufis, wenn sie Sikkha [eigentlich ein buddh. Begriff für „Schulung“] sagen und praktizieren etwas ähnliches, was die Zen-Buddhisten als Satori bezeichnen? Ist das vergleichbar, oder ist das etwas vollkommen Verschiedenes?

Und da müsste man dann auf eine neue Weise ansetzen. Und ich meine, dass da noch eine ungeheure Aufgabe vor uns liegt. Aber ich glaube, dass das im Kulturellen nur möglich ist, wenn das wirklich gelingt, diese neue Stufe wirklich plausibel zu machen. Es muss der Dialog darüber möglich sein. Denn wenn, ich sag’s noch mal in aller Schärfe, wenn ich von vornherein annehme, es gibt diese Wirklichkeitsdimension gar nicht oder sie sind nicht beweisbar, sind nicht objektivierbar, dann schneide ich eigentlich den öffentlichen Dialog darüber ab. Dann muss ich darüber eigentlich nicht weiter verhandeln. Da kann ich sagen, gut, Sie glauben das, ich glaube das, wir können uns verständigen, einen ganzen Abend lang oder eine ganze Nacht, was wir alles glauben. Aber können wir auch darüber reden, was wir erfahren haben auf diesen anderen Dimensionen? Und haben wir Kriterien? Und dann kann man in die Traditionen auch der spirituellen Strömungen hineinschauen, unter anderem auch den Mahayana-Buddhismus, und findet dann tatsächlich Kriterien, auch bei den Zen-Buddhisten. Ganz bestimmte Visionen werden ganz bestimmten Klassen von Erfahrungen, ganz bestimmten Erfahrungsebenen zugeordnet. Und da wird es dann wirklich interessant. Und da gibt es dann wirklich, was man im Englischen „plausibility claims“ nennt, also Plausibilitätskriterien. Das ist dann keineswegs so ein Tanzplatz der Subjektivität und der Willkür. Und dann hätte … dann wäre wirklich, vielleicht, ein … dann wäre vielleicht wirklich die Spiritualität ein echter Dialogpartner. Das ist ja noch nicht der Fall. Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt einige Ansätze, fraglos, aber da ist noch viel zu leisten.

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