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Das Verhältnis von Mensch und Tier

Vorlesungsreihe:

Mensch und Erde, Teil I
Grundlagen der integralen Tiefenökologie

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2001
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 37

Transkript als PDF:


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Ich habe Ihnen ja angekündigt, dass ich Pfingsten an einem Symposium teilnehmen würde zur Frage von Bewusstsein und Wirklichkeit und [habe] Ihnen auch im Vorfeld einige Dinge genannt und gesagt. Ich will hier kurz darüber etwas berichten, weil das auch für das Thema, das uns beschäftigt, wichtig ist. Es ging in diesem dreitägigen Symposion mit ungefähr 120, 125 Menschen zentral um die Frage: Was ist eigentlich Wirklichkeit, Realität, Wirklichkeit, Wahrnehmung? Natürlich die Frage, was ist Innen, was ist Außen, wie spiegelt sich das Außen im Innen, aber auch ganz praktische Fragen. Was machen eigentlich diese Gedanken? Wie setzen wir sie um? Wie sind wir in der Welt damit? Also nicht nur Kopfarbeit und Theorie, sondern auch tatsächlich praktische Umsetzungsmöglichkeiten. Und da gab es einige ganz interessante, man kann auch sagen spannende Aspekte. Vielleicht wird in der „Hagia Chora“, einer Geomantie-Zeitschrift, auch ein längerer Bericht darüber sein. Es waren auch noch andere Presseleute da. Vielleicht gibt es dann in der einen oder anderen Zeitschrift auch darüber Berichte.

Ich selbst war mit einem Einzelvortrag vertreten und mehreren Podien. Darüber will ich jetzt allerdings nicht berichten. Ich will noch einige Punkte mal nennen, die ich spannend fand, zum Beispiel, ich habe mal hier einige Punkte notiert, die Sie auch interessieren könnten. Mir war immer bekannt, das habe ich nie bezweifelt, und ich habe das nie wirklich, sagen wir mal, habe nie das Bedürfnis gehabt, das nun messtechnisch zu verifizieren. Ich habe nie bezweifelt, dass es eine gedanklich-geistige Fernwirkung gibt. Nach meiner langen Lebenserfahrung weiß ich einfach, dass es so ist. Viele andere Menschen wissen das auch, und es gibt natürlich auch viele Experimente darüber. Ein Feld übrigens, das auch Ervin Laszlo sehr intensiv beschäftigt während seiner Bücher. Er stellt Überlegungen dazu an, wie ist es möglich, dass ein intensives Denken an einen Anderen oder ein Heilungsimpuls zum Beispiel über eine große Entfernung hinweg wirksam werden kann.

Dort wurde ein Experiment vorgeführt, das wollten nun alle sehen. Die wissenschaftsgläubigen Menschen, und ein Stück weit ist das ja auch in den Wissenschaftkritikern immer noch drin, konnten an Monitoren genau verfolgen, was passiert, wie ein Proband, ein junger Mann Anfang 30, saß drinnen, und Maria Sagi, eine Heilerin und mit vielerlei anderen Fähigkeiten begabte Frau, war draußen, beide wurden verkabelt, und man konnte vor einem Monitor nun verfolgen, was mit den jeweiligen Gehirnströmen passiert, rechte Hemisphäre, linke Hemisphäre. Und das war nun spannend. Man konnte nämlich ganz genau sehen, also beide hatten keine Verbindung miteinander, man konnte ganz genau sehen, wie zunächst anfänglich vorhandene Hirnstrommuster sehr stark divergierten, kaum Zusammenhang aufwiesen. Und dann gab es eine allmähliche Angleichung, eine allmähliche Synchronisation, Grundmuster wurden immer ähnlicher, und es gab auch immer wieder die Situation, dass ein Impuls ausgesendet wurde von Maria Sagi, die vor der Tür des Tagungssaales war, im Flur und dass das mit einer kleinen Zeitverzögerung aufgegriffen wurde, also nicht instantan. Das ist natürlich auch interessant. Das ist also nicht gleichzeitig erfolgt, sondern sie hat einen bestimmten Impuls ausgelöst. Mit einer kleinen Zeitverzögerung konnte man das dann als ein sehr ähnliches Muster mit einer … also quasi synchron auf dem Monitor verfolgen.

Also ein auch den Skeptiker … also im Grunde ein Experiment, was nach allen wissenschaftlichen Kriterien hieb- und stichfest ist, vollkommen eindeutig, zweifelsfrei belegt, dass es möglich ist, über die Entfernung hinweg, ohne dass der Andere weiß, was der Eine tut und umgekehrt, Impulse auszusenden, die dann empfangen werden. Das ist sogar in den Diagrammen der rechten Hirnhälfte oder am Monitor ablesbar. Es war eine große Spannung im Raum, ich war nicht so gespannt wie manche Andere, weil ich das eigentlich wusste, was das Ergebnis ist und daher … aber für viele war es noch faszinierend, weil Schweigen in dem Raum, alle saßen da und starrten gebannt auf den Monitor, und siehe da. Es hätte ja auch sein können, dass das Experiment fehlschlägt, es ist ja nicht sicher, dass es dann so klappt. Da können ja Blockaden sein. Im Prinzip ist es möglich, aber es hätte in dem Moment nicht unbedingt klappen müssen. Das muss man ja auseinander halten. Also das fand ich interessant.

Dann fand ich weiterhin interessant den Vortrag eines Gehirnforschers, der sich intensiv über viele Jahre hinweg mit auch der Synchronisation von linker und rechter Gehirnhälfte beschäftigt, unter anderem auch immer wieder auch heilend bei bestimmten Unordnungs- oder chaotischen Zuständen im Gehirn Musik einsetzt. Er sagte, er habe über viele Jahre hinweg immer wieder nur eine Musik als besonders effektiv bewiesen, die tatsächlich in der Lage ist, auch aus dem Gleichgewicht geratene Nervenverbindungen im Gehirn überraschend schnell und nachhaltig wieder zusammenzuführen. Also eine Verbindung der Nervenbahnen, eine Art Regulierungsfunktion des Gehirns. Und das ist Mozart. Alle anderen Musiken liefern nicht diesen Effekt. Die haben das genau dann durchgetestet, auch mit Bach, brachte auch Effekte, die wieder in dieser Größenordnung blieben, aber die stärkste, … stärkste Relevanz hat hier die Mozart-Musik. Ich fand das interessant, weil ja dann die Frage ist, wie ist es dann mit anderer Musik? Am schlechtesten wegkommt Heavy Metal. Heavy Metal zerreißt die ohnehin im Chaos sich befindliche Ordnung noch mehr, hat also einen dissoziativen Charakter. Auch das wundert mich nicht, denn ich habe schon vor vielen Jahren, in den 80er Jahren die These vertreten in meinem Buch „Klang und Verwandlung“, die sogenannte klassische Musik, ganz speziell auch die Mozarts einen auch ökologischen, auch einen physiologischen, biologischen Aspekt tatsächlich ordnungsstiftend wirken kann und tatsächlich ein entscheidender Ordnungsfaktor ist. Es war auch mal wieder eine Bestätigung von Jemandem, der sich mit diesen Fragen, so wie ich gar nicht, gearbeitet hat. Günter Haffelder, ein relativ bekannter Gehirnforscher, der das mal vorgestellt hat. Und dann fand ich interessant, das war auch im Zusammenhang mit meinem Vortrag und meine Teilnahme an den Podien aufschlussreich, dass immer wieder natürlich eine Frage im Raum stand, die uns hier auch schon beschäftigt hat. Letztes Mal kam mir eine Frage von Ihnen ganz einfach vom Podium, ja was ist das eigentlich, Bewusstsein, Sie reden von Bewusstsein? Was ist das denn überhaupt? Also die Frage, was überhaupt Bewusstsein ist, wie man das verstehen kann und dieses rätselhafte, abgründige kaum gedanklich zu durchlichtende Verhältnis von Innen und Außen. Was ist denn nun innen und was ist außen? Und dann gab es dann so eine gewisse Polarisierung, sagen wir mal, der eher vereinfacht gesagt, phänomenologischen Fraktion, die also eher auf die lebensweltliche Ganzheit abzielt, auf das, was unmittelbar wahrgenommen und erlebt wird. Und sagen wir mal eher, vorsichtig gesagt, eine reduktionistisch-naturwissenschaftliche, die eher den kausalen Zusammenhang untersucht und versuchen wollte, zu zeigen, was sich dann widersprechen muss. Das sind ja zunächst einmal zwei verschiedene Facetten des Gleichen, aber keiner hat bis heute wirklich den Zusammenhang zeigen können. Es gibt ja das berühmte Wort von Schopenhauer, was ich auch einmal zitiert habe auf einem Podium, einer Diskussionsrunde: „Die Welt ist im Kopf, aber der Kopf ist in der Welt.“

Das ist ein Zirkel der Wirklichkeit. Ein sehr hoher, den man erstmal nutzen kann, denn: Wie soll das sein? … Was heißt das? Dann wird das abgründig und die Frage wurde immer wieder in dem Zusammenhang gestellt. Und das war deutlich, das hatte ich auch schon verschiedentlich anklingen lassen, dass man im Grunde eine logisch einwandfreie Definition dessen, was Wirklichkeit ist, nicht geben kann. Das ist logisch nicht möglich. Also wer das möchte definitionstark und intellektuell stark zugleich, der wird daran scheitern, weil es geht nicht. Man kommt aus bestimmten Zusammenschlüssen nicht raus. Sie müssen immer Dinge voraussetzen, sie kommen immer in einen Zirkel hinein. Sie müssen nämlich immer das voraussetzen, was sie bestimmen wollen, nämlich die Wirklichkeit. Das ist genauso wie mit dem Bewusstsein. Sie können Bewusstsein nicht wirklich bestimmen: Das ist Bewusstsein, weil die Frage bereits und das gesamte Feld ist das Fluidum, die Einbettung aller derjenigen, die [in] diesem Prozess beteiligt sind, ja selber bewusstseinsförmig ist oder sind. Insofern haben wir keinen Standpunkt, einen sozusagen freien, souveränen Von-außen-Standpunkt, der es uns ermöglicht, nun hier auf diese Ebene zu schauen, zu sagen: Das ist Bewusstsein. Das könnte man nur, das wurde auch auf dem Symposion sehr deutlich in den Gesprächen, das könnte man nur etwas von einem zum supramentalen, von einem sehr hohen anderen Bewusstsein heraus, dann könnte man quasi von oben in Anführungszeichen herab, das muss ja nicht räumlich verstanden werden, herabblicken, auch metaphorisch gemeint, auf einen anderen Bewusstseinszustand. Das ginge dann, wenn man die Prämisse setzt, natürlich, dass ein solcher supramentaler Zustand möglich ist, das ist eine gut begründete Hypothese, glaube ich, zu der ich auf dem Symposion beigetragen habe. Aber die Frage beschäftigt uns natürlich im Zusammenhang mit der Erde ständig, und wenn ich das letzte Mal Ihnen einige Aspekte vorgetragen habe der organologischen Konzepte der Erde, ein ganz kleines Segment ja nur, das kann man ja endlos weiterführen, kann ich mühelos zwei, drei [Semester] nur dieses Thema behandeln, die verschiedenen Aspekte zeigen, dann kommt man immer wieder auf die Frage Innen-Außen: Wenn die Erde ein Organismus ist, das habe ich hier versucht darzustellen, dann hat sie auch einen Leib. Was ich erläutert habe, muss ich nicht noch mal machen. Und was heißt es denn, wenn die Erde einen Leib hat? Wie müsste man diesen Leib verstehen? Wie könnte man ihn verstehen? Und wie könnte man in Kommunikation treten mit diesem Leib der Erde, nicht mit dem physischen-sinnlichen Körper und auch nicht mit dem, was physikalisch messbar ist. Das kann man daneben flankierend machen. Aber das hilft einem nichts im Umgang mit dem Körper, mit dem Leib der Erde.

Hinweis: Der weitere Teil der Vorlesung wurde wegen der für eine Transkription unzureichenden Audioqualität nicht weiter bearbeitet.

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Vom anderen Hören. Musik und Meditation

Vortrag

Urania Berlin
04.04.1995
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 50

Transkript als PDF:


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Ich möchte Ihnen heute einen kleinen Einblick geben in ein spannendes und interessantes und faszinierendes Gebiet, nämlich die Frage, was Musik und Meditation miteinander zu tun haben, aus welchen Quellen beide gespeist sind, und wie man das auch praktisch umsetzen kann. Und je nach Zeit nachher wäre es gut, ich will es jedenfalls versuchen, wenn wir einige praktische Übungen machen. Auch wenn es hier kein leergeräumter Saal ist und wir hier hier keinen Musik-Workshop veranstalten können, so mag doch vielleicht die eine oder andere Übung auch in dieser Form sinnvoll sein.

Worum geht es eigentlich? Ich habe zwei Zitate ausgesucht als Motto, die bereits ins Zentrum der Thematik führen. Der buddhistische Gelehrte und Meditationsmeister Lama Anagarika Govinda hat 1977 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Schöpferische Medita­tion und multidimensionales Bewusstsein“, eines nach meinem Dafürhalten besten Bücher überhaupt über Meditation. Und da schreibt er Folgendes, ich darf das mal zitieren: „Die westliche Kultur fand ihre tiefste und vollkommenste Ausdrucksform in der Musik. Die Kultur Indiens dagegen in der nach innen gerichteten Meditation, Dhyana, Sanskrit-Wort für Versenkung, Meditation. In diesen beiden Bereichen müssen wir daher nach Parallelen und Berührungspunkten Ausschau halten. Nur hier sind Vergleichsmöglichkeiten zu erwar­ten. Für diese Hypothese spricht, dass die abendländische Musik eine Art Raum-Empfin­dung hervorruft, die sich von der des sichtbaren Raumes so weitgehend unterscheidet, dass sie der Raum-Erfahrung in den tiefsten Versenkungszuständen vergleichbar wird. Es handelt sich um eine Raum-Erfahrung, die unter den Bedingungen der Dreidimensionalität unmöglich ist, da sie eine Ordnung höherer Art zugehört.“

Hier ist also bereits eine ganz wesentliche Aussage gemacht, die ich mir zu eigen machen möchte, dass nämlich Musik etwas zu tun hat mit Raum-Bewusstsein. Also Lama Anagarika Govinda sagt ja, in der tiefsten Meditation wird der Raum in einer bestimmten Weise erfahren, nicht als dreidimensionaler Anschauungsraum, wie wir den Raum hier vor uns und auch in uns ausgespannt finden, sondern auf eine merkwürdige Weise anders dimensioniert, in einer anderen, tieferen Schicht, und da, meint Govinda, gibt es einen Zusammenhang. Also was sozusagen die abendländische Musik an Raum-Bewusstsein in den Klang transponiert hat, das findet man auch in der Meditationskultur Indiens. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen.

Das zweite Zitat stammt von einem Schamanismus-Forscher aus dem Buch „Traumzeit und innerer Raum“, Holger Kalweit, und der sagt etwas, was auch ins Zentrum unserer Thematik führt. Ich darf das mal vorlesen: „Die gewaltigste Idee, die der menschliche Geist seit seiner Evolution zur Kulturfähigkeit zum Leitmotiv seiner Werke und Handlungen machte und die wohl von keinem Gedanken, keiner Spekulation und Theorie in allen verflossenen Epochen übertroffen werden konnte, ist der Glaube, das Wissen, ja die Erfahrung, dass unsere physische Sinneswelt eine Welt der Schatten, der Illusion und der Täuschung ist, und dass unser Körper, jenes dreidimensionale Werkzeug, einem Etwas als Hülle und Wohnung dient, das weit größer und allumfassender als er die Matrix des wirklichen Lebens bildet.“ Also Matrix hier im Sinne von Quelle und Ursache. Also Kalweit behauptet, dass es vielleicht die wichtigste Erkenntnis überhaupt ist und gleichzeitig die gewaltigste Idee, dass unsere Sinneswelt, im indisch-buddhistischen Sinne Maya ist, dass hinter der Sinneswelt eine andere Wirklichkeit, vielleicht die eigent­liche Wirklichkeit hindurchscheint. Und das ist die … auch hier die Berührungsstelle mit der Musik. Auch darüber will ich Einiges sagen, dass ja in ganz vielen Philosophien und Mythologien der Musik, dem Klang eine geradezu weltschöpferische Funktion zugespro­chen wird. Also der Klang sozusagen wird als ein Untergrund, als spiritueller Untergrund der Welt gesehen. Wenn das so ist, also nehmen wir an, die Hypothese stimmt, dann hat man ja schon einen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Musik.

Ich will das in fünf Schritten machen. Und zwar will ich zunächst einiges sagen über die Rolle des Hörens überhaupt in unserer Kultur, besser die Nicht-Rolle, denn wir sind ja eine vom Primat des Auges erst einmal bestimmte Kultur. Dann will ich die Frage stellen, was überhaupt Meditation ist. Auch das ist überhaupt nicht selbstverständlich, es gibt die unterschiedlichsten Ansätze dazu. Ich will versuchen zu zeigen, was nach meinem Ver­ständnis Meditation ist und wie Meditation mit einem spirituellen Weltverständnis zusam­menhängt und will dann die Brücke schlagen zur Musik und zu einem möglichen spirituellen Weltverständnis und die Frage stellen und ein bisschen wohl auch beant­worten, was die abendländische Hochmusik, wie man sie ja nennen kann seit der Renaissance, zu tun hat mit einer spirituellen Weltbetrachtung und schließlich dann in einem praktischen Ansatz Möglichkeiten vorstellen, wie man damit umgehen kann. Da werden dann erst die Musik-Beispiele kommen, also relativ am Ende, und wir werden mal sehen beziehungsweise hören, wie wir damit zurande kommen können, mit diesen prak­tischen Übungen.

Zunächst wissen wir alle, dass die abendländische Kultur eine vom Primat des Sehens bestimmte Kultur ist. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass die Beglaubi­gung von Wahrheit und Wirklichkeit erst einmal das Gesehene, das Visuelle ist. Also „hast du es selber gesehen“, hat eine höhere ontologische Wertigkeit, als „hast du es gehört oder hast du davon gehört“? Die Sinneswelt ist primär eine als visuell erfahrene Welt, und das hat die … ist die eigentliche Wirklichkeit in erster Instanz. Und das ist auch das, was man als den naiven Realismus bezeichnet und der ganz tief in uns allen steckt, man soll sich da keinen Illusionen hingeben. Was wir sehen, was wir vor uns haben, was wir visuell wahrnehmen, hat auch tatsächlich erst einmal einen ganz hohen Wirklichkeitsgrad.

Eine andere Sache ist es natürlich bei irgendwelchen Halluzinationen oder visio­nären Eingebungen, Schauungen, sind ja auch visuelle Dinge, von mir aus auch in extremen Zuständen hervorgerufen durch psychoaktive Substanzen. Da ist es insofern anders, als diese Schauungen und Bilder ja nicht unbedingt intersubjektiv sind, sie sind nicht vermit­telbar, weil ein Anderer, der nicht in diesem Zustand ist, diese Bilder ja nicht wahrnimmt. Aber normalerweise ist also die Wirklichkeit erstmal eine visuelle Wirklichkeit. Und es ist auch … das unterscheidet die abendländische Kultur von jeder anderen dieser Erde, denn in keiner anderen Kultur spielt das Auge, spielt das Visuelle eine so zentrale Rolle. Können Sie also in jeder anderen Kultur dieser Welt schauen, immer ist das Visuelle eine Fakultät neben anderen Fakultäten und hat nicht diesen Ausschließlichkeitscharakter. Das ist das Eine.

Gleichzeitig hat sich seit der Renaissance eine zweite Strömung im Abendland manifestiert, die man bezeichnen kann als den Impuls, etwas überspitzt gesagt, zur Weltaufhebung durch Abstraktion. Durch die Erkenntnis des Kopernikus und durch den ganzen Koperni­kanismus in den nachfolgenden Jahrhunderten war ja deutlich geworden, dass die Sinnes­welt eigentlich täuscht. Denn die Wirklichkeit, die kosmische Wirklichkeit, etwa die der Bewegung des Planeten Erde, ist ja genau entgegengesetzt dem, was das Auge wahrnimmt. Insofern täuscht uns das Auge. Die eigentliche Bewegung ist ja hier in diesem Fall die Drehung der Erde oder die Bewegung der Erde um die Sonne und also genau das Gegenteil dessen, was der Augenschein wahrnimmt. Und aus dem Durchschauen dieser Täuschung, hat sich die gesamte abendländische Naturwissenschaft entwickelt bis in die Gegenwart hinein. Und man kann etwas überspitzt sagen, dass Naturwissenschaft immer darauf abzielt, die Welt mittels Abstraktion aufzuheben. Also unsere ganzen Bilder von virtueller Realität und Computerisierung und so weiter sind letztlich alles Versuche, denke ich, sozusagen den ontologischen Status des Menschen in eine andere Dimension hinein­zuheben, in die totale Abstraktion, die unzulängliche Bio-Hardware zu ersetzen durch eine andere. Und das ist also ein gegenläufiges Moment. Und nun ist es merkwürdig, dass diese selbe Kultur, die das Visuelle betont wie keine andere, die eine Abstraktionsleistung reali­siert hat, wie auch keine andere Kultur der bekannten Menschheitsgeschichte, dass also diese selbe Kultur gleichzeitig eine hochdifferenzierte, in ihrer Weise singuläre Hoch-Musik hervorgebracht hat, die in gewisser Weise, mit einigen Einschränkungen, eine Art Gegen­modell darstellt. Und das ist jetzt letztendlich das, was hier zentral ist.

Wie ist das möglich und wie können wir uns dieser musikalischen Dimension unserer eigenen Kultur in einer Weise nähern, die vielleicht angetan ist, auch ein bisschen die ökologische Krise, unter der wir alle leiden, in ein neues Gesichtsfeld zu rücken? Dann die Metaphorik, wie Sie es schon hören, ins Gesichtsfeld rücken, ist vor allen Dingen durch das Auge bestimmt. Es ist eigentlich keine höhere Metaphorik und ein Großteil der sprach­lichen Metaphorik ist generell vom Visuellen bestimmt. Wie kommen wir ins Hören rein? Wenn wir über Musik reden, ist es ja nicht Musik. Wenn wir über Meditation reden, ist es ja nicht Meditation und es ist die große Schwierigkeit ja überhaupt eines derartigen Vortrags, ich rede mittels der Sprache über etwas, was ja jenseits der Sprache ist. Ich rede über Meditation, ich rede über Musik, und beides ist ja nicht Sprache, nicht Sprache in diesem engeren Sinne. Und das ist eine grundsätzliche Schwierigkeit, mit der man immer wieder konfrontiert ist. Nun, was ist überhaupt … das wissen sie im Grunde alle, was ich hier einleitend gesagt habe, man muss es nur noch einmal in die Erinnerung rufen.

Was ist Meditation? Wie hängt Meditation und Spiritualität zusammen? Meditation, könnte man auf, eine Kurzformel gebracht, sagen, ist der Versuch, die Welt von innen wahrzunehmen. Der Versuch, die Welt von innen wahrzunehmen. Der Versuch, zu einer gesteigerten Innenwahrnehmung der Dinge neben oder außerhalb der äußeren Wahr­nehmung zu gelangen. Nun gibt es eine Fülle von ganz unterschiedlichen Meditations­formen und Meditationsarten in aller Welt, jeweils mit ganz unterschiedlichen Ansätzen. Und es ist vielleicht sinnvoll, sich mal einige dieser Ansätze anzugucken und zu sehen, was hier Meditation meint und inwiefern wir überhaupt eine Möglichkeit haben, die Meditation mit Musik zu verbinden. Das ist ja überhaupt nicht selbstverständlich. Meditation ist ja traditionell Stille und Schweigen, nicht Reden und eigentlich auch nicht Musikhören. Musikhören ist eine zunächst einmal eine ganz andere Form von Aufmerksamkeit, von hörender Wachheit, die gemeinhin nicht als Meditation gilt.

Die vielleicht bekannteste asiatische Meditationstradition ist die des Zen, und ich will mal einige Sätze nur vorlesen von einem bedeutenden Zenmeister, Deshimaru Roshi, aus diesem Jahrhundert, der lange in Frankreich gelehrt und gelebt hat. Wie definiert er Meditation? Und wir wollen gucken, ob wir das nachher verwenden können. Er sagt: „Zen im Sinne von Zazen, das heißt Sitzen, kann weder in Begriffe gezwängt noch durch den Verstand wiedergegeben werden. Man muss es vielmehr ausüben.“ Also darüber reden bringt nichts. „Zen ist ganz wesentlich eine Erfahrung. Die Intelligenz wird dabei nicht unterbewertet, nur, man strebt nach einer höheren Dimension des Bewusstseins, die nicht in einer einseitigen Sicht der Wesen und Dinge stecken bleibt. Das Subjekt ist im Objekt und das Subjekt enthält das Objekt. Es handelt sich darum, durch die Übung“, also die Zazen-Übung, die Praxis des meditativen Sitzens, „das Überschreiten aller Gegensätze, das heißt aller Formen des Denkens zu erreichen.“ Damit ist schon ein ganz wesentlicher Punkt angesprochen in dieser Richtung, dieser eher asiatischen Richtung, ist also Meditation ein Überschreiten von Denken überhaupt und damit auch von jeglichem in Gegensätzen sich vollziehenden Geist. „Der philosophische Aspekt des Zen-Buddhismus hat daher nichts von einem rigiden Gedankensystem. Es ist vielmehr die Weitergabe von Gedanken, geschmiedet durch die tausendjährige und doch jeden Tag immer wieder neue Erfahrung der Erweckung. ,Hier und jetzt‘ ist der Schlüsselbegriff überhaupt. Das Wichtigste ist die Gegenwart. Die meisten unter uns haben die Neigung, ängstlich an die Vergangenheit oder Zukunft zu denken, anstatt ihre volle Aufmerksamkeit ihren augenblicklichen Handlungen, Worten und Gedanken zu widmen. Man muss in jeder Bewegung vollständig gegenwärtig sein, sich hier und jetzt konzentrieren. Das ist es, was Zen uns zu lehren hat.

Ebenso zentral ist der Ausdruck ,einfach nur sitzen‘ – shikantaza., uninteressiert, ohne Ziel und Gewinnstreben. Meister Dogen, der im 13. Jahrhundert Zen Japan einführte, hat gesagt, Zen zu ergründen bedeutet, uns selbst zu ergründen und uns selbst zu ergründen bedeutet, uns selbst zu vergessen und uns selbst zu vergessen bedeutet, die Buddha-Natur, unsere ursprüngliche Natur zu finden.“ Und so weiter.

Die Zen-Meditation arbeitet auch mit Musik, nicht eigentlich mit Musik, zu der meditiert wird. Wenn Musik in der Zen-Meditation eingesetzt wird, ganz bestimmte Klänge in ganz bestimmten Phasen der Meditation, dann haben sie eher den Charakter eines Aufmerksamkeits-Anstoßes. Es wird nicht eigentlich über Musik meditiert, ja, das wäre vom Zen aus geradezu ein Irrweg. Das muss man ganz klar sagen, das weiß ich aus meiner vieljährigen Zen-Erfahrung – für den Zen-Buddhisten ist das Meditieren über Musik, ob das nun aus der CD, also von einer Kassette oder Musik live ist, egal, ein Irrweg, weil Hören heißt, sich in gewisser Weise an die Sinnenwelt, an die Ästhetik, an das Schöne, an das Wunderbare der Sinnenwelt verlieren. Und es geht ja gerade im Zen erst einmal um die Transzendierung hin zur Buddha-Natur: Hier und jetzt ganz präsent sein. Das ist also die Zen-Meditation, die eigentlich keine Musik-Meditation ist.

Nun ist Meditation sowieso grundsätzlich nicht zu trennen von bestimmten spirituellen Grundüberzeugungen. Man kann Meditation nicht einfach so betreiben, wie man eine beliebige andere Körperübung betreibt, wie man das auch mit Yoga im Grunde nicht machen kann. Und jede meditative Überzeugung steht in einem ganz bestimmten Weltbild-Zusammenhang. Und das ist wichtig, dass man sich das noch mal vor Augen führt. Also jede Meditation hat ein bestimmtes spirituelles Weltverständnis als Hintergrund.

Nun wird oft gesagt: Meditation, das heißt, die Dualität hinter sich lassen, das Werten, das Ja und Nein, einfach nur präsent sein. Und diese Präsenz, diese Total-Präsenz im Hier und Jetzt bedeutet die Aufgabe der eigenen Egoität, der eigenen Ego- und Ratio-Fixiertheit, bedeutet in diesem Sinne Hingabe, also Hingabe an ein Anderes, was als größer und existenzieller als das eigene Ego erachtet wird. [Das] bedeutet also, das Bewusstsein in eine tiefere Schicht hineinbringen, nicht im Sinne einer rationalen, willensmäßigen Fixierung, sondern im Sinne des Geschehenlassens. Das ist hier nicht erzwingbar. Sicher­lich, von Buddha wird berichtet, er habe sich hingesetzt unter den Bodhi-Baum, nachdem alle seine vorherigen Bemühungen gescheitert sind und einfach meditiert, gesessen. Das ist ja der Ursprung des Zazen. Irgendwann ist es dann passiert, der Durchbruch, was immer nun diese Erleuchtung wirklich war. Auf jeden Fall, Meditation hat mit Hingabe zu tun, ist in dem Sinne keine Konzentration im engeren Sinne. Konzentration ist ja in gewisser Weise eine Fokussierung auf einen Gegenstand, eine rationale Zusammenziehung, und das ist eigentlich Meditation in dem Sinne nicht.

Nun, vielleicht ist die extremste Form der Hingabe, die jedem Menschen irgendwann abverlangt wird, das Sterben. Und die tibetischen Buddhisten haben, finde ich mit einigem Recht, immer wieder betont, dass Meditation im Tiefsten eine Art Einüben ist des Sterbeprozesses, dem jeder irgendwann ausgesetzt ist. Insofern wäre in diesem Sinne Meditation Sterben üben, sich auf diese letzte Verwandlung, diese letzte Hingabe wirklich einlassen und die energetischen Verfestigungen zunehmend abzubauen, also in einen reinen Energiezustand hineinzugelangen. Das wäre die höchste Form des Meditativen, die überhaupt denkbar ist.

Nun gibt es viele Mittel, die man heranziehen kann, die in allen Traditionen auch verwendet werden. Zum Beispiel gibt es die Möglichkeit, den Körper in eine bestimmte Position zu bringen. Also im Yoga nennt man das Asana, in eine ganz bestimmte Position. Es gibt ja unendlich viele Positionen. Die Grundposition, bekannt von der Meditation des Buddha, eine bestimmte Asana; damit zusammenhängt eine bestimmte Mudra, eine bestimmte Handhaltung, die den Körper in gewisser Weise zentriert. Der meditierende Buddha ist ja das Urbild des meditierenden Menschen überhaupt, so ist ja das Meditieren auch als ein äußerstes Schweigen, nicht als ein Hören, als ein Lauschen [zu betrachten]. Und es bedeutet also, den Körper in ganz bestimmter Weise quasi präparieren für diese Erfahrung, weil er im Normalzustand gar keine Möglichkeit dazu hat. Es ist ja nicht, dass die Haltung, das Sitzen, in der Form das Wesentliche sei. Sie ist ein Hilfsmittel, um den Geist, der immer unruhig ist, der ständig zugange ist, wie jeder ja weiß, wenn man in sich hineinlauscht, der ständig redende und sich widersprechende und ständig innerlich in Aktion befindliche Geist, um diesen Geist wirklich zur Ruhe zu bringen.

Ein weiteres Mittel, was für die Musik wichtig ist, ist der Atem. Musik selber ist ja in ihrer elementarsten Form immer auch vom Atem beseelt, hat immer mit Atem zu tun, ist ja überhaupt erst einmal sehr körperlich. Man kann mittels des Atems in bestimmte tiefere Bewusstseinszustände hineinkommen, und zwar in zweifacher Hinsicht, sowohl durch eine extreme Verlangsamung der Atmung, indem man extrem langsam einatmet und extrem langsam ausatmet. Oder z.B. die Pausen zwischen Einatmen und Ausatmen immer mehr verlängert. Das kann man ja in einer Weise machen, dass im Normalbewusstsein kaum vorstellbar ist, dass man überhaupt auf diese Weise atmen kann. Man kann aber auch das Gegenteilige machen. Man kann extrem schnell atmen, man kann hyperventilieren. Man kann also dieses orgiastische, schnelle, stoßartige Atmen, hat auch übrigens in Verbindung mit der Musik vor allen Dingen in Vorderasien eine ganz wesentliche Rolle, spielt eine ganz wesentliche Rolle. Sie kennen vielleicht, wenn nicht, dann will ich es kurz erwähnen, denn das sogenannte Zikr der Sufis, der islamischen Mystiker. Das ist ja ein ganz schnelles, ruck­artiges, auf Dauer stimmbandschädigendes Hyperventilieren bei gleichzeitigem Singen bzw. einige singen, andere atmen. Und das Ganze ist eine Ekstase-Zustand, ein trance-ähnlicher Zustand, der darauf abzielt, den Teilnehmern in einen ganz bestimmten Zustand hineinzubringen, indem das Ego dann auch aufgehoben wird. Wer das mal versucht hat, kann bestätigen oder wird das aus Erfahrung wissen, wie ungeheuer effektiv das ist, das ist also genau das Gegenteil. Einmal eine extreme Langsam-Atmung, eine extreme Schnell-Atmung. Jeder Mediziner weiß, was Hyperventilation bedeutet, das hat ja auch seine bedenklichen Seiten. Man kann so extrem hyperventilieren, über eine oder zwei Stunden und dann wird tatsächlich das Bewusstsein vollkommen verändert. Auch die Körperwahr­nehmung wird eine ganz andere. Oder man kann den normalen Atem, der sowieso fließt, einfach ruhig beobachten, man forciert weder eine Beschleunigung noch eine Verlang­samung. Man beobachtet einfach den Atem, wie er fließt und kann sogar zählen. Das ist durchaus gang und gäbe. Selbst Buddha hat es vorgeschlagen, zähle die Atemzüge von eins bis zehn und dann wieder von vorne. Der Atem geht rein und der Atem geht raus, das so eine Art Fluss zustande kommt, ein rhythmisches Schwingen in dieser Meditation. Das spielt alles in die Musik hinein, denn diese Elemente gibt es genauso in der Musik, beides.

Nun gibt es auch die Möglichkeit, und da kommt die Sprache ins Feld, das Bewusst­sein zu fokussieren mit bestimmten Begriffen, mit sogenannten Mantras. Das sind Wörter oder auch Sätze, die in ganz bestimmter Weise in hämmernder Form ständig wiederholt werden, zigtausende von Mal, immer wieder werden diese Mantras wiederholt, und sie dienen dazu oder sollen dazu dienen, das Bewusstsein in einen ganz speziellen Zustand zu versetzen. Und da kommt bereits zum ersten Mal jetzt die musikalische Dimension ins Spiel. Denn man geht in allen Traditionen, die sich dieser Mantras bedienen, nämlich davon aus, dass das Wort oder die Wörter, die Sätze, die gesungen werden oder die gesprochen werden oder auch nur innerlich leise gesprochen werden, Schwingung repräsentieren und dass diese Schwingung in gewisser Weise Korrespondenzen hat mit der Schwingung im Kosmos. Das heißt also, dass jedes Wort, jeder Begriff eine bestimmte Schwingungs- oder Klangsignatur hat, die man auf diese Weise abrufen kann. Also, dass das berühmte Mantra OM oder AUM ist ja ein bekanntes Beispiel dafür, in der Annahme also, dass dieser Laut als eine Art Ur-Laut, als ein Ur-Ton allem zugrunde liegt, wird es in dieser ständigen Wieder­holung dem Bewusstsein ermöglicht, tatsächlich in diese Ursprungsschicht dann auch reinzukommen. Das ist also die Frage des Mantrams. Da kommt also die Sprache ins Spiel, die Schwingung und auch die Musik, die damit zusammenhängt. Und häufig werden ja diese Mantras auch gesungen.

Nun ist gerade der moderne Mensch, der moderne stellt häufig die Frage und das wird ja immer wieder in diesem Zusammenhang gesagt: Wie ist es mit dem Verhältnis von Meditation und Therapie? Ist Meditation eine Therapie? Nein, sie ist es nicht. Das muss man gleich vorab sagen. Meditation ist keine Therapie und ersetzt auch in keiner Weise die Therapie. Man kann auch durch Meditation seine Neurosen nach wie vor beibehalten. Man kann sie auch pflegen, man muss sie in keiner Weise überwinden. Also Therapie ist letztlich eine andere Geschichte. Ist Meditation eigentlich Trance? Schwierig zu sagen, ja und nein. In gewisser Weise kann man Meditation als Trance bezeichnen. Man kann ja in einen ganz bestimmten trance-ähnlichen Zustand hineingeraten, ja auch beim Musikhören, der nicht unbedingt Meditation sein muss. Es gibt ein berühmtes Wort von Richard Wagner, der ja viel wusste von diesen Dingen (…) an Mathilde Wesendonck, in dem er schreibt, dass seine Musik wie ein feiner Saft bis ins Mark hineingeht und da alles auflöst, was irgend zu tun hat mit Individualität, mit Ego, mit Selbst, sozusagen die Musik als ein Mittel, die Egoität aufzulösen. Und begeisterte Wagnerianer wissen ja auch davon zu berichten, dass dies tatsächlich bei bestimmten Passagen etwa von „Tristan und Isolde“ passiert, so eine Art Auflösung, eine Art Verflüssigung der eigenen Egoität. Und da ist ein ganz interessanter Zusammenhang mit dem asiatischen Denken gegeben. Es ist kein Zufall, dass Wagner gerade in Asien eine ungeheure Popularität genießt, mehr als jeder andere Komponist.

Nun ist Spiritualität ja traditionell, das muss ich noch als Letztes jetzt sagen zur Meditation, traditionell eine eher asketisch-patriarchale Spiritualität, auch das ist ja bekannt. Die meisten spirituellen Traditionen haben einen asketischen Charakter, sind patriarchal, sind durch Männer ganz wesentlich mitgeprägt, auch der Buddhismus. Und das ist natürlich für den modernen Menschen ein grundsätzliches Problem, ein Problem, was nicht aufgehört hat, Menschen, Frauen vor allen Dingen, zu beunruhigen. Wo bleibt die Frau in diesen Systemen? Es gibt eigentlich ganz wenige Systeme erst einmal, die der Frau die gleiche Seinswertigkeit zugestehen. Eines davon ist das sogenannte tantrische System. Das gibt es im Hinduismus und im Buddhismus auch. Das kann man eng verbinden mit Musik. „Tantra“ heißt so viel wie „Gewebe“ und ist also die Überzeugung von der Allverbun­denheit, gerade auch des Männlichen und des Weiblichen.

All diese Dinge schwingen also mit in der Meditation. Es geht also um die Aufgabe der Egoität. Es geht um die Überwindung der Dualität. Es geht zugleich um eine ungeheure Aufmerksamkeit auf den Moment, auf das Hier und Jetzt, auch eine Aufmerksamkeit auf den Atem. Und es geht um einen ganz bestimmten Bewusstseinszustand, in dem die Welt quasi von innen betrachtet wird. Und dieser Bewusstseinszustand ist sehr schwer zu erreichen, und er ist auch sehr schwer aufrechtzuerhalten. Also Meditieren ist ja nicht einfach, wie es häufig gesagt wird, Entspannung. Entspannung, sich fallen lassen, loslassen, ist natürlich ein wichtiges Element, aber es geht hier um eine gesteigerte Form der Auf­merksamkeit, letztlich auch um eine bestimmte Form von Integration, von Ganzheitlichkeit des Körpers, des Emotionalen, des Mentalen in irgendeiner Form ja auch und des Supramentalen bzw. des Spirituellen. Alles das schwingt zusammen, und ich meine, dass das auch in wirklich bedeutender Musik der Fall ist. Diese Elemente schwingen zusammen, und auch bedeutende Musik enthält eine Integration dieser Elemente. Und da ist für meine Begriffe der entscheidende Zusammenhang zur Meditation.

Und da spielt auch die Raumwahrnehmung hinein, von der Lama Govinda gespro­chen hat. Er hatte ja gesagt, wenn ich noch mal daran erinnern darf, dass es nicht um eine dreidimensionale Raum-Anschauung geht, sondern um eine innere Raum-Wahrnehmung durch Musik. Wir können ja nachher mal in einigen Übungen versuchen, ob wir da ein bisschen hineinkommen können. Also eine innere Raumwahrnehmung durch Musik, wie es genauso die Möglichkeit gibt, eine quasi innere Zeitwahrnehmung durch Musikhören zu erleben, weil Musik ja auch gestaltlebendige, schwingende, pulsierende Gestalt in der Zeit ist. In gewisser Weise, wie ich das gerne öfter sage, die Zeit selbst zum Klingen bringt. Das kann man in ganz wenigen, vielleicht erlesenen und seltenen Momenten auch spüren, dass Musik den Zeitfluss selber zur Anschauung bringt bzw. zum Hören bringt. Also es ist vielleicht auch dann die tiefste Dimension, dass also gerade Raum und Zeit hier in ihrer Eigentlichkeit deutlich werden.

Nun, dass Klang und dass Musik mit der Tiefenstruktur der Welt zusammenhängen, ist einer der ältesten Gedanken, den Sie in praktisch allen Kulturen dieser Erde finden. Ich gebe mal ein Beispiel aus der indischen Kultur. Da ist eine … hat man eine Klang­kosmogonie, eine Weltentstehungslehre aus dem Klang entwickelt, die in ihrer Weise singulär ist. Ich darf mal einige Passagen hier vorlesen, ich habe das hier in meinem Musik-Buch zitiert über die altindische Klangkosmogonie. Da heißt es folgendermaßen: „Die erste Epoche der Schöpfung ist die Zeit der reinen bildlosen Namen-Schöpfung. Der Mythos nennt sie die Ur-Nacht. Sie ist eine ausschließlich akustische Periode und kennt noch keinen Raum. Sie besteht nur in der Zeit und ist eine Klangwelt. Die wirkenden Gewalten in ihr sind die Götter, selbst reine Klangexistenzen, deren Leib Musiklobgesang ist. Der Einbruch des Lichtes führt von der dunklen, rein akustischen Zeit zur Licht-Ton-Welt der zweiten Schöpfungsperiode, in der die tönende Existenz sich langsam in eine konkrete körperliche verwandelt und die klangliche Ursubstanz der Welt nach und nach verdeckt wird, also in den Hintergrund tritt. Der Schleier der Maya, die Täuschung über das wahre Wesen des Seienden breitet sich aus. Die dritte Schöpfungsperiode ist die helle Welt, in der die Dinge endgültig klare Gestalten annehmen. Der Mythos nennt sie den Tag. Mit dem vollen Einbruch des Lichts werden aus den reinen Zeitproportionen nun sichtbare und greifbare Proportionen des Raumes. Wenn auch die akustische Ursubstanz durch diesen Vorgang, insbesondere bei den stummen Objekten stark überdeckt wird, so lebt sie dennoch in jedem Geschöpf hörbar oder unhörbar als metaphysischer Kern weiter.“ Zitat Hans Schavernoch.

Also, die Grundüberzeugung wird hier ausgedrückt, dass die letzte Schicht der Kosmogonie, der Welt-Entstehung, eine klangliche ist. Auch da wäre einmal mehr Wagner heranzuziehen, der ja im Vorspiel zu „Rheingold“ den Versuch gemacht hat, aus einem Es-dur-Akkord quasi eine Weltschöpfung, eine Art Kosmogonie zu entwickeln. Also ein ganz tiefer, immer wieder formulierter Gedanke.

Der Dirigent Bruno Walter gehört zu denjenigen Dirigenten des 20. Jahrhunderts, die sich zu diesen Fragen immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen geäußert haben. Ich darf auch da noch mal kurz einige Sätze vorlesen von Bruno Walter, er ist fraglos einer der ganz großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Er schreibt über die pythagoräische Idee der sogenannten Sphärenharmonie, Zitat Bruno Walter: „Niemals habe ich diese einem hohen Geist gewordene Offenbarung nur als das phantasievolle Erzeugnis erhabener Imagination aufgefasst. Ich glaube daran, dass dem großen Menschheitslehrer, also Pythagoras, sich Urtiefen der Natur im Klang eröffneten, dass er, wenn auch nicht mit dem physischen Ohr, die Harmonie der Sphären wirklich vernahm. Der Gedanke einer zwar für das sinnliche Gehör nicht wahrnehmbaren, aber im Kosmos tönenden und waltenden Urmusik, wie sie Pythagoras und Goethes Geistesohren erklang, ist mir mehr und mehr überzeugend geworden, denn aus solch hohem Ursprung begann ich, das Werden und das Wesen unserer Kunst und ihre elementare Macht über des Menschen Seele allmählich tiefer zu begreifen. Als Geschöpf der Natur, den Einwirkungen der kosmischen Vorgänge auf alles Irdische unterworfen, musste der Mensch von früher Menschenkindheit an unter dem Einfluss jener Musik des Universums stehen. Sein Organismus schwang in ihren klingenden Vibrationen mit und empfing ihre rhythmischen Impulse. Aus jenen vom inneren Wesen der Welt kündenden sphärischen Vorgängen und von ihrer Auswirkung auf des Menschen Entwicklung stammt wohl seine musikalische Grundanlage, die dann von einem dafür geeigneten Reifestadium seiner Sinneswachheit und geistigen Bewusstheit an zur musikalischen Äußerung in lebendigem Klang aufblühen konnte.“ Und so weiter.

Also auch hier die Vorstellung, die ja zunächst wie eine mythologische Figur wirkt, in gewisser Weise kann man ja auch sagen: wie eine reine Fiktion, dass es so etwas geben könnte wie eine Klangstruktur des Kosmos, die sich in der Musik in einer bestimmten Form der Musik zu manifestieren vermag. Das findet man also in fast allen spirituellen Kulturen und ganz vielen Mythologien, auch in ganz vielen übrigens spirituellen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Da taucht das immer wieder als ein ganz wesentliches Merkmal auf.

Nun, wir wollen den Versuch machen nachher, uns durch das Hören einiger Stücke der sogenannten klassischen Musik, ich meine jetzt mal der abendländischen westlichen Musik, also dieser Musik uns meditativ zu nähern. Es erscheint angezeigt, noch einmal zu versuchen zu zeigen, welche Eigenschaften diese Musik auszeichnen und was daran geeig­net ist, meditativ angegangen zu werden. Ich sage nochmal, es ist ja in keiner Weise eine Selbstverständlichkeit, es gibt ein ästhetisch-intellektuelles Herangehen an Musik von Kennern, von Musikwissenschaftlern oder auch von Menschen, die bestimmte Instrumente spielen. Es gibt das reine emotionale Hören, die Begeisterung, das Sich-aufwühlen-Lassen durch die Emotionen eines Musikdramas zum Beispiel. Es gibt das rein intellektuelle, kennerhafte, genießerische Hören. Aber es gibt doch in relativ geringem Grade ein in dem Sinne meditatives Hören. Ja, von der professionellen Form der Musikausübung wird diese Art von meditativem Musikhören eher abschätzig betrachtet als eine bestimmte Form eines, sagen wir mal, dilettantischen Herangehens an Musik, was allerdings, wie ich meine, ungerechtfertigt ist.

Also was kennzeichnet diese Musik? Ich denke, die elementare Ebene, die oft nicht genug berücksichtigt wird, ist die körperliche Ebene. Jede bedeutende Musik, übrigens weltweit, hat immer zu tun mit körperlich-rhythmischen Vorgängen. Sie ist immer gewon­nen aus dem Tanzen, aus dem Schreiten, aus dem Atmen und auch aus dem Pulsschlag. Ich meine, das berühmte Verhältnis etwa eins zu vier, dass ein zentrales Verhältnis überhaupt in der Musik ist, ist ja abgeleitet aus dem Verhältnis von Pulsschlag und Atemschlag. Im Normalfall ist es ungefähr 1 zu 4. Also Musik atmet, sie schwingt in einem umfassenden Sinne, sie ist extrem körperlich und auch ganz differenzierte, hoch differenzierte Musik ist häufig abgeleitet aus tänzerischen Vorgängen und deswegen ist es zum Beispiel ein erster Schritt, eine erste Möglichkeit, dass man Musik tänzerisch angeht, indem man etwa nach Musik tanzt, nach der gemeinhin nicht getanzt wird, zum Beispiel nach einem Streichquar­tettsatz oder einem Satz eines Klavierkonzerts von Mozart oder Ähnlichem. Man kann danach tatsächlich tanzen. Wer das das zum ersten Mal tut, Verwirrung auslöst, Irritation. Wozu? Was soll das? Das ist doch furchtbar. Wieso soll ich denn nach der Musik in diesem Sinne tanzen? Aber es ist eine Möglichkeit also in diese Schicht reinzukommen über einen elementaren Vorgang des Körperlichen, nämlich der Bewegung. Normalerweise sitzt man im Konzertsaal ruhig und soll dies auch. Wer allzu viel rumzappelt auf seinem Sitz, der erregt Aufsehen. Man sitzt ruhig und soll auch ruhig sitzen. Und das Klatschen nach einer musikalischen Darbietung, was ja oft ganz hektisch und sofort einsetzt, wie automatisch, ist ja nach meinem Empfinden nur der Versuch, diesen Bewegungsdrang, der so lange ange­staut war, jetzt Luft zu verschaffen. Jetzt muss also auch Bewegung ins Spiel kommen. Ich habe oft in verschiedenen Zusammenhängen gesagt und auch geschrieben, dass ich nicht glaube, dass dieses Klatschen ein sehr sinnvoller Vorgang ist. Der amerikanische Psycho­therapeut John Diamond, auch ein bedeutender Musikologe, hat nachgewiesen oder glaubt zumindest nachgewiesen zu haben, dass Klatschen das Energieniveau im Körper wieder abbaut. Das heißt durch die Musik, große bedeutende Musik, es wird ein bestimmtes Energieniveau erzeugt, und das Klatschen mindert wieder das, was eigentlich geschehen ist. Das heißt, der Vorgang der Anreicherung und der Steigerung, der Potenzierung wird wieder rückgängig gemacht durch das Klatschen.

Der zweite Punkt ist, dass Musik immer rhythmisch und melodisch harmonisch strukturierter Zeitfluss ist. Musik ist immer Klanggestalt in der Zeit, ich habe es ja vorhin schon gesagt, und diese Klanggestalt in der Zeit vollzieht sich in der abendländischen Musik, das muss man sagen, das ist anders in der indischen Musik, in Form ganz bestimm­ter Spannungsbögen und im Wechselspiel von Konsonanz und Dissonanz, von Expansion, Höhepunkt und Rücklauf. Celibidache, einer der großen Dirigenten unserer Zeit, hat sich zu diesen Phänomenen immer wieder geäußert, dass Musik in gewisser Weise in einem großen Bogen Zeit einerseits zum Klingen bringt, andererseits zur Aufhebung bringt. Und in den größten Interpretationen der Musik kann es geschehen, ganz selten kann es geschehen, dass Zeit in gewisser Weise sich selbst aufhebt, dass also Anfang und Ende sich quasi wie in einem Mandala, wie in einer Spiralbewegung begegnen und einander aufhe­ben. Dann entsteht ein ganz eigenartiger Zustand, dass die Musik auf der einen Seite ein vorwärts drängendes Moment hat, gerade die abendländische Musik, die ja Themen entwickelt, erstes Thema, zweites Thema, es wird variiert, aber dass in gewisser Weise auch dieses vorwärts drängende Moment rückgebunden wird durch einen Spannungs­bogen, der wieder in den Anfang zurückläuft, was ich etwa in der jetzt im engeren Sinne klassischen Musik des 18. Jahrhunderts daran zeigt, dass der Anfang und das Ende den gleichen Grundton haben, die sogenannte Tonika. Das ist ja bei Mozart fast durchgängig der Fall. Ein Stück fängt tatsächlich in einem Grundton der Tonart an und mündet wieder in diesen Ton. Schon bei Beethoven ist es ja anders. Das ist ja nicht mehr der Grundton, aber zumindest der musikalische Grundimpuls.

Die dritte Schicht, die auch meditativ zu erschließen ist, ist das, was Beethoven mal genannt hat als „elektrischen Boden der Musik“, er hat mal gesagt: Die Musik hat einen elektrischen Boden. Das ist ein Begriff, den Beethoven in der damaligen Zeit geprägt hat, beeinflusst von der romantischen Naturphilosophie. Man würde vielleicht heute andere Begriffe wählen, vielleicht in der New-Age-Szene würde man das als Feinstofflichkeit bezeichnen, die Anthroposophen würden es vielleicht ätherisch oder astralisch nennen, wie immer, auf jeden Fall geht es um einen bestimmten Zustand, der um den Körper herum und den Körper durchdringend wahrnehmbar ist, der nicht eigentlich physisch ist. Auch das ist erfahrbar in der Musik. Dass die Musik also tatsächlich eine merkwürdige Zone im Körper aktiviert, die nicht eigentlich physisch ist. Feinstofflichkeit einmal hier in Anführ­ungszeichen gesehen, und da mag es sogar einen Zusammenhang geben, ich habe das in verschiedenen Musik-Seminaren auch ausprobiert, da mag es sogar auch einen Zusam­menhang geben mit den Energiezentren, von denen die asiatische Spiritualität berichtet, also den sogenannten Chakras. Mag sein. Wir wissen ja nicht, ob es die nun wirklich gibt, ob sie wirklich existieren. Auf jeden Fall, es mögen Hilfsmittel sein, es sind Hilfsmittel, die Energiezentren, die Bewusstseinszentren wahrzunehmen. Auch da gibt es Zusammenhänge mit der Musik.

Und dann ist Musik ja immer, und das ist ja zunächst die Schicht, die die meisten Menschen unmittelbar anrührt, emotional. Musik kommt nur dann an, kommt nur dann rüber, wenn sie seelische Prozesse, emotionale Prozesse verdeutlicht, und das kann die abendländische Musik vor allen Dingen durch die Konsonanz-Dissonanz-Spannung und durch die Dur-Moll-Spannung. Das gibt es ja in der Form in keiner nicht-europäischen Musik. Also die Eigenart, dass man die Terz, also die dritte Stufe vom Grundton aus und von der Dominante und von der Subdominante aus um einen Halbton-Schritt erniedrigt, hat sofort zur Folge, dass das gesamte Klangbild sich vollkommen verändert und eine kleine Schwingungsänderung, ein kleiner Wechsel von Dur nach Moll kann emotional ungeheure Auswirkungen erlangen, und es ist eigenartig, dass zum Beispiel in der sakralen Musik in Europa, in der das ganze Dur-Moll-System zunächst abgelehnt wurde und die Terz gerade­zu als das gefährliche Intervall bezeichnet wurde und nur in der Populärmusik eine Rolle spielt, nicht in der sakralen Musik. Sie konnte sich erst später in der sakralen Musik durchsetzen.

Dann ist Musik, vorhin schon angedeutet, eine Integration. Sie integriert die vier Elemente oder Wesensglieder oder Fakultäten des Menschen, nämlich seine Physis, seinen Körper, seine ganze Gefühlssphäre, seine Emotion, seinen mentalen Geist, Rationalität und das Spirituelle mehr oder weniger stark.

Natürlich gibt es Musik, die mehr oder weniger nur Körper-Power ist. Es gibt Musik, die ist so emotional, dass alle anderen Elemente in den Hintergrund treten. Oder es gibt rein konstruktiv-rationale Musik, wo man eigentlich nur mit höchst angespanntem Intellekt hört, wo eigentlich gar keine Emotionen aufkommen. Und die für meine Begriffe intensivste Musik ist diese Musik, in der diese vier Wesenglieder oder Elemente, nämlich die Physis, das Emotionale, das Rationale und das Spirituelle zur Einheit gelangen. Diese Einheit bedeutet keine Einerleiheit, sondern es kann durchaus auch eine konfliktreiche, eine spannungsreiche Einheit bedeuten. Und Musik, gerade die langsamen Sätze können in gewisser Weise sich selbst in die Stille hinein aufheben. Das können Sie bei besonders extremen Beispielen sehen, etwa bei späten Beethoven-Streichquartetten, dass also eigent­lich in gewisser Weise die Stille selber klingt und dann die Musik in die Stille zurückge­bunden wird und in gewisser Weise auch in die Stille zurückläuft, als ob die Stille das eigentliche Ziel überhaupt der Musik sei, als ob es das höchste Ziel der Musik sei, sich ins Schweigen wieder aufzulösen. Und insofern wäre dann, es gibt eine Stelle bei Thomas Mann im Faustus-Roman, wo er das sagt, dass vielleicht die Musik ihr höchstes Ziel darin hat, weil sie die geistigste aller Künste ist, ins Schweigen zu münden, das heißt, sich selbst aufzuheben, sich selbst überflüssig zu machen. Dann wäre ja die Musik nur ein Hilfsmittel, um das meditative Schweigen zu erlangen. Dann wäre sie sozusagen nur eine Stufe, dann wäre das Musik-Meditieren eine Stufe zur eigentlichen Meditation.

Und die letzte Schicht, die immer auch in der Musik eine Rolle spielt, die aber meditativ am schwierigsten anzugehen ist .., ist das, was Thomas Mann auch mal den Zahlenzauber der Musik genannt hat. Musik hat ja immer mit Zahlen zu tun. In der Musik wird gezählt. Das ist aber kein mathematisch-abstraktes, funktionales Zählen, aber es ist ein sozusagen ein mystisches Zählen, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, und die gesamte Struktur der Musik, etwa der abendländischen Musik, ist auf ganz bestimmten Zahlen aufgebaut. Der Fünf, der Sieben, der Zwölf im Quintenzirkel und in der Oktav-Schichtung und so weiter. Hier spielen ständig ganz bestimmte Zahlen-Ordnungen eine Rolle, und es gibt viele Überlegungen, Spekulationen philosophischer und mystischer Art darüber, was diese Zahlen-Ordnung in der Musik eigentlich bedeuten und was sie zu tun haben könnten, etwa mit der Mathematik. Da gibt es ja auch gerade in letzter Zeit im Zusammenhang mit der sogenannten Chaos-Mathematik eine ganze Reihe interessanter Überlegungen darüber, wie Musik mathematisch, in diesem anderen Sinne mathematisch, vielleicht zu fassen sein könnte. Das ist meditativ am schwierigsten wirklich anzugehen, also diese Schicht.

Bevor wir jetzt zu einigen Übungen und Musik-Beispielen kommen, noch ein paar letzte Bemerkungen. Wenn wir uns mit der Musik als einem Klanggebilde konfrontieren, dann ist es sinnvoll, dass man diese Musik zunächst einmal versuchsweise, auch wenn das vielleicht nicht ohne Weiteres zunächst gelingt, als ein eigenes Klangwesen quasi, eine eigene Klanggestalt begreift, als einen eigenen Klang-Organismus, und dann hört, wie weit dieser Klang-Organismus, diese Gestalt, diese Gestaltganzheit mit dem eigenen Klang-Orga­nismus, mit der eigenen Klanggestalt resoniert. Was passiert in dieser Begegnung? Also wenn man wirklich mit ganzer Wachheit und Offenheit hört, dann kann man feststellen, was mit einem selber passiert, wo was resoniert, wo sind tote Zonen, wo kommt es nicht an, wo ist es lebendig? Ist es vielleicht die Herzöffnung, ist es das Herzchakra? Oder habe ich das Bedürfnis, elementar zu tanzen oder sogar Aggressivität zu entfalten? Was passiert eigentlich? Oder denke ich mit mit der Musik? Höre ich sozusagen quasi intellektuell mit der Musik mit? Und Musik-Meditation ist in diesem Sinne, auch wenn das vielleicht ein etwas übertriebener oder überzogener Ausdruck ist, ein Mitgestalten. Es ist nicht einfach ein passives Sich-überfluten-Lassen. Es ist der Versuch, quasi den Ursprungsprozess der Musik mitzugestalten, also im Hören auf eine ganzheitliche Weise mitzugehen und nicht abzuschweifen von dem jeweils gehörten Ton. Da gibt es ein ganz schönes Wort von Celibidache, der sich mit diesen Dingen ja intensiv beschäftigt hat. Der hat mal gesagt: Wenn es dazu kommt, dass Sie sich wirklich einmal vom Denken befreien und dem Ton, dieser mysteriösen, dämonischen Erscheinung unmittelbar folgen können, folgen, nicht nur etwas nachgehen, sondern niemals sich von der Erscheinung trennen, das heißt im Hören tatsächlich immer im Moment dessen, was erklingt, zu sein. Was also eine ganz große Aufmerksamkeit erfordert und wahrscheinlich nur geht, wenn auch eine gewisse Inspi­ration, eine gewisse Emotionalität vorliegt. Denn wenn die Musik nicht wirklich den Menschen elementar ergreift, dann hat er Schwierigkeiten, sich überhaupt auf diese Ebene einzulassen. Also im Grunde dann, der unmittelbarste Vorrang ist es, eine Musik zu nehmen, zu der man einen emotionalen, spontanen Zugang gewinnen kann. Nur dann hat man überhaupt eine Chance, dass man in diese Schicht hineinkommen kann.

Nun gibt es zu dieser Art von Musik-Meditation Hilfsmittel, Übungen. Ich habe in meinem Buch am Ende des Buches 25 dieser Übungen zusammengestellt, zum Teil ganz einfache Übungen, die man machen kann, mit denen man quasi arbeiten kann, die einem helfen können, in diese Musik reinzukommen, wenn man es denn überhaupt möchte, das ist klar, wenn man nicht von vornherein Musik nur begreift als ein ästhetisch-intellek­tuelles Vergnügen, was es ja auch ist, oder als eine rein emotionale Aufwühlung oder schlicht und ergreifend als ein Hintergrundgeschehen, was eben einfach mitläuft zum Frühstück, etwa Klassik SFB3, Klassik Plus, ist ja auch nicht schlecht, aber das ist ein anderes .., sozusagen eine ganz andere Ebene, die da ins Spiel kommt.

Ich denke, dass wir jetzt einmal ein bisschen in die nach dem langen Theoretischen, ein bisschen versuchen, sag ich mal, in aller Vorsicht, in die praktische Ebene reinzu­kommen. Und wir wollen es mal ein bisschen angehen, obwohl wir hier keinen freien Raum haben, und wir kommen also jetzt in den eher praktisch orientierten Teil hinein. Und ich möchte jetzt einen langsamen Satz, den Teil eines langsamen Satzes einspielen lassen, die sechste Sinfonie von Bruckner, langsamer Satz, und einfach mal darum bitten, dass Sie, wenn es möglich ist, wenn Sie mir mal einen Moment die Leitung überlassen, wenn Sie es nicht machen wollen, dann ist es auch nicht weiter schlimm, wenn Sie sich vielleicht gerade in Ihren Sessel setzen, möglichst die Wirbelsäule gerade gerichtet, nicht hängen, weil der Brustkorb dann zusammengedrückt wird, sondern gerade sitzen und ohne Krampf und die Schultern möglichst entspannt lassen und die Hände wie Sie wollen. Sie müssen nicht die traditionelle oder klassische Handhaltung verwenden der ineinander gelegten Hände wie auf den Buddhastatuen. Das ist eine Hilfe, das muss aber nicht sein. Einfach mal gerade sitzen, Schultern entspannt und zunächst mal nichts weiter machen als ganz zu hören – total listening. Einfach gucken, was passiert eigentlich, wenn was passiert. Ich weiß, dass das schwierig ist in so einem Vortrag ganz plötzlich auf Knopfdruck. Knopfdruck heißt, ja nun hör mal ganzheitlich. Das ist natürlich nicht möglich, weil das bedarf es eines bestimm­ten Seminar-Zusammenhangs, das weiß ich, das wissen Sie auch. Das können wir hier nicht realisieren, das ist unmöglich. Insofern hat es einen Versuchscharakter. Also wir versuchen mal einfach in diese Musik reinzugehen, einfach zuhören und mit der Musik als erste elementarste Übung einfach mitgehen, nicht abschweifen, mit der Musik mitgehen, ganz wach, ganz bewusst, ganz präsent und nicht darüber räsonieren oder intellektualisieren.


Können wir vielleicht mal den Bruckner hören, den langsamen Satz?

(…) Ich gebe Ihnen einen kleinen .., sozusagen kleines Experiment, was Sie zu Hause selber probieren können. Versuchen Sie mal diese Musik zum Beispiel oder eine andere Musik, die Ihnen emotional etwas bedeutet, so zu hören wie jetzt, sitzend, und dann dieselbe Musik, einmal, indem Sie sich vollkommen flach auf den Boden legen, ganz platt und plan auf den Boden legen, die linke Hand auf die Brust, die rechte Hand unterhalb des Bauchnabels und möglichst nur ruhig atmen und so bewegungslos wie nur irgend möglich zu liegen. Und Sie werden feststellen, dass die Musik plötzlich, wenn sie eine gewisse Lautstärke hat, das kann man dann vielleicht in der Wohnung nicht immer realisieren, da muss man einen Kopfhörer dann vielleicht nehmen, dass Sie dann eine ganz andere Schwingung dieser Musik hören. Die bekommt dann eine ganz andere Form von Körperlichkeit und gleich­zeitig hören Sie ganz andere Sachen, die Sie vorher nicht gehört haben. Eine andere Mög­lichkeit zum Beispiel ist, dass Sie dieselbe Musik einfach in der Bewegung mitvollziehen, also einfach diese melodischen Figuren, ganz wie es ihnen kommt, mitvollziehen, nachvoll­ziehen. Auch dann kann man eine ganz andere Form von Wahrnehmung entwickeln, und man lernt plötzlich in dieser Musik, in jeder Musik, Schichten kennen, von denen man vorher überhaupt nichts gewusst hat. Das ist verblüffend, weil normalerweise das Hören ja das sitzende Hören ist, es sei denn, man liegt dann auch mal auf der Couch oder sonst etwas. Aber das normale Hören ist das sitzende Hören, es sei denn, man ist Musiker und praktiziert also Musik. Aber es ist also wichtig, dass man sich ein kleines, sagen wir mal, Ritual zurechtbastelt für diese Art hören, das kann ein kleiner Verfremdungseffekt sein, was weiß ich, ein Räucherstäbchen oder oder auch eine bestimmte Beleuchtung, wie immer. Man kann das in einer bestimmten Weise verfremden, um aus der Alltäglichkeit rauszukommen. Das ist wichtig, um einen gewissen Bruch zur Alltäglichkeit herzustellen. Und dann einfach gucken, was passiert mit mir. Das sind die elementarsten Übungen erst einmal für den Anfang. Das können Sie mit einem Bruckner machen, das können Sie mit Beethoven, mit Mozart machen, mit Mahler, im Grunde mit jedem bedeutenden, im Grunde mit jedem beliebigen Komponisten überhaupt. Bloß manche Komponisten sind weniger geeignet in diesem Zusammenhang. Wir können hier nicht tänzerische Dinge praktizieren. Wir können bestimmte Bewegungsvorgänge hier nicht miteinander üben, die ganz elemen­tar eigentlich Vorstufen wären. Und liegen können wir hier jetzt auch nicht, aber wir müssen es also halt mal im Sitzen probieren ,und wir gehen jetzt noch mal in eine voll­kommen andere Musik rein. Von einem zeitgenössischen Komponisten, der in Berlin lebt, ein Este, Arvo Pärt, der ein kurzes Stück geschrieben zum Gedenken an den Tod von Benjamin Britten, den er sehr schätzte, den bedeutenden englischen Komponisten, der 1976 verstorben ist, ein Cantus in memoriam von Benjamin Britten. Ein kurzes Stück, das können wir ganz hören. Es dauert nur fünf Minuten, und Arvo Pärt ist als Este ein extrem spiritueller, ein extrem religiöser Mensch, der ganz bewusst auch die spirituelle Dimension in die Musik einbezieht, auch moderne serielle Musik komponiert hat, aber zunehmend mehr die Musik zurückführt in gewisser Weise auf ihren Ursprungsgrund und sich zuneh­mend getrennt hat von der seriellen Avantgarde-Musik, obwohl er das auch kann und lange Jahre auch gemacht hat. Wir hören also jetzt mal, ein Stück von Arvo Pärt, „Cantus in memoriam Benjamin Britten“, und ich darf Sie bitten wieder, dass Sie möglichst mit gerader Wirbelsäule sitzen, Schultern entspannt und vielleicht im Atem ein ganz klein bisschen beim Ausatmen einen leisen Druck auf den Unterbauch ausüben und eine ganz kleine Pause machen. Das hat einen großen Effekt für den Körper, wer das mal getestet hat, also Ausatmen, ganz kleinen Druck auf den Unterbauch und dass der Atem von alleine dann wieder hochsteigen kann. Wenn Sie das nicht schaffen, ist nicht schlimm. Es soll nun wahrlich kein Krampf daraus gemacht werden, zumal jetzt in diesem Zusammenhang. Also wir versuchen es einfach mal in die Musik quasi reinzuatmen und uns davon durchdringen zu lassen in diesen Atemprozess. Also Arvo Pärt, „In memoriam Benjamin Britten“.

(…) Sie können derartige Hörerlebnisse zum Beispiel, indem sie so einen Satz, wie eben gehört, aufnehmen, intensivieren, indem Sie vorher vor dieser langen, langsamen Phase eine sehr vehemente, sehr schnelle Phase tanzen. Also man kann das so organisieren, wenn man dann die Zeit sich nehmen will, überhaupt zu so etwas, wenn man das nicht für völlig verrückt hält. Und wenn man das überhaupt möchte, dann kann man eine sehr vehemente, schnelle Musik, zum Beispiel ein Mozart, den Schlusssatz aus der Jupiter-Sinfonie etwa, eine wunderbare Tanzmusik, eine sehr vehemente Weise tanzen und dann ein Stück danach, was auch Bewegung enthält, aber eine etwas langsamere Bewegung. Und dann in diese Art von Musik reingehen – und dann im Liegen. Auch das ist jetzt theoretisch leicht dahingesagt. Das ist einfach eine Frage der Erfahrung. Das kann man in der Gruppe machen, das kann man zusammen machen. Elementar schnelle Bewegung, eine ruhige Bewegung und in der Schlussphase einfach liegen und dann eine Weile schweigen und dann gucken, wie da was mit dem Körper auf diese Weise passiert. Auch da kann man sich kleine Rituale schaffen und sich Musik zusammenstellen und versuchen, den Alltag ein Stück weit erst einmal draußen zu lassen, wenn man das möchte. Schön ist das zu zweit oder zu dritt. Man kann es aber genauso gut auch alleine machen.

Hinweis: Der weitere Teil des Vortrags wurde wegen der für eine Transkription unzureichenden Audioqualität nicht weiter bearbeitet. Das gilt auch für die sich dem Vortrag anschließende Diskussion.

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Schopenhauer als Mystiker

Vortrag

Urania Berlin
28.11.2001
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 52

Transkript als PDF:


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Guten Tag, meine Damen und Herren, ich bin am Montag Nachmittag angerufen worden, ob ich in der Lage sei, hier einzuspringen mit diesem Thema. Ich habe gleich, nach einem gewissen Zögern, ja gesagt. Das Zögern lag aber nicht am Thema, sondern daran, dass ich heute Abend noch einen anderen Vortrag habe. Um 19 Uhr in der Lessing-Hochschule über das Phänomen der Zeit, im Rahmen einer Vortragsreihe. Und deswegen habe ich gezögert. Und der [Veranstalter] sagte: Doch, Sie können das doch, Sie machen das doch. Insofern habe ich gesagt: Gut, ich mache das.

Ganz kurz zu mir selber. Ich bin Philosoph und Autor vieler Bücher und bin auch an der Humboldt-Universität, im Moment pausiere ich ein Semester. Ich habe mich mit Schopenhauer sehr intensiv über viele Jahre hinweg immer wieder neu beschäftigt. Und auch diese Frage, die hier ja das zentrale Thema ist, die Frage nach dem Mystiker Schopenhauer, Schopenhauer und die Mystik, Schopenhauer und die Spiritualität und die Beziehung zur asiatischen Philosophie, gerade diese Facetten haben mich immer sehr intensiv beschäftigt. Und ich darf vielleicht auf eines dieser Bücher von mir hinweisen, wo auch Schopenhauer eine gewisse Rolle spielt. Das ist eines meiner letzten Bücher, „Räume, Dimensionen, Weltmodelle – Impulse für eine andere Naturwissenschaft“, vor zwei Jahren bei Diederichs in München erschienen, und da gibt es ein Kapitel, das heißt „Durch Verrat in die Festung. Vvom Menschen als Schlüssel der Welt“. Und hier kommt auch Schopenhauer vor. Vor allen Dingen seine Leib-Philosophie und seine Erkenntnislehre. Da ist mir Schopenhauer kolossal wichtig, da ist er ungeheuer aktuell, aktueller als man zunächst vermuten könnte. Gut.

Und Sie wissen, dass morgen in der Philharmonie eine konzertante Aufführung von Richard Wagners „Parsifal“ stattfindet. Und Sie wissen alle, dass Richard Wagner sich sehr intensiv mit Schopenhauer beschäftigt hat, von ihm auch stark beeinflusst war, unter anderem in „Tristan und Isolde“, aber auch im „Parsifal“. Ich lese mal als Einstieg einen Brief vor, eine Briefstelle von Richard Wagner an seinen Freund Franz Liszt über Richard Wagner. Warum gerade dieser Text? Das werden Sie gleich bemerken. „Lieber Franz“, Dezember 1885, „ich komme immer mehr dahinter, dass du eigentlich ein großer Philosoph bist. Wie ein rechter Fahans [unsicher] komme ich mir dagegen vor. Neben dem langsamen Vorrücken meiner Musik habe ich mich jetzt ausschließlich mit einem Menschen beschäftigt, der mir, wenn auch nur literarisch, wie ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit gekommen ist. Es ist Arthur Schopenhauer, der größte Philosoph seit Kant, dessen Gedanken er, wie er sich ausdrückt, vollständig erst zu Ende gedacht hat. Die deutschen Professoren haben ihn wohlweislich 40 Jahre lang ignoriert. Neulich wurde er zur Schmach Deutschlands von einem englischen Kritiker entdeckt.“ Das wissen Sie, Schopenhauer war lange Zeit vollkommen unbekannt, kein Mensch interessierte sich für Schopenhauer. Er wurde erst um diese Zeit herum bekannt und hat noch als alter Mann seinen Weltruhm erlebt. Nicht so Nietzsche, der hat seinen Weltruhm nicht mehr erlebt. „Was sind vor allem alle Hegels usw. für Scharlatane? Sein, Schopenhauers, Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernst, aber einzig erlösend. Mir kommen [kommt er] natürlich nicht neu, und niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er [ihn] nicht bereits lebte. Aber zu dieser Klarheit erweckt hat ihn mir erst dieser Philosoph. Wenn ich auf die Stürme meines Herzens, den furchtbaren Krampf, mit dem es sich wider Willen an die Lebenshoffnung anklammerte, zurückdenke, ja, wenn Sie noch jetzt oft zum Orkan anschwellen, so habe ich dagegen doch nun ein Quietiv [ein von Schopenhauer geprägtes Kunstwort, sinngemäß: Beruhigungsmittel] gefunden, das mir endlich in wachen Nächten einzig zu Schlaf verhilft. Es ist die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod. Völlige Bewusstlosigkeit gänzlich ist nicht sein Verschwinden aller Träume einzigste endliche Erlösung“. Zitat Ende.

Interessant ist die Art und Weise, wie Wagner in diesem Brief an Liszt Schopenhauer charakterisiert. Für ihn ist er primär ein Denker der Erlösung. Was Wagner an Schopenhauer interessiert, ist eben dies, die Verneinung des Lebenswillens, die Erlösung, das erlösende Nicht-Sein, das Nicht-mehr-geboren-werden, siehe auch Kundry in dem Musikdrama „Parsifal“.

Nun haben diese beiden großartigen Menschen, der Denker und der Musiker, diese erstaunliche Gemeinsamkeit: Beide sind, wenn man das so nennen möchte, geradezu Erlösungsbesessene. Peter Wapnewski, bekannt als Wagner-Kenner, hat mal gesagt: Richard Wagner denkt und gestaltet eigentlich nur einen einzigen Gedanken ‒ den der Erlösung. Er ist wie besessen von dem Gedanken der Erlösung. Das können Sie in gesamten Werk Richard Wagners verfolgen, vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“. Es geht immer um die eine Frage der Erlösung, es geht um die Erlösung. Bei Schopenhauer ist es ganz ähnlich. Es geht eigentlich bei ihm zentral um diesen Gedanken der Erlösung, der Erlösung von allem Leid, vom Wechsel und Wandel der Erscheinungen.

Nun, Schopenhauer, ein Mystiker, hat Frau Nusch [wahrscheinlich die ursprünglich für den Vortrag Verantwortliche] formuliert, ja nicht als Frage. Ich würde eher sagen, fragen wir: Ist Schopenhauer ein Mystiker? Gut, ich übernehme jetzt mal Ihre Formulierung, Schopenhauer als Mystiker.

Was ist Mystik? Eine begrifflich vollkommen einwandfreie und uns alle überzeugende Definition dessen, was Mystik ist, wird sich nicht finden lassen. Darüber sind wir uns, glaube ich, einig. Man kann ganz vorläufig sagen, Mystik ist eigentlich keine Theorie, es ist kein theoretisches Konzept. Mystik ist eigentlich nicht Denken, Mystik ist nicht logisch, Mystik ist nicht diskursiv, sondern Mystik ist zunächst einmal ein Bewusstseinszustand, ist eine Haltung. Es ist eine seelisch-geistige Haltung, ein bestimmter Bewusstseinszustand. Welcher Art ist dieser Bewusstseinszustand? Auch das kann man sehr schwer in wenige Formeln pressen, denn es gibt sehr viele, ganz verschiedene Arten und Formen, Ebenen der Mystik. Im weitesten Sinne gesehen kann man sagen: Mystik ist ein Bewusstseinszustand, in dem oder innerhalb dessen das konventionelle Schema von Raum, Zeit, Kausalität, Materie und Selbst einschließlich Subjekt-Objekt-Trennung überschritten wird. Also der mystische Zustand ist, wie man sagen könnte, ein anderer, höherer Bewusstseinszustand, der auf eine Art Vereinigung des bis dahin Getrennten abzielt. Daher die berühmte Formel „unio mystica“. Eine mystische Vereinigung. Der Mystiker fühlt sich nicht getrennt von der Welt, er fühlt sich nicht als ein separates Selbst hier und die Welt als ein Objekt da draußen, sondern er fühlt sich in der Tiefe mit diesem Weltganzen eins.

Mystisch, eine mystische Erfahrung ist in diesem Sinne eine Einheitserfahrung. Das ist wichtig, und das spielt natürlich bei Schopenhauer eine ganz zentrale Rolle. Das weiß jeder, der auch nur oberflächlich Schopenhauer gelesen hat, dass bei diesem Denker der Gedanke der Einheit der Welt zentral ist. Diese Welt ist zwar aufgespalten in unzählige Einzelheiten. Sie ist aber in der Tiefe, in ihrem eigentlichen Grund, in ihrem Urgrund, eins, wie auch in der altindischen Philosophie der „Upanishaden“. Das also gleich mal vorab, ein Bezug von Mystik und Schopenhauer.

Sie kennen die alle, die schöne Stelle in „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, da singt Isolde ekstatisch, entrückt, liebestrunken: „Selbst dann bin ich die Welt“. Das ist die mystische Formel. Ich bin selbst die Welt, „selbst dann bin ich die Welt“ und am Ende des „Tristan“ ertrinken, versinken, unbewusst höchste Lust und dann für alle Wagnerianer das reinste Entzücken. Die Schauer laufen die Wirbelsäule rauf und runter. Das Orchesterfinale dieser Oper, dieses Musikdramas ‒ gut.

Ich will Ihnen versuchen, die mystische Komponente bei Schopenhauer in dem Zusammenhang der Gesamtphilosophie Schopenhauers zu zeigen. Das muss man auch, man kann nicht die mystische Komponente, auch seine Lehre vom Mitgefühl, vom Mitleid, engl.: compassion, herauslösen. Da würde man Schopenhauer unrecht tun. Das würde er mit argen Verwünschungen und wüsten Beschimpfungen bedacht haben. Er hat immer ganz großen Wert darauf gelegt, dass er auch rational nachvollziehbar denkt und allein die formelhafte Zuschreibung, er sei ein Mystiker, hätte Schopenhauer, das kann ich mit Sicherheit sagen, ganz scharf abgelehnt. Er hätte diese Zuschreibung abgelehnt, er hat immer gesagt, er ist kein Mystiker. Er stoppt mit dem Denken an der Stelle, wo die mystische Erfahrung beginnt. Bis dahin denkt er, und danach überantwortet er das Denken einem höheren und anderen Bewusstseinszustand, sagt aber ganz bescheiden: Hier gehe ich nicht weiter. Das tut aber der Mystiker. Der Mystiker geht ja an der Stelle weiter. Schopenhauer soll als 17-Jähriger gesagt haben, und das ist ein Leitmotiv seiner Existenz, ich habe es nicht wörtlich im Kopf, aber ungefähr, ich habe die Stelle auch nicht mehr gefunden: Das Leben ist eine missliche Sache. Ich werde es hinbringen, über dasselbe nachzudenken. Also wenn es schon, wenn ich schon da bin und das Leben so leidvoll und traurig ist, so misslich, dann will ich wenigstens das Beste daraus machen. Ich denke über das Leben nach. Er hat mal diese zentrale Frage auch in seinem Hauptwerk „Welt als Wille und Vorstellung“ so formuliert: Woher überhaupt der große Misston, der diese Welt durchtränkt? Das ist eine Leitfrage: Woher überhaupt der große Misston, der diese Welt durchdringt? Schopenhauer geht davon aus, mit dieser Welt liegt irgendetwas fundamental im Argen. Und zwar in der Grundstruktur meint er, sozusagen in dem fundamentalen Bauwerk dieser Welt liegt ein dunkles Rätsel, das immer auch Leid produziert, und das hat er natürlich gemeinsam mit Buddha, auf den er sich auch unermüdlich beruft, wie Sie wissen. Also, woher überhaupt der große Misston, der diese Welt durchtränkt?

In der „Welt als Wille und Vorstellung“ gibt es folgende Passage, ich lese sie mal vor, damit sie auch ein bisschen mal in die wunderbare Sprache reinkommen, denn Schopenhauer ist ein glanzvoller Stilist, einer der großartigsten Stilisten der deutschen Sprache. Man hat ähnlich wie bei Nietzsche immer Mühe als Schreibender und Vortragender, dass die eigenen Aussagen nicht allzu sehr sprachlich, stilistisch, unterhalb dessen, was man da zitiert, abfallen. Man gibt sich Mühe, dass das nicht ganz so schlimm ist, der Kontrast. Schopenhauer: „Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt, das heißt diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinausführt, ist gerade die“ ‒ jetzt ganz wichtig ‒ „welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt fragt.“ Dazu nachher mehr, „nach dem Was der Welt fragt. Das heißt, welche die Dinge nicht nach irgendeiner Relation, nicht als werdend und vergehend, kurz nicht nach einer der vier Gestalten des Satzes vom Grunde betrachtet, sondern umgekehrt gerade das, was nach Aussonderung dieser ganzen jenem Satz nachgehenden Betrachtungsart noch übrig bleibt“, also Raum, Zeit, kausale Verknüpfung der Dinge, Substanz und so weiter. „Das in allen Relationen erscheinende Selbst, aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben zum Gegenstand hat. Von solcher Erkenntnis geht wie die Kunst, so auch die Philosophie aus. Ja, wie wir in diesem Buch finden werden, auch diejenige Stimmung des Gemüts, welche allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt.“ Wieder der Begriff der Erlösung. Seine Philosophie, sagt er, großes Wort, führe allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt. Der Heilige im Sinne Schopenhauers ist nicht im religiös engen Sinne der Heilige. Der Heilige von im Sinne Schopenhauers ist immer der Entsagende. Der Heilige ist der die Welt überwunden hat. Der Heilige war ihm häufig oder manchmal auch synonym mit: der mystische Mensch, der die Welt als Ganzes hinter sich gelassen hat.

Ich will Ihnen zunächst einmal die zentralen Komponenten der Schopenhauerschen Philosophie präsentieren mit Schwerpunktsetzung auf dem Erlösungsgedanken, auf dem mystischen Gedanken, Ihnen auch die erkenntnismäßige Komponente zeigen und dann in einige zentrale Textstellen reingehen, um dann die Brücke zu schlagen zum indischen Denken. Das ist ja für Schopenhauer wichtig, das hat ihn auch stark beeinflusst. Ohne die „Upanishaden“ wäre er nicht zu seiner Philosophie gekommen. Er hat immer gesagt, es gibt drei entscheidende Quellen seiner Philosophie.

Erstens: die Philosophie Kants, zweitens: die Ideenlehre Platons und drittens: die Alleinheitslehre vom Brahm, vom Brahman, Atman, der „Upanishaden“ oder „Veden“, der altindischen Religion und Philosophie. Erst später hatte er sich dann auch mehr mit dem Buddhismus beschäftigt. Zunächst kaum. Der frühe Schopenhauer hat sich relativ wenig mit dem Buddhismus beschäftigt. Das kommt daher, weil viele der zentralen Texte des Buddhismus damals noch gar nicht publiziert waren. Die kannte er gar nicht. Die sind erst viel später veröffentlicht worden.

Ich stelle Ihnen mal die zentralen Komponenten der Philosophie Schopenhauers vor und versuche dann die genannten Akzente zu setzen. Es sind elf zentrale Punkte, die sich mir im Laufe einer mehr als 30-jährigen Beschäftigung mit Schopenhauer so dargestellt haben.

Erstens: Schopenhauer ist vielleicht der konsequenteste Denker auch, der dem Rätsel des Leidens, der Vergänglichkeit, des Furchtbaren, des Entsetzlichen in der Welt, der Angst und des Grauens nicht ausgewichen ist. Schopenhauer hat sich wirklich radikal konfrontiert mit dem Furchtbaren dieser Welt. Er ist ein Denker des Furchtbaren, ein Denker auch des Grauens, wenn man so will, wenn man das moralisch-religiös auch nennen will: ein Denker des Bösen. Er denkt das mit, und damit denkt er auch immer mit den leidenden Menschen. Ja, er denkt ihn nicht nur mit, sondern er setzt ihn in den Mittelpunkt, und das trennt ihn radikal von Hegel. Sie kennen vielleicht die berühmte Formulierung von Hegel in der Geschichtsphilosophie, fast wörtlich zitiert, Hegel: „Mit Blut und Krieg muss man fertig sein, wenn man an die Weltgeschichte geht. Hier kommt es auf den Begriff an.“ hat Hegel immer wieder gesagt. Das Leiden des Einzelnen, darüber geht die Geschichte hinweg. Der Marsch der Begriffe in der Geschichte, die unbarmherzige Logik der Dinge geht über das Leiden des Einzelnen hinweg. Der Einzelne ist zufällig, er ist unwichtig, er zählt überhaupt nichts. Da setzt Schopenhauer einen vollkommen anderen Akzent. Der leidende Mensch, der Einzelne ist für ihn real und zentral.

Zweiter Punkt: Daraus folgt bei Schopenhauer eine Lehre, die man als eine Allverbundenheitslehre bezeichnen kann. Schopenhauer denkt, die Welt als allverbunden, woraus eine bestimmte Ethik folgt. Er hat nicht zufällig zwei Schriften zur Ethik abgefasst und versucht der Ethik ‒ bei ihm nicht scharf getrennt von Moral übrigens – ein Fundament zu geben. Man kann, wenn man das als Begriff annehmen möchte, sagen, Schopenhauer predigt, in Anführungszeichen, eine Mitleids- und Verzichts-Ethik. Er predigt sie. Kritiker haben immer wieder gesagt: Er lebt sie gar nicht. Er war gierig auf jede positive Rezension in Zeitungen, hat das Leben genossen, hat sich’s gut gehen lassen, hat keineswegs dies gelebt. Ist das ein Einwand? Darüber können wir noch diskutieren. Der bedeutende Biograph Schopenhauers, Rüdiger Safranski, jetzt ja als Nietzsche-Biograph bekannt, hat am Schluss seines Schopenhauer-Buches, Ende der achtziger Jahre geschrieben: Schopenhauer wurde nicht der Buddha von Frankfurt. Und dann Safranski sinngemäß: Und das ist auch gut so, dass er nicht in diesen Wahn verfallen ist, nun auch noch seine eigene Lehre leben zu müssen.

Gut, kann man ja mal auf sich beruhen lassen, ist das richtig? Sollte nicht einer, der so redet, dann auch das leben? Er hat es nicht getan. In diesem Zusammenhang wichtig gehört für Schopenhauer, dass auch die Tiere als lebendige Wesen einbezogen sind. Auch die Tiere sind für ihn Manifestationen des einen universalen Weltenwillens. Auch die Tiere sind schutzbedürftig, müssen geschützt werden. Er hat radikal gegen die Vivisektion gekämpft, wie ja auch dann zum Teil Richard Wagner, hat radikal die Lehre des Descartes bekämpft, dass die Tiere nur Automaten sind. Nicht, Sie kennen die berühmte Lehre von Descartes, der sagt: Diese Tiere, wenn sie denn Schmerz zu empfinden scheinen, dann täuscht uns das, denn in Wirklichkeit sind Tiere nur komplizierte Automaten. Selbst der große, bedeutende Spinoza, selbst er, neigt noch ein wenig dieser Annahme zu, Tiere als Sachen [zu sehen]. Das ist ja noch auch im Recht so, Tiere sind Sachen. Das hat Schopenhauer ganz scharf abgelehnt. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass daraus eine Art ökologische Ethik folgt, mit Abstrichen, da muss man sehr vorsichtig sein. Man soll jetzt nicht Schopenhauer gewaltsam aktualisieren und sagen, na gut, der Schopenhauer, der ist schon ein sozusagen ein Vorläufer der Grünen, wie sie mal waren, die gibt es ja nicht mehr, die Grünen früher, was sie mal getragen hat. Das hieße zu weit gegangen sein. Das kann man mit Schopenhauer nicht machen. Also ein grüner Vordenker war er sicherlich nicht. Wichtig ist das eher für ihn, Mitleid, Mitgefühl, manchmal verwendet er auch das englische Wort „compassion“ zentral ist, ja der Weg, die Einheit der Welt zu verstehen. Mitleid, sagt Schopenhauer wörtlich, ist ein moralisches Urphänomen. Urphänomen, ein Begriff von Goethe, den er in gewisser Weise von Platon übernommen hat, nicht den Begriff, aber die Vorstellung. Also Mitleid ist ein moralisches Urphänomen: Das heißt, wenn ich einen Anderen leiden sehe, dann gibt es nach Schopenhauer eine spontane Identifikation, in diesem Moment, in dem der Andere leidet, wenn ich sein Leid sehe, bin ich der Andere. Das ist seine These. Im Mitgefühl identifiziere ich mich unbewusst mit dem Anderen. Ich bin dieser Andere, in diesem Moment. Da sind wir nicht voneinander getrennt.

Dritter Punkt: Schopenhauer liefert eine hochintelligente, nicht immer ganz einfach zu verstehende Erkenntnistheorie, Erkenntnislehre, die man bezeichnen könnte, er benutzt ähnliche Formulierungen, als eine immanente Metaphysik. Man unterscheidet ja Immanenz und Transzendenz. Transzendent ist das, was die Welt übersteigt, was grundsätzlich der Erfahrung nicht zugänglich ist, und verbindet das häufig genug mit einem spekulativen metaphysischen Denken, das ja Kant bekanntlich in der „Kritik der reinen Vernunft“ scharf zurückgewiesen hatte. Schopenhauer meint, man kann die Welt immanent begreifen aber zugleich metaphysisch. Dazu nachher mehr, denn der Grund der Welt ist nach Schopenhauer der Lebenswille, und der ist ein metaphysisches Prinzip, jenseits von Raum, Zeit, Kausalität, Substanz, Vielheit und so weiter.

Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass Schopenhauer der erste Denker der abendländischen Geistesgeschichte ist, der das Wesen des Menschen vom Leib aus denkt, nicht vom Geist aus. Bis dato hatten alle Denker die Essenz des Menschen immer in seine geistig-seelische Facette gelegt, in das Geistig-Seelische. Schopenhauer ist der Erste, mit Vorläufern natürlich, zum Teil findet man das auch bei Schelling, der klar sagt, der Mensch ist primär eine Konstellation des Willens zum Leben, eine Gestalt des Willens zum Leben und erst sekundär ein denkendes Wesen, ein denkendes, ein vorstellendes Wesen. Das führt, um das gleich noch mal plakativ zu sagen, weil es wichtig ist, auf diese beiden schwierigen Begriffe, die Schopenhauer als Titel benutzt für sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“.

Was ist gemeint? Vorstellung für Schopenhauer ist nicht Imagination, freie Phantasie, sondern Vorstellung ist für Schopenhauer alles, was für ein Subjekt Objekt ist. Alles, was in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjekts ist, die Außenwelt, die Objektwelt, die Materie. Das ist für Schopenhauer Vorstellung, das hat er übernommen von Kant. Und Wille, das ist ja zentral auch für die mystische und Mitleids-Problematik, Wille ist für Schopenhauer das, was allem Sein von innen zugrunde liegt. Vorstellung, plakativ, ist immer das Außen. Wille ist immer das Innen. Wir sind nach Schopenhauer Gestalt gewordener Wille, Lebenswille. Der Leib ist Willensform, da ja auch unser Leid als gehemmtes Wollen, wie Schopenhauer sagt, und der Geist, der Intellekt, ist für ihn nur ein Werkzeug, ein Instrument des Willens. Das war radikal neu, das weist natürlich voraus auf die ganze Tiefenpsychologie, das ist klar. Freud hat das auch immer wieder eingestanden, dass er ohne Schopenhauer, mit Abstrichen auch ohne Nietzsche, nicht zu seinen Einsichten gekommen wäre. Das ist natürlich, das weist voraus auf die Tiefenpsychologie.

Vierter Punkt: Schopenhauer denkt den Menschen vom Leib aus. Er sieht den Leib, um jetzt ganz bewusst nicht „Körper“ zu sagen, da Körper zu sehr wie außen wirkt, er sieht den Leib des Menschen als den einzigen Weg zur Erkenntnis der Welt. Das ist ein zentraler Punkt. Schopenhauer sagt: Wir können die Welt, die uns da außen gegenüber ist, nur auf eine einzige Weise erkennen, über unser Selbstbewusstsein, über uns selber, weil wir nur durch unsere Leiblichkeit gleichzeitig innen und außen sind ‒ ein genial einfacher Gedanke.

Jeder Einzelne hat seinen eigenen Leib, ja von wie von außen, wenn sie ihre eigenen Hände betrachten, das ist wie ein Ding in der Objektwelt außen. Gleichzeitig aber sind sie ja drin, sie sind in der Hand, Sie sind diese Hand. Und da haben Sie als Beispiel in der eigenen Leiblichkeit, sagt Schopenhauer ‒ genial einfach, schlecht zu widerlegen, kaum zu widerlegen – sagt Schopenhauer, da haben wir die Einheit von Subjekt und Objekt. Nur hier. Und jetzt können wir von dieser unmittelbaren Erfahrung, auch der Erfahrung des Leidens aus rückschließen auf die Welt als Ganzes, in Analogieschlüssen, in Analogieschlüssen. Denken ist immer Analogie. Man kann sagen, das ist ja nicht legitim, das darf man nicht, das sollte man nicht. Das ist nicht richtig. Letztlich kann der Mensch mehr oder weniger nur in Analogien, also Ähnlichkeiten denken. Schopenhauer hat das ganz konsequent gemacht. Es gibt ein Wort von ihm, dass man auch bei Novalis findet. Ich weiß nicht, ob er es gelesen hat in den „Fragmenten“: Die Welt ist ein Makro-Anthropos, ein großer Mensch. Die Welt als Makro-Anthropos, findet sich in den „Fragmenten“ des Novalis. Solche Gedanken finden Sie auch in der asiatischen Philosophie, etwa im Tantrismus.

Fünftens: Schopenhauer war der erste Denker mit Vorläufern bei den Romantikern, Friedrich Schlegel zum Beispiel, der konsequent, wie man das nennen könnte, das Tor nach Asien aufgemacht hat. Er war der erste, der die asiatische Philosophie, die indische Philosophie, die indische Spiritualität, die indische Mystik vollkommen ernstgenommen hat, ihr sozusagen die philosophische Würde zugesprochen hat und sie voll gültig in das eigene Denken integriert hat. Das war neu. Das hat es so vorher nicht gegeben. Und das war auch folgenreich, denn ohne Schopenhauer hätte es die ungeheure Renaissance des Buddhismus, des asiatischen Denkens in Europa so nicht gegeben. Schopenhauer war ungeheuer einflussreich. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es ohne die Weichenstellung Schopenhauers, auch das, was im 20. Jahrhundert dann sich entwickelt hat, als Orientierung Richtung Asien so gar nicht gegeben hätte. Also er war wirklich da ein Pionier. Das muss man ganz eindeutig sagen. Er lässt übrigens, das ist wichtig für unseren Kontext, die Möglichkeit der Reinkarnation offen. Es ist ja immer die Frage der Anhänger der Reinkarnationslehre: Ja, glaubt der Schopenhauer an Wiedergeburt oder nicht? In gewisser Weise ja, aber er lässt das offen. Das wird uns noch beschäftigen in anderem Zusammenhang.

Sechster Punkt: Er bietet ein radikal realistisches Bild des Menschen. Was oft als sein Pessimismus bezeichnet wird, ist ein Bild des Menschen, wie er leider, vielleicht nicht ausschließlich, aber auch ist, der Mensch als ein gieriges Wesen, als ein eitles Wesen, als ein Wesen, was krallt, als ein Wesen, das in der eigenen Leiblichkeit sich festklammert, das verstrickt ist in Fleisch und Blut. Das hatten Philosophen ja oft eher geringschätzig behandelt; das nimmt er vollkommen ernst und sagt gut, was ich sage, sagt Buddha auch, sagt auch Meister Eckhart.

Siebenter Punkt: Schopenhauers Philosophie ist ein genialer Versuch, das Rätsel der Freiheit zu lösen. Kurzformel, wichtig hier, Freiheit als Willensfreiheit verstanden, schwieriges Problem der Philosophie, nur am Rande erwähnt, löst Schopenhauer damit, dass er sagt: Wenn ich sage, ich kann tun, was ich will, dann ist das richtig, aber ich kann nicht hinter den eigenen Willen zurück. Wenn Sie Kinder fragen, warum machst du das? Dann sagt das Kind: Na, weil ich es will. Und dann die Frage der Erwachsenen, ganz unzulänglich: Warum willst du das? Weil ich will. Kein Mensch kann etwas Anderes sagen, Sie kommen mit dem Willen an eine Grenze, weil dann müssen Sie immer wieder nur sagen, ja, es gibt einen Willen hinter dem Willen, und hinter diesem Willen wieder einen Willen. Schopenhauer hat gezeigt, dass man da nicht rauskommt. [Möglicherweise achter Punkt]Das hat viele Bewunderungen ausgelöst und hat sein Renommee als Philosoph im 20. Jahrhundert mitbegründet. Es gibt viele, das wissen Sie vielleicht nicht, glühende Bewunderer von Schopenhauer im 20. Jahrhundert. Das war Einstein, das ist zum Beispiel heute Rudolf Augstein, der immer mal wieder, wenn Sie seine Betrachtungen lesen, durchblicken lässt, dass er Schopenhauer kolossal bewundert, gerade wegen dieser Lösung oder wegen dieses Aspektes der Freiheitsfrage.

[Neunter Punkt]Dann ist Schopenhauer ein glänzender Essayist und Stilist, der auf Nietzsche vorausweist. Er ist nie langweilig. Sie können Schopenhauer überall aufschlagen, wann immer Sie wollen, er ist nie langweilig, immer interessant.

Zehnter Punkt: Er liefert eine großartige Metaphysik der Musik. Das ist nicht unser Thema heute Abend. Und schließlich [elfter Punkt], auch interessant: Er war einer der ersten Philosophen, der den Versuch gemacht hat, sogenannte paranormale Phänomene auch philosophisch zu erklären.

Gut, nun zu diesem Willen bei Schopenhauer. Was ist dieser Wille? Zitat: „Der Wille“ – Schopenhauer „Welt als Wille und Vorstellung“ – „welcher rein an sich betrachtet erkenntnislos und nur blinder, unaufhaltsamer Drang ist.“ Also Wille, nicht ein bewusster Wille, ich will jetzt diesen Raum verlassen, oder ich will jetzt zu Fuß gehen oder in die U-Bahn einsteigen, sondern Wille als ein unbewusster Wille, als ein blinder Wille. Jeder von uns hier, nach Schopenhauer, ist dieser Wille selbst. Das ist das letzte Datum im Sinne Schopenhauers, nicht der Tag gemeint, auf das er zurückkommen kann. Also „der Wille nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen wie auch im vegetativen Teil unseres eigenen Lebens erscheinen sehen, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen.“ Plötzlich durch die Welt sieht sich der Wille wie von außen. Er ist aber drinnen. So entsteht für den Menschen eine eigenartige Paradoxie. Er sieht nach Schopenhauer die Welt außen, sich selber hat er ja innen, er hat aber einen geheimen Zugang der Welt, zur Welt, weil alles Außen genauso wie bei ihm selber im Innersten, ebenfalls Wille ist. Die Welt ist nach Schopenhauer im Grunde eine Einheit. Hinter aller Vielheit steht die Einheit. Frage aller Einheitslehren: Wie kommt die Einheit zur Vielheit? Darauf sagt Schopenhauer: Das ist der Taschenspielertrick der Natur, den wir nie ergründen werden.

Nicht, Sie wissen, dass alle Einheitslehren dieser Welt, religiöse, spirituelle, immer dieses eine Problem hatten: Ja wie kommt denn nun eigentlich dieses Eine zu dem Vielen? Was ist da passiert? Also „entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen und von dem was es sei, das er will, dass es nämlich nichts anderes sei als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht.Da der Wille, das Ding an sich“, sagt er mit [oder] nach Kant, „der innere Gehalt, die Erscheinung aber nur der Spiegel des Willens, so wird diese den Willen so unzertrennlich begleiten wie den Körper sein Schatten. Und wenn Wille da ist, wird auch Leben Welt, Dasein. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiss. Und solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Dasein nicht besorgt sein, auch nicht beim Anblick des Todes.“ Jetzt kommt der entscheidende Punkt, der mit jeder Erlösungsvorstellung zusammenhängt: Wie hältst du es mit dem Tod? Wie denkst du denn den Tod? Und Schopenhauer denkt den Tod. Übrigens denkt fast jeder Philosoph den Tod in irgendeiner Form. Von Platon stammt die berühmte Formulierung: Philosophieren heißt Sterben lernen. Der berühmte Satz Schopenhauers, von Platon: Philosophieren heißt Sterben lernen, den Tod begreifen. „Wohl sehen wir das Individuum, den Einzelnen, entstehen und vergehen, aber das Individuum ist nur Erscheinung, ist nur da für die im Satz vom Grunde, dem principio individuaciones“, also dem Prinzip der Vereinzelung, „befangene Erkenntnis. Für diese freilich, also für diese separate Erkenntnis des Prinzips der Vereinzelung, „für diese freilich, empfängt es sein Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zurück. Aber wir wollen ja eben das Leben philosophisch, das heißt seinen Ideen nach betrachten, und da werden wir finden, dass weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, noch das Subjekt des Erkennens, der Zuschauer aller Erscheinungen, von Geburt“, jetzt ganz wichtig, „von Geburt und Tod irgend berührt werden.“ Das heißt, das eigentliche Wesen der Welt wird von Geburt und Tod überhaupt nicht tangiert. Das betrifft immer nur die Erscheinung, nicht aber die Essenz, nicht das Wesen. „Geburt und Tod gehören eben zur Erscheinung des Willens als zum Leben, und es ist diesem wesentlich, sich in Individuen darzustellen, welche entstehen und vergehen als flüchtige, in der Form der Zeit auftretende Erscheinungen desjenigen, was an sich keine Zeit kennt.“ Also dieser Wille kennt keine Zeit, nach Schopenhauer, er kennt auch keinen Raum, er kennt keine Substanz, er kennt keine Kausalität. Und die Frage, was denn dieser Wille jenseits all dessen sei, hat Schopenhauer immer sehr zurückhaltend beantwortet, er hat immer gesagt, dass das grundsätzlich sich jeder Erkenntnis entzieht, und das ist wichtig für die mystische Komponente, Schopenhauer als Mystiker.

Sie können aus der Philosophie Schopenhauers natürlich mystische, spirituelle, von mir aus auch transpersonale Schlussfolgerungen ziehen, das ist vollkommen legitim. Aber Schopenhauer selber stoppt immer an dieser Stelle. Er sagt, er treibt das Denken nur bis zu der Stelle, jenseits derer dann die Kontemplation, heute würde man vielleicht sagen: die Meditation, die mystische Innenschau, beginnen müsste oder sollte. Innerhalb der Welt ist das Eine, jenseits der Welt ist ein Etwas, das sich dem Denken radikal verweigert. „Darum stoßen wir auch mit unserem Intellekt“, schreibt Schopenhauer, „diesem bloßen Willenswerkzeug, überall an unauflösbare Probleme wie an die Mauer unseres Kerkers.“ Er sagt, jede Seinsfrage, etwa: Ist die Welt endlich oder unendlich? Hat die Welt einen Anfang oder hat die Welt keinen Anfang? Wie geht es dort weiter? Was ist dort? Was ist hier? Was ist der Tod in der Tiefe? Darauf, meint Schopenhauer, kann das Denken keine Antwort geben, das sei für das Denken nicht lösbar. Es stößt an die Grenze, noch mal wörtlich, „wie an die Mauer unseres Kerkers“ ‒ sehr interessant, eine ungeheure Einschränkung des Denkens. Schopenhauer war in diesem Sinne ein ganz bescheidener Denker, wenn man es so nennen möchte. Er sagt, unser Denken kann nur sozusagen den Kerker, den wir als Leib sind, ausleuchten. Wir können aber mit dem Denken nicht den Kerker verlassen. Verstehen Sie, das ist ein entscheidender Punkt. Der Mystiker aber erhebt ja in gewisser Weise den Anspruch, dass er diesen Kerker verlässt. Der Mystiker denkt nicht so wie der Philosoph, das heißt nicht, dass er nun gar nicht denkt. Er denkt nicht so wie der Philosoph, er hat eine andere Zugangsweise zur Welt. Er denkt nicht, er schaut. Der Mystiker ist ein Mann oder eine Frau der Schauungen. „Überdies aber lässt sich als wahrscheinlich annehmen, dass von allem jenem Nachgefragten“ jetzt wichtig, „nicht bloß für uns keine Erkenntnis möglich sei.“ Er sagt, nicht nur weil wir das nicht können als Menschen oder wir Philosophen sind nicht schlau genug, sondern überhaupt keiner, also nie und nirgends. „Dass nämlich jene Verhältnisse nicht bloß relativ, sondern absolut unerforschlich seien. Dass nicht nur niemand sie wisse, sondern dass sie an sich selbst nicht wissbar seien, indem sie in die Form der Erkenntnis überhaupt nicht eingehen.“ Ganz wichtig für die mystische Komponente. Das heißt, was dieser Wille, dieses Innerste der Welt für sich selber und in sich selber, um das mal mit Hegel zu sagen, Schopenhauer würde einen Wutanfall bekommen, was also dieser Wille sei, entzieht sich dem Denken, weil wir denken nur innerhalb der Welt der Erscheinungen. Wir denken im Raum. Wir denken in der Zeit. Wir denken in der Kausalität. Wir denken in der Substanz. Wir denken in der Materie. Wir denken Ich und Du, Subjekt, Objekt. Das alles sind Formen der Erkenntnis, aber Formen der Erkenntnis nur innerhalb der Erscheinungswelt. Und Schopenhauer macht da einen enormen Schritt. Den kann man auch kritisch als eine Art Salto mortale des Denkens bezeichnen. Es ist aber faszinierend. Er verbindet die Kantische Vorstellung der Welt der Erscheinungen ‒ das hat vorher kein Mensch gemacht ‒ mit dem indischen Begriff der Maya. Sie können den indischen Begriff der Maya, schwer zu übersetzen: Schein, Täuschung, Zauberstück, Gaukelstück oder Ähnliches. Besonders in den „Upanishaden“, die Welt als große Phantasmagorie, umhüllt vom Schleier der Maya. Das sagt auch Schopenhauer. Schopenhauer benutzt immer wieder diese Metapher, dieses Bild vom Schleier der Maya. Dieser Schleier der Maya ist für Schopenhauer, und das ist erstaunlich, dass er diese Verbindung herstellt, mehr oder weniger das Gleiche, was Kant als „Welt der Erscheinung“ bezeichnet. Kant hatte ja gesagt, ganz vereinfacht, ganze Bibliotheken sind darüber geschrieben worden, Kurzform: Die Welt, wie sie wirklich ist, erkennen wir nicht, grundsätzlich nicht. Wir sehen nur das, was uns erscheint. Wir leben in der Welt der Erscheinungen. Die Welt, wie sie eigentlich ist, Kant sagt dazu, Ding an sich, darüber wissen wir überhaupt nichts. Darüber können wir gar nichts wissen, solange wir Menschen sind, sagt er einschränkend. Solange wir Menschen sind, also er schließt nicht aus, darüber ist viel gespottet worden: Schafft er sich da diese Hintertür? Er schließt nicht aus, dass es Wesen gibt, die mehr sind als wir, und die könnten das. Aber wir als Menschen, behauptet Kant, können das nicht.

Und das hat bei Schopenhauer auch eine ganz starke moralische Mitleidskomponente und auch eine mystische Komponente. Zitat: „Will man wissen, was die Menschen moralisch betrachtet im Ganzen und Allgemeinen wert sind, so betrachte man ihr Schicksal im Ganzen und Allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod.“ Schopenhauer sagt immer wieder: Wenn du deine Bedürfnisse befriedigt hast, wunderbar! Dann stellt sich Langeweile ein. Dann findest du es langweilig. Das Leben pendelt zwischen Schmerz und Langeweile, sagt er immer. Das heißt, du hast gar nichts davon, wenn du deine Bedürfnisse befriedigt hast. Das erinnert ja ein bisschen an, vielleicht kennen Sie das, die buddhistische Lehre von der Götterexistenz, nicht. Buddha und viele große Buddhisten haben ja gesagt, es ist gar nicht gut, wenn du Gott bist, weil du leidest dann nicht, das Leben dauert so lange, weil du begreifst dann nichts. Du lernst ja gar nichts. Du lernst ja nur, wenn es dir schlecht geht, wenn du leidest. Dann begreifst du plötzlich, diese Welt ist vollkommen anders, als du gedacht hast. Du bist auf die Welt zu marschiert, alles ist wunderbar, das Leben ist herrlich, und plötzlich gibt es Schicksalsschläge, es gibt Leid und Tod, da stirbt der, da stirbt der. Es wird geschossen, gestochen und gemordet. Die Welt ist offenbar ganz anders, als man es gedacht hat. Und dann das große Aufwachen. Was ist denn nun eigentlich diese Welt? Jedenfalls kein Spaziergang. Schopenhauer: „Die ewige Gerechtigkeit waltet. Wären sie nicht“, die Menschen, „im Ganzen genommen nichtswürdig, so würde ihr Schicksal im Ganzen genommen nicht so traurig sein.“

Moralische Konsequenz, Leiden hat auch mit Schuld zu tun. Das ist ja, sagte Schopenhauer immer wieder, die Welt hat eine moralische Bedeutung. Das zu leugnen ist also pervers. Sie kennen ja das Wort vielleicht von dem „ruchlosen Optimismus“. Optimistisch zu sein, sagt Schopenhauer, in dieser Welt des Leidens und des Werdens und Vergehens ist einfach roh, ist dumm. Vor allen Dingen blind, pervers. Das ist die Perversität des Denkens. Darüber spottet noch Nietzsche, der frühere Bewunderer und dann Gegner Schopenhauers.

Also die Menschen leiden, weil sie eigentlich so nichtswürdig sind. In diesem Sinne können wir sagen, die Welt selber ist das Weltgericht. Hochinteressant, Sie kennen das vielleicht von Schiller, nicht. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“, heißt es in einem Gedicht von Schiller. Das greift er hier auf. Die Welt ist das Weltgericht. „Könnte man allen Jammer der Welt in eine Waagschale legen und alle Schuld der Welt in die andere, so würde gewiss die Zunge einstehen.“ Also Schuld und Jammer der Welt halten sich die Waage. Ja, die Welt hat eine moralische Bedeutung. Es wird gelitten, weil diese Welt eine Welt der Schuld ist. Ja, was ist denn diese Schuld? Darauf gibt Schopenhauer nun eine, kann man sagen, verblüffend einfache Antwort. Er sagt: Die Schuld ist, dass du so wie du bist, überhaupt da bist. Dein Sein als Leib, wie es sich gefügt hat für dich, ist bereits die Verfehlung. Was soll denn das heißen, er leugnet die Entwicklungsmöglichkeiten der Existenz? Nein, tut er nicht. Aber er sagt immer wieder, das muss man einfach hinnehmen. Wir reden hier über Schopenhauer und versuchen ihn ja zu kommentieren, ob wir das nun richtig finden oder nicht, er sagt es: Das Nichtsein ist dem Sein vorzuziehen. Sie kennen Sophokles, den großen griechischen Tragöden, der sagt: Das Beste ist nie geboren zu werden, wenn du es aber bist, dass ist das Zweitbeste, dann geh so schnell es geht dahin zurück, woher du kamst. „Freilich aber stellt sich die Erkenntnis, so wie sie ist, dem Willen zu seinem Dienst entsprossen, dem Individuum als solchem wird die Welt nicht so dar, wie sich dem Forscher zuletzt enthüllt als die Objektivität des einen und alleinigen Willens zum Leben, der er selbst ist, sondern den Blick des rohen Individuums trübt“– wie die Inder sagen ‒ „der Schleier der Maya.“ Ihm zeigt sich statt des Dinges an sich nur die Erscheinung in Zeit und Raum dem principio individuaciones, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Damit meint er Kausalität. „Und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntnis sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches eines ist, sondern dessen Erscheinungen als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt.“ Kurzformel ‒ wie in der indischen „Upanishaden“ ‒ die Einzelheit ist Täuschung. Wir fühlen uns als getrennt, wir hier im Raum, in Wirklichkeit sind wir gar nicht getrennt. Wir sind vielleicht die Spitze des Eisbergs. Viele Eisberge, wenn das überhaupt ein gutes Bild ist, vielleicht ist das Bild ganz schlecht. Aber jedenfalls, sie verstehen die Richtung dieses Bildes. „Da scheint ihm, dem Einzelnen, die Wollust als eines und die Qual als ein ganz anderes. Dieser Mensch als Peiniger und Mörder, jener als Dulder und Opfer, das Böse als eines und das Übel als ein anderes. Er sieht den einen in Freuden, Überfluss und Wollusten leben und zugleich vor dessen Türe, den anderen durch Mangel und Kälte qualvoll sterben. Dann fragt er: Wo bleibt die Vergeltung? Und er selbst im heftigen Willensdrang, der seinen Ursprung und sein Wesen ist“ ‒ so auch Buddha ‒ das ist der Drang zum Leben, die Lebensgier ist der Motor des Ganzen. Also, „und er selbst im heftigen Willensdrang, ergreift die Wollüste und Genüsse des Lebens hält sie umklammert fest und weiß nicht, dass er durch eben dieses, diesen Akt seines Willens alle die Schmerzen und Qualen des Lebens, vor deren Anblick er schaudert, ergreift und fest an sich drückt.“

Nicht, das ist ja auch ganz der klassische Buddhismus: Indem du etwas willst, dein Begehren in den Mittelpunkt der Existenz stellst, bejahst du damit auch alles Leid. Du begehrst und du leidest, du leidest und du begehrst. Das ist das Gleiche. „Er sieht das Übel, er sieht das Böse in der Welt, aber weit entfernt zu erkennen, dass beide nur verschiedene Seiten der Erscheinung des einen Willens zum Leben sind, hält er sie für verschieden, ja ganz entgegengesetzt und sucht oft durch das Böse, Bewachung [nicht sicher] des fremden Leidens, dem Übel, dem Leiden des eigenen Individuums zu entgehen, befangen im principio individuaciones, getäuscht durch den Schleier der Maya.“ Und jetzt eine wunderbare Formulierung, die muss ich Ihnen noch vorlesen, weil sie einfach herrlich ist:„Denn wie auf dem tobenden Meere, das nach allen Seiten unbegrenzt heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend, so sitzt mitten in einer Welt voll Qualen ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationes oder die Weise, wie das Individuum die Dinge erkennt als Erscheinung. Die unbegrenzte Welt voll Leiden über alle unendlicher Vergangenheit und unendlicher Zukunft ist ihm fremd, ja ist ihm ein Märchen. Seine verschwindende Person, seine ausdehnungslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn, und dies zu erhalten, tut er alles, solange nicht eine bessere Erkenntnis ihm die Augen öffnet.“

Also der Egoismus des Menschen, diese Fokussierung auf sich selbst, auf das allein Wichtige, der Rest der Welt ist so wie eine Sage, wie ein Märchen, fast unwirklich, das deutet Schopenhauer ganz einfach: Weil jeder Einzelne in sich selber das Ganze ist. Er hat es in sich, in dem eigenen Lebenswillen ist er das Ganze, bejaht er auch das Ganze. „Bis dahin ist ihm ein Märchen seine verschwindene Person, seine aussichtslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn, und dies zu halten, tut er alles. Bis dahin lebt bloß in der innersten Tiefe seines Bewusstseins die ganz dunkle Ahnung, dass ihm jenes alles doch wohl eigentlich nicht so fremd ist, sondern einen Zusammenhang mit ihm hat, vor welchem das principium individuaciones ihn nicht schützen kann.“

Also, Schopenhauer sagt: Jeder Einzelne von uns hat aber das Ahnen in sich, dass diese Trennung letztlich eine Täuschung ist. Und da kommt das Mitgefühl ins Spiel, das sagte ich ja schon, indem wir den leidenden Anderen mitfühlend betrachten, wird die Schranke eingerissen, niedergerissen, die uns von den anderen, die uns von der Welt trennt. Und das ist, wenn man so will, auch eine mystische Komponente. Denn, ich sagte es ja, im mystischen Bewusstsein wird die separate Selbstheit ja gleichsam porös oder sie weitet sich, sie weitet sich in die Welt hinein. Sie sind dann nicht mehr nur das Individuum X oder Y. „Selbst dann bin ich die Welt“, heißt es ja bei Wagner in „Tristan und Isolde“, Sie sind dann das Ganze, und zwar, das ist ja wichtig für die mystische Erfahrung, das habe ich ja angedeutet, nicht theoretisch-abstrakt, philosophisch-denkerisch, sondern wirklich. Also Mystik ist keine Theorie.

Gleichwohl muss man sagen, und das macht auch das Denken Schopenhauers so spannend, denkt er mystische Zustände. Hat er sie selbst erlebt? Ich kenne die Biographie Schopenhauers ganz gut, ich weiß es nicht. Es gibt Zustände bei ihm offensichtlich, die in die Grenze mystischer Erfahrungen reichen. Aber mir ist nicht deutlich geworden in seiner Biografie, dass er in diesem eigentlichen Sinne, wie ich das angedeutet habe, mystische oder auch nur transpersonale Entgrenzungserfahrungen in jener Tiefe gehabt hätte, die ihn wirklich als einen Mystiker auszeichnen würde. Das kann man so nicht sagen. Insofern [ist] Schopenhauer kein Mystiker im eigentlichen Sinne, aber ein Denker, der die mystische Welterfahrung einbezieht, ein Denker, der die mystische Welterfahrung fundiert, der für diese mystische Welterfahrung eine Bresche schlägt, wenn man das so nennen will, ja sie für entscheidend, ja für einzig entscheidend hält. Denn worauf läuft denn diese ganze Philosophie Schopenhauers letztlich zu? Sie läuft zu auf die Erlösung, das hatte ich ja einleitend gesagt.

Kritiker haben immer wieder gesagt, so der erste große Kritiker, frühere Bewunderer Nietzsche: Das ist doch reinster Nihilismus. Denn was behauptet der Schopenhauer da, wenn er sagt, diese ganze Welt in Raum und Zeit und Kausalität, wenn sie weg ist, dann bleibt ein unbekanntes Etwas übrig als das eigentliche Sein? Darauf sagt Nietzsche: Da bleibt gar nichts übrig, das ist schließlich das Nichts, Schopenhauer ist ein Nihilist. Das letzte Wort in dem großartigen Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ heißt tatsächlich „nichts“. Sinngemäß: Wenn wir uns einmal vorstellen, was diese ganze Welt in Raum, Zeit und Kausalität eigentlich und in der Tiefe ist, jenseits dieser Erkenntnisformen, dann müssten wir sagen, Sie ist nichts. Sie ist nicht da, es gibt sie gar nicht. Ja, was ist denn das? Ist das nicht doch Nihilismus? Jetzt wird’s schwierig. Was heißt hier Nihilismus? Bei aller Verehrung für Nietzsche. Schopenhauer sagt natürlich unermüdlich, dieses sogenannte Nichts ist in gewisser Weise ein höherer Seinszustand, den er aber nicht mehr denkt, an dessen Schwelle er haltmacht. In diesem Sinne also, geht er nicht den Weg des Mystikers, und das ist auch ehrlich, das muss man auch sagen, das ist nicht einfach Schwäche und Unzulänglichkeit bei Schopenhauer. Ich finde das auch ehrlich, er ist da zurückhaltend. Er sagt: Diesen Weg kann ich nicht gehen, ich bin kein Heiliger. Ich bin nicht der, der den mystischen Pfad gehen möchte. Aber ich zeige die Wege bis zu dieser Grenze. Und wer die Grenze überschreiten möchte, der muss dann auch das Denken aufgeben. Das haben Sie ja gehört, das hat er ja ausdrücklich gesagt: Erkenntnis ist nur möglich im Rahmen von Raum, Zeit, Kausalität und der Welt, wie wir sie kennen. Jenseits dieser Welt gibt es keine Erkenntnis, sondern nur noch, wenn überhaupt, mystische Schauung.

Wir haben noch ein bißchen Zeit, 20 Minuten, wir müssen um fünf raus, ist mir extra auf die Seele gelegt worden. Ich könnte mühelos noch 20 Minuten oder auch zwei Stunden weiterreden, aber das geht halt jetzt nicht. Ich möchte Sie doch ermuntern, noch vielleicht ein bißchen zu fragen. Deswegen breche ich mal an der Stelle ab.

Ich denke, dass ich den Bogen gespannt habe, die Frage noch mal plakativ beantwortet: Schopenhauer ist im engeren Sinne kein Mystiker. Das hätte er auch selbst abgelehnt. Er ist ein Philosoph, der das Denken bis zu einer Grenze vortreibt, jenseits derer mystische Erfahrung beginnen müsste und auch beginnt. Insofern ist das kompatibel mit jedweder mystischen Welterfahrung, auch sehr verwandt, nicht deckungsgleich, sehr verwandt mit dem Buddhismus. Dass … viele sagen, Schopenhauer ist eigentlich Buddhist. Mit Abstrichen, das wäre ein Thema für sich, ist Schopenhauer eigentlich Buddhist? Schwer zu sagen. Er hat jedenfalls eine ganz starke Polneigung, Magnetpolneigung, Richtung Asien. Letzte Bemerkung: Er sagt einmal: Die „Upanishaden“ sind das tiefste Buch der gesamten Menschheit. Es gibt nichts Tieferes als die „Upanishaden“. Alles andere ist dagegen zweitrangig. Ein großes Wort, von einem abendländischen Philosophen ausgesprochen.

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Mensch und Kosmos – Verlust & Eschatologie einer Verbindung

Vortrag

Urania Berlin
18.12.1995
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 49

Transkript als PDF:

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Meine Damen und Herren, nun auch mal in diesem Saal, Sie kennen das noch nicht in diesem Saal. Ich war bisher immer in dem anderen. Ich freue mich, dass einige trotz dieser Glätte noch hierher gefunden haben, was für mich auch ein Problem war, als Radfahrer an die U-Bahn heran zu fahren. Ich musste mein Rad dann stehen lassen. Es war doch ein bisschen kritisch.

Ich will Ihnen heute Abend etwas erzählen über die Frage „Mensch und Kosmos“, die innere und die äußere Welt und will einleitend drei Zitate bringen, von denen ich meine, dass sie das Thema, um das es geht, beleuchten.

Das erste Zitat stammt von einem der bedeutenden englischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts, von David Herbert Lawrence, besser bekannt als D. H. Lawrence vielleicht, der 1930 kurz vor seinem Tode ein Essay veröffentlicht hat, den die wenigsten kennen. Die anderen Bücher und Romane sind ja bekannt. Dieser Essay ist fast überhaupt nicht bekannt. Er heißt „Apocalypse“, „Apokalypse“. Es ist eine Interpretation der Johannes-Apokalypse mit folgender Kernthese, das muss ich vorab kurz sagen: Die Johannes-Apokalypse, meint D. H. Lawrence, ist im Kern ein kosmologischer Text, ein Text über den Kosmos, über das Mensch-Kosmos-Verhältnis, der auf vielfältige Weise schon im Judentum überarbeitet worden sei und dann schließlich auch im Christentum eine Überarbeitung erfahren hat. D. H. Lawrence schreibt in diesem Buch, wo es also um das Thema geht, was uns heute Abend beschäftigen soll, 1930 ist der Essay veröffentlicht worden:

„Zwischen unserem Blut und der Sonne besteht eine ewige, lebendige Beziehung. Ewige, lebendige Beziehung besteht zwischen unseren Nerven und dem Mond. Lösen wir uns aus der harmonischen Verbindung mit Sonne und Mond, dann wandeln sich beide in böse Drachen der Zerstörung und erheben sich gegen uns. Die Sonne ist eine große Quelle der Lebenskraft des Blutes. Aus ihr strömt Kraft in uns. Wenn wir aber uns der Sonne widersetzen und sagen, sie ist weiter nichts als eine Gaskugel, dann wandelt sich diese strömende Lebenskraft des Sonnenlichts in uns in eine feine, zersetzende Kraft und vernichtet uns. Und das gilt auch vom Mond, den Planeten und großen Sternen. Sie sind entweder unsere Schöpfer oder Vernichter. Entrinnen können wir ihnen nicht. Wir und der Kosmos sind eins. Der Kosmos ist ein großer, lebendiger Körper und wir sind immer noch seine Teile. Die Sonne ist ein großes Herz, dessen Klopfen bis in unsere kleinsten Adern dringt. Der Mond ist ein großes, glühendes Nervenzentrum, von dem aus wir immer und ewig uns bewegen. Wer kennt die Macht, die der Saturn über uns hat oder die Venus? Das ist eine lebenskräftige Macht, die all die Zeit herrlich durch uns rauscht. Verleugnen wir Aldebaran, dann durchbohrt er uns mit zahllosen Dolchstößen. Wir haben den Kosmos verloren. Die Sonne stärkt uns nicht mehr und auch nicht der Mond. In mystischer Sprache: Der Mond ist für uns schwarz und die Sonne wie ein härenes Tuch. Jetzt müssen wir den Kosmos wiedergewinnen, und das geschieht nicht durch irgendwelchen Trick. Die vielen Beziehungen zu ihm, die in uns erstorben sind, müssen wieder lebendig werden. 2000 Jahre hat es gedauert, sie zu töten. Wie lange mag es dauern, bis sie wieder lebendig sind? Höre ich heute Menschen über ihre Einsamkeit klagen, dann weiß ich, was los ist. Sie haben den Kosmos verloren. Uns fehlt nichts Menschliches oder Persönliches, uns fehlt das kosmische Leben, die Sonne in uns und der Mond in uns.“ Und so weiter.

Das ganze Buch ist eine vehemente Klage über diesen Verlust. Zentrale These: der alte, lebendige, organische, ganzheitliche Kosmos ist verloren gegangen, hat sich aufgelöst zugunsten eines mechanistischen, letztlich toten Kosmos, in dem der Mensch keinen Platz hat, in dem der Mensch keinen Raum hat. Das als erste Aussage von David Herbert Lawrence.

Das zweite Zitat stammt aus einer Zeit vor ungefähr 200 Jahren und geht zurück auf den romantischen Naturphilosophen und Dichter Novalis, Friedrich von Hardenberg. Und dieses Zitat berührt bereits auch eine Nahtstelle der Innen-Außen-Thematik. Novalis schreibt unter einem Fragment, das er „Kosmologie“ nennt: „Es ist einerlei, ob ich das Weltall in mich oder mich ins Weltall setze. Spinoza setzte alles heraus, Fichte alles hinein. So mit der Freiheit: Ist Freiheit im Ganzen, so ist auch Freiheit in mir.“

Ob das nun einerlei ist, wie Novalis sagt, ob wir das Weltall in uns oder uns in das Weltall setzen, sei dahingestellt. Auf jeden Fall sind hier zwei Ansätze formuliert. Der eine Ansatz geht von der Innenwelt aus, vom Primat der Innenwelt, das Universum ist auch in uns. Der andere geht vom Primat der Außenwelt aus, das Universum ist primär draußen, da draußen, und wir sind letztendlich Fremdlinge.

Das letzte Zitat stammt von einem zeitgenössischen Philosophen, von dem Amerikaner Jakob Needleman. Jacob Needleman hat ein interessantes Buch veröffentlicht, vor zwei Jahren mit dem Titel „Vom Sinn des Kosmos“. Und hier schreibt er, ich zitiere, 1993 erschienen: „Ein Universum, das nur von unvorstellbarer Größe ist, schließt den Menschen aus und zermalmt ihn. Aber ein Universum als Manifestation eines großen Bewusstseins und einer großen Ordnung weist dem Menschen einen Platz und verlangt daher nach ihm. Nur ein bewusstes Universum ist für das menschliche Leben im Ganzen von Bedeutung.“ Also eine sehr aufschlussreiche und in ihrer Form ja auch radikale Aussage. Also ein Universum, das nur groß ist, unermesslich groß, ob nun unendlich oder nahezu unendlich, zermalmt den Menschen, raubt ihm im Grunde genommen seine humane Würde. Das also als Vorabbemerkung, drei Zitate.

Nun, es geht in diesem Thema „Mensch und Kosmos“, die innere und die äußere Welt, eigentlich um zwei Fragen, von denen ich vermute bzw. die These aufstelle, dass sie im Kern eine Frage sind. Ich meine, wir alle sind bis zu einem gewissen Grade ja ständig, tagtäglich und nächtlich Pendler zwischen zwei fundamental verschiedenen Welten. Wir sind alle in irgendeiner Form Weltenwanderer. Kurz gesagt lebt jeder von uns in seiner eigenen Innenwelt und in einer Außenwelt, die wir alle gemeinsam haben. Das kann man am deutlichsten vielleicht im Traum sehen. Man erlebt eine bizarre, fremdartige Szenerie im Traum, die eine ungeheure Wirklichkeit hat, wacht dann auf und ist in einer vollkommen anderen Welt, die sich nicht wesentlich verändert hat, jedenfalls im Normalfall nicht verändert hat. Das Eigenartige der Außenwelt ist, dass sie stabil ist. Was immer wir an Veränderungen wahrnehmen, diese stabile Außenwelt hat bestimmte fassbare und beschreibbare Gesetze. Sie hat eine gewisse Verlässlichkeit. Jeder von uns geht mehr oder weniger davon aus, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht, dass die Nacht zum Tage wird, dass die Erde sich weiterdreht. Es ist extrem unwahrscheinlich, obwohl theoretisch möglich, dass morgen alles anders ist. Das heißt also, dass sich über Nacht die Naturgesetze so radikal geändert haben, dass wir keinerlei Verlässlichkeit mehr haben, was den morgigen Tag betrifft. Aber im Normalfall gehen wir von der Konstanz, von der Stabilität der sogenannten Naturgesetze aus. Die Innenwelt hat ja einen vollkommen anderen Charakter. Jeder Einzelne lebt in einer fluktuierenden, geisterhaften, sich ständig verändernden Innenwelt. Und die Frage hat Menschen seit je beschäftigt, mindestens seit drei- bis viertausend Jahren beschäftigt: Was hat eigentlich das Eine mit dem Anderen zu tun? Was hat diese Innenwelt, diese fluktuierende, sich ständig bewegliche, geisterhafte Welt in uns zu tun mit einer Außenwelt, die doch offenbar ganz festen, ehernen, unwandelbaren Gesetzen folgt?

Diese Gegenüberstellung von Außenwelt und Innenwelt war menschheitsgeschichtlich in dieser Form so nicht von jeher gegeben. Sie ist erst in einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte in die Erscheinung getreten, wenn wir heute, sie, jeder von ihnen und auch ich uns als für sich seiende Subjekte empfinden und gleichzeitig die Außenwelt als eine Welt da draußen sehen, dann mag uns das als eine absolute Selbstverständlichkeit erscheinen. Sie haben gar nicht das Gefühl, dass das in irgendeiner Form überhaupt diskussionswürdig sei. Tatsache ist aber bewusstseinsgeschichtlich, dass dieses für-sich-seiende Subjekt und eine Außenwelt da draußen als etwas Anderes ein Resultat einer Bewusstseinsgeschichte ist undkeineswegsimmer so war.

Der Mensch hat sich in früheren Phasen der Geschichte mit der Außenwelt viel enger verbunden gefühlt, hat Außenwelt und Innenwelt in diesem Sinne, wie ich das angedeutet habe, noch gar nicht getrennt. Es ist in keiner Weise eine Selbstver­ständlichkeit, und die Frage bleibt, ob dies eine notwendige bewusstseinsgeschichtliche Entwicklung ist, oder ob wir im Speziellen, ja der Mensch des mentalen Selbst, der abendländisch-westliche Mensch im weitesten Sinne, nicht sozusagen in die Falle einer Schizophrenie hineingeraten sind, die uns heute auch diese Krisensituation eingetragen und eingebracht hat, an der wir alle leiden. Das einfach als Frage erst mal in den Raum gestellt. Das moderne Subjekt ist einsam, isoliert, fremd in der Welt. Gucken Sie sich die ganze moderne Literatur an, die kündet ja von nichts anderem als von der Fremdheit des Einzelnen in einem letztlich monströsen, geradezu unmenschlichen, inhumanen Kosmos.

Nun meine ich, dass die Frage von Innen und Außen zugleich verzahnt ist mit der Frage von Mensch und Kosmos, obwohl das ja auf den ersten Blick keineswegs selbstverständlich ist. Warum soll denn der Mensch innen sein und der Kosmos außen? Es könnte ja auch umgekehrt sein, der Mensch als Körper ist außen, der Kosmos als Innen-Kosmos ist innen. Aber hier ist die Problematik im Grunde genommen eine ganz ähnliche. Auch das kann man menschheitsgeschichtlich zeigen. Ich werde nachher Einiges dazu sagen, dass der Mensch den Kosmos, das Firmament, das Universum dort in einer ganz engen Verbindung immer zu sich und mit sich selber gesehen hat und in keiner Weise die Außenwelt des Kosmos so betrachtet hat, wie wir das heute im Normalfall tun. Ich sage es mal etwas überspitzt: nämlich als bloße Kulisse. Meine These hier zu Beginn ist: Der moderne Mensch betrachtet erst einmal die kosmische Außenwelt als gigantische Kulisse, die ihm im Grunde genommen in der Tiefe, sozusagen ontologisch, überhaupt nichts angeht. Dass es viele Gegenbewegungen gibt, unter anderem die Astrologie, ist eine ganz andere Frage, berührt aber erst einmal nicht den Kern des Dilemmas. Und wir sprechen ja auch, wenn wir an diese Schizophrenie denken, zwei oder drei vollkommen verschiedene Sprachen.

Wenn wir von der Außenwelt reden, im Normalfall, bedienen wir uns einer Sprache, die man als Es-Sprache bezeichnen kann. Wir reden von Dingen, von Gegenständen, von Sachen, die in irgendeiner Form gesetzlich ablaufen, es ist eine Es-Sprache. Wenn wir von uns selber reden, benutzen wir eine völlig andere Sprache. Wenn wir von uns als Ich reden oder wenn wir von uns als Du reden, oder wenn wir von uns als Wir reden. Auch das ist ja eine Entwicklung gewesen, dass sich das vollständig abgetrennt hat. Die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge, der Sachen, der Gegenstände, die Betrachtung des Wir im Sinne der Moral, auch der Spiritualität und die Frage auch des Ich, unter anderem das Problem oder die Frage der Kunst ‒ das ist alles bei uns vollkommen auseinander gefallen und steht nun in einer vollkommen schizophrenen Form vor uns.

Nun bleibt die Frage, die uns ja auch jetzt beschäftigen soll, wenn wir diese Spaltungen, diesen Abgrund uns vergegenwärtigen, gibt es vielleicht doch Hinweise darauf, dass Innenwelt und Außenwelt, dass Mensch und Kosmos sich im Letzten dann doch auf eine Einheitswirklichkeit zurückführen lassen? Denn wenn das nicht so ist, wenn es diese Einheitswirklichkeit nicht gibt, dann würden wir vollständig auseinanderfallen in ganz verschiedene Fragmente unserer Existenz, in bewusstseinspartikuläre Instanzen, wir hätten überhaupt keine Möglichkeit im Grunde genommen, uns mit der Welt in ein sinnvolles, in ein seelisch vernünftiges Verhältnis hineinzubegeben.

Also meine These ist: es gibt eine Einheitswirklichkeit. Die Welt ist im tiefsten Innern eine Einheit. Diese Trennung, die wir bewusstseinsgeschichtlich vor uns haben, ist das Ergebnis einer ganz bestimmten Entwicklung, die vielleicht notwendig war, vielleicht aber auch nicht. Das kann man zunächst mal auf sich beruhen lassen. Auf jeden Fall, hier wäre etwas und hier ist etwas zusammenzufügen. Also zweite These wäre hier, es gibt diese Einheitswirklichkeit.

Nun, ich habe gesagt, dass der Kosmos für den modernen Menschen mehr oder weniger eine Kulisse darstellt, dass der Kosmos für den modernen Menschen eigentlich überhaupt keine Rolle spielt. Ich muss nun ein bisschen die Begriffe klären. Der Begriff „Kosmos“, das ist vielleicht wichtig hier zu sagen, entstammt einer Zeit, als das abendländische Denken zum ersten Mal versucht hat, Natur und Kosmos als Ganzheit zu denken, entstammt nämlich der vorsokratischen Philosophie, geht zurück auf den vorsokratischen Philosophen Anaximandros und heißt ursprünglich, und das ist für die griechische, altgriechische Geistigkeit zentral: Schönheit, Schmuck, Schönheit, Ordnung. Kosmos heißt Schmuck, Schönheit und Ordnung. Damit war im griechischen Weltver­ständnis gemeint, dass der gesamte Kosmos harmonisch, man kann auch sagen: harmonikal geordnet und gegliedert ist, dass er göttlich durchwaltet, göttlich durchwirkt ist, dass alle Dinge miteinander im Zusammenhang standen, dass der Mensch also eingeordnet war, integriert in einen kosmischen Gesamtzusammenhang. Der Gegenbegriff war Chaos. Das hat nun erst mal nichts zu tun mit dem, was wir heute als Chaostheorie kennen. Chaos war in der Theogonie, in der Entstehungsgeschichte der Götter des alten Hesiod der Urgrund der Welt, der formlose Urgrund der Welt, sozusagen die Nacht des Nichtseins. Aus der Nacht des Nichtseins, im Sinne des Chaos, erwuchs dann die Götterwelt, erwuchs die Menschenwelt und erwuchs der Kosmos. Aber auf dem Untergrunde dieser kosmischen Ordnung west immer auch das Chaos, die Existenz ist gefährdet. Sie ist immer gefährdet, dass sie umkippen kann in den chaotischen Urzustand.

Kosmische Ordnung war in der griechischen Philosophie immer auch Zahlen­ordnung, denken Sie an die Lehre von der Sphären-Harmonie des Pythagoras. Und man kann zeigen, dass es auch immer einen dionysischen, sozusagen chaotischen Untergrund gegeben hat, den man niederhalten wollte und auch mit Erfolg niedergehalten hat. Das hat dann eine große Diskussion, das nebenbei gesagt, auch in der feministischen Forschung gegeben an ähnlich gelagerten Forschungen, dass man sagte, dass der Kosmos, der griechische Kosmos der harmonikalen Ordnung, im Grunde ein patriarchaler Kosmos war, der also die weiblichen dionysischen Ur-Schichten unterdrückt und niedergehalten hat.

Nun will ich ein Zitat mal bringen, was das ganz schön beleuchtet, was ich vorhin angedeutet habe, dass der Kosmos für uns, wie ich das genannt habe, eine Kulisse ist. Ich beziehe mich hier auf ein Buch eines amerikanischen Anthropologen mit dem Titel „Der Mensch, die Nacht und die Sterne“. Der Anthropologe heißt Richard Grossinger, der schreibt in diesem Buch, 1988 erschienen: „Verglichen mit der fortdauernden und Ehrfurcht gebietenden Szenerie des Nachthimmels ist unser Leben so kurz und zerbrech­lich, und wir haben so wenig Verbindung zu unserem inneren Himmel, dass wir dort unsere Aufmerksamkeit nicht lange verweilen lassen. Man wendet sich von den Sternen ab, macht sich etwas zu essen, ruft einen Bekannten an. Was uns der Himmel lehrt, könnte uns elektrisieren und aufwühlen.

Wir könnten wie neugeboren sein, aber wir sind nicht gelehrig. Stattdessen erleben wir eine Art kosmischer Einsamkeit und schieben die Sterne beiseite, um unser Leben zu leben. Doch ist diese kosmische Einsamkeit das Ergebnis unserer gegenwärtigen unend­lichen Einschätzung der Sterne und Milchstraße als gefühllose Objekte? Oder ist es umgekehrt? Sind wir selbst ein Symptom dieser kosmischen Einsamkeit, die wir selbst in einer Gesellschaft spüren, die ihre spirituelle und ökologische Orientierung verloren und den Menschen auf seinem Lebensweg schon weiter nichts mehr mitzugeben hat als Sprüche wie den folgenden: Du läufst nur einmal herum, also greife nach allen Genüssen und so weiter. Niemand würde so einen Spruch wirklich ernst nehmen, und doch verhalten wir uns alle ein wenig in dieser Weise. Wir zahlen einen schrecklichen Preis dafür. Die Alternative bestünde darin, unsere eigene kosmische Dimension auszudrücken, aber wir haben vergessen, wie und es wird fast nirgends mehr gelehrt.“

Also Grossinger vermutet, dass es möglich wäre, unsere innerste kosmische Dimension wiederzubeleben, aber keiner weiß eigentlich wie. Wie soll das funktionieren? Wo könnte man überhaupt ansetzen?

Nun ist der griechische Kosmos bereits ein relativ später Kosmos. Diese harmo­nikale Ordnung, zahlenmäßig, klanglich figuriert; der ältere, der archaische Kosmos hatte noch eine ganz andere Qualität und war noch von ganz anderer Struktur. Kosmos war für die Alten, ich sage das mal jetzt ganz pauschal, für die Alten, auch in der vormythischen Welt, ständige Präsenz, eine flammende, unerbittliche Dauerpräsenz, eine flammende, unerbittliche Dauerpräsenz, die gleichzeitig etwas mit Schrecken und Angst zu tun hat. Der Kosmos ist immer anwesend, er durchdringt uns immer, er ist unsere Herkunft und unser Ziel. Wenn Sie die gesamten Fixsternmythen, die gesamten kosmischen und kosmolo­gischen Mythen der Menschheitsgeschichte sich anschauen, dann werden Sie immer wieder auf ähnliche Grundmotive stoßen. Der Mensch stammt aus den Gestirnen, und er wird in irgendeiner Form wieder in die Gestirne eingehen. Also sehr häufig findet man in den alten Kosmologien die Vorstellung vom nächtlichen Firmament als eine Art astrale Region der Toten. Das können Sie also weltweit beobachten. Es ist zum Teil der Mond, dann sind es andere Gestirne, die das Totenreich darstellen, oder dieses Totenreich wird dargestellt durch ganz spezielle Sternbilder. Auf jeden Fall, der Kosmos ist gleichzeitig die Sphäre und das Reich der Toten und damit der Ewigkeit.

Ich gebe mal ein Beispiel aus der ägyptischen Mythologie, auf das ich kürzlich erst gestoßen bin in einem Buch, was im letzten Jahr erschienen ist, über die Pyramiden. Da heißt es über den ägyptischen Sternenmythos bezogen auf das Sternbild Orion und auf das Gestirn Sirius, das ist ja das bekannteste Sternbild überhaupt, der Orion, ich zitiere mal Bauval/Gilbert in ihrem Buch über das Rätsel des Orion („Das Geheimnis des Orion“, 1994): „Aus den altägyptischen Bestattungstexten und den Pyramidentexten geht eindeutig hervor, dass Orion die Seele des Osiris war und man die Himmelsregion, in der sich dieses helle Sternbild befand, als idealen Aufenthaltsort für die Seelen der Könige ansah, nachdem diese die Phasen des Todes und der Wiedergeburt durchlebt hatten. Randall Clarke, ein Ägyptologe, schreibt dazu: ,Der Aufgang Orions am südlichen Himmel nach einer Periode der Unsichtbarkeit ist ein Zeichen. Osiris ist in eine lebendige Seele verwandelt worden.‘ Das Hauptziel der Bestattungsriten bestand darin, den Verstorbenen in diese zweite Osiris-Form zu überführen, damit sich der tote König nach den gebotenen Vorkehrungen durch seinen Nachfolger als neuer Osiris mit der Seele des eigentlichen Osiris vereinigen konnte. Der erste Schritt in diesem astralen Transfigurationsritual bestand in der Umwandlung des Leichnams in einen Osiris, d. h. in die Mumienform. Indem man den toten König, oder besser seine Mumie Osiris Unas, Osiris Pepi und so weiter nannte, bereitete man ihn darauf vor, eine Seele, das heißt ein Stern in der Orion-Region des Himmels zu werden. Dies geht aus den Pyramiden-Texten deutlich hervor.“

Man kann also an ganz vielen Beispielen zeigen, das haben Ägyptologen auch nachgewiesen, dass die Himmelsregion des Orion als Totenreich gedacht war. Bestimmte Präparationen, bestimmte Manipulationen auch mit der Mumie dienten dazu, den toten Pharao mit seinem Ursprung wieder in Verbindung zu setzen und dieser Ursprung war zugleich sein Telos, sein Ziel. Und Herrschaft, das können sie in alten Kulturen immer wieder auch beobachten, legitimiert sich immer durch den unmittelbaren Bezug zum Himmel. Der Herrscher kommt von oben, er wird legitimiert von oben, er leitet seine Ahnenkette von oben ab, häufig genug wird er selber als ein Sachwalter dieser himmlischen Region auf Erden dargestellt. Nun hat man, das wissen Sie, diese Dinge natürlich vielfältig interpretiert, auch so gedeutet, Däniken ist ja nur ein Beispiel dafür, dass die Götter vom Himmel letztlich Astronauten waren. Sie kennen diese These und dass das deswegen seine, sozusagen seine relativ einfache Erklärung findet, dass das nun weltweit überall auftaucht, ganz einfach: Die Götter kamen einfach aus dem Firmament, sie kamen aus den Tiefen des Kosmos. Und deswegen werden sie in allen Mythen als die von oben Herabgestiegenen auch so gewertet und gesehen. Das können sie auch in der gesamten Science-Fiction-Literatur ja beobachten, dass das also eine ganz zentrale Denkfigur ist. In der Literatur dieser Art spielt der Fixstern Sirius eine ganz zentrale Rolle. Das ist also auch heute noch in der einschlägigen Literatur ein [vom] Mysterium umwitterter Stern. Und immer wieder wird angedeutet, auch in der sogenannten Channel-Literatur, dass sozusagen aus der Region des Sirius Impulse hier auf die Erde kommen und dass Sirianer sozusagen mit der Erde ein großes Experiment vorhaben. Das gibt auch ganz verschiedene Persönlichkeiten heute, für die der Kontakt dazu ganz im alten Sinne eine Selbstverständlichkeit ist. Vielleicht wissen sie, dass einer der berühmtesten zeit­genössischen Komponisten, Karlheinz Stockhausen, seit Jahren unermüdlich von sich gibt in der Öffentlichkeit, dass er all seine wesentlichen Impulse aus dem Gestirn Sirius hätte, von den Sirius-Bewohnern hätte. Für die Bewohner des Sirius ist die Musik die höchste Form der Schwingungen und Musik deshalb dort auch am vollkommensten entwickelt. Also, viel belacht in der Szene und auch in der gängigen Presse, aber Stockhausen ist vollkommen davon überzeugt, dass er seine entscheidenden Impulse dem Gestirn Sirius oder dem Sirius-System, wie immer, verdankt, also im Grunde ganz altes Gedankengut.

Nun, der Begriff „Kosmologie“, auch der muss kurz erläutert werden, weil er schon gefallen ist. Kosmologie ist die Lehre vom Kosmos und damit aber auch die Lehre vom Ganzen, vom Universum überhaupt. Und man muss sagen, dass jede Kultur der Menschheitsgeschichte, nicht nur die sogenannten Hochkulturen, ihre ganz eigene Kosmologie hatte. Ich spreche da in diesem Zusammenhang öfter von der „inneren Kosmologie“. Jede Kultur hat ein Grundverständnis vom Ganzen. Und diese sogenannte innere Kosmologie, letztlich also eine kollektive, eine kollektiv psychische Projektion, wenn man das psychologisch nennen will, bestimmt dann auch, was man draußen findet. Ich würde behaupten oder vermuten, es gibt dafür gute Indizien, dass das im Prinzip heute noch genauso ist. Sie kennen vielleicht ein berühmtes Wort von Einstein, was er 1927 dem damals sehr jungen Physiker Heisenberg gegenüber geäußert haben soll: Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann. Das ist ja für das Alltagsverständnis absurd, ich sehe, was ich sehe, wieso brauche ich eine Theorie? Erst die Theorie en­scheidet darüber, was ich beobachten kann.

Ich würde also behaupten, dass es im Prinzip in der Grundanlage heute noch genauso ist. Auch wir alle haben eine unausgesprochene, häufig ganz unartikulierte innere Kosmologie, und wir finden draußen das, was im Letzten auch in uns selber ist. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass bestimmte zeitgenössisch populäre Figuren der Kosmologie wie der big bang oder die Schwarzen Löcher im Letzten Projektionen kollektiv psychischer Energien sind, denn sie lassen sich nicht eindeutig und zweifelsfrei aus dem objektiv gegebenen Befunden ableiten. Es gibt ja auch Alternativ-Kosmologien, man kann die Dinge anders interpretieren. Dass sie kollektiv mehrheitlich in einer bestimmten Weise interpretiert werden, hängt mit dieser sogenannten inneren Kosmologie zusammen. Also jede Kultur hat ihre eigene innere Kosmologie, und der Kulturphilosoph Oswald Spengler, der diesen Dingen auch auf der Spur war, hat in seinem berühmten „Untergang des Abendlandes“ 1919 diese Dinge zurückgeführt auf die Raumfrage.

Jede Kultur hat eine eigene Vorstellung vom Raum. Was ist der Raum? Wenn man zum Beispiel die arabische Kultur [nimmt, die] würde den Raum als eine magische Höhle begreifen, sozusagen als einen magischen Mutterschoß, während die abendländische Kultur den Raum als letztlich unbegrenzt denkt und ihn im Letzten auch mit der Gottheit identifiziert. Also jede Kultur hat ihre ganz eigene Raumkonzeption. Und diese Raum­konzeption ist letztlich vorgelagert allem, was man dann später findet und misst. Das also vorab nochmal die These auf den Punkt gebracht: Auch bei uns ist es nicht anders. Auch unsere innere Kosmologie, die ja in vielen Facetten eine geradezu monströsen Charakter trägt, geht letztlich zurück auf innerpsychische, kollektivpsychische Projektion.

Projektion, ein Begriff aus der Psychologie, liegt ja immer dann vor, wenn wir in ein unbekanntes Etwas, in ein X, in eine dunkle Stelle unser eigenes Inneres hineintragen, hineinprojizieren. Insofern ist die moderne Kosmologie ein Spiegelbild unserer eigenen Seelenbefindlichkeit, ein Spiegelbild unserer eigenen Geistesbefindlichkeit und insofern auch schwer erst einmal aus den Angeln zu heben, denn wenn wir das könnten, müssten wir und könnten wir Andere sein. Wir sind so, wie wir sind. Deswegen haben wir die Kosmologie, die wir haben. Der naive Betrachter würde ja schnell sagen: Ja, was ist denn daran kollektivpsychisch, projektiv, wenn es doch Befunde sind, messbare Befunde, das kann man doch nachprüfen, das kann man doch messen, hier gibt es doch Kausalzusam­menhänge, die sich beweisen lassen.

Nun behauptet D. H. Lawrence in diesem Essay „Apokalypse“, dass der Kosmos verloren gegangen sei. Welchen Kosmos meint er? Er meint, wenn man seinen Text genauer liest, nicht primär den Kosmos der Griechen. Er meint nicht den harmonischen oder harmonikalen Kosmos der Sphärenharmonie. Er meint einen viel weiter zurück­liegenderen Kosmos, einen archaischen Kosmos. Er meint letztlich den Kosmos der flammenden Dauerpräsenz, der flammenden, bedrohenden und den Einzelnen ständig aufs Äußerste herausfordernden Präsenz einer Götterwelt. Und Lawrence, sie wissen, dass er ein Skandal-Autor in seiner Zeit war, der im viktorianischen England ja mit seinen Thesen über die Befreiung des Eros also sich unmöglich gemacht hat. Besonders berühmt ist ja sein Buch „Lady Chatterley’s Lover“. Und er glaubte, dass man diesem alten Kosmos über den Eros nahekommen kann. Das war seine Grundthese, die zieht sich durch sein ganzes Werk. Das erinnert ganz an Wilhelm Reich ein paar Jahrzehnte später. Er meint also, wenn wir ganz tief in die erotische Erfahrung reingehen, dann erfahren wir eine Entgrenzung, eine innere Entgrenzung und Weitung, die uns dann in die Dimension der Weite draußen im Kosmos wieder zurückführt, und wir können dann auch die seelische Dimension, die lebendige Dimension des Kosmos draußen erfahren und für uns wieder verlebendigen. Wir können also die tote Gaskugel wieder zu einem lebendigen Erfahrungsphänomen machen. Nun behauptet Lawrence, um noch mal kurz bei ihm zu bleiben, 1930, dass dieser Verlust des Kosmos drei Stufen durchlaufen hätte. Und das ist interessant, wenn man das mal koppelt an heutige, sagen wir mal weit gefasst, New-Age-Vorstellungen, wie denn der alte Kosmos einer sinnvollen Einheit der Welt verlorengeht. Er behauptet, die erste Stufe habe sich bereits im klassischen Griechenland abgezeichnet und sei verbunden mit der Person des Sokrates. Das hat er von seinem Gewährsmann Nietzsche, der den Sokrates als eine Schlüsselfigur sah. Sokrates oder den Sokratismus sieht er als Symptom der griechischen Aufklärung, als eine Gegenbewegung gegen den großen, mächtigen, flammenden Kosmos. Es gibt ein Zitat bei ihm, in dem Buch da schreibt er „Mit dem Erscheinen des Sokrates und des Geistes, im Sinne von Intellekt, starb der Kosmos.“ Hinzu kommt der Gedanke der Erlösung, das heißt Lawrence verdächtigt, das findet man dann bis in die Gegenwart hinein bei anderen Autoren, zum Beispiel bei Peter Sloterdijk, Lawrence verdächtigt den Erlösungsgedanken, für die Zerstörung des alten Kosmos verantwortlich zu sein, und zwar in diesem Sinne, dass der Erlösungshungrige oder Erlösungsbedürftige tief durchdrungen ist von der Annahme: Er in seiner Eigentlichkeit ist etwas vollkommen anderes als diese Welt. Ich bin nicht von dieser Welt. Ich lebe zwar in dieser Welt, aber ich bin nicht von dieser Welt. Und im Moment, in dem ich so denke, fühle und empfinde, nehme ich mich quasi auch aus der Welt raus. Es ist in gewisser Weise eine Art A-Kosmismus. Und alle Erlösungsvorstellungen gehen ja zunächst einmal davon aus, dass der Mensch sich vollständig herauskatapultiert aus diesem ganzen Zusammenhang, übrigens auch im Buddhismus, die Vorstellung: erst einmal raus aus der Welt, jedenfalls im Ur-Buddhismus ist es so, im späteren Mahayana-Buddhismus ist es anders.

Damit eng zusammen gehört der Gedanke, den man dann in der Gnosis findet, dass die Gnosis, aber auch in Teilen des Christentums, dass der Kosmos, das Universum als Ganzes eschatologisch gesehen der Transformation anheim gegeben wird. Der Kosmos wird verschwinden, soll und muss auch verschwinden, der ganze Kosmos, soll und muss sich auflösen, denn das Ende der Dinge ist nah. Das ist die Johannes-Apokalypse, ja einer der Schlüsseltexte dieser Art von Eschatologie bis in die Gegenwart hinein und darauf bezieht sich ja Lawrence als einen dieser Schlüsseltexte. Die Grundannahme: Der Mensch, die Erlösung steht kurz bevor, der Kosmos als Ganzes löst sich auf, es bleibt das neue Jerusalem der befreiten und erlösten Menschen. Das ist ja früh kritisiert worden, bereits auch schon von den neuplatonischen Philosophen, zum Beispiel von Plotin. Das war ja einer der Hauptkritikpunkte der neuplatonischen Philosophen an den Gnostikern und auch an Teilen des Christentums, dass sie den sinnlichen Kosmos, den Kosmos in seiner Einheit, der immer auch Physik und Metaphysik zusammen war, zerstören. Das muss ich noch ergänzen zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Der Kosmos der Alten, insbesondere dann auch der Kosmos der harmonikalen Ordnung der Griechen ist immer Physik und Metaphysik zusammen. Es ist auch Physik, wie auch der altgriechische Physis-Begriff, Naturbegriff immer ein ganz anderer war. Es ist immer Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit. Der Mensch geht also nicht etwa auf in der reinen Sinnlichkeit. Das wäre ein ganz großes Missverständnis, sondern der Kosmos ist immer durchdrungen und durchwaltet von einer Art Metakosmos, wenn man das so nennen will. Das wäre die zweite Zerstörung des Kosmos nach Lawrence.

Nun gibt es nach Lawrence eine dritte Zerstörung. Das ist also die neuzeitliche abstrakte Naturwissenschaft und Technik gewesen, behauptet er. Das hat also dem Kosmos, den letzten Resten, die noch da waren, den Garaus gemacht, die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik.

Nun kann man zeigen, das nur ganz kurz gesagt, dass … als das Christentum, ich will das nur ein ganz knapper Form sagen, überhaupt gezwungen war, die antike Kosmologie zu übernehmen, hat man sich dann im Mittelalter, Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, auf die Kosmologie des Aristoteles bezogen, die ein Zwei-Kugel-Universum vorsah bzw. imaginiert [hat], [das] wissen Sie, die eine Kugel ist im Zentrum des Kosmos, das ist die Erde, es gibt eine zweite Kugel, die in sehr großem Abstand um diese Erde herum gelagert ist. Dazwischen sind die sogenannten Sphären, durchsichtige Hohlkugeln, an denen die Planeten, an denen die Gestirne befestigt sind. Auch Sonne und Mond galten ja bekanntlich in der antiken Kosmologie als Planeten. Es gab sieben Planeten, also Merkur, Venus, dann Mars, also der Mond, dieser Mond war die erste Sphäre, dann die Sonne und Mars und Jupiter und Saturn. Neptun wurde erst wesentlich später entdeckt, erst 1781 durch Herschel.

Der Mensch war in diesem Bild, entgegen einer weitverbreiteten Auffassung, nicht etwa im Zentrum, in einem, sozusagen, in einem Zentrum hoher humaner Würde, er war ganz unten. Die eigentliche göttliche Sphäre war oben. Das haben wir heute noch in den ganzen Vorstellungen von oben, unten, diesseits und jenseits, das ist noch genau diese Denkfigur, der Kosmos, der … im Mittelpunkt der Welt ist der Teufel. So ist es dann bei Dante, in der „Divina Commedia“, also in der in der Mitte des Universum ist der Teufel, ist die Hölle, der Mensch ist in einer gewissen Entfernung von der Hölle, aber weit entfernt von den himmlischen Sphären, er ist zwischengelagert sozusagen, und seine Orientierung geht nach oben, die ist also ganz vertikal gerichtet. Und was danach war, jenseits dieser Schale bzw. die Frage darnach, galt als Scheinfrage. Das muss man sich in aller Deutlichkeit vor Augen führen, auch wenn man heute, wie ich jetzt hier gelesen habe, als ich hier vorbei zur Urania ging, morgen Abend wird ein Vortrag sein, ob der Kosmos unendlich oder endlich ist, begrenzt oder nicht begrenzt ‒ diese Fragen hat man ja schon vor zweiein­-halbtausend Jahren diskutiert, und man hat immer wieder ähnliche Grundargumente angeführt. Schon Aristoteles hat ja gesagt, wenn ich danach frage, was denn jenseits dieser Hohlkugel ist, dann stelle ich eine sinnlose Frage, weil jenseits dieser Hohlkugel ist kein Raum, keine Zeit, sondern der unbewegte Beweger, die Gottheit, das Göttliche. Die Frage danach ist eine sinnlose Frage. Also hat diese Hohlkugel im Grunde nur eine innere Wölbung, sie hat überhaupt keine äußere Wölbung, was sich ja für den naiven Realismus als absurd ausnimmt. Schon ganz früh hat man ja dagegen Einwände erhoben.

Zum Beispiel der römische Dichter Lukrez hat das berühmte Beispiel gebracht oder die berühmte These aufgestellt, wenn ich am Rande des Kosmos stehe und schieße den Pfeil ins Leere, was passiert? Verschwindet der Pfeil, oder bewegt er sich weiter? Wenn er sich weiter bewegt, ist auch jenseits dieser Grenze noch Raum, da ist letztendlich der Raum nicht begrenzbar. Aristoteles meinte aber, das ist unmöglich. Aber die Frage blieb ja bis heute. Das können Sie in der gesamten modernen Kosmologie, auch in dem sogenannten Big-Bang-Universum verfolgen. Es ist genau die gleiche Grundkonstellierung der Frage. Wenn das Weltall sich ausdehnt, gar der Raum sich ausdehnt, wohin dehnt er sich aus? Dehnt er sich in den Raum hinein aus, dann ist der Raum schon vorher da. Dann kann ja der Raum selber sich nicht ausdehnen. Wenn der Raum selber sich ausdehnt, dann ist ja ein vollkommen anderes Moment gegeben, das heißt dann, wohin dehnt der Raum sich aus? Offenbar in einen Nicht-Raum. Auf jeden Fall, diese Fragen sind noch die alten, brennenden, spannenden Fragen wie eh und je. Und die Frage bleibt natürlich, was hat der Mensch überhaupt damit zu tun? Das ist ja unser Thema: Mensch und Kosmos.

Man kann ja fragen, wie der Kosmos ist. Ob das nun [den] Big Bang gibt oder nicht, oder ob der Kosmos endlich ist oder unendlich. Was hat das mit uns zu tun? Das ist ja die entscheidende Frage: Was haben wir mit dem Kosmos, mit dem Universum da draußen überhaupt zu tun? Gibt es da irgendwie einen Zusammenhang, oder sind wir letztlich ameisenhafte, winzigste Wesen, die letztlich in diesem monströsen Kosmos überhaupt keine Funktion haben?

Nun hat das früh zu großem Pessimismen geführt, berühmtes Beispiel, ja zum Nihilismus sogar, berühmtes Beispiel ist Jean Paul, 1798, vor knapp zweihundert Jahren seine Schrift „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“. Wenn der Kosmos also, wenn diese ungeheuren Räume der Leere sich nicht füllen lassen, sind wir verloren. In der Aufklärungsphilosophie wurden die Räume ja noch gefüllt mit belebten Wesen. Man glaubte an die Allgegenwart der Vernunft. Alle Himmelskörper sind bewohnt. Auch Voltaire, [das] wissen Sie vielleicht, spekulierte darüber, ob vielleicht die Sirianer, von denen war ja bereits die Rede, die Sirius-Bewohner, vielleicht intelligenter sind als wir. Er vermutete, das seien sie, vielleicht stimmt es auch, wer weiß. Auf jeden Fall war das eine heiß diskutierte Frage. Und die Frage war ja immer auch: Wie ist es überhaupt möglich, dass wir eine Außenwelt, dass wir einen Kosmos überhaupt verstehen können und dass wir bis zu einem gewissen Grade überhaupt Naturwissenschaft betreiben können? Das muss ja irgendwie auch etwas mit Geist zu tun haben. Denn wenn der Kosmos nur ein Außen ist und der Geist nur das Innen, dann ist es vollkommen rätselhaft, was dieses Innen mit dem Außen zu tun hat. Wenn es außen Gesetze gibt, die ich erkennen und beschreiben kann, dann muss das auch beides miteinander zu tun haben, berühmte Antwort Kants „Kritik der reinen Vernunft“: Wir selber schaffen die Gesetze der Natur, das heißt, wir projizieren, er hat das Wort nicht verwendet, aber wir projizieren letztlich in ein vollkommen rätselhaftes, unbekanntes Etwas unsere Anschauung.

Das haben Sie noch bis heute hinein im sogenannten Konstruktivismus. Sie wissen es vielleicht, es ist eine der bekanntesten erkenntnistheoretischen Positionen heute, Konstruktivismus, wir konstruieren ständig Wirklichkeit. Wir wissen überhaupt nicht, was Wirklichkeit ist. Universum, groß geschrieben, Kosmos groß geschrieben, Wirklich­keitswelt groß geschrieben, ist das große X. Wir erfahren Universen, Kosmoswelt, klein geschrieben, das heißt unsere Welt, unser Universum. Das heißt, wir projizieren ständig, und wir können auch gar nicht anders. Wir sind ständig letztlich unseren eigenen Projektionen verfallen.

Nun hat es da immer Gegenbewegungen gegeben. Man hat sich ja niemals vollständig damit arrangiert und hat das niemals vollständig akzeptiert. Schon im 19. Jahrhundert können Sie beobachten, dass in der, sagen wir mal, esoterischen Bewegung ganz früh Gegenbewegungen da waren. Die früheste Bewegung, die auch heute noch sehr einflussreich ist über Umwege, ist die Theosophie. Nicht, also im späten 19. Jahrhundert, als das mechanistische Universum seine größten Triumphe feierte, ist die berühmte „Secret Doctrin“, Geheimlehre von Madame Blavatsky, ein Gegenversuch gewesen, den Kosmos spirituell zu fundieren und eine spirituelle oder esoterische Kosmologie zu formulieren. Diese Art von esoterischer Kosmologie der Madame Blavatsky hat dann bis in weiteste Strömungen des 20. Jahrhundert hinein die spirituelle Szene mitbestimmt, nicht nur die Anthroposophie, auch viele andere Strömungen, das war immer ein Gegenmodell, ein inneres Gegenmodell gegen den monströsen, sinnlosen Kosmos da draußen. Und man hat große Probleme gehabt, immer das Eine mit dem Anderen zu verbinden. Und wir haben ja heute, seit zwanzig Jahren vielleicht, den Versuch sehr vieler Forscher, Denker, Naturwissenschaftler, aber auch einiger Philosophen, diese verlorenen Enden wieder zusammenzuführen, also den verlorenen Kosmos der Alten, den verlorenen Kosmos einer sinngefügten Ordnung zusammenzufügen mit den „Errungenschaften“, in Anführungs­zeichen erst einmal gesagt, der neuzeitlichen Naturwissenschaft.

Es geht ja nicht darum zu sagen, wir verzichten grundsätzlich und ohne alles Wenn und Aber auf all das, was die naturwissenschaftliche Forschung herausbekommen und herausgefiltert hat, [das] wäre ja eine mögliche Perspektive. Man kann ja sagen, das alles ist so furchtbar gewesen, der ganze Ansatz hat so in ein monströses Vakuum geführt, in Nihilismus, also verzichten wir auf das Ganze. Das wäre, wenn man es genau nimmt, im Grunde genommen der Schritt in die Regression, das wäre ein Weg oder ein Schritt zurück. Auch das ist natürlich ein verständliches Bedürfnis. Es gibt also sehr viele heute, denen die gesamte, sagen wir mal nachkopernikanische Kosmologie eigentlich ein Unding ist, ein Etwas, mit dem sie nichts anfangen können und auch nichts anfangen wollen und die in gewisser Weise zurück wollen in eine „Heimeligkeit“, mal in Anführungszeichen jetzt gesagt, einer geozentrischen, einer eher zentrierten Welt.

Nun ist das bis zu einem gewissen Punkt auch verständlich. Ich meine, unsere Sinneserfahrung, auch die Grunderfahrung des naiven Realismus, spürt und merkt und empfindet ja nichts erst einmal von der kosmischen Wirklichkeit. Wenn wir hier sitzen in diesem Raum, dann wissen wir ja nicht, dass wir auf einer Steinkugel mit 30 Kilometer pro Sekunde dahinjagen, die ungefähr 12784 [12713 km Poldurchmessser – 12756 km Äquatordurchmesser] Kilometer groß ist, dass wir.., dass das ganze System sich bewegt, dass wir in einem gewaltigen, wie immer beschaffenen Universum uns befinden. Unsere Sinnlichkeit zeigt uns ja erst einmal eine ruhende, eine für sich seiende, letztlich Vertrauen erweckende Erde. Wenn in letzter Zeit, im Zuge der Vorstellung über mögliche Kometen­einschläge, siehe das berühmte Spektakel letzten Sommer auf dem Jupiter, nun Gedanken auftauchen, es könnte demnächst ein Komet, ein Meteor hier einschlagen, dann wird plötzlich schlagartig erhellt, das ist gar nicht so stabil, so für alle Zeiten, so auf alle Ewigkeit festgelegt, wie man das annahm.

Sie wissen vielleicht, dass ja hier, [Alexander] Tollmann hat ja hier auch in der Urania gesprochen, der Geologe Tollmann aus Wien, der die These vertreten hat, er war nicht der erste, aber er hat sie sehr plausibel gemacht, dass vor 8000 Jahren ein Meteor hier eingeschlagen ist und die gewaltige Flutwelle verursacht hat. Der Komet sei in sieben Teile zersprungen, er sei in vielen Teilen der Erde eingeschlagen, hat Tausende von Dokumenten untersucht und hat plausibel gemacht, dass es so ein Vorfall mit aller großer Wahrscheinlichkeit gegeben hat. Wenn es so eine kosmische Katastrophe gegeben hat, dann ist die Frage, kann die Katastrophe wieder eintreten und wenn ja, wann? Statistisch gesehen, sagen einige Astrophysiker, passiert das nur alle 20.000 Jahre. Bloß die Frage ist ja natürlich, wo befinden wir uns in diesen 20.000 Jahren? Wir können uns ja gerade am Ende befinden. Auch Kernkraftwerke sollen ja auch nur alle 15- bis 20.000 Jahre große Unfälle erleben, im Sinne der Super-GAUs, und trotzdem passiert es.

Also das gibt plötzlich ein Element der Unsicherheit, der Boden könnte wankend werden, natürlich kann man sagen, das passiert nicht, das kann gar nicht passieren, es ist unmöglich, dass so etwas passiert, morgen nicht und übermorgen auch nicht. Ich sehe zwar im Fernseher von meinem Sessel aus, dass da ein Komet einschlägt auf dem Jupiter, aber das ist weit weg. Ich bin hier, und es wird aller Wahrscheinlichkeit [nach] nicht passieren. Da gibt es viele Überlegungen, dass das doch öfter passiert ist, als wir denken und dass es durchaus auch in nächster Zeit passieren könnte. Ich will das vollkommen auf sich beruhen lassen. Ich bin kein Anhänger der Impakt-Theorie. Es ist jedenfalls eine Plausibilität, dass es vielleicht auch tatsächlich passieren könnte, wenn wir überhaupt noch diese Phase erleben können und uns nicht vorher ökologisch oder sonstwie den Garaus selbst fabriziert haben, wofür eigentlich alles spricht.

Nun, die Grundfrage dieses Abends und die Grundpfeiler des ganzen Themas ist ja: Wenn uns da wirklich etwas verloren gegangen ist, was ich ja ganz knapp jetzt mal gesagt habe, mit der flammenden Allgegenwart eines Kosmos, der auch unsere Heimat ist, unser Ursprung und unser Ziel, siehe die astrale Region im Orion oder auch die harmonikale Struktur des Kosmos ‒ was können wir denn tun heute? Was kann denn eigentlich der Mensch im ausgehenden 20. Jahrhundert tun? Wie kann er sich denn überhaupt stellen dazu? Wie soll er sich denn verhalten, wenn er vielleicht ganz tief innen spürt oder ahnt, dass diese ihm von der Öffentlichkeit, auch übrigens ja von den Massenmedien, servierte Kosmologie vielleicht in der Tiefe ihn gar nicht berührt und auch gar nicht berühren kann? Was soll er tun? Und das ist ja das Thema sehr vieler Bücher und Ansätze in den letzten Jahren. Und ich selber habe ja auch in verschiedenen Veröffentlichungen und Büchern mich dazu geäußert. Und ich finde es auch eines der spannendsten Themen überhaupt, sich klarzumachen, was für Ansätze, was für Möglichkeiten gibt es hier überhaupt? Ich will mal versuchen [darzustellen], was für Möglichkeiten gibt es überhaupt, hier irgendetwas wiederzugewinnen? Also was können wir tun, um die alte, lebendige Kosmologie wiederzubeleben?

Ich meine, der alte Kosmos existiert ja nach wie vor in uns allen. Er ist ja, um es mal so zu formulieren, auch unsere Sternenseite, die Nacht- und Sternenseite, mit der wir ständig verbunden sind. Das Tagesgestirn der Sonne überstrahlt ja immer nur mit seiner gleißenden Helligkeit die Sterne, die ja immer da sind. Sie wissen, dass es ja auch in einem Brunnen bestimmter Tiefe zu einem bestimmten Sonnenstand ja auch möglich ist, am hellichten Tage die Sternbilder gespiegelt zu sehen. Das heißt, die Sternbilder sind immer da. Sie sind immer da, wie der Kosmos immer da ist, die flammende Gegenwart ist immer da. Sind das nun einfach glühende Gaskugeln? Sind das beseelte, belebte Gestirne? Oder sind das einfach nur Lichtpunkte, was ja für die meisten der Fall ist? Die Gestirne sind einfach Lichtpunkte, wie immer sie nun da oben befestigt sein mögen. Was mag die Kosmologie dazu sagen, was die will?

Nun will ich versuchen, mal ein paar Ansätze zu zeigen, wie das eigentlich gedacht wird in den letzten Jahren und was sich da bewegt auf diesem Felde. Folgende Facetten beobachte ich, und ich bin ja zum Teil auch an diesem Diskurs beteiligt seit 20 Jahren. Einen Punkt habe ich schon genannt, das ist die schlichte Regression, sehr verbreitet. Das können sie auch in hochintelligenter Form zum Teil verfolgen. Es ist keineswegs, dass Regression hier so von oben herab von mir gemeint ist. Es gibt immer hochintelligente Formen der Regression. Ich erinnere mich daran, dass ich vor drei Jahren oder zweieinhalb Jahren in der Humboldt-Universität im Audimax eine Podiumsdiskussion hatte mit Rudolf Bahro und einem Biologieprofessor, wo es um die Frage Kosmologie ‒ Ökologie ging. Und da hat dieser Biologieprofessor damals gesagt, ja, der ganze Kopernikanismus und die ganze Phase nach Kopernikus ist doch für die Ökologie-Frage vollkommen uninteressant. Sie ist nicht nur uninteressant, sie ist eigentlich eher hinderlich. Das heißt, viel besser wäre es, wir würden den Kosmos wie eh und je begreifen als die bergende Erdmutter inmitten dieses lebendigen Kosmos. Dass das ein Wandelstern ist mit dieser ungeheuren Geschwindigkeit, ist also eine Erkenntnisstufe, die uns nur ruiniert. Ich habe das dann im Disput und in der Öffentlichkeit also dagegen gesprochen und meinte also, man könnte sehr wohl eine andere und neue Sichtweise des Kopernikanismus finden. Man müsste nicht zurück. Aber dieses Zurück ist, ich sage es nochmal, verständlich.

Die zweite Möglichkeit, die ungeheuer verbreitet ist, ist ja ist die Astrologie. Ich meine die Astrologie, das muss man einfach mal klar sagen, war ja ursprünglich verbunden, ganz eng verzahnt mit einem all-lebendigen, mit einem animistisch verstandenen Universum, wo es ein Kommen und Gehen gab astraler Energien, astraler Wesenheiten, der Götter und abgeschiedener Seelen und sich inkarnieren wollender Seelen, als ein ständiges fluktuierendes gewaltiges organisches Ganzes. Die moderne Astrologie ist einfach Psychologie. Ich habe kürzlich eine polemische Bemerkung gefunden von Jemandem, der sagte, eigentlich könnte die Astrologie auf die Gestirne ganz verzichten, weil sie braucht im Grunde genommen die Gestirne gar nicht. Sie hat auch gar kein Alternativmodell zur mechanistischen Kosmologie. Sie übernimmt ja letztendlich, auch computerisiert, übernimmt letztendlich genau dieses mechanistische Universum, passt sich dann immer den jeweiligen Strömungen in der Naturwissenschaft neu an, hat aber kein eigenes, fundiertes und wirklich aus der Tiefe, aus einem eigenen Sein, aus einer eigenen, lebendigen, authentischen Ontologie gespeistes Gegenbild. Das mag im Einzelnen anders aussehen, also einzelne Individuen mögen in der Tiefe da durchaus ein anderes Bild in sich tragen. Aber das, was erst einmal rüberkommt, ist eng gebunden an das mechanistische Denken, bedient sich aber ganz alter Formen und Bilder, die nun neu psychologisiert werden. Es ist ja letztlich ein Element, ein System, ein sehr subtiles und hochinteressantes System der Psychologie. Die meisten astrologischen Bücher sind also eigentlich psychologische Bücher.

Nun, den Weg des Eros habe ich bereits genannt. Nun kann man fragen, das ist ja auch alt, nun kann man fragen, wie bringt uns der Eros den Kosmos nahe? Ich meine, die Literatur ist voll davon, auch die Musik, denken Sie an Richard Wagner, den Schluss von „Tristan und Isolde“. Da ist ja auch so eine kosmische Vereinigung dargestellt, in der Musik sinnfällig gemacht. Und denken Sie an die gesamte Bio-Energetik von Wilhelm Reich und seiner Lehre von der Orgon-Energie, die im biologischen Organismus genauso drin ist wie in den Galaxien. Das ist natürlich eine schwierige Sicht, eine schwierige, problematische Sicht: Kann man einfach sagen, weil es viel diskutiert wird, kann man sagen, da sozusagen die Galaxien auch von Eros-Energien in Gang gehalten werden, ist es letztendlich das Gleiche, da und dort. Dann hätte man ja auch die alte Einheit wiedergefunden. Die glaubte ja auch Wilhelm Reich wiedergefunden zu haben. Über die Orgon-Energie glaubte er tatsächlich, er habe sozusagen diese alte Spaltung überwunden. Über die Orgon-Energie können wir nun eine neue Brücke finden zwischen Kosmos und Erfahrungswelt.

Nun, was gibt es noch für Ansätze? Es gibt Versuche auch seit 20, 25 Jahren, diesen alten Dimensionen des Kosmos mittels bestimmter nur durch eine bestimmte Schulung zu erlangender Erfahrungen nahe zu kommen, sogenannte transpersonale Erfahrungen. Es gibt ja die Möglichkeit, in Grenzsituationen, Dinge, Elemente oder Facetten der Wirklichkeit zu erfahren, die dem normalen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Man hat dafür einen Begriff geprägt, der ein gewisser modischer Begriff ist, ich liebe ihn eigentlich nicht so sehr, obwohl er eine gewisse Teilberechtigung hat, der Begriff „kosmisches Bewusstsein“. Der Begriff ist geprägt worden von einem kanadischen Psychiater im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er meinte damit visionäre, grenzüberschreitende Erfahrung. Er meinte, ganz bestimmte Persönlichkeiten in der Geschichte, Dante, Moses, Buddha, Jakob Böhme und andere hätten diese Erfahrung gehabt. Das zieht sich ja durch die gesamte spirituelle Kosmologie bis in die Gegenwart: die Vorstellung von einem kosmischen Bewusstsein, dass man also auf diese Weise in einer transpersonalen Erfahrung wieder in die alte Dimension des Kosmos in irgendeiner Form hineinkommen kann. Die Dimension ja auch der Weite und der Bewusstseinssstrahlung und der sinngefügten Ordnung, also sozusagen sich befreien kann und diese Stufe transzendieren kann. Man wäre dann wieder in einem sinnvoll gefügten, ganzheitlichen Zusammenhang. Das hat ja auch der Psychiater und Bewusstseinsforscher Stanislav Grof in seinen Büchern und Praktiken immer wieder zu zeigen versucht, dass wir mittels dieser Erfahrungen, die man in der Meditation finden kann, mit bestimmten Formen des Atmens und Anderem tatsächlich in der Lage sein könnten, in eine Tiefendimension der kosmischen Erfahrung wieder neu hinein zu kommen. Auch die Bewusstseinsforschung, die sich beschäftigt mit den Grenzerfahrungen der sogenannten Nahtodeserfahrungen, geht hier in eine ähnliche Richtung. Da ist ja mittlerweile die Literatur kaum noch überschaubar zu dem Thema, aber es ist ja immer wieder die gleiche Grundrichtung, dass der Mensch an der Grenze seiner irdischen Existenz plötzlich, schockartig in eine Erfahrungsdimension hinein gerät, die ihm sein Bewusstsein ins Kosmische hinein für einen Moment weitet, für einen Moment, sei es für Minuten, sei es für zehn Minuten, eine Viertelstunde vielleicht sogar für Stunden oder auch nur für Sekunden. Auf jeden Fall, in einem kurzen Moment kann diese Verpanzerung des Bewusstseins aufgebrochen werden.

Wir alle haben hier erstmal im Normalfall ein absolut zugepanzertes Bewusstsein. Wir laufen auf diesem Planeten rum, sind beschäftigt mit tausend Dingen, die uns tagtäglich und ständig irgendwie den Tag, die Zeit des Tages in Beschlag nehmen, und das um uns herum vielleicht, was diese Erfahrung andeuten könnte, sozusagen eine brausende, eine unermessliche, vieldimensionale, ständig durch uns hindurch wirkende Bewusstseins­strahlung wirkt, ist ja normalerweise vollkommen unbekannt, ja wird geradezu als eine vielleicht poetische oder sonstige Fantasie bezeichnet. Man kann aber erst einmal, auch sei es nur als Arbeitshypothese, davon ausgehen, die herrschende Kosmologie umdrehen oder auf den Kopf stellen und sagen: Wir sind sinnvoll in diesen Kosmos eingefügt, wir haben einen Sinn, wir haben eine Funktion, wir müssen bloß rauskriegen welche. Das ist natürlich die entscheidende Frage. Und diese Bewusstseinsforschung behauptet ja nicht, nun wüsste man, was der Sinn der menschlichen Existenz im Kosmos sei. Es sind ja Signale nur, es sind ja nur Öffnungen, sind ja in keiner Weise, irgendwie klare, verifizierbare und schon gar nicht irgendwie naturwissenschaftlich belegbare Aussagen: Das ist der Mensch, so verhält es sich mit seinem Verhältnis zum Kosmos.

Ich meine, in der herrschenden Kosmologie und Evolutionsbiologie ist es ja vollkommen einfach: Der Mensch ist ein höheres Tier, hat sich entwickelt, er ist ein Seitenzweig einer im Grunde bewusstseinsblinden Evolution. Wo ist eigentlich das Problem? Dann haben natürlich einige Kosmologen, schlau kann man sagen, das sogenannte anthropische Prinzip eingeführt, haben gesagt, na ja, das ist zwar so, aber im Grunde genommen zielt die ganze kosmische Evolution auf die menschliche Intelligenz. Anthropos ist der Mensch, anthropisch ist also die Entwicklung zum Menschen. Es gibt also dann doch ein Telos, doch ein Ziel, nämlich die menschliche Intelligenz.

Nun ist diese Art von menschlicher Intelligenz vielleicht nicht so hoch zu veranschlagen. Im Zuge dieser uns allen bekannten Krisenhaftigkeit auf diesem Planeten hat man ja wirklich gute Gründe, an dieser Intelligenz zu zweifeln. Dieser blöde Witz, der mir kürzlich untergekommen ist, wenn ich das kurz mal sagen darf, in irgendeinem Buch: Unterhalten sich zwei Planeten, und dieser so schlecht aussehende Planet sagt zu dem anderen: Wieso siehst du so furchtbar aus? Ja, ich kann es auch nicht ändern, ich habe Homo sapiens. Darauf sagt der andere: Na ja, mach dir nichts draus, es dauert ja nicht mehr lange, es geht vorbei.

Nun, für uns mag dieses Kurze sehr lang sein, und dieser Witz hat ja so eine, eigentlich so eine frostige, zynische Form, dass wir alle darüber lachen oder sagen wir mal, einige darüber lachen, ist natürlich schon ein Zeichen für unsere Situation. Wir verstehen den Witz sofort, auf irgendeiner Ebene verstehen wir den Witz, wir lachen, es ist eigentlich ein zynisches Lachen über uns selber. Im Grunde müsste uns das Lachen im Halse stecken bleiben. Wenn es wirklich so ist, ist es doch furchtbar. Was ist denn dann mit unserer Intelligenz hier auf diesem Planeten, wenn wir sozusagen so locker darüber lachen können, dass wir hier in Kürze verschwinden werden?

Also es gibt Ansätze auf diesem Gebiet, ich sage es noch mal, transpersonale Erfahrungen zu machen und diese vielleicht rückzukoppeln an bestimmte kosmologische Vorstellungen. Es gibt verschiedene Bücher in der Richtung. Ich kann Ihnen hier nicht die ganze Literatur nennen. Eines von diesen Büchern ist vor zwei Jahren im Insel Verlag erschienen, „Am Fluss des Heraklit – neue kosmologische Perspektiven“, verschiedene Autoren äußern sich hier. Ich habe hier auch einen Essay drin mit dem Titel „Grenzüberschreitung ins kosmische Sein“. Und hier ist auch der Versuch gemacht worden nun, mehr oder weniger erfolgreich, die neuere Kosmologie mit diesen Erfahrungen zusammenzukoppeln, ob da vielleicht doch sich eine Brücke finden lässt?

Nun kann man das auch von der Gesamtbewusstseinsentwicklung aus betrachten, wie das der von mir hochgeschätzte Ken Wilber macht. Das heißt also, dass unsere mentale Stufe im Moment in der pathologischen Form sich diesen Kosmos sozusagen kreiert, diese Projektionen schafft, dass wir aber im Durchgang durch ein möglicherweise transmentales Stadium dann auch sozusagen von selbst zu einer anderen Kosmologie kommen. Wir können natürlich nicht durch einen Willensakt einfach eine andere Kosmologie aus dem Hut zaubern. Das ist nicht möglich, genauso wenig, wie wir zum Beispiel eine jetzt grundsätzlich andere Physik oder eine grundsätzlich andere Biologie oder Chemie einfach so schaffen können. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil hier ja eine große Zahl von Generationen unermüdlich an diesem einen Werk gearbeitet haben. An Gegenelementen mangelt es ja, und die sind sehr zersplittert und in keiner Weise zusammenhängend, das heißt, man müsste erst einmal eine ganz grundlegende Arbeit leisten, das können Einzelne in keiner Weise. Man kann nur vermuten, dass im Zuge eines Bewusstseinssprungs eventuell dann die Möglichkeit sich herstellt, tatsächlich auch uns plötzlich in einem anderen Kosmos vorzufinden, als wir immer gedacht haben. Das ist meine These und auch meine Vermutung. Ich vermute, obwohl ich es nicht beweisen kann, dass wir ganz tief innen ganz genau wissen, ganz genau wissen, dass wir in einem völlig anderen Kosmos leben. Genauso wie ich oft sage und bin davon tief durchdrungen, dass jeder Einzelne ganz genau weiß, dass er seinen Tod überlebt, ganz, ganz in der Tiefe weiß es jeder in der einen oder anderen Form. Die Angst letztendlich vorm Tod ist nicht die Angst zu verschwinden, das ist im traumlosen Tiefschlaf ja jede Nacht der Fall, sondern ist dass da in irgendeiner Form eine Konfrontation passiert, eine Konfrontation, die den Einzelnen gnadenlos mit sich selber konfrontiert, wie das auch in diesen Nahtodeserfahrungen, Grenzerfahrungen ganz häufig und in einer großen Zahl dargestellt wird und berichtet wird. Und es bleibt letztendlich die Frage, und das kann nur eine offene Frage sein: Ist es möglich, oder wird es noch möglich sein, im ausgehenden Jahrtausend sozusagen, diese kosmische, die spirituelle, die tiefe Dimension unserer Existenz eigentlich ins Bewusstsein hinein zu führen, uns tatsächlich damit zu verbinden? Oder wird das nicht mehr gehen? Wird das nur über vielleicht schockartige Erfahrungen schubhaft passieren? Aber auch das ist unsicher. Das Bedürfnis jedenfalls ist gewaltig.

Also, ich habe nun wahrlich in diesen letzten zwanzig Jahren so viele Gespräche geführt mit den verschiedensten Leuten, mit Mathematikern, Physikern, Biologen und Philosophen und unzählige Vorträge gehalten und viele Diskussionen geführt. Ich weiß wirklich, dass das Bedürfnis gewaltig ist. Ganz tief innen hat Jeder ein elementares Bedürfnis, seine eigene Position im kosmischen Gesamtzusammenhang zu verstehen, weil er ganz tief innen spürt, dass ihm die menschliche Würde geraubt wird, wenn er die kosmische Dimension einfach so ausklammert. Und wenn er die einfach so abgibt, gewissermaßen an die dafür zuständigen sogenannten Fachleute, etwa Astronomen oder Astrophysiker oder wie das neuerdings heißt, Kosmologen. Also das glaube ich ganz tief innen. Und ich glaube, wenn das so stimmt, meine These, dass die innere Kosmologie auch die äußere Kosmologie tatsächlich trägt, ja vielleicht sogar identisch mit ihr ist, dann könnte es nur aus den Tiefen dieser inneren Kosmologie selber kommen. Das kann wahrscheinlich nicht von Einzelnen geleistet werden. Es müsste ein Bewusstseinssprung sein, der in irgendeiner Form kollektiven Charakter hat. Das bedeutet nicht, dass Einzelne nichts beitragen können. Aber Einzelne mit einem Willensakt können auf gar keinen Fall hier irgendetwas verändern. Dass das Bedürfnis so groß ist, können sie doch an allen Fronten sehen, das ungeheure Interesse etwa an Science Fiction, an Science Fiction-Filmen, das ungeheure Interesse an der Ufologie, die ganze Diskussion um UFOs, dieses leidenschaftliche Interesse der Menschen, mit der sie über diese Fragen zu diskutieren.

Das sind doch alles nur Symptome oder Signale dafür, hier ist ein elementares Interesse, man will das irgendwie wissen: Sind wir allein im Kosmos? Sind wir es nicht? Und das geht Jeden irgendwie an, und da sollte man sich nicht, meine ich abschließend, bevor wir vielleicht ins Gespräch kommen, da von sogenannten Fachleuten die Meinung vorprägen lassen und sich sagen lassen, was möglich oder was nicht möglich ist oder sein kann. Weil diese Fragen sind extrem komplex und schwierig, und ein wirklich fundiertes Wissen besitzt darüber keiner. Auch wenn Evolutionsbiologen manchmal dann forsch, nassforsch verkünden, das ist eigentlich ziemlich klar, dass die Evolution nur ein einziges Mal diesem Universum zum Menschen geführt hat, nämlich auf der Erde, so ist das eine dogmatische Behauptung ex cathedra, die durch nichts belegt ist. Und auch wenn einer, was weiß ich, sonstige Meriten sich erworben hat oder gar den Nobelpreis: Es ist kein Grund für Irgendjemanden dieser Art solche Dinge zu sagen, weil es kann nicht gewusst werden. Das eine ist eine dogmatische Aussage, genauso, wenn ich die Gegenaussage so dogmatisch einfach in den Raum stelle. Beides ist erst einmal eine vollkommen offene Geschichte, und ich finde, dass wir da ein riesiges Stück Bewusstseinsarbeit leisten können und auch leisten müssen. Und meine These ist seit Langem, dass das auch was zu tun hat mit der Ökologie-Frage. Also letzte Bemerkung, der Philosoph Hans Jonas hat kurz vor seinem Tod 1992 mal, denke ich, mit Recht gesagt, dass die Ökologie-Frage nur sinnvoll anzugehen ist, wenn man sie mit der oder an die Kosmologie-Frage koppelt. Die Mensch-Kosmos-Frage ist letztlich auch eine ökologische Frage und umgekehrt. Man kann die Mensch-Kosmos-Frage nicht vollständig lösen von der ökologischen Frage, was übrigens meistens passiert. Meistens ist sie ja gar kein Thema. Die Mensch-Kosmos-Frage ist das eine Paar Schuhe, und die Ökologie-Frage ist das andere Paar Schuhe. Ich meine aber, dass beide Paar Schuhe ganz eng miteinander zusammenhängen und ganz viel miteinander zu tun haben.

So, ich habe ein bisschen überzogen. Wir wollen ja auch noch ins Gespräch kommen. Wenn Sie das wollen, dann können wir es vielleicht gleich anschließen.

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Tierethik und ökologische Ethik

Vorlesungsreihe:

Mensch und Erde, Teil I
Grundlagen der integralen Tiefenökologie

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale Sommersemester 2001
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 38

Transkript als PDF:


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„Tier-Selbst und Tier-Sein, zweiter Teil, zum Eigenrecht der Tiere, Tierethik und ökologische Ethik“. Der „Spiegel“ zitiert Peter Sloterdijk mit folgenden Worten: „Erst unter dem Druck der grausamen Bilder von torkelnden, verbrannten, zu Abfall reduzierten Kühen, regt sich eine neue Sensibilisierung. Man versteht wieder, dass ganz dicht unter der normalisierten Oberfläche das Grauen und die Infamie weiterhin präsent sind.“ Das mag als ein Motto für diese Vorlesung gelten.

Ehe ich im engeren Sinne auf die Frage Tier-Sein, Tier-Selbst und auch die Frage einer möglichen ökologischen Ethik oder Tierethik, eines Rechtes der Tiere eingehe, möchte ich einige Sätze sagen zu einem Brief, den ich bekommen habe. Ich weiß nicht, wer ihn geschrieben hat. Ich kann den Namen keinem Einzelnen zuordnen, aber der Brief enthält einige Punkte, die interessant sind, und ich will ganz kurz darauf eingehen. Vielleicht hat der Eine oder Andere auch diese Fragen gehabt, und es mag interessant oder wichtig sein, sie noch mal hier im Plenum zu erörtern. Ich will zwei Punkte herausgreifen. Da war die Frage aufgeworfen worden in dem Brief, ob ich der Auffassung wäre, dass durch die Entdeckung des Quastenflossers die Evolutionslehre im neo-darwinistischen Sinne entkräftet oder gar widerlegt worden sei. Nein, dieser Auffassung bin ich nicht, und das wäre auch naiv. An einem derartigen Fund oder an auch vielen derartigen Funden nun so weitreichende Schlüsse anzuschließen, als ob nun eine in sich konsistente Theorie über die Evolution der Lebewesen damit entkräftet worden sei. Was ich nur sagen wollte, war, dass dieses Moment des Auffindens eines Tieres, das viele Millionen Jahre ausgestorben sein sollte, es gibt viele ähnliche Beispiele, zumindest eine gewisse Verwunderung auslösen könnte, dass diese theoretischen Konstrukte auch anzweifelbar sind, vorsichtig gesagt, dass sie nicht so fest sind, wie es häufig hingestellt wird. Die Evolutionslehre als Ganze ist im Lauf von Jahrhunderten, Jahrzehnten so ausdifferenziert worden, dass man mit einzelnen Elementen, etwa so einem Auffinden eines ausgestorbenen Tieres, das nicht aus den Angeln heben kann. Übrigens gibt es wie in vielen Fällen dieser Art Zirkelschlüsse. Karl Popper hat es sehr schön gezeigt gerade am Beispiel des Darwinismus. [Das] kann man übrigens auch an anderen theoretischen Konstruktionen zeigen, sind natürlich Zirkelschlüsse drin, die sich einander bestätigen. Häufig genug wird das vorausgesetzt, was bewiesen werden soll. Also das ist ein riesiges Feld, das wollte ich nicht. Ich wollte nichts weiter als einen gewissen Akzent setzen in eine andere Richtung, sozusagen das Bewusstsein schärfen für derartige Überlegungen. Und das könnte vielleicht bei dem Einen oder Anderen auch gelungen sein.

Eine Entkräftung würde eine sehr weitgehende, differenzierte Argumentation erfordern, wie sie auch Hans-Joachim Zillmer in seinen Büchern nicht geleistet hat, obwohl er den Anspruch erhebt. Er liefert eine Fülle von hochinteressanten Gesichtspunkten, aber sein eigener Anspruch ist wesentlich weiter, und den hat er in dieser Form nicht eingelöst. Der zweite Punkt, der uns jetzt schon auf das Thema der Tiere führt, betrifft nochmal diese Vorstellung, die uns ja grundsätzlich beschäftigt in diesem Semester, die Frage nach der Erde als Ganzem, als Ganzheit, ob man sagen kann, dass dieses Gestirn, dieser Planet Erde, ein Organismus sei im Sinne der Gaia-Theorie, die sich ergibt in der eher starken und der eher schwachen Form. In dem Brief kommt übrigens ein Missverständnis vor, da wird gesagt, die Vorstellung der Erde als Bios-Wesen sei die eher schwache Form der Gaia-Theorie, dagegen sei die eher starke Form die geistbehaftete Erde. Das ist nicht so. Die Vorstellung der Erde als einem Bios-Wesen ist die starke Form der Gaia-Hypothese. Die schwache Form der Gaia-Hypothese besteht darin zu sagen, die Erde ist ein Quasi-Lebewesen, sie ist ein hochkomplexes, systemisch gebautes, hochorganisiertes Etwas, aber im eigentlichen Sinne kein Organismus, sie scheint ein Organismus zu sein, sie hat gewisse Eigenschaften eines Organismus, aber sie ist nicht wirklich ein Organismus. Die Vorstellung, dass die Erde als Ganzes wirklich ein Lebewesen sei, ist die starke Form der Gaia-Hypothese. Und jetzt kam die Frage in dem Brief oder der Hinweis in dem Brief, wenn das so wäre, dann müsste man ja alle oder die meisten Eigenheiten des Organisch-Lebendigen nun auch auf dieses Erdganze übertragen können, zum Beispiel das Moment der Reproduktion. Und das sei im Falle der Erde nun ganz offensichtlich eine Unmöglichkeit. Das mag so sein. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Gründen weit über das hinaus, was ich dargestellt habe, die darauf schließen lassen, dass man gute Gründe hat also, die Erde im Gesamten als Organismus zu betrachten.

Auf dem Kongress, den ich erwähnt habe, im Schwarzwald über die Wirklichkeit, gab es auch einen großen Büchertisch, und da wurde auch ein Buch verkauft, was ich erworben habe, aber erst partiell lesen konnte, war ein umfangreiches Buch, die Zeit war knapp, ist ja erst etwas mehr als eine Woche her, von einem anthroposophischen Naturwissenschaftler, ich weiß nicht, ob Biologe oder Geologe, Guenther Wachsmuth, „Erde und Mensch“, das auch dieses Thema hat, das uns ja in dieser Vorlesungsreihe beschäftigt. Und Wachsmuth stellt eine Fülle von hochinteressanten Gesichtspunkten dar, immer mit einer bestimmten anthroposophischen Sprache, die ist nicht die meine, aber sie ist hinzunehmen, man kann mit ihr arbeiten, ich muss mich nicht sozusagen wortreich davon abgrenzen. Er stellt dar, in diesem Buch, dass wir von der Vorstellung des Rhythmus aus, von der Vorstellung der Pulsation aus, die Erde neu verstehen und begreifen können als pulsierendes, atmendes, kosmisches Lebewesen. Und da gibt er eine Fülle von faszinierenden Belegen, etwa Luftdruckschwankungen, Luftbewegungen, Wirbelbewegungen in der Atmosphäre, hochinteressant. Vieles kann ich nicht nachprüfen, ob das Material so stimmt oder nicht stimmt, [das] entzieht sich im engeren Sinne meiner Kenntnis, aber es ist hochinteressant. Ich gebe Ihnen mal nur eine kurze Passage aus dem Buch, und das mögen sie dann eventuell in das Literaturverzeichnis aufnehmen, das gehörte eigentlich dann zu dieser Reihe, Guenther Wachsmuth, „Erde und Mensch“. Das ist eine Ausgabe von 1980, der Text selber ist wahrscheinlich viel älter. Die letzte Fassung ist aus den frühen 60er Jahren, der Hauptteil ist schon aus den 40er Jahren.

„Vor allem muss die organische Anschauung nun von der Atmosphäre auch auf den Organismus der Erde als Ganzheit erweitert werden.“ Das ist ein entscheidender Gesichtspunkt bei ihm, die atmosphärische Pulsation. Sie können das auch in der Lehre Wilhelm Reichs etwa, Pulsation [,sehen]. Sie kennen das von Hermann Schmitz, die Pulsation von Kontraktion und Expansion, von Weitung und Engung ist ja eine Grundbedingung lebendiger Prozesse. „Wir sehen also wiederum das Ringen zweier Anschauungen deutlich vor uns. Das im letzten Jahrhundert“ ‒ 19. Jahrhundert ‒ „dominierend gewordene Erdbild der Menschheit, das in der Erde einen der zahllosen unselbständigen, alle Energien und Lebensimpulse von außen erhaltenden, nach rein physikalischen und mechanischen Gesetzen von außen dirigierten Weltkörper sah, dessen Zerfall, Schrumpfung und Zusammenbruch wir beiwohnen und andererseits das Bild Keplers, Goethes und mancher seitheriger Denker und Forscher, dass in der Erde auch ein nach Eigengesetzen sich selbst entwickelndes Lebewesen sieht.“ Eine Grundhypothese, zu der ich auch zuneige, wie Sie wissen, ich habe das ja mehrfach auch angedeutet. „Gewiss war dieses Bild der Erde bei Goethe zunächst nur in seinen ersten Anfängen angedeutet, aber aus systematischer Beobachtung bestimmter Naturprozesse insoweit sie damals zugänglich waren und sicherer Intuition, stellte er bereits jene oben erwähnte These auf, deren Grundgedanken wir im Folgenden aus der heutigen Kenntnis der Tatsachen konsequent ergänzen und fortführen wollen. Es wird sich dann zeigen“ ‒ und das ist der Inhalt dieses Buches ‒ „dass gerade viele der schwierigsten Probleme der heutigen Geophysik, Meteorologie und Biologie sich nur dann sowohl in ihrer Ganzheit und Wechselbeziehung als auch im Ablauf der einzelnen Phänomene erklären lassen, wenn“ ‒ jetzt kursiv gedruckt ‒ „wenn wir die Erde als einen Organismus betrachten, der ein Eigenleben mit weitgehend selbständigen Gestaltungstendenzen, Rhythmen und Lebensprozessen besitzt. Wir stellen darum zunächst aus dem Wesen eines jeden Organismus heraus die folgenden weiteren Thesen auf, die aus den Phänomenen zu belegen sind.“ Es [geht um die Thesen], die die er in diesem umfangreichen Buch nun belegt oder zu belegen versucht, die partiell durchaus in einen Einklang zu bringen sind mit meiner eigenen Naturphilosophie. „Die Erde empfängt nicht nur Energien und Einflüsse von außen, ihr Wirken ist nicht nur durch exogene Kräfte erhalten und bestimmt, sondern sie ist als lebender Organismus auch selbst ein Agens mit eigenen endogenen Impulsen, Energiequellen und Aktionszentren, mit einer nach Eigengesetzlichkeit gestalteten Organisation. Sie ist eine weitgehend in sich geschlossene Einheit und Ganzheit mit einem stark ausgebildeten selektiven Reaktionsvermögen gegenüber der andersartigen Umwelt. Sie besitzt eine organisch regierte Grundstruktur.“ Da kann man vielleicht denken an das, was ich Ihnen ja in Grundzügen vorgestellt habe, Sie erinnern sich an die Gitterstruktur, das Gitternetzwerk auf der Erdoberfläche. „Diese Struktur und Gliederung weist nach außen und innen lebendig reagierende, schützende Hüllen sowie eigene Energie-Reservoire und bestimmte im Gesamtsystem angeordnete Organe auf, welche den Lebensprozess in Gang halten. Die Erde besitzt eine eigene Kräfte-Organisation, einen Kraftleib oder Bindekräfteleib, der die materielle physische Körperlichkeit durchdringt und der außer in den bisher besonders beachteten physikalisch deutbaren Vorgängen auch in dynamischen und vitalen Prozessen erkennbar ist, wie sie der Ganzheit lebender Organismen eigen ist. Sie besitzt Eigendynamik und Eigenrhythmik.“ Und so weiter.

Das zeigt er, Einiges konnte ich schon lesen, etwa an der Atmosphäre. Ich finde das hochspannend, dass eine bestimmte Pulsation durchschlägt in der Atmosphäre. Das wird hier im Einzelnen begründet und zurückgeführt auf ein gesamtorganisches Phänomen, etwa der tagesperiodische Rhythmus im Kräftefeld der Erde. Also wen das interessiert, ist ein hochinteressantes Buch mit einer Fülle von Materialien zu dieser Frage. Und was mich besonders interessiert hat dabei, letzte Bemerkung dazu, ist der Zusammenhang mit meiner eigenen Vorstellung von der Licht-Schwere-Polarität, die ich ja in diesem Saal mehrfach schon dargestellt habe, also die eigenartige Pulsation der Erde, die die Ursache sein mag für Wachen- und Schlaf-Vorgänge höherer Lebewesen. Denn Sie wissen ja, dass es ein weithin ungeklärtes, physikalisch und auch medizinisch ungeklärtes Phänomen ist, warum höher organisierte Lebewesen oberhalb der Ebene der Fische überhaupt schlafen. [Das] ist nicht geklärt. Und hier gibt es eine Erklärungsmöglichkeit, einen Ansatz, das taucht übrigens auch bei Wachsmuth auf, wie man das verständlich machen kann. Auf jeden Fall eine interessante Ergänzung zu unserem Gesamtthema hier. Ich werde auch noch in der nächsten Vorlesung im Zusammenhang mit der Geomantie auf das Buch etwas eingehen, bis dahin habe ich schon mehr gelesen, bislang hat die Zeit so noch nicht ausgereicht.

Nun will ich heute sprechen über die Frage Tier-Selbst und Tier-Sein im Besonderen in Zusammenhang mit einer ökologischen Ethik. Ich darf noch einmal daran erinnern, dass ich Ihnen ja einen grundlegenden Ansatz vorgestellt habe, der auf der einen Seite auf Descartes zurückgeht und einen ebenso grundlegenden Ansatz, der von Schopenhauer herkommt und von ihm formuliert worden ist. Kurzformel: Tiere sind, was ihren Wesenskern anlangt, von den Menschen unüberbrückbar getrennt, das ist die These von Descartes. Tiere sind keine wirklich menschenähnliche, menschengleichrangige Lebewesen, sie sind ontologisch unüberbrückbar getrennt. Sie sind, extremste Zuspitzung, im Grunde genommen höhere Automaten. Descartes begründet das ja sehr scholastisch, minutiös, warum das so sein müsste. Ich habe Ihnen ja eine Passage vorgelesen. Auf der anderen Seite die Position von Schopenhauer, der meinte, Tiere und Mensch sind in ihrem Wesenskern, in ihrer ontologischen Grundstruktur identisch. Der Mensch ist nichts grundsätzlich Anderes als das Tier, obwohl er nicht im Tier-Sein aufgeht. Was ihn vom Tier trennt, ist eher ein Sekundärphänomen, eine Sekundäreigenschaft, nämlich, wie Schopenhauer das nennt, der Intellekt, der ein Werkzeug ist des Willens, der sowohl im Tier als auch im Menschen das eigentlich Zentrale und Dominierende sei. Also Grundthese, Mensch und Tier sind nicht voneinander unterschieden, sie sind wesensidentisch. Nur, der Mensch hat eine zusätzliche Fakultät, die Schopenhauer Intellekt nennt. Nicht nur auf die schmale Form von Intellekt im heutigen Sinne gebracht. Beide sind also identisch.

Nun hat das natürlich gravierende Auswirkungen für die Frage einer möglichen ökologischen Ethik grundsätzlich. Ich will mal, um Ihnen das an einigen Texten ganz anderer Autoren zu zeigen, einige Zitate bringen, die uns in dieses Thema einführen, das ja von einer, glaube ich, zentralen Bedeutung ist. Letztlich geht es um die Frage, zugespitzt: Hat der Mensch das Recht, das Tier zu töten, wenn es ihm gutdünkt? Aus welchen Gründen auch immer. Es geht letztlich um die Frage des Tötens.

Nun ist das Töten eine abgründige Konstante der menschlichen Wesenheit. Und ich habe schon angedeutet, dass es Untersuchungen gibt von Psychoanalytikern, die darauf hinweisen, dass möglicherweise der Mensch über den Tötungsakt ein Stück Bewusstsein gewinnt. Und was so scheinbar ein brutaler Akt der Zerstörung ist, ist für denjenigen, der es ausführt, ein Schub, ein Bewusstseinsschub, eine radikale These, etwa vertreten von dem Psychoanalytiker Wolfgang Dietrich in seinem Buch „Töten ‒ Gewalt aus der Seele“. Das ganze Buch ist der Versuch, das Töten als Movens des Bewusstseinsprozesses zu interpretieren, also eine radikale These, die radikalste überhaupt in dieser Form, die ich je gelesen habe.

Hören wir einige Zitate. Ich beginne mal mit Elias Canetti. Elias Canetti, ein hochrangiger Schriftsteller, 1905 bis 1994, hat sich sehr intensiv in vielen seiner Bücher zur Frage des Tier-Seins, des Tier-Selbstes und des Mensch-Tier-Verhältnisses geäußert, in einem häufig recht scharfen, scharfzüngigen, zynischen Sinne. Ich darf mal einige Passagen vorlesen, die das verdeutlichen und die auch die Frage der ökologischen Ethik in einem grellen Licht zeigt. Elias Canetti aus diesem Sammelband „Brüder, Bestien, Automaten“ von Manuela Linnemann herausgegeben, ich habe das hier auf der Literaturliste. Canetti schreibt 1972 in dem Text „Die Provinz des Menschen“:

„Es schmerzt mich, dass es nie zu einer Erhebung der Tiere gegen uns kommen wird. Der geduldigen Tiere, der Kühe, der Schafe, alles Viehs, das in unsere Hand gegeben ist und ihr nicht entgehen kann. Ich stelle mir vor, wie die Rebellion in einem Schlachthaus ausbricht und von da sich über eine ganze Stadt ergießt, wie Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Greise erbarmungslos zu Tode getrampelt werden, wie die Tiere, Straßen und Fahrzeuge überrennen, Tore und Türen einbrechen, in ihrer Wut sich bis in die höchsten Stockwerke der Häuser hinauf ergießen, wie die Waggons in der Untergrund[bahn] von tausenden von wildgewordenen Ochsen zerquetscht werden und Schafe mit plötzlich scharfen Zähnen uns zerreißen. Ich wäre schon erleichtert über einen einzigen Stier, der diese Helden, die Stierkämpfer, jämmerlich in die Flucht schlägt und eine ganze blutgierige Arena dazu. Aber ein Ausbruch der minderen sanften Opfer, der Schafe, Kühe, wäre mir lieber. Ich mag es nicht wahrhaben, dass das nie geschehen kann, dass wir vor ihnen, gerade ihnen allen, nie zittern werden. Die neuen, die eigentlichen Entdeckungen an Tieren, sind nur darum möglich, weil uns unser Hochmut als Gottes-Oberste gründlich vergangen ist. Es stellt sich heraus, dass wir eher die Gottes-Untersten, nämlich Gottes Henker in seiner Welt sind.“

Aus dem Text „Das Geheimherz der Uhr“, 1987: „Das Wort ,Tier , alle Unzulänglichkeit des Menschen in diesem einen Wort. Ich bin zu den Tieren gegangen und bin an ihnen wieder erwacht. Es macht nichts, dass sie ebenso gern essen wie wir, denn sie reden nicht darüber. Ich glaube, es wird das Letzte, das Allerletzte in meinem Leben sein, das mir noch Eindruck macht: Tiere. Ich habe nur über sie gestaunt. Ich habe sie nie erfasst. Ich habe gewusst, das bin ich. Und doch war es jedes Mal etwas Anderes.“

Also hier kommt ja diese, von mir ja letztes Mal schon angedeutete Rätselhaftigkeit im Tier zum Ausdruck, die jeden Menschen anweht, anrührt, der sich die Offenheit bewahrt, da genau hinzuschauen. Das Tier, das einerseits wie man selber ist, fast ist man es selber, und doch ist es anderer Art, auf eine schwer greifbare Weise. Ich habe das versucht ja schon ein bisschen einzukreisen, dass das Tier, diese unmittelbare, nicht reflektierte gestalthafte Lebendigkeit hat und keine Reserven, keine Freiheit, sich gegebenenfalls anders zu verhalten. Also keine Freiheit über Distanz und über eine Ichhaftigkeit, sondern gesteuert von lebendigen Grundimpulsen, die man ganz unzulänglich mit dem Wort Instinkt bezeichnet. Ein Wort, das eher unsere Unwissenheit zeigt, als wirklich Erklärungs- oder Erkenntniswert hat. Also, „ich habe sie nie erfasst. Ich habe gewusst, das bin ich. Und doch war es jedes Mal etwas ganz Anderes. Wer die Angst der graziösesten Tiere fühlen könnte. Kein Tier habe ich im Arm. Ein ganzes Leben habe ich mit qualvollem Erbarmen an Tiere gedacht. Aber kein Tier habe ich umarmt.“ [Jetzt] eine Gesprächspartnerin: „Ich habe einmal den Dorfschlächter den Hals einer Gans aufschlitzen sehen und wie [er] das Blut auslaufen ließ. Ich wollte schreien, aber sein fröhlicher Blick schnürte mir die Kehle zu. [Sie] betrachtete seine Kehle und fuhr fort: Diesen Schrei fühle ich hier immer noch. Als ich als Kind ein primitives Porträt meines Lehrers zeichnete, versuchte ich mich von diesem Schrei zu befreien. Aber umsonst. Als ich den Ochsenkadaver malte, war es noch immer dieser Schrei, den ich loswerden wollte. Aber ich habe es noch immer nicht geschafft. Wohl gibt es Tiere, die Menschen durch ihren Stumpfsinn ähneln. Aber nie wird man es los, dass der Stumpfsinn von Tieren es nicht wirklich ist und jedenfalls unschuldiger ist als der unsere.“ Und jetzt, eigenartig formuliert. „Das Unerlangbare an Tieren: wie sie einen sehen.“

Das ist ja ein Gedanke, der einen immer wieder neu nachdenklich stimmen kann, in den verschiedensten Zusammenhängen, gerade im Zusammenhang mit höher organisierten Tieren, mit höheren Tieren: Wie sehen sie den Menschen? Was sehen sie in ihm? Was können sie in ihm sehen? Es gibt hier eine schöne Stelle von Nietzsche, die wird hier auch zitiert, in dem Band von Manuela Linnemann aus der „Fröhlichen Wissenschaft“, 1881/82, Kritik der Tiere: „Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.“ Wir wissen es nicht. Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, dass die Tiere den Menschen auch als Tier betrachten und vielleicht auf eine nicht greifbare, nicht bestimmbare, schon gar nicht klar zu reflektierende Weise den Menschen als ein fremdes, als ein fernes, vielleicht sogar als ein Wesen betrachten, das eine Entwicklungsstufe ihrer selbst ist. Diese These habe ich in meinem Buch „Was die Erde will“ aufgestellt, das mit einem großem Fragezeichen. Sollte das möglich sein, dass das Tier, das höhere Tier, wenn es den Menschen betrachtet, in seiner Tiefe ein Ahnen davon hat, dass dieses Wesen eine Entwicklungsmöglichkeit seiner selbst sein könnte? Auch das können wir nicht sagen, wir wissen es nicht. Alle Spekulationen darüber, wie das Bewusstsein der Tiere wirklich beschaffen ist, sind eben dies: Spekulationen. Wir können letztlich über das Bewusstsein, über die Innenperspektive des Tier-Seins keine wirklich objektivierbare Aussage machen. Alle Verhaltensforschung ist ja nur ein Versuch, über bestimmte Formen des Verhaltens, der Reaktion, bestimmte Formen des Außen, das Innen in irgendeiner Form zu erreichen, sich dem Innen zu nähern. Das ist äußerst schwierig, fast unmöglich, aber es wird immer wieder mit einigem Recht auch versucht.

Also grundsätzlich muss man sagen, was die Innenperspektive des Bewusstseins der Tiere betrifft, sind wir wohl schon davon durch eine Art Barriere getrennt. Die mag aber nicht unüberwindbar sein. Jedenfalls ist sie im normalen Bewusstseinszustand eine nicht überwindbare, durch die mehrfach genannte Ichhaftigkeit des Menschen. Da liegt der entscheidende Unterschied, dass über die Ichhaftigkeit des Menschen auch ein Moment der Freiheit ins Spiel kommt. Und diese Freiheit unterscheidet sich radikal, grundlegend von der Nicht-Freiheit, von der Gebundenheit des Tiers in der gestalthaften Lebendigkeit. Mark Twain, ein bedeutender Schriftsteller, Amerikaner, 19. Jahrhundert, schreibt in einem Buch „Briefe von der Erde“, 1863, Folgendes mit ähnlichem, sagen wir mal, Impetus wie Elias Canetti: „Der Mensch ist das religiöse Tier. Er ist das einzige religiöse Tier, das es gibt.“ Das erinnert an eine Stelle, die Goethe mal zitiert in einem seiner naturphilosophischen Aphorismen, rezitierte einen Franzosen mit dem folgenden Wort: „tout les animaux sont résonable, l’homme seul est réligieux“ ‒ alle Tiere sind vernünftig, nur der Mensch ist religiös. „Der Mensch ist das religiöse Tier, er ist das einzige religiöse Tier, das es gibt. Er ist das einzige Tier, welches die eine und allein selig machende Religion hat, mehrere davon. Er ist das einzige Tier, das seinen Nächsten wie sich selber liebt und wenn dessen Theologie nicht stimmt, ihm die Kehle aufschneidet. Aus dem Erdball hat er einen Friedhof gemacht im ehrlichen Bestreben, seinen Nächsten, seines nächsten Pfad zu Glück und Seligkeit zu ebnen. Das war zu Cäsars, zu Mohammeds und zu Zeiten der Inquisition der Fall. Es war vor wenigen Jahrhunderten in Frankreich der Fall und zu Marys Zeit in England, und es war so, seit er das Licht der Welt erblickte. Der Mensch ist das vernünftige Tier. So lautet sein Einspruch. Ich dächte, das ist eine offene Frage. Meine Experimente ergeben, dass er das unvernünftige Tier ist. Man überdenke seine Geschichte, wie oben skizziert. Für mich steht es fest, dass er, was immer er sonst sein mag, kein vernünftiges Tier ist. Seine Akte sind die eines manisch Irren. Ich finde, der stärkste Einwand gegen seine Intelligenz ist die Tatsache, dass er sich angesichts dieser seiner Akte selber als die Krone der Schöpfung bezeichnet, während er doch aufgrund seines eigenen Niveaus ihren Hintern darstellt. In Wahrheit ist der Mensch unheilbar töricht. Einfache Dinge, die andere Tiere ohne Weiteres lernen, ist er nicht fähig zu lernen. Unter meinen Experimenten befand sich das Folgende.“ Nun noch Mark Twain: „In einer Stunde habe ich einen Hund und eine Katze gelehrt, Freunde zu sein. Ich setzte sie in einen Käfig. In einer weiteren Stunde brachte ich ihnen bei, auch mit einem Kaninchen Freundschaft zu schließen. Im Verlauf von zwei Tagen konnte ich einen Fuchs, eine Gans, ein Eichhörnchen und mehrere Tauben hinzutun, zuletzt einen Affen. Sie alle lebten in Frieden, ja sogar voller Zärtlichkeit miteinander. Als nächstes sperrte ich einen irischen Katholiken aus Tipperary ein und sobald er gezähmt schien, tat ich einen schottischen Presbyterianer hinzu, sodann einen Türken aus Konstantinopel, einen griechischen Christen aus Kreta, einen Armenier, einen Methodisten aus der Wildnis von Arkansas, einen chinesischen Buddhisten und einen Brahmanen aus Benares, zuletzt dann einen Obersten der Heilsarmee aus Worthing. Dann blieb ich volle zwei Tage weg. Als ich wiederkam, war mit den höher entwickelten Tieren [alles] in Ordnung, aber in dem anderen fand ich nur noch ein Chaos von zerfressenen Fetzen, Turbanen, Fetzen, Tüchern, Knochen und Fleisch. Nicht ein einziges Exemplar war mehr am Leben. Die vernünftigen Tiere waren über eine theologische Streitfrage einander in die Haare geraten und hatten die Entscheidung in die Hände des Höchsten gelegt. Man kann nicht umhin zuzugeben, dass was Lauterkeit des Charakters betrifft, der Mensch nicht beanspruchen kann, auch nur an das Niedrigste der höher entwickelten Tiere heranzureichen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass er wesensmäßig außerstande ist, das Niveau desselben zu erlangen, dass er wesensmäßig mit einem Defekt belastet ist, der einen Vergleich auf immer ausschließt, denn dieser Defekt gehört permanent und unzerstörbar zu ihm. Ich habe gefunden, dass dieser Defekt im Moralgefühl oder dem Gewissen liegt. Der Mensch ist das einzige Tier, das dieses besitzt. Hier liegt das Geheimnis seiner Erniedrigung. Es ist diejenige Eigenschaft, die ihn befähigt, das Böse zu tun. Ein anderes Amt übt es nicht aus. Es ist unfähig irgendeine sonstige Funktion zu verrichten. Es kann auch nie zu einer solchen gedacht gewesen sein. Ohne sein Gewissen könnte der Mensch kein Unrecht tun, er würde als dann zugleich zu dem Niveau der höher entwickelten Tiere aufsteigen. Was nur den Stil betrifft, so denke man an den bengalischen Tiger, in idealer, in anmutschöner körperlicher Vollendung, Majestät. Dagegen der Mensch, dieses klägliche Etwas, er ist das Geschöpf mit der Perücke, den Schädelnähten, dem Höhrrohr, dem Glasauge und der Plastiknase, den Porzellanzähnen, der silbernen Speiseröhre, dem Holzbein, geklebt und bepflastert vom Scheitel bis zur Sohle. Wenn er für all das Stückwerk in der nächsten Welt keinen Ersatz bekommt, wie wird er da erst aussehen? Nur einen kolossalen Vorrang besitzt er: sein Intellekt ist hervorragend. Die höher entwickelten Tiere können sich da nicht mit ihm messen. Da ist es nun kurios und bemerkenswert, dass ihm kein Himmel geboten wird, wo diese Urgabe auch nur die leiseste Chance hat, sich zu entfalten.“ Denn es geht ja nicht um diese Intelligenzen dort, wahrlich nicht. „Selbst wenn er diesen Himmel selbst erfunden haben sollte, hat er doch darin keinerlei intellektuelle Freuden vorgesehen. Ein schlagendes Manko, das deutet auf ein stillschweigendes Eingeständnis hin, dass der Himmel nur für die Tiere da ist. Das stimmt nachdenklich, gibt Anlass zu ernsten Überlegungen und birgt eine grimmige Ahnung, wie wenn wir gar nicht so wichtig sind, wie wir uns alle Zeit eingebildet haben.“ Und so weiter.

Also auch eine sehr deutliche, zynische Sprache, letztlich eine verständliche Form von Zynismus, wie man sie sehr häufig findet. Die bekannteste literarische Form wird Ihnen vielleicht vertraut sein, stammt aus dem vierten Teil des Romans „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift. Da wird von einer Gesellschaft berichtet, die von Pferden, Hauyhnhnms genannt, geleitet und organisiert wird, und als ihre sozusagen unteren Wesen, als die von ihnen verachteten Wesen werden Menschen gehalten als Yahoos, und alle Ingredienzien der Bestialität, der Dummheit, der Armseligkeit, der Engstirnigkeit, des dumpfen Egoismus werden auf diese Yahoos übertragen, während die Pferde die eigentlich menschlichen Wesen sind. Auch Swift, der große Misanthrop, wenn man ihn so nennen will, der große Menschenverächter, wenn man dies überhaupt so nennen darf, hat also, wie so viele Andere den Tieren eine höhere Seinswürde zugesprochen.

Nun sind solche Überlegungen natürlich schwierig. Das ist ja letztlich eine Aussage des Menschen über sich selbst. Es ist ja nicht wirklich das Urteil der Tiere über den Menschen. Wie das ausfallen würde, das wissen wir nicht. Es ist letztlich das Urteil des Menschen über sich selbst, über eine bestimmte Unfähigkeit, die offenbar mit seiner Intellektualität, seiner Ich-Natur, seinem unseligen Drang [zu tun] hat, dieses Projekt anzustoßen und voranzutreiben, [das] technisch-mentale Eroberungsprojekt, das ihn immer mehr in die Selbstzerstörung hineinpeitscht. Und dabei kommen natürlich dann diese seine Mitgeschöpfe unter die Räder. Noch mal Nietzsche im „Verkehr mit den Tieren“: „Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Tiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit. Wir töten und verwunden zum Beispiel Insekten und lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar nichts dabei. Wir sind so plump, dass schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Tiere fast immer mörderisch sind, was unser Vergnügen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. Es ist toll, das Fest der kleinen Tiere, der schönste Tag des Jahres. Es wimmelt und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wollen, aber auch ohne achtzugeben, bald hier bald dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. Bringen die Tiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Vernichtung. Die Mittel sind oft grausam genug, ohne dass wir dies eigentlich wollen. Es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so beuten wir sie aus, bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Tiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der Pflege und Zucht, reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit gegen das Haustier und die Quälerei gemieden. Der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in gemäßer primitiver Gemeinde-Moral, welche den gemeinsamen Nutzen und Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. Der in der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt, fürchtet den indirekten Schaden für sich. Und wir fürchten für die Güte des Fleisches, des Landbaus und der Verkehrsmittel, wenn wir die Haustiere nicht gut behandelt sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Tiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein. Er gilt als unedel, des feinen Stolzes ermangelt. So entsteht ein Ansatz von moralischen Urteilen und Empfinden. Das Beste tut nun der Aberglaube hinzu. Manche Tiere reizen durch Blicke, Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie hineinzudichten. Manche Religionen lehren im Tiere, unter Umständen den Wohnsitz von Menschen und Götterseelen sehen, weshalb sie überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgang mit den Tieren anempfehlen. Aber auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm erweckten Empfindungen fort und reifen und blühen aus. Das Christentum hat sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildene Religion bewährt.“

Erst mal ein Schnitt an dieser Stelle. Wir sollten versuchen, uns soweit das möglich ist, nochmal grundlegend darüber im Klaren zu werden, was eigentlich Mensch-Sein von Tier-Sein trennt. Ich habe noch einmal in meiner Bibliothek verschiedene Bücher daraufhin befragt und bin auf ein Buch gestoßen, was ich schon mal in verschiedenen Zusammenhängen hier erwähnt habe. Ein Buch eines Naturphilosophen und Biologen, 1948, „Der Erstgeborene“ von Herbert Fritsche, der sich intensiv auch zu dieser Frage äußert, zu dieser Frage Mensch und Tier äußert. Und ich will Ihnen mal eine kleine Passage hier vorlesen, die ich im Wesentlichen, abgesehen von sprachlichen Nuancierungen, ich würde das ganz anders formulieren, für produktiv halte, für fruchtbar. Man kann da anknüpfen, und das möchte ich auch. Also in dem Buch „Der Erstgeborene“ von Herbert Fritzsche, „ein Bild des Menschen“, 1948 entstanden, findet sich eine längere Betrachtung über den Unterschied von Mensch-Sein und Tier-Sein. Fritsches Lebenszeiten sind mir unbekannt, ich glaube, dass er 1911 geboren wurde, irgendwann relativ früh in den 60er Jahren gestorben ist und mehr weiß ich nicht. Er war von Hause aus Biologe und Zoologe, und ist ein wirklich erstaunlicher Naturphilosoph und dieses sein Buch „Der Erstgeborene“ ist eines seiner Hauptwerke. „Der Erstgeborene“ bezieht sich übrigens auf den Atem, auf den Rhythmus. Das ist wichtig, gerade im Zusammenhang mit dem, was ich über das Buch von Guenter Wachsmuth gesagt habe. Für ihn ist, und nicht nur für ihn, die Rhythmisierung der Stoffe ein zentrales Merkmal des Lebendigsein, also was man auch schlicht und abstrakt als Metabolismus, Stoffwechsel bezeichnet, ist ja in einer anderen, subtileren Betrachtungsweise eine Pulsation. Das heißt, die Stoffeswelt, die Materie wird, aus welchen Gründen auch immer, immanent oder durch einen von außen kommendes transzendentes Wirkprinzip, in Pulsation versetzt, wird rhythmisiert. Insofern kann man sagen, Metabolismus, Stoffwechsel ist Rhythmisierung des Stoffes. Und damit ist man bei einem wesentlichen Charakteristikum des Lebendigen, dass man dann noch auf die Erde als Ganzes übertragen kann, mit einigem Recht, glaube ich.

Jetzt vor der Pause noch diese Aussage hier von Herbert Fritsche. „Man mag nun zu einer Differenzierung des viel zu weit gefassten Begriffes Instinkt vordringen.“ Er kritisiert das, Instinkt ist letztlich ein schwacher Begriff, der ganz viele verschiedene Momente einschließt. Also: „Man mag nun zu einer Differenzierung des viel zu weit gefassten Begriffs Instinkt vordringen oder ihn auch bequemerweise schlagwortartig verwenden. In beiden Fällen sind Instinkte etwas enorm Spezialisiertes, Eingeschliffenes, Festgelegtes. Das Tier wird von seinen Instinkten gelebt. Es wird, wie Goethe sagt, tyrannisiert von seinen Bildern. Der Bauplan ist innig verbunden mit vorgezeichneten Verhaltensabläufen, eng gekoppelt daran. Diese Verhaltensabläufe spiegeln sich ganz eng in der Leibes-Organisation. Ein guter Zoologe sieht der Leiblichkeit eines Tieres sozusagen seine Verhaltensnotwendigkeiten an. Was ein Maulwurf instinktiv mit seinen Grabschaufeln tun wird, bedarf keines langen Rätselratens. Je tiefer man in die innersten Baugeheimnisse eines Tierleibes Einblick gewinnt bis in die des zentralen Nervensystems hinein, desto deutlicher zeigt sich das Zusammenklingen von Körperbau und Verhalten. Das Tier hat sich in seine Glieder und hat sich zugleich in die ihm von den Gliedern diktierten Verhaltensweisen hineinspezialisiert. Es wird tyrannisiert von seinen Gliedern. Das Tier ist festgelegt.“

Sehr schön also die Rede von dem Hineinspezialisieren in bestimmte Gliedmaßen, in bestimmte Gestaltformen der Leibes-Organisation. „Der Mensch ist frei, nicht nur als der große Indifferente, als der noch weitgehend Nicht-Spezialisierte kann er verstanden werden. Nicht hat er seine Instinkte, die keinesfalls mit den Reflexen seines Nervensystems verwechselt werden dürfen, verloren, denn etwas Spezialisiertes, Eingeschliffenes kann kein Lebewesen wieder rückgängig machen, vielmehr hat er sein Verhalten gar nicht erst festgelegt. Wer den Menschen klar als das erkennen will, was er wahrhaft ist, muss ihn als Stauungs-Phänomen werten, als Lebewesen, das seine Potenzenfülle in sich zurückhielt. In jeder Hinsicht ist der Mensch das bildsam gebliebene Kind der Schöpfung.“ Schöne Formulierung, das bildsam gebliebene Kind der Schöpfung. „Im gleichen Maße entging er der Versuchung leibliche Spezialanpassungen, Schnauze, Hörner, Pranken, … , Hangelhände und so weiter wie auch seelische starre Instinkte zu erwerben. Damit wurde er der Heros der Organismenwelt, der das Risiko auf sich nahm, die Lebensversicherung des Spezialisiertseins an Leib und Seele auszuschlagen.“ Eine sehr schöne Formulierung. Also „der das Risiko …

der Mensch, der das Risiko auf sich nahm, das nicht festgestellte Tier in Nietzsches Anklang, die Lebensversicherung des Spezialisiertseins an Leib und Seele auszuschlagen.“ Das macht ja seine Dramatik aus, seine Verwundbarkeit und auch seine unvorstellbare Macht, die er ja über diese Erde ausübt, weil er eben nicht Spezialist ist, sondern in gewisser Weise Universalist. „Für das Tier sorgt der Bios. Das Tier ist tief hineingebettet in seinen Leib und in seine Arteigentümlichkeiten, erblichen Verhaltensweisen. Das Tier wird gelebt vom Bios. Der Mensch lebt selber. Der Mensch ist schwach im Bios, aber stark im Handeln, im Selbstbestimmen seiner Lebensweise. Eine der modernsten anthropologisch-philosophischen Definitionen des Menschen lautet geradezu: das handelnde Wesen.“ Ein Leitmotiv dieses Buches ist immer wieder, dass der Mensch als Tier das nicht festgestellte, das nicht spezialisierte, das unzulängliche, das unvollkommene Tier ist. Und gerade weil er das nicht festgelegte, nicht spezialisierte … (Audiolücke) … Instinkt wählt, um jetzt mal diesen Begriff in einem allgemeinsten Sinne zu verwenden.

Ich mache eine kleine Pause. Ich will dann nach der Pause noch mal auf einige zentrale Punkte versuchen zu kommen und dann den ganz vorsichtigen Versuch machen, Einiges zu sagen, wie eine ökologische Ethik, wie auch eine Tierethik sein müsste, aussehen könnte, wenn sie mehr ist oder sein soll als nur ein Katalog von Postulaten. Das ist ja der entscheidende Punkt. Eine Ethik, die nur ein Postulatenkatalog ist, kann nicht in der Tiefe greifen. Sie ist nicht wirklich im Bewusstsein lebendig verankert. Das kann nicht funktionieren und hat auch bisher nie funktioniert. Also wenn ökologische Ethik, dann muss sie tiefer gelagert sein, dann kann sie nicht nur eine Postulatsethik sein und auch keine Institutionen-Ethik. Dann muss sie im Tiefenbewusstsein des Menschen verankert sein. Und was das bedeuten soll oder kann, dazu will ich ein paar Bemerkungen machen, nachher nach der Pause.

Ich sage mal, wir machen maximal zehn Minuten [Pause].

Ich will ganz kurz einen Traum erzählen, den ich heute hatte, in der Nacht zu heute, in dem interessanterweise Tiere vorkamen. Das ist natürlich klar, wenn die Seele arbeitet, dann produziert sie Bilder bestimmter Art oder nimmt Bilder auf, wie immer. Auf jeden Fall hatten diese Traumbilder, jedenfalls einige davon, etwas mit Tieren zu tun. Das war interessant. Einmal tauchten zwei gewaltige Hunde auf, einer schwarz, zottig, zottlig, den ich liebevoll umarmte und packte, was überhaupt nicht meine Art ist, weil ich mit Katzen aufgewachsen bin und eine sehr innige und tiefe Beziehung zu Katzen habe, weniger eine solche zu Hunden. Insofern ist das eher ungewöhnlich. Der zweite Aspekt in diesem Traum ist eher ein Kuriosum. Tiefenpsychologen unter Ihnen mögen darüber grübeln oder sich darüber amüsieren. Ich träumte von einem Tier, das aussah wie eine Mischung aus Bison und Rhinozeros, von der Größe eines Schoßhündchens, so groß, von bläulich schimmernder bis schwärzlich übergehender Farbe, was handhabbar war und ich bequem und kuschelig mir auf die Schulter setzen konnte. Und also wirklich eine Miniaturausgabe eines, wie gesagt, eines Bisons oder eines Rhinozerosses, irgendwo in der Mitte, aber in Taschenformat. Also, aber es war eine sehr heitere und angenehme Beziehung zwischen uns. Und so geht das in der Seele weiter, und man mag darüber jetzt grübeln oder man kann daraus Schlussfolgerungen ableiten. Tierträume sind ja ein eigenes Thema für sich. Tierverwandlungen ist wieder ein anderes Thema. Darüber haben wir schon das letzte Mal gesprochen, im Zusammenhang mit Schamanismus, dass man in bestimmten Grenzzuständen ja die Möglichkeit hat, sich in die vielleicht nur dort, nur in diesen Grenzzuständen, sich in die Innenperspektive eines Tiers, eines bestimmten Tieres, einer Gruppe von Tieren quasi hineinzuversetzen und dann von innen und als dieses Tier oder diese Gruppe von Tieren dann zu agieren und das Bewusstsein aus dieser Innenperspektive heraus zu erfahren. Das geht nicht von außen, das geht nur in ganz bestimmten meditativ-träumerischen, grenzüberschreitenden Zuständen. Und immer ist dabei wichtig, das ist ja schon angeklungen vor einer Woche, dass die Ichheit des Menschen, seine Ich-Fokussiertheit zurückgenommen wird. Das ist der entscheidende Punkt. Im Zuge der Aufrichtung des Menschen, ich meine das nicht jetzt platt evolutionistisch oder biologistisch, im Zuge der Aufrichtung des Menschen, im Zuge der Herausbildung dieser Polarität von Kopf, aufgerichteter Wirbelsäule, Kopf und die Oben-Unten-Polarität hat der Mensch natürlich auch über die Selbstheit eine Grunddistanz erworben und damit auch die erwähnte Universalität, den erwähnten Universalismus und damit sich auch getrennt. Zwar hat er noch starke Anteile in sich, die man als Tier-Selbst bezeichnen kann, ich tue das ja, aber diese sind ihm nicht unmittelbar über das Ich-Bewusstsein zugänglich. Nun kann man das jetzt, wenn man das jetzt modern, neurophysiologisch im Sinne der Gehirnforschung deuten will, auch als Anteil des limbischen System und des Stammhirns und so weiter deuten. Aber darum geht es mir nicht primär. Mir geht es erst einmal weniger um die neurophysiologischen Korrelate oder gar um genetische Prozesse oder Merkmale, sondern um die Bewusstseinsdimension, wie immer das jetzt seine Entsprechung hat im Genetischen oder im Neurophysiologischen. Das ist ein eigenes Thema für sich wieder, das ich in dem Zusammenhang erst einmal auf sich beruhen lassen kann. Also diese Ichheit hat ihn getrennt in der Aufrichtung und hat ihm erst einmal den Zugang versperrt, den er nur dann wieder erlangen kann, wenn er ein Stück weit regrediert, in Anführungszeichen, wenn er ein Stück weit regressiv, wenn man das so nennen will, die Ichheit zurücknimmt und eintaucht in eine elementare Leiblichkeit. Darüber haben wir hier auch schon mehrfach gesprochen, dass Leiblichkeit als das eigentlich Elementare, in gewisser Weise auch Vor-Ichhafte des Menschen ihn grundsätzlich verbindet über das, was Hermann Schmitz die Einleibung nennt mit anderen organischen Wesen, auch mit den Tieren natürlich. Da gibt es also eine ganz elementare, gewissermaßen unter-ichhafte Verbindung mit den Tieren, die jeder kennt und vielleicht auch schätzt, wie immer. Auf jeden Fall ist es eine phänomenologische Realität, die nichts im eigentlichen Sinne mit dem Ich zu tun hat. Und da gibt es Anknüpfungspunkte. Also über die elementare Leibhaftigkeit kann der Mensch über die Brücke der Einleibung, wie das Hermann Schmitz nennt, das Tier kontaktieren, unmittelbar kontaktieren. Das ist ein Stück Tier-Selbst im Menschen oder des Menschen.

Ich meine, man kann ja, wenn man das ganz vereinfacht oder ganz formelhaft verkürzt, ja sagen, dass der Mensch eine Vierheit darstellt. Das wird ja in vielen Traditionen auch so gesehen, mit einigem Recht auch, man kann das ja auch als Dreiheit oder als Siebenheit verstehen, aber eben auch als Vierheit, das ist durchaus plausibel, eben als jemanden, der eine physische Leiblichkeit hat. Eigentlich müsste man sagen: physische Körperlichkeit, denn der Leib ist nicht physisch, das habe ich ja oft genug gesagt. Der Leib ist die Innenperspektive, das ist eigentlich nicht physisch, der Leib ist nicht dimensional, er ist nicht materiell. Also eine Körperlichkeit, man kann das Stoff-Selbst nennen und eine Innenseite, die man wieder davon abgrenzen könnte, also eine innerleibliche Wesenhaftigkeit. Dann eine schwer greifbare Bios-Organisation, eine Rhythmisierung dieser Stofflichkeit, die den physischen Körper ausmachen, eine Leibes-Organisation: Man kann das auch als eine feinstoffliche bezeichnen oder im Sinne der Philosophen oder Anthroposophen auch als Ätherleib. Das ist eigentlich nicht so wichtig, wie das genannt wird. Auf jeden Fall gibt es ein … oder Energieleib, wie es bei manchen auch heißt, also eine Art Organisationsprinzip, das ihn ganzheitlich durchwirkt, durchwaltet und auch antreibt und seine Form bestimmt. Das mag etwas von dem Seelischen völlig Getrenntes sein, mag aber auch mit dem Seelischen ganz eng zusammenhängen. Das wissen wir nicht. Es ist nur eine Frage vielleicht der Begrifflichkeit, denn die dritte Ebene, die man dann anführen müsste, wäre ja die eigentlich seelische Ebene, die ja auch dem Tier zugesprochen werden muss, [in] unterschiedlichen Graden.

Eine Seelenhaftigkeit ohne Ichhaftigkeit im Sinne eines Kollektiv-Seelischen. Theosophen haben von Gruppenseele gesprochen und die Anthroposophen dann von den Theosophen übernommen, ist auch berechtigt und auch legitim und auch fruchtbar, Gruppenseele oder Kollektivseele, auf jeden Fall eine nicht-individualisierte Seelenhaftigkeit. Ein schwer greifbares auch Gefühlsleben, was damit verbunden ist, das Seelische der Tiere ist ein eigenes schwieriges Feld: Dass da viele Projektionen mitlaufen ist klar, eine Anthromorphisierung ist immer sehr schnell bei der Hand. Das muss nicht das sein, was wirklich die Innenperspektive der Tiere ausmacht. Und dann, im Menschen, das wäre das Tier-Selbst, vielleicht eine eigene Hülle oder eine eigene Wesenhaftigkeit innerhalb dieses ganzen Organismus Mensch, möglicherweise. Und dann eben die Ich- und Selbsthaftigkeit, und über die Ich- und Selbsthaftigkeit emanzipiert sich der Mensch von dem Tier- und Pflanzen-Selbst, gewinnt ein Stück Freiheit, auch Entscheidungsfreiheit, das zu tun oder nicht zu tun und sich universalistisch auszurichten, sich abzukoppeln von engen, leibgebundenen, instinktmäßigen Bahnen und auf diese Weise eine auch fatale Trennung vorzunehmen ‒ das ist ja die entscheidende Nahtstelle, die ja den Menschen ausmacht. Und da liegt auch die Chance vielleicht drin, das habe ich ja letztes Mal ja schon angedeutet, eine Art Rückkoppelung zu versuchen. Das kann nicht so sein, dass der Mensch seine Ichhaftigkeit, seine mentale Teilhabe, auch erkenntnismäßig, an den Weltgesetzen nun zurückschraubt oder zurücknimmt zugunsten eines tierisch-seelischen oder eines nur Bios-Wesen. Das geht nicht. Das ist ein Irrtum in vielen, auch wirklich wohlmeinend ökologisch orientierten Kreisen, die häufig das favorisieren, was aber der Bewusstseinsentwicklung des Menschen, glaube ich, Gewalt antut. Das kann nicht gehen.

Es kann nur darum gehen, diese pointierte, diese zugespitzte und in diesem Sinne pathologische Ichhaftigkeit, die Perversion des Ichs, des Ich-Impulses, zurückzunehmen und das Ich wieder wirklich integral-ganzheitlich einzubinden in die große Ordnung. Nur das kann funktionieren, in Anführungszeichen. Das heißt nicht das Ich-Selbst ist der Fehler, sondern eine bestimmte, pervertierte und pathologische Form der Ichhaftigkeit, heute nun extrem zugespitzt zum Körper-Ego, das von allem sich abgetrennt hat. Und das ist aber nicht eigentlich das Ich. Ich glaube, dass das Ich in der Tiefe, wenn man es integral oder ganzheitlich versteht, diesen Kontakt auch halten kann. Und wenn ich das, ich habe das ja wiederholt so formuliert und weiß, dass das schwierig ist und dass das weitgehend ist und dass das vielleicht auch kaum realisierbar ist, so wie wir das zur Stunde begreifen können, dass der Mensch über seine Ichhaftigkeit, dass der Mensch durch seine Ichhaftigkeit und über die Ichhaftigkeit doch Kontakt gewinnt zu diesem unter-ichhaften Bewusstsein der Tiere und Pflanzen, das in diesem Sinne auch ein kosmisches Bewusstsein ist, weil die Tiere und die Pflanzen, wenn sie sie selber sein dürfen, ja nicht rausfallen können aus der großen Ordnung, weil sie das nur könnten, wenn sie frei wären, wenn sie in diesem Sinne entscheidungsfreie Wesen wären, das sind sie nicht.

Wenn es Störungen auch dort gibt, dann sind sie menscheninduziert, das kann man nachweisen. Also es gibt da bestimmt natürlich mittlerweile auch im Tier- und Pflanzenreich menscheninduzierte Grundstörungen, die diese relativ klaren, einfachen Verhältnisse verdunkelt haben. Das ist klar. Aber das ist jedenfalls eine große Aufgabe, dass der Mensch über eine integrierte ganzheitliche Ichhaftigkeit Zugang gewinnt zu einem Bewusstsein, was in der großen Ordnung oder in die große Ordnung integriert ist in einer unter-ichhaften Form, das ist nicht regressiv, das ist nicht eigentlich schamanisch, das ist etwas anderes. Es ist eine andere Bewusstseinsstufe, die da und dort auch erkennbar ist. Vielleicht ist sie, sagen wir mal in nächster Zeit nicht in größerem Maßstab realisierbar, aber es gibt sie in Ansätzen. Das ist ja ein zentraler Aspekt, eine zentrale These, die ich mehrfach in dem Zusammenhang auch formuliere. Und damit hängt natürlich eng zusammen die Frage der ökologischen Ethik überhaupt. Ich meine, es hat wenig Sinn, und alle Versuche dieser Art sind weitgehend gescheitert, wenn man versucht, ich habe das ja vor der Pause kurz angedeutet, einen Katalog von Postulaten aufzustellen. Das geht ja. Das gibt es ja auch zum Teil, einen kategorischen Imperativ, jetzt vielleicht bezogen auf ökologische Belange oder bezogen auf unser Verhältnis zu den Tieren. Also ein Postulatskatalog, ein Katalog der Wünschbarkeiten. Das ist das Eine.

Genauso wenig wird es sinnvoll sein, nach neuen Institutionen in diesem vordergründigen Sinne Ausschau zu halten und [zu] glauben, dass man institutionell diese Dinge in irgendeiner Form bewältigen kann. Das kann man nicht. Natürlich gibt es politische Grundakzente, die gesetzt werden können, und die mögen auch institutionell sein, und da mag auch ein Katalog von Postulaten enthalten sein. Das ist ja nun nicht, dass das ganz schlecht wäre, ist es ja nicht. Aber es wird nicht in der Tiefe greifen, weil das Entscheidende, was passieren müsste und was vielleicht nur über kollektive Erschütterungen möglich ist, wie wir sie ja vor einigen Monaten auch gehabt haben ‒ also was passieren müsste, wäre einfach zu begreifen, dass da ein tiefer, ein ganzheitlicher Zusammenhang über das eigene Tier-Selbst mit den Tieren besteht. Dass wir über die Schädigung der Tiere nicht nur uns selber schädigen, sondern tiefe, todbringende Schnitte legen, die letztlich in unserer eigenen Bewusstseinsverfassung wurzeln. Und da liegt der Punkt. Es liegt letztlich in unserer eigenen kollektiv verankerten Bewusstseinsformation ‒ da liegt der Punkt ‒ die ja längst eigene Trägheitskräfte entwickelt hat, Trägheitskräfte, die nun wiederum wechselwirken, natürlich ja längst auch Institutionen herausgebildet hat, Apparate, politische Formationen, die aber in der Tiefe immer wurzeln in einer bestimmten kollektiven Bewusstseinsformation. Und da liegt der Punkt. Wenn da nicht über eine nicht nur den Einzelnen ergreifende, also eine kollektive Erschütterung, erste Risse erkennbar werden, wenn es da nicht gelingt, um das mal in dieser Sprache zu formulieren, einen Virus einzuschleusen, der das ganze System erst einmal aus den Angeln zu heben droht, dann wird es sinnlos sein. Insofern ist die erste Voraussetzung für eine sinnvolle ökologische Ethik, dass in der Tiefe des Bewusstseins sich etwas regt. Das kann sich erregen über kollektive Erschütterungen, ich sagte es schon. Das kann und muss immer wieder neu verankert sein in der lebendigen Erfahrung. Das weiß man ja nun wahrlich genugsam, dass ein theoretisch abstraktes Über-die-Dinge-Reden, wie es sein sollte, so gut wie nichts bewegt. [Es] kann nur erwachsen aus einem lebendigen Erfahrungshorizont heraus, es muss erlebbar sein.

Die Einheit, die viel beschworene Einheit, ethische, ökologische Einheit mit der Natur muss eine gelebte sein. Wenn sie das nicht ist, ist auch das dann letztlich nur Makulatur oder eben nur Postulat. Da liegt der entscheidende Punkt. Niemand hat zur Stunde irgendeine passable, greifbare, handhabbare Lösung. Ich auch nicht. Aber es ist wichtig, dass man sich erst einmal im Grundlegenden verständigt. Wenn hier unten der Spruch von Karl Marx mir immer wieder neu aufstößt, wenn ich die Treppe da hoch gehe, dass die Philosophen immer nur interpretiert hätten, es käme darauf an, die Welt zu verändern, dann würde ich sagen, das stimmt, aber eine bestimmte Form der Interpretation ist immer auch eine Veränderung. Insofern ist das Über-etwas-Nachdenken, das In-der-Tiefe-Reflektieren, das geistige Durchdringen und das Verstehen kein abgehobener intellektueller Prozess. Als ein solcher wäre er wirklich müßig, sondern [es ist] etwas, was tatsächlich sich einspeist in einen kollektiven Prozess. Nur wenn man diese Hoffnung hat, dass ich das wirklich einspeisen kann in diesen kollektiven Prozess, kann man ja nicht resignieren. Andernfalls müsste man resignieren aufgrund der unvorstellbaren Trägheitskräfte.

Ich habe das ja schon gesagt, Ervin Laszlo, hat in seinem Schluss-Statement dieser Zivilisation noch 20 Jahre gegeben. Nach allen Daten, die man heute festmachen kann. Nun, es hat andere Prognosen schon dieser Art gegeben, die sich alle als falsch herausgestellt haben. Diese Zeitprognose muss nicht stimmen, aber eine gewisse Größenordnung wird erkennbar, dass dieser Kurs ungebremst weitergeht und natürlich auch etwas zu tun hat mit der Bewusstseinsform, unser aller Bewusstseinsform. Und dass der Zusammenhang besteht mit der Bewusstseinsform und in der Weise wie wir mit Tieren umgehen, kann man schon bei Autoren lesen, von denen [man] es vielleicht gar nicht vermutet. Ich habe das letzte Mal schon angedeutet, ich war erstaunt, in diesem Sammelband hier auch Aussagen zu finden von Horkheimer und Adorno, die erstaunlich hellsichtig und weitgehend sind, etwa Adorno, Horkheimer, 1947, in ihrem berühmten Buch „Dialektik der Aufklärung“, das liest ja heute kaum noch jemand. Aber es ist trotzdem ein hochinteressantes Buch, denn wir sind in der zweiten oder dritten Stufe dieses dialektischen Prozesses der Nach-Nach-Aufklärung. Da gibt es also interessante und sehr präzise Aussagen genau zu diesem Zusammenhang von Bewusstseinsformation, Gesellschaftsformation und der Haltung zu den Tieren.

Die Idee des Menschen, Horkheimer, Adorno: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allem Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, dass er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.“ Heute ist 1947 in diesem Fall. „Die Behavioristen haben ihn bloß scheinbar vergessen. Dass sie auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluss, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, passt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, dass er und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht. Der Professor am Seziertisch definiert sie wissenschaftlich als Reflexe. Der Mantiker am Altar hatte sie als Zeichen seiner Götter ausposaunt. Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft. Das Tier, aus dem er den blutigen Schluss zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, der ihm abgeschnitten ist. Der Mangel an Vernunft hat keine Worte. Beredt ist ihr Besitz, der die offenbare Geschichte durchherrscht. Die ganze Erde legt für den Ruhm des Menschen Zeugnis ab, in Krieg und Frieden, Arena und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden aufgrund der ersten Planung überwältigen, bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren, wie der sichtbare Hergang verdeckten Henkern, den Unsichtbaren, das Dasein ohne Licht der Vernunft, die Existenz der Tiere selbst. Sie wäre das echte Thema der Psychologie, denn nur das Leben der Tiere verläuft nach seelischen Regungen. Ob Psychologie die Menschen erklären muss? Sind sie regrediert und zerstört?“ Und so weiter. Also sehr scharfe, sehr präzise Aussagen, die mich erstaunt haben, muss ich sagen. Ich hatte lange nicht mehr Adorno gelesen und bin doch verblüfft auch über manche andere Zitate in dem Buch, wie scharfsinnig und tief diese Dinge erfasst worden sind, wie der Zusammenhang wirklich begriffen worden ist zwischen dieser Dialektik der Aufklärung und ihren furchtbaren Konsequenzen und auch unserm Verhältnis zu den Tieren und zur Erde schlechthin.

Also, Sie werden kaum von mir erwartet haben, dass ich Ihnen eine plakative Lösung vorstelle, die man sozusagen auf einem Blatt abhaken kann, um nun zu wissen, wie die Dinge sich verhalten. Das kann es nicht sein, das wäre einfach Scharlatanerie oder blanke Hybris. Es kann nur darum gehen, erst einmal ein Verständnis für diesen Zusammenhang zu gewinnen, ein Tiefenverständnis, das nicht nur ein reduktionistisches ist, wie wir es ja kennen von der herrschenden, der Mainstream-Naturwissenschaft, das kann es nicht sein. Da werden wir so keinen Millimeter weiterkommen.

Ich will, bevor wir ins Gespräch kommen, vielleicht dann noch ein paar Fragen klären. Das nächste Mal werde ich auf die Frage eingehen, wie der Mensch sich der Erde verbinden kann, was heißt das? Naturphilosophisches und Tiefenökologisches zur Geomantie. Ich werde Einiges zur sogenannten Geomantie sagen. Und, es ist interessant, ich habe das erfahren, dass in der Herbst-Ausgabe der „Hagia Chora“ nochmal das Gaia-Thema im Mittelpunkt stehen soll. Ich werde mich dann auch dazu äußern [zur] Frage starke und schwache Theorie und [werde] auch meine eigene Vorstellung von Gaia-Demeter, wie ich Ihnen das ja umrissen habe, darstellen und werde sicherlich schon einige weitere Passagen des Buches dann gelesen haben und kann das hier dann einbeziehen. Auf jeden Fall ist das eine Fundgrube hier, dieses Buch von dem Wachsmuth, ich sage das bei aller Distanz zur Sprache der Anthroposophen und auch zu ihrer ganzen Weltanschauung, aber sie ist trotzdem fruchtbar und führt wirklich weiter, also eine vordergründige Distanzierung davon ist un[nötig].

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Östliche Spiritualität und moderne Naturtheorien – Buddhismus und Chaostheorie

Vortrag

Urania Berlin
06.04.1998
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 51

Transkript als PDF:


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Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu diesem, ich hoffe sehr spannenden Thema: Gibt es eine Möglichkeit, östliche, asiatische Spiritualität, im Besonderen den Buddhismus in irgendeiner Form zusammenzuführen, zusammenzudenken mit neuen Naturtheorien? Und das soll am Beispiel geschehen der sogenannten Chaostheorie und am Beispiel der sogenannten Systemtheorie.

Grundsätzlich und sehr allgemein gesagt geht es ja um die Frage, die glaube ich jeden von uns in irgendeiner Form beschäftigt: Sind das nun zwei grundsätzlich und auf alle Ewigkeiten getrennten Stränge ‒ der naturwissenschaftlich-technische auf der einen Seite und der spirituell-religiöse auf der anderen Seite? Ich will das mal an einem kurzen Zitat verdeutlichen, das hier als eine Art Motto an den Anfang gestellt sei von einem bedeutenden Denker unserer Zeit. Nach meiner Überzeugung dem vielleicht bedeutendsten gegenwärtigen Philosophen, dem Amerikaner Ken Wilber. Der hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht, „Naturwissenschaft und Religion“, wo es auch zentral um diese Frage geht und hier schreibt er gleich zu Beginn, und ich darf mal diese Passage vorlesen, weil sie den Finger genau auf die Stelle legt, um die es geht. Im ersten Kapitel, das Wilber nennt „Die Herausforderung unserer Zeit ‒ die Integration von Wissenschaft und Religion“, schreibt er: „Es gibt wohl kaum in der modernen Welt ein bedeutsameres und dringenderes Thema als das Verhältnis von Wissenschaft und Religion. Die Naturwissenschaft ist zweifellos eines der tiefgründigsten Verfahren, die die Menschheit bisher entwickelt hat, um Wahrheit zu entdecken. Während Religion diejenige Kraft ist, die wie keine andere, Sinn stiftet. Wir brauchen Wahrheit und Sinn, Wissenschaft und Religion. Aber wir wissen nicht, wie man beides in einer Weise zusammenführt, die von beiden Seiten akzeptiert wird. Die Versöhnung von Wissenschaft und Religion ist nicht nur von flüchtigem akademischem Interesse. Diese beiden gewaltigen Kräfte Wahrheit und Sinn liegen in der heutigen Welt in heftigem Widerstreit miteinander. Die moderne Wissenschaft und die prä-moderne Religion ringen mit ihren je unterschiedlichen Mitteln auf diesem Erdball um die Vorherrschaft. Früher oder später muss sich eines von beiden geschlagen geben. Wissenschaft und Technik haben ein weltweites und transnationales Netz industrieller, wirtschaftlicher, medizinischer, naturwissenschaftlicher und informationstechnischer Systeme geschaffen. Wie nutzbringend aber alle diese Systeme auch sein mögen, sie sind doch als solche sinn- und wertfrei. Wie die Vertreter der Wissenschaft selbst immer wieder betonen, sagt uns diese ‚was ist’“, also die Wissenschaft, „nicht ‚was sein sollte‘. Die Wissenschaft sagt uns etwas über Elektronen und Atome, Moleküle, Galaxien, Daten, Bits und digitale Netzwerke. Sie sagt uns, was ein Ding ist, aber nicht, ob es gut oder schlecht ist oder was es sein könnte oder sollte. Daher ist diese gewaltige globale wissenschaftliche Infrastruktur als solche ein wertfreies Gerippe, wie funktionell auch immer sie sein mag. Dieses enorme Wertvakuum füllt die Religion gern aus. Die Wissenschaft hat hier einen außergewöhnlichen, weltweiten und globalen Rahmen geschaffen, der frei von jeglichem Sinn ist. Und in diesem ubiquitären Rahmen haben sub-globale Nischen der prä-moderne Religion Milliarden von Menschen in allen Teilen der Welt Wert und Sinn gegeben. Zugleich bestreiten diese prä-modernen Religionen dem naturwissenschaftlichen Rahmen, in dem sie leben und der den größten Teil ihrer Medizin, ihrer Wirtschaft, ihres Bankwesens, ihrer Informationsnetze, ihres Verkehrswesen bereitstellt, oft jegliche Gültigkeit. Religiöser Sinn versucht sich innerhalb des wissenschaftlichen Wahrheitsgerippes zu behaupten, wobei er oft den naturwissenschaftlichen Rahmen als solchen bekämpft. Dies ist freilich die Haltung eines Menschen, der munter an dem Ast sägt, auf dem er selbst sitzt.“

Damit ist also ein Problem umrissen. Eine Kernfrage: Ist es möglich, diese beiden Stränge in irgendeiner Form zusammenzuführen? Es geht hier substanziell um den Gegensatz der Welt der Tatsachen, der Dinge, der Phänomene da draußen, der Fakten und auf der anderen Seite der Welt der Werte, der Welt der Wertsetzungen. Wissenschaft, im Besonderen Naturwissenschaft, ist ja in diese Welt getreten mit dem Anspruch, eine Welt, wie sie ist, wie sie da draußen als solche wirklich und wahrhaftig existiert, abzuspiegeln, wiederzugeben, in Modellen darzustellen. Und Spiritualität, auch als organisierte Religion, ist immer davon ausgegangen, dass es einen spirituellen, einen metaphysischen Sinn in der Welt gibt, einen Sinngehalt, dass die Welt in der Tiefe werthaltig ist. – Das schließt sich aus.

Nun muss man klar feststellen, das wissen Sie wahrscheinlich alle, die These von der Nicht-Wertgebundenheit der neuzeitlichen Naturwissenschaft des Abendlandes hat sich mittlerweile als nicht haltbar herausgestellt. Wir wissen heute sehr genau, dass auch die angeblich wertfreie Wissenschaft basiert auf ganz bestimmten fundamentalen Weichen­stellungen und damit auf Werten. Wissenschaft, auch wenn sie wertfrei zu sein vorgibt, basiert auf Werten. Ganz bestimmte Wertentscheidungen in bestimmten Phasen der kon­kreten Geschichte sind der Ausgangspunkt.

Nun ist es leicht, die Spaltung von Religion und Naturwissenschaft zu bedauern. Es gibt gute Gründe, das zu bedauern, aber man sollte vielleicht einen kurzen Blick darauf werfen, dass es auch vorteilhaft, dass es auch fruchtbar war, dass es auch produktiv war, dass hier irgendwann seit der Renaissance, seit der Aufklärung, eine Weichenstellung erfolgt ist. Hier haben sich nämlich grundlegende Zugänge zur Welt herausdifferenziert und auch mit gutem Grund. Es ist ja nicht ganz unsinnig zu sagen: Ich kann mich beschränken in meinem Zugang zur Welt auf das, was tatsächlich vorliegt. Muss ich denn, wenn ich einen Fallvorgang beschreibe, beispielsweise in der Physik, Zuflucht nehmen zu spirituellen oder religiösen oder sonstigen Wertvorstellungen? Natürlich nicht. Das muss ich in keiner Weise, ich kann das in sich konsistent beschreiben, darstellen. Ich muss dazu keinerlei Spiritualität und keinerlei religiöse Formen irgendeiner Form heranziehen. Das ist also bis zu einem gewissen Grade durchaus auch ein Gewinn, ein Gewinn, den, wenn man so will, die abendländische Kultur vor jeder anderen voraus hat. Denn in keiner anderen Kultur, soweit wir das überhaupt beurteilen können, ist diese Ausdifferenzierung in dieser Form so erfolgt.

Nun gibt es ja seit gut 20 Jahren im Abendland bestimmte Bestrebungen, nicht nur in der sogenannten New-Age-Szene, bestimmte Theorien der modernen Physik mit den asiatischen, im Besonderen den buddhistischen Ansätzen der Weltbetrachtung zu verbin­den, ja, die These aufzustellen, dass die moderne Naturwissenschaft, in gewissen Grenzen, geradezu beweise, geradezu letztgültig mathematisch-physikalisch belege, was östliche Weisheit ohnehin schon seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden behauptet habe. Das berühmteste Buch dieser Art erschien Mitte der 70er Jahre, Fritjof Capras „The Tao of Physics“, das „Tao der Physik“. Capra, ein österreichisch-amerikanischer Physiker, [hat] damals, zunächst in einem kleinen Verlag und ohne dass das viel Aufsehen erregt hätte, dieses Buch veröffentlicht und hat versucht zu zeigen, dass man die moderne Quanten­theorie auch östlich-buddhistisch interpretieren kann.

Er selbst ist mittlerweile von diesen Thesen ein bisschen abgerückt, er hat sie relativiert. Sie sind ja auch arg überstrapaziert worden und arg popularisiert worden und auch verflacht worden. Aber da war doch etwas enthalten, was zumindest viele aufmerken ließ. Geht das dann? Ist das möglich? Nun ist auch das nicht neu, schon die Gründerväter der Quantentheorie, etwa Niels Bohr oder Werner Heisenberg oder Erwin Schrödinger und andere, hatten ja diesen Gedanken erwogen, ob nicht vielleicht die moderne Physik, in diesem Falle die Quantentheorie, in irgendeiner Form zusammengedacht werden könnte mit östlich-asiatischen Gedanken.

Nun will ich Ihnen das versuchen zu erläutern am Beispiel der Chaostheorie und der sogenannten Systemtheorie und versuchen zu zeigen, welche Ansätze es gibt, das zusammenzudenken mit dem Buddhismus. Ich muss das noch etwas genauer sagen. Es geht nicht um den Buddhismus schlechthin als ein religiöses oder spirituelles System. Es geht meistens bei diesen Versuchen, das zusammenzudenken, um eine bestimmte Facette des Buddhismus, um eine bestimmte Facette des Mahayana-Buddhismus. Es geht weniger um den traditionellen, den Ur-Buddhismus, den sogenannten Hinayana-Buddhismus, es geht in erster Linie um jene mächtige Strömung seit dem zweiten, dritten nachchristlichen Jahr­hundert, die man als den Buddhismus des „großen Fahrzeugs“ bezeichnet, als den Mahayana-Buddhismus. Und es geht da zentral um einen Begriff, der in der westlichen Diskussion, auch konkret der Wissenschaftler mit dem Dalai Lama etwa, immer wieder auftaucht, nämlich um den Begriff der Leere. Nicht mit ‚eh‘, sondern Doppel ‚e‘, Leere, das Leer-sein der Phänomene, die Nicht-Substantialität, die Nicht-Dinghaftigkeit, als ein zentra­les Element der mahayana-buddhistischen Weltüberzeugung. Der Begriff der Leere taucht im traditionellen oder im Ur-Buddhismus kaum auf. Ganz selten finden wir im klassischen Pali-Kanon den Begriff „shunyata“, „Leere“. Aber im Mahayana-Buddhismus ist er der Schlüsselbegriff überhaupt. Die Welt ist leer. Sie ist nicht Selbst, sie ist nicht Atma, sondern sie ist An-Atma. Sie ist in der Tiefe wirklich und Maya-Schein zugleich. Und das hat Interpreten, übrigens nicht nur in Europa, auch in Asien, bis heute nicht losgelassen. Was meinen die Buddhisten, wenn sie von shunyata reden? Und es liegt natürlich nahe, hier zu sagen, natürlich, das wissen wir ja in der neueren Physik, der Äquivalenz von Masse und Energie. Die Welt hat diese Dinglichkeit im naiven, realistischen Sinne nicht. Und es lag natürlich nahe, hier Zusammenhänge herzustellen. Also es geht um den Mahayana-Buddhismus. Es geht um den zentralen Begriff der Nicht-Dinghaftigkeit, der Nicht-Substantialität, der Leere der Welt.

Nun, die sogenannte Chaostheorie war ja viele Jahre sehr populär. Es gab eine Unzahl von Büchern, auch gelegentlich kritische Darstellungen, vor 4, 5 Jahren der berühm­te Zweiteiler im „Spiegel“, und es hat viele Diskussionen um die sogenannte Chaostheorie gegeben. Ich will Ihnen mal versuchen, die Chaostheorie von einem Gesichtswinkel aus in ganz kurzer Form nur zu umreißen, der meistens nicht genannt wird. Ich bin darauf gekommen durch einen der führenden Mathematiker der Chaostheorie [Ralph Abraham], den ich vor drei Jahren in Wien bei einem Symposion kennengelernt hatte, was ich selber moderieren sollte, auch moderiert habe. Wir haben eingehend über diese Fragen gesprochen, und er hat mir eine erstaunliche Sache mitgeteilt, die ich jetzt erst kürzlich in einem seiner Bücher auch nachgelesen habe. Er hat nämlich Folgendes gesagt: Die Entwicklung der sogenannten Chaostheorie, die ursprünglich ein Zweig der Komplexen Mathematik war, die niemand in der breiten Öffentlichkeit irgendwie interessiert hat, war ein paralleles Phänomen zur psychedelischen Revolution. Viele der maßgebenden Leute haben selber LSD genommen. Sie haben ganz bestimmte psychoaktive Substanzen genommen, übrigens auch Abraham selbst. Und sie haben in den 60er Jahren in einem ganz bestimmten, auch kulturell gefärbten Untergrundmilieu diesen Begriff „Chaos“ für diese neue Theorie geprägt. Und dieser Begriff als ein Pop-Begriff, als ein Pop-Begriff im Rahmen der psychedelischen Kultur Kaliforniens der 60er Jahre, hat dann weltweit Furore gemacht. Normalerweise hätte diese hochschwierige, hochkomplexe Theorie der dynamischen Systeme niemanden ernsthaft interessiert, und sie ist auch zunächst auf ganz große Abwehr gestoßen bei durchgängig allen Naturwissenschaftlern. Es hat, was man heute fast vergessen hat, mehr als zehn Jahre gebraucht, ehe es zaghaft überhaupt anfing, dass Physiker sich interessierten für diese sogenannte Chaos-Mathematik. Zehn Jahre lang hat sie es überhaupt nicht interessiert. Es gab Stellungnahmen von führenden Physikern gegen diese Chaostheorie. Seit ungefähr 1973 kann man sagen, beginnt dann, was man als „chaos-revolution „bezeichnet, also die sogenannte Chaostheorie.

Ich sage es noch mal: „Chaos“ war ein Pop-Begriff, denn ursprünglich ist ja „Chaos“ ein Begriff, der ganz anders besetzt war, ein Begriff in der griechischen Mythologie. Er steht, wenn ich es richtig weiß, in der Kosmogonie des Hesiod, parallel zu den Begriffen Gaia, Erde und Eros. Gaia, Eros und Chaos werden gleichzeitig geschaffen und Chaos war in der altgriechischen Weltvorstellung der nicht geordnete Weltengrund, der ungeformte Urgrund der Welt, aus dem dann die geformte kosmische Welt erwuchs. Und die gesamte griechische Geistigkeit kann man verstehen als das Bemühen zu denken, wie der Kosmos aus dem Chaos entstand. Und in der neueren Denkbewegung auch der Naturwissenschaft seit dem 16., 17. Jahrhundert, war Chaos immer negativ belegt, immer als ein extrem negativer Begriff. Chaotisch ist alles, was wir heute noch im Sprachgebrauch, alles das, was ungeordnet ist. Der Kosmos, so hieß es ja seit Galilei, Newton, Laplace und anderen, der Kosmos ist gerade geordnet. Der Kosmos ist die Ordnung. Das Chaos ist das, was der Kosmos gerade überwunden hat, was er hinter sich gelassen hat.

Nun macht Abraham in seinem Buch „Chaos, Gaia, Eros“ auf faszinierende Weise deutlich, was der Ursprung der Frage nach dem Chaos im Denken über die Natur überhaupt war. Und auch das findet sich eigenartigerweise in vielen der populären Darstellungen über die Chaostheorie überhaupt nicht, deswegen erwähne ich das. Der Ausgangspunkt, meint Abraham, war eine Preisfrage, vor knapp 100 Jahren, gestellt von einer französischen Akademie der Wissenschaften an die scientific community der Zeit, an die Elite der Naturwissenschaftler und Mathematiker, nämlich folgende Frage: Warum ist das Sonnen­system stabil?

Und jetzt [könnte man] denken: Was ist das für eine Frage, was soll diese Frage? Aber sie ist sehr ernst gemeint und sehr tief. Warum ist das Sonnensystem stabil, d.h. warum bewegen sich die Planeten mit dieser doch erstaunlichen, mit dieser frappanten Regelmäßigkeit, von ganz geringen Abweichungen einmal abgesehen? Und das wusste man immer, dass es Abweichungen gibt, dass die Planeten in keiner Weise ganz genau, ganz präzise den Newtonschen Gesetzen folgen. Man musste dann immer wieder fiktiv neue, unbekannte Planeten entdecken, in Anführungszeichen, die es gar nicht gab, um diese Anomalien zu erklären. Ohne Erfolg, bis heute ist es so, das weiß jeder Astronom, dass Ungenauigkeiten, Anomalien in den Bahnen vorliegen. Also die Frage, warum ist das überhaupt so konstant geordnet? Das hat schon, auch das ist meistens vergessen worden in der Wissenschaftsgeschichte, Newton beschäftigt und hat … war ein Element seiner berühmten Kontroverse mit Leibniz, nämlich die Frage: Wie ist es mit der Ordnung in der Welt? Newton meinte ja, eine in sich konsistente Ordnung, eine immanente Ordnung, die sozusagen einmal von Gott in Gang gesetzt wird und nun in alle Ewigkeit weiterläuft, kann es nicht geben. Gott müsste von Zeit zu Zeit in diese Welt eingreifen, um zu verhindern, dass das Weltensystem dem Chaos anheimfällt. Das hat ja den Spott von Leibniz und der Leibnizianer hervorgerufen. Und das war eine Kontroverse: Ist das ein immanentes mechanistisches System? Einmal angestoßen, läuft es bis in die Ewigkeit weiter? Oder muss der Schöpfer, der das Ganze in die Welt gebracht hat, immer wieder eingreifen? Newton nahm an, der Schöpfer müsste eingreifen, und es gab einen Zeitgenossen Newtons, den heute keiner mehr kennt, einen gewissen Wiston, William Wiston, der war eigentlich in gewisser Weise schon ein Protagonist der Chaostheorie, der meinte, der Kosmos ist eigentlich gar nicht kosmisch, der ist chaotisch. Auf dem Untergrunde des Chaos und des Kosmos gibt es das Chaos, und auch das Sonnensystem ist ständig gefährdet durch Asteroiden-Impakte, damals noch Kometen-Impakte, etwas was Newton in der Form scharf zurückgewiesen hat. Also die alte, auch heute ja viel diskutierte Frage: Ist es möglich, dass etwa die Erde von einem Asteroiden getroffen wird? Wurde schon im 17., im späten 17. Jahrhundert ernsthaft diskutiert und zwar im Zusammenhang mit dem berühmtesten Kometen, der dann nach Halley auch „Halleyscher Komet“ genannt wurde. Auch das ist eine Geschichte, die die meisten heute vollkommen vergessen haben. Noch 1910, wissen Sie ja vielleicht, beim vorletzten Durchgang des Halleyschen Kometen, hatten einige Physiker errechnet, die Erde würde durch den Schweif des Kometen durchgehen, es würde eine gigantische Katastrophe geben. Angeblich soll es auch Panik gegeben haben und Massen­selbstmorde.

Nun also, wie sicher ist diese Ordnung, das war der Ausgangspunkt. Und wenn man davon ausgeht, dass diese Ordnung gar nicht so sicher ist, wie man glaubt, dann muss man den Begriff „Ordnung“ ganz anders fassen, und das macht die Chaostheorie. Die Chaos­theorie sagt ja nicht, die Welt ist chaotisch, es geht drunter und drüber, sondern die Chaostheorie versucht ja, in diese scheinbare Unordnung eine neue Ordnungsvorstellung reinzubringen. Sie versucht ja zu zeigen: Gibt es eine andere, eine neue, vielleicht eine tiefere Ordnung, die wir bisher noch gar nicht gesehen haben? Die kann man mathematisch beschreiben. Und das ist möglich, da gibt es also eine Fülle von mathematischen Verfahren, die man in dem Zusammenhang anführen kann.

Und da hat die Chaostheorie Erstaunliches geleistet, ein Element nur dazu: Zum Beispiel, ist es ja im Sinne der früheren Mathematik vollkommen unmöglich, etwa die ungeheure Komplexität einer einzigen Küstenlinie zu berechnen. Das kann man mit der Chaos-Mathematik machen. Man kann sich zu diesem Behufe ganz bestimmter Computer­simulationen bedienen. Und auch das geschieht ja, das wissen Sie alle. Die Chaos-Mathematik ist ja nicht zu denken ohne die parallell laufende Computersimulation.

Nun ist es interessant, dass dieser Ralph Abraham, von dem eben die Rede war, sich selbst als einen hochspirituellen Menschen versteht, war mal in Indien, hat Indien [in] geforscht, hatte indische Lehrer, hat sich intensiv mit indischer Spiritualität beschäftigt, und dieser selbe Abraham war der Auffassung, oder ist noch immer der Auffassung: Was die Chaostheorie mittels ihrer mathematischen Mittel und mittels der Computersimulation leistet, ist in der Essenz spirituell. Es ist nicht etwa ein Parallelphänomen oder ein Etwas, was man erst zusammenführen müsste. Das ist selber in sich schon spirituell. Durch diese, wie er das nennt, visuelle Mathematik würde die Mathematik vollkommen neu definiert, radikal neu definiert als ein System von Raumzeitmustern, die zu tun haben mit der Tiefe, mit der Tiefenstruktur der Welt überhaupt, die an sich spirituell sei. Ich habe damals vor drei Jahren in dieser Podiumsdiskussion dagegen gesprochen und habe meine Überzeu­gung vertreten, dass ich diese Zusammenführung in der Form für nicht tragbar halte. Ich habe damals gesagt, ich will das nachher auch noch andeuten, dass hier doch zwei völlig verschiedene Ebenen vorliegen und dass man sehr vorsichtig sein muss, dass man nicht allzu schnell eine spirituelle Ebene, die ja subjektiv vollkommen authentisch ist, zusam­menbringt mit dieser anderen Ebene. Denn es geht ja nicht um die Frage, ob der einzelne Naturwissenschaftler vielleicht buddhistisch orientiert ist, das kann er ja sein. Er kann ja auch Christ sein oder Moslem oder Anthroposoph oder sonst etwas. Er muss ja im Rahmen der scientific community genauso forschen, wie es die herrschenden Methoden vorgeben. Und nur so kann er ja überhaupt in irgendeiner Form wissenschaftlich Karriere machen. Nicht als Buddhist, nicht als Christ, nicht als Moslem. Das gilt ja bekanntlich als seine private Überzeugung. Er kann von mir aus einer Sekte angehören, der kann die monströ­sesten Privatvorstellungen über die Welt haben. Aber als Wissenschaftler, als Teil dieses großen Systems der wissenschaftlichen Gemeinde, der scientific communities, hat er sich streng an die herrschenden Regeln zu halten.

Also, es geht nicht darum, dass einzelne Forscher religiös sind. Das sind viele, das war Planck, das war Heisenberg, das war Einstein, das ist Carl Friedrich von Weizsäcker und viele andere. Sondern es geht um eine viel weiter reichende Frage, die über das Individuelle vollkommen hinausgeht. Es geht um etwas Kulturell-Kollektives, ob da eine Zusammenführung möglich ist. Es geht also weit über den Einzelnen hinaus.

Also, die Chaostheorie war ursprünglich, ich sage es noch mal plakativ vereinfacht, ein Feld der Mathematik, der Beschreibung sehr komplexer Systeme. Sie hat auf ungeheuer differenzierte und subtile Weise reussiert, damit Komplexität zu beschreiben. Sie war damit unvorstellbar erfolgreich, was immer man nun davon im Einzelnen halten mag.

Nun, es ist still geworden, ich sagte das schon, um die Chaostheorie. Dafür mag es Gründe geben. Andere Theorien sind mehr diskutiert in diesen letzten Jahren, etwa die sogenannte Systemtheorie. Was ist die sogenannte Systemtheorie, die vielleicht im Moment wichtigste, auch übrigens ökologisch wichtigste Theorie der modernen Naturwissenschaft? Ich will das in aller Knappheit Ihnen mal verdeutlichen und dann versuchen, die Zusam­menhänge, soweit sie zu benennen sind, auch zu benennen.

Ich habe mal die wichtigen Punkte dieser sogenannten Systemtheorie in aller Knappheit zusammengetragen, thesenhaft, und will Ihnen das mal vorstellen. Das sind 11, 12 zentrale Thesen. Die Systemtheorie, ganz kurz geschichtlich, entstand in den späten 40er Jahren aus einem bestimmten Prozess heraus, der zur Entwicklung der modernen Computer führte, entstand letztlich aus der Kybernetik. Folgende Grundthesen behauptet die Systemtheorie, weltweit, alle maßgeblichen Vertreter.

Erstens. Sie behauptet: Alles in der Natur, buchstäblich alles, ist miteinander vernetzt, sozusagen, flapsig gesagt, die Welt ist ein gigantisches Internet auf allen Ebenen, vom subatomaren Bereich bis zu den Galaxien. Alles hängt mit allem zusammen. Es gibt ein großes Netz des Lebens, „web of life“, das sogenannte „Lebensnetz“. Und, sagen die System­theoretiker, es gibt überhaupt keine isolierten Einheiten. Nichts, absolut nichts, auch nicht ein subatomares Teilchen oder ein einzelner Mensch oder ein Planet ist in irgendeiner Form isoliert. These 1. Das ist alles miteinander verbunden.

Zweitens, hängt damit eng zusammen. Man postuliert, dass die Welt als Ganzes auf den verschiedenen Ebenen nur aus dieser Ganzheit heraus überhaupt verstanden werden kann. Sie kann nur als Ganzheit und als Ganze interpretiert werden, also nur holistisch. Und das Ganze bestimmt auch die Teile. Und das gilt für die lebendige Welt, für die organische Welt, genauso für die anorganische … wie für die anorganische Welt. Und in diesem Kontext polemisieren die Systemtheoretiker seit 30 Jahren sehr scharf gegen den früheren Atomismus, gegen das frühere mechanistische Denken mit dem Anspruch, sie hätten eine höhere, eine adäquatere Ebene der Wirklichkeitserkenntnis erreicht. Also, keine Zersplit­terung, keine atomistische Vereinzelung, sondern das Ganze zählt. Naheliegend, dass auch die Ökologie sich immer wieder auf die Systemtheorie stützt.

Dritte These. Es wird behauptet, in allen Schriften, die relevant sind, der System­theoretiker, von Gregory Bateson bis heute zu Capra, seinem letzten Buch „Lebensnetz“, es gäbe, ich sage es bewusst mal im Konjunktiv, keine Trennung von Geist und Natur. Die Welt sei nicht so zu verstehen, als ob die Natur, die physisch-sinnlichen Phänomene, das, was die Naturwissenschaft beschreibt, in irgendeiner Form vom Geist getrennt werden könnte. Es gibt diese berühmte Formel von Gregory Bateson, er sagt: Der Geist hat überhaupt keine Eigen-Existenz, sondern ist ein Muster, er ist the pattern that connects, ist das Muster, das die Phänomene verbindet. Er ist immanent. Der Geist ist also kein metaphysisches Prinzip, das von außen in die Welt eindringt, sondern der Geist ist immanent. Er ist in der Welt selber, ist selber die immanente Ordnung der Welt, und damit wird jeder Geist-Körper-Dualismus vollständig zurückgewiesen. Die Welt selber, einschließlich der biologischen Welt, ist Kognition, Erkenntnis und Information; [das ist der] Punkt, einer der zentralsten Punkte überhaupt. Also Geist und Natur werden auf diese Weise zusammengeführt.

Vierte These. Mit dieser These verbindet sich bei den führenden Systemtheoretikern immer die Vorstellung einer Relativierung jeglicher Naturerkenntnis. Die früheren Absolut­heitsansprüche werden zurückgenommen, also in dem Sinne: Da draußen existiert eine Welt, hier ist der Naturforscher, und der ist in der Lage, bis zu einer gewissen Annäherung tatsächlich diese Welt da draußen abzubilden. Das berühmte Repräsentationsparadigma, was ja immer die Schwäche hatte, das haben ja die Philosophen schon im 18. und 19. Jahrhundert gesehen, dass das Subjekt, der Einzelne, der Betrachter, draußen vor blieb. Das ist ja die berühmte Subjektblindheit der Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaftler bilden eine Welt ab, und sie selber als Subjekte tauchen überhaupt nicht auf. In physika­lischen Lehrbüchern gibt es nicht das lebendige Subjekt, es gibt das anonyme Beobachter-„man“, „m a n“, und nicht den einzelnen Menschen, der leidet, der fühlt, der Schmerz empfindet, der sich freut, der spielt keine Rolle, auf den ist es nicht abgesehen. Also, eine starke erkenntnistheoretische Skepsis bis dahin, dass man sagt, jede Erkenntnis ist eigentlich zirkulär. Wir können aus der Zirkularität dieser Erkenntnis der Welt nicht ausbrechen. Wir können keinen Standpunkt, keinen archimedischen Punkt finden, von dem aus wir das Ganze einfach so souverän überblicken können. Wir sind immer Teil der Welt, Erkenntnis ist immer zirkulär. Ein ganz wesentlicher Aspekt, den vor allem die bedeuten­den chilenischen Neurophysiologen Umberto Maturana und Francisco Varela in den Vor­dergrund ihrer Forschung gestellt haben. Nicht zufällig übrigens, dass dieser selbe Varela als einer der maßgebenden Systemtheoretiker selber sich als Buddhist versteht. Er ist Buddhist und tritt als Buddhist auch auf und hält auch als Buddhist Vorlesungen und versucht das auf seine Weise zusammenzubringen.

Fünfter Punkt der Systemtheorie. Die Systemtheoretiker kritisieren den Neo-Darwi­nismus, und zwar auf eine sehr scharfe Weise. Sie zeigen aufgrund einer Fülle von Evidenzen, dass die natürliche Zuchtwahl, natural selection, und auch der struggle for life und all diese Punkte, die im Neo-Darwinismus angeführt werden, so nicht haltbar sind, dass man Evolution anders interpretieren muss, dass ein ganz wesentliches Moment bei Darwin fehlt, nämlich das eigenschöpferische Element des Naturprozesses, das eigen­schöpferische Element, was ja bis zu einem gewissen Grade immer auch zu tun hat, damit, dass die Evolution auf ein bestimmtes Ziel hingeht, auf ein Telos. Insofern ist diese Betrachtungsweise auch teleologisch. Sie zielt auf ein Telos, auf ein Ziel ab. Darwin hatte ja diese Zielvorstellung radikal abgeräumt. Das war ja ein wesentlicher Affront seinem ganzen Zeitalter gegenüber, als sein [Darwins] Epoche-machendes Buch 1859 erschien. Es gibt keine Zwecke, keine Ziele, die kann man nach wie vor glauben, aber man kann sie wissenschaftlich überhaupt nicht belegen. Es gibt nur Ursachen, die in der Vergangenheit liegen. Also, eine starke Kritik am herkömmlichen Darwinismus, auch am Neo-Darwi­nismus. Man setzt nun einen Begriff dagegen, ich nenne diesen Begriff mal, den Begriff „emergence“, „Emergenz“. In den meisten Übersetzungen, deutschen Übersetzungen dieser Texte, wird der Begriff einfach so stehen gelassen. Er meint an sich ein Heraufquellen, ein Heraufkommen eines vorher nicht Dagewesenen. Er meint einen schöpferischen, ein ur-schöpferischen Akt im Prozess der kosmischen Evolution. Wenn man sagt, ein Phänomen emergiert, meint man, es ist zwar in gewisser Weise verbunden mit der Ebene, die davor liegt, aber es erscheint etwas vollkommen Neues, also etwas, was sich nicht herleiten lässt, kausal ableiten lässt von der Ebene davor. Also schöpferische Prozesse werden im Weltall unterstellt.

Der nächste Punkt der Systemtheorie, der hängt zusammen mit der Vorstellung, was Geist ist. Ich hatte ja gesagt, Geist wird verstanden als ein Muster, „a pattern that connects“, ist der Begriff der „Autopoiesis“, berühmt geworden, mittlerweile ja weltberühmt, der Selbstorganisation. Es wird gesagt, Materie organisiert sich selbst, was immer das heißen mag. Da wird kein Selbst im Sinne der menschlichen Ichhaftigkeit angenommen. Es wird gesagt, die Materie organisiert quasi sich selbst, immanent, Autopoiesis, und wir bedürfen keines transzendenten Schöpfers von oben oder keines transzendenten Geistes von oben. Wir bedürfen im Grunde keiner metaphysischen Hinterwelt. Alles ist immanent, so in diesem Sinne natürlich zu erklären, und auch das Leben bestimmt sich durch Autopoiesis, durch Selbstorganisation auf allen Ebenen.

Dann ist der nächste Punkt, dass in all diesen Vorstellungen immer davon ausge­gangen wird, ähnlich wie in der Chaostheorie, dass man die Phänomene, die System­phänomene computermäßig simulieren kann. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Das geschieht doch ständig.

Nächster Punkt. Wir sind gleich am Ende dieser Skala von Elementen. Man nimmt an, dass zwar die einzelnen Systeme in der Welt, etwa ein Ökosystem oder ein Gesellschaftssystem oder ein subatomares System oder ein wie immer geartetes biologisches System, eine relative Autonomie hat, also eine relative Autonomie, aber im Grunde genommen wird davon ausgegangen, dass die Welt nur auf einer, gleichsam auf einer Ebene funktioniert. Es gibt also nicht in irgendeiner Form höhere Welten, etwa im Sinne der anthroposophischen Vorstellung von höheren Intelligenzen, höheren Hierarchien darüber, das alles wird radikal abgeräumt. Das Ganze wird in die pure Immanenz hinein­gezogen. Und damit wird natürlich auch der herkömmliche Dualismus scharf kritisiert. Und es gibt in all diesen Büchern nun immer wieder den Versuch, die Entwicklung der Welt nun systemisch zu begreifen, nicht systematisch. Da ist ein neues Adjektiv eingeführt worden, das im Duden, jedenfalls in dem Duden, den ich habe, noch gar nicht existiert. „Systemisch“ taucht oft gar nicht auf als Adjektiv, ist nicht „systematisch“. Man muss vielleicht noch kurz sagen, das „System“ stammt aus dem Griechischen, meint Ursprung. [Griechisch] „sistema“ ist fast synonym mit Ordnung, das Zusammengefügte, das Zusammengesetzte. Platon war einer der ersten, der das Wort „sistema“ für die Erde, für das kosmische System als Ganzes angewandt hat.

Nun, wenn das so ist, wenn die Welt so aussieht, dann ist das zunächst einmal eine abstrakte Beschreibung der Welt. Was hat das zu tun mit den sehr lebendigen spirituellen Innenwelten, die ja natürlich den Menschen erstmal primär interessieren?

Jetzt zum Buddhismus. Ich hatte gesagt, der zentrale Begriff der mahayana-buddhistischen Lehre ist der Begriff „shunyata“, der Nicht-Selbstheit. Was heißt das? Buddha war davon ausgegangen, dass das Ich, das Selbst, dass der Einzelne in sich spürt ‒ jeder Einzelne von uns hier im Raum spürt sich in sich als ein Ich, als ein Selbst, er ist er selbst, die anderen sind eben die Anderen, jeder hat sich selber nur unmittelbar ‒ , dass dieses Ich und Selbst in der Tiefe, so wie wir es wahrnehmen, nicht existiert. Das Ich oder Selbst ist eine Täuschung, es existiert nicht. Im Gegensatz dazu ja bekanntlich die abend­ländische Überzeugung, dass Ich, das Selbst, die Individualität ist das Kostbarste über­haupt, was der Mensch hat, „höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit“, heißt es ja in einem Goethe-Gedicht. Und wenn ein Leben nach dem Tode im Abendland in irgendeiner Form jemals gedacht wird, es ist ja oft gedacht worden, dann verbindet der Abendländer oder verbinden die meisten Abendländer damit die Vorstellung, dass eine wie immer geartete Individualität nun weiterexistiert. Während die Buddhisten immer davon ausgehen, der Einzelne als Einzelner existiert gar nicht mehr. Er verschwindet in gewisser Weise, er löst sich auf in einen Seinszustand, den zu beschreiben die Sprache nicht ausreicht, und es ist ja immer wieder versucht worden: Was ist denn dieser Zustand der Erleuchtung oder des Angekommenseins in diesem absoluten Seinszustand des Nirvana? Was ist das denn überhaupt? Kann man da etwas zu sagen? Ist das das Nichts? Sind die Buddhisten vielleicht im Grunde Nihilisten? Das ist ja auch verschiedentlich so gesehen worden. Schon Zeitgenossen von Buddha haben ihn als einen Nihilisten kritisiert. Wir haben dann mit einigem Recht ja auch erst mal gesagt: Du nimmst an, es gibt Wieder­verkörperung. So. Du sagst aber gleichzeitig, es gibt überhaupt keine Seele. Denn Buddha hat unermüdlich in seiner 45-jährigen Lehrtätigkeit immer wieder gesagt: es gibt nur an-atma, kein atma, es gibt keine Seele. Also die Frage: Wenn es keine Seele gibt, was rein­karniert sich eigentlich? Dann muss sich etwas Anderes reinkarnieren als die Seele. Ja, was? Und dann die große Frage: Was reinkarniert sich, ein karmischer Bewusstseinsstrom in irgendeiner Form? Da geht etwas weiter, so wird angenommen, was aber nicht identisch ist mit dem Einzelnen. Und die Frage, die dann immer wieder auftauchte, war naheliegend und ist auch heute noch ein erkenntnismäßig schwer zu verdauender Brocken.

Ja, wenn ich gar nicht der Andere oder die Andere wirklich bin und dessen oder deren karmische Last ich aber jetzt, heute hier tragen muss, und ich leide zum Beispiel, weil der oder die etwas gemacht hat, wie ist denn da die Verbindung überhaupt? Und das hat schon Buddha mit einem Paradoxon beantwortet, hat gesagt: Du bist der Andere, die Andere und gleichzeitig bist du es nicht. Das heißt, kann man sagen, er hat sich aus der Affäre gezogen. Er hat gesagt, das kann man nur paradox beantworten, nicht im Sinne der aristotelischen Logik. Ja, bist du nun, würde ja der Abendländer naiv sage, bin ich nun der Betreffende, oder bin ich es nicht? Buddha hat gemeint, die Frage ist so nicht zu beant­worten, weil du bist es, und du bist es nicht, gleichzeitig.

Was hat das für eine Konsequenz für die Überzeugung von der Existenz von Welt? Was ist die Welt für den Buddhisten, auch für den Mahayana-Buddhisten? Das ist im Laufe von Jahrhunderten eine riesige Literatur, im Mahayana-Buddhismus immer wieder versucht worden, auf den Punkt zu bringen. Diese Welt ist in gewisser Weise für den Buddhisten auch eine Art System, aber ein System, was sich ausschließlich speist durch Bewusstsein. Und nur Bewusstsein ist die eigentliche, qualitative Essenz der Welt, das ist wesentlich für den Buddhismus. Der Buddhismus ist eine Bewusstseinslehre. Er ist, wenn man das so nennen will, eine Tiefenpsychologie. Alles ist Bewusstsein und Bewusstsein erfüllt die Existenz des Einzelnen, gelingt oder scheitert am Bewusstsein. Und dieses Bewusstsein ist nicht einfach das Ego, das Ich oder das Selbst. Dieses Bewusstsein ist ein Ur-Bewusstsein. Oftmals wird im Mahayana-Buddhismus von einem Speicher-Bewusstsein gesprochen, das den ganzen Raum erfüllt, das unendlich und ewig ist, ja in gewisser Weise mit dem Raum identisch ist.

Einige westliche Interpreten haben dann einen Begriff dafür gewählt aus der europäischen Philosophietradition, den Begriff der Weltseele und ob man nicht das, was Platon und Plotin, Giordano Bruno, Schelling und Andere als die Weltseele bezeichnet haben, ob man nicht das verwenden kann für dieses Ur- oder Grundbewusstsein oder Speicherbewusstsein der Mahayana-Buddhisten. Ist die Welt nun in diesem Sinne für die Mahayana-Buddhisten einfach Schein? Das ist sehr schwer zu sagen. Sie changiert zwischen Schein und Wirklichkeit. Niemals würden die Mahayana-Buddhisten in einem direkten und absoluten Sinne sagen: Die Welt, wie wir sie sinnlich wahrnehmen, ist einfach eine Illusion. Das findet man, diese Vorstellung findet, man in den „Upanishaden“. Da wird es gesagt: Diese Welt ist Maya. Diese Welt ist in einem absoluten Sinne ein Traum eines unbekannten, absoluten Wesens, das sich in die Vielzahl der Einzel-Existenzen hinein verstrickt [hat]. Diese Welt ist Maya, Schein. Die Buddhisten sind da vorsichtiger. Sie betonen schon den Wirklichkeitscharakter der Welt, aber sagen gleichzeitig das ist keine eigentliche, keine wahre Wirklichkeit, es ist eine sehr relative Wirklichkeit. Also auch da ein paradoxes Changieren zwischen den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Schein. Und auch hier die Frage im Grunde eine Scheinfrage: Ist die Welt nun wirklich, oder ist sie Schein? Sie ist beides. Sie ist wirklich und Schein zugleich.

Nun hat nach der Vertreibung des Dalai Lama und der intellektuellen Elite Tibets in den späten 50er Jahren, der Film „Kundun“, der jetzt läuft, zeigt das hier auf eindrucksvolle Weise. Der tibetische tantrische Buddhismus [hat] einen Siegeszug um den Planeten ange­treten, der auf seine Weise wirklich einzigartig ist. Und sehr viele haben nun bestimmte Elemente dieses Denkens aufgegriffen und versucht zu zeigen oder plausibel zu machen: Gibt es vielleicht Zusammenhänge? Wenn die Buddhisten so etwas sagen, dass die Welt Bewusstsein ist und nur Bewusstsein, ein gewaltiges System des Bewusstseins, ist das nicht dann doch ähnlich, wenn die Systemtheoretiker sagen: Es gibt nur dieses gewaltige Netz, dieses Netz „web of life“ der Phänomene? Ist das nicht im Prinzip, in der Tiefe, im Kern, das Gleiche? Warum soll man da differenzieren? – Da muss man, und das soll jetzt der nächste Schritt sein, genau differenzieren, wovon man redet.

Man muss sich hüten, meine ich, dass man nicht grundsätzlich voneinander getrennte Ebenen einfach in eins setzt. Denn die Grundhaltung der neuzeitlichen Natur­wissenschaft der Welt gegenüber seit dem 16. Jahrhundert, auch die der Chaostheorie oder Systemtheorie oder wie immer, geht letztlich nicht davon aus, wie in der Spiritualität des Buddhismus, dass es höhere, dass es transzendente, dass es über die Ratio hinausgehende Erfahrungsdimensionen gibt oder Bewusstseinsdimensionen. Es gibt keine Hierarchie höherer Bewusstseinszustände, höherer Seinszustände. Das wird gerade und ist gerade hier seit der Aufklärung abgeräumt worden. Die höchste Stufe ist die rational- ichhafte die Stufe, und diese Stufe wird von der Aufklärung als die allein wichtige favorisiert. Das ist ein wesentlicher Punkt.

Die Aufklärung und mit ihr die neuzeitliche Naturwissenschaft setzt auf die rationale Ichhaftigkeit. Wenn sie sagt: Wenn es so etwas geben sollte wie diese höheren Bewusst­ seinsstufen, von denen alle spirituellen Traditionen berichten, dann sind sie nicht beweisbar. Also, eine radikale These wäre: Es gibt sie gar nicht. Das wäre eine dogmatische Geste. Was ihr für höhere Bewusstseinszustände haltet, ist letztlich Pathologie. Da würde man extrem sagen, na gut, dann ist also auch ein Erleuchtungszustand, wie ihn Buddha für sich reklamiert, letztlich ein pathologischer Zustand. Er hat zwar keine psychoaktive Substanz eingenommen, hätte er aber vielleicht tun können, und es ist letztlich eine Quasi- Pathologie. Alles, was heilige Menschen, spirituelle Menschen im Laufe der Jahrhunderte behauptet haben, existiert gar nicht, [ist] pathologisch. Oder man sagt, das ist ja eher die Meinung, gut, ich akzeptiere das, es gibt diese Zustände. Es scheint wohl so zu sein. Ich habe es nicht erlebt, wird oft gesagt, aber bitte sehr. Es scheint diese Zustände zu geben, aber, sie haben keine Relevanz für die naturwissenschaftliche Fragestellung, weil sie sind nicht verifizierbar, sie sind nicht beweisbar. Und das ist ein entscheidender Punkt, den auch Ken Wilber in seinen Schriften ja seit 20 Jahren immer wieder anspricht. Und auch in seinem letzten Buch „Naturwissenschaft und Religion“. Es wird gesagt, sie seien nicht beweisbar. Es wird so getan, als gäbe es überhaupt keine Kriterien zu unterscheiden, was ist Halluzination, was ist pure Phantasie und was ist in irgendeiner Form objektivierbare Wirklichkeit?

Nun gibt es ja buddhistisch-spirituelle Systeme, übrigens auch im Zen-Buddhismus, die durchaus Kriterien angeben für die Objektivierbarkeit dieser Erfahrungen. Es gibt durchaus Kriterien, es gibt Stufen-Modelle, auch in anderen spirituellen Traditionen. Es ist nicht so, dass diese höheren Stufen im Niemandsland vollkommener Subjektivität sich aufhalten oder einer Belanglosigkeit oder Verbindlichkeit, die die pure Glaubenssache wäre. Das kann schon deswegen nicht sein, wenn man sich mal anschaut, wie weltweit, in allen Zeiten und Kulturen ganz bestimmte grenzüberschreitende Erfahrungen beschrieben werden. Da gibt es Parallelitäten, da gibt es Ähnlichkeiten, da gibt es offenbar Zusammen­hänge. Es scheint so zu sein, dass Menschen in verschiedensten Zeiten und Epochen diese Bewusstseinszustände kontaktieren können in irgendeiner Form. Oft wird angenommen, dass ein jahrelanger, jahrzehntelanger Meditations- und Schulungsweg dazu erforderlich ist und dass dann auf den oberen Stufen bestimmte Zusammenhänge erkannt werden und dass die, die die Stufen auch erreicht haben, miteinander kommunizieren können. Dass da wirklich etwas ist, was ja auch die moderne Bewusstseinsforschung in den letzten 20, 25 Jahren denke ich, genugsam bewiesen hat. Auch die Bewusstseinsforschung, die ausgeht von den LSD-Erfahrungen der 60er und 70er Jahre, das ist ja auch versucht worden im Zusammenhang mit der transpersonalen Psychologie, diese meditativ erreichten hohen Bewusstseinszustände zusammenzubringen mit den Erfahrungen, die heute jeder Mensch machen kann, durch Psychedelika oder durch ganz bestimmte Atemtechnik, Fasten, Schlaf­entzug oder was auch immer.

Also, man muss sehr genau aufpassen, von welcher Ebene redet man, wie differen­ziert und subtil Naturwissenschaft auch immer die Welt betrachtet ‒ die Welt ist nie eigenlebendig, sie ist nie ein bewusstseinserfüllter, eigenständiger Dialogpartner. Die Naturwissenschaft ist immer in diesem Sinne monologisch. Ob ich einen Stein betrachte oder ein Ökosystem oder eine Galaxie, die spricht nicht, diese Phänomene sprechen nicht mit mir. Ich muss nicht in einen Dialog mit ihnen treten. Sie sind da, sie sind Phänomene der Außenwelt, die ich betrachte. Ich kommuniziere nicht als Mensch oder als Bewusst­seinswesen wie mit einem anderen Bewusstseinswesen. Wenn wir uns miteinander verständigen zu zweit, zu viert, zu sechst, wie immer, dann müssen wir ja immer erst einmal rausspüren, oder Sie, wenn Sie mir zuhören, was meint der Jochen Kirchhoff, wenn er diese Vokabel, diese Begriffe benutzt? Es geschieht ein Dialog in irgendeiner Form, auch wenn Sie nichts sagen, es geschieht ein Dialog, es wird etwas vermittelt über Sprache, das Sie selber innerlich nachvollziehen müssen. Es ist ja nicht eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Dies kann es ja nie geben, zwischen Menschen ist ja immer, wie Martin Buber gesagt hat, eine Dialog-Beziehung.

Und das ist schon mal ein wesentlicher Unterschied. Naturwissenschaft ist ihrem Wesen nach monologisch, sie ist nur dialogisch wenn sich einzelne Forscher untereinander verständigen über bestimmte Ergebnisse, dann ist sie natürlich auch dialogisch, dann ist sie intersubjektiv.

Und spirituelle Erfahrung ist in dem Sinne immer translogisch, sie überschreitet jede nur denkbare logische Dimension. Sie ist also nicht auf den Boden der sogenannten Wirk­lichkeit herabzubringen. Das heißt nicht, dass sie per se total unverbindlich und nur sub­jektiv wäre und dass darüber keine Verständigung möglich wäre. Ich habe ja gerade gesagt, dass das doch der Fall ist. Aber sie ist nicht mit den Gültigkeitskriterien der herkömmlichen Wissenschaft zu betrachten. Wer das versucht, muss scheitern, das kann nicht gehen, ich kann nicht ein Erleuchtungs- oder ein wie immer geartetes transpersonales Erlebnis in irgendeiner Form mit quantentheoretischen oder chaostheoretischen oder systemtheo­retischen Überlegungen verbinden. Ich kann nur sagen, hier liegt eine ganz andere Wirklichkeitsebene vor. Und da ist ein Punkt, der für mich zentral zu sein scheint bei dieser ganzen Auseinandersetzung, dass man anerkennen sollte, auch wenn einem das vielleicht schwerfällt, dass wir … dass wir in einer Welt leben, wahrscheinlich in einer Welt leben, in der es Ebenen der Wirklichkeit gibt, einfach Seinsebenen und dass wir ja alle darunter leiden, wenn wir diese Seinsebenen nicht integrieren können, wenn wir etwa die rationale, die intellektuelle Ebene, die wissenschaftliche Ebene eben nicht integrieren können, etwa mit der künstlerischen, mit der ethisch-moralischen Ebene oder der ichhaften Ebene. Aber die Aufgabe bleibt. Es kann ja nicht darum gehen, dass wir einen Punkt finden in der Vergangenheit, bevor sich diese Abzweigung, diese Bifurkation, um einen chaostheore­tischen Begriff zu verwenden, vollzogen hat, dass wir sagen, na gut, das hat sich jetzt herauskristallisiert, aber es sollte nicht so sein. Ich suche also nach einem Punkt in der Vergangenheit, wo das nicht so war. Es gibt ja viele Bücher, die in diese Richtung gehen. Man sucht einen Punkt in der Vergangenheit, wo diese als verhängnisvoll gesehene Abzweigung noch nicht vorhanden war. Man geht zum Beispiel in die frühe Neuzeit rein. Man geht noch weiter zurück. Man kann dann Platon, Sokrates heranziehen. Man kann in die frühen Hochkulturen zurückgehen, und kann sagen, da sind schon Weichenstellungen erfolgt, patriarchal, egozentrisch, machtbezogen. Schon da wurde die Welt als auszu­beutendes Objekt betrachtet. Das ist ja alles versucht worden, aber das wird nicht gehen, das ist vergeblich, weil, was vollzogen ist an herausdifferenzierenden Weichenstellungen kann nicht zurückgenommen werden. Und es ist ja gerade das, sage ich nochmal wie am Anfang, auch ein Gewinn der abendländisch-europäischen Aufklärung, ein wirklicher Gewinn, dass diese Herausdifferenzierung erst einmal erfolgt ist. Ob sie so bleiben muss in dieser ja eigentlich neurotischen Dissoziation, in der totalen Spaltung, können wir mit Fug und Recht verneinen. Nein, sie soll nicht so bleiben, bloß, das wirklich zu leisten, diese Ebene zusammenzubringen, ist eine ganz eigene und extrem schwierige und subtile Aufgabe und die ist nicht vollzogen worden, man soll sich da keinen Illusionen hingeben, auch wenn das vielleicht jetzt enttäuschend klingt. Diese … ich meine es nicht resignativ, aber bis zur Stunde kann man sagen, diese wirkliche Integration von Spiritualität, im Falle auch des Buddhismus, der mahayana-buddhistischen shunyata-Lehre, mit … also diese Verbindung, diese Integration mit naturwissenschaftlichen Denkansätzen, ist nicht gelungen.

Nun kann man fragen: Kann sie überhaupt gelingen? Wenn das stimmt mit den Ebenen, könnte man sagen: Nein, das kann nie funktionieren. Ich kann nur die Welt so betrachten, da komme ich zu den Ergebnissen, ich kann rechnen. Ich kann mittels der Technik die Welt betrachten, ich kann sie als Ich betrachten, ich kann sie als Künstler betrachten, ich kann Bilder malen oder Streichquartette komponieren oder selber Musik machen, wie immer. Und da kann ich eben auf eine ganz andere Weise sie auch spirituell meditativ betrachten. Und das kann derselbe Mensch sein, der am Vormittag in einem Labor arbeitet, Quantenphysiker ist, am Nachmittag vielleicht Zen-Meditation macht und abends als Bratscher in einem kleinen Kreis musiziert. Das wären dann drei verschiedene Facetten, die in einem Menschen zusammengeführt sind, aber damit ist kulturell nichts geleistet, damit ist die Dissoziation nicht aufgehoben. Und es gibt ja genügend Kulturen auf dieser Erde, wo ja noch nicht einmal der Anfang, diese Herausdfferenzierung überhaupt geleistet wurde, denken Sie an den Islam. Da hat es so etwas wie die Reformation oder die Aufklä­rung oder so etwas überhaupt nicht gegeben. Deswegen gibt es auch nicht diese Heraus­differenzierung. Deswegen kann sich ein fundamentalistischer Mullah vollkommen selbstverständlich, wie selbstverständlich, der modernsten Technik bedienen, das tut er ja auch, aber im Innern bedeutet es für ihn gar nichts. Für ihn hat das innerlich überhaupt keine Relevanz. Das ist in unserer eigenen Geschichte vollständig anders. Insofern, wenn man jetzt sich klarmacht, was für Möglichkeiten kann es denn überhaupt geben, da etwas wirklich zusammenzudenken, dann könnten wir heute, ohne nicht in Scharlatanerie zu verfallen, eigentlich nur sagen, mit aller Vorsicht: Was wären die Kriterien dafür, dass das möglicherweise gelingt? Was wären die Kriterien? Mehr kann man im Moment, in dieser geschichtlichen Stunde, glaube ich, nicht sagen, denn wenn man das nicht tut, wenn man nicht diese Beschränkung oder eine gewisse Bescheidung vornimmt, kommt man natürlich zu den bekannten schnellen Gleichsetzungen, die ja … von denen es ja sehr viele gibt. Also ich meine, wir können im Moment zwar feststellen, dass es in der modernen Denk­bewegung, unter anderem auch in der Chaostheorie oder in der Systemtheorie, Versuche gibt, die Natur anders zu betrachten, ganzheitlich zu betrachten und insofern den atomistischen Ansatz zurückzunehmen. Das ist ein Fortschritt, unbedingt. Darüber ist überhaupt nicht zu diskutieren. Aber wir müssen immer sehen, dass die spirituelle Welterfahrung als sie selber, von vornherein etwas Anderes ist und was immer wir, wenn wir es denn erleben, in diesen Schichten, in diesen Dimensionen, in diesen Seinsebenen wirklich erfahren, hat nichts zu tun mit system- oder auch quantentheoretischen Konzepten.

Denn das alles bleibt dann immer auf der konzeptionellen, auf der intellektuell-rationalen Ebene. Das muss man einfach sehen, sonst kommt man, meine ich, in eine heillose Klitterei hinein, eine heillose Klitterei der Phänomene hinein, die intellektuell, meine ich, übrigens auch spirituell, dann unseriös ist. Das heißt nicht, dass man da resignieren sollte an der Stelle, nur genau gucken, wovon redet man. Und dann kann man .., da müsste überhaupt erstmal, das wäre die Grundvoraussetzung, ein seriöser öffentlicher Dialog überhaupt entstehen. Der ist erst ganz zaghaft im Gang über solche über die rationale Ebene hinausreichenden Seinsstufen, Bewusstseinsstufen. Gibt es diesen seriösen öffentlichen Dialog darüber? Nein, es gibt ihn nicht. Es gibt ihn in bestimmten Zirkeln, es gibt ihn bestimmten Zirkeln der New-Age-Bewegung, es gibt ihn in der Anthroposophie, es gibt ihn in verschiedenen esoterisch orientierten Richtungen, aber einen seriösen öffentlichen Dialog über diese Fragen, über die Existenz oder Nichtexistenz dieser Phänomene gibt es in der Form nicht. Es gibt interkulturellen, interreligiösen Dialog, das ist bekannt, aber kaum ein wirklichen Austausch auf der höchsten Erfahrungsebene. Dann zieht sich jeder sehr schnell zurück, auch wenn es ihm um den Dialog geht, auf seine Glaubenspositionen, die nicht weiter hinterfragt werden ‒ ja ich glaube das eben, beweisen kann ich es auch nicht. Wenn das dabei bleibt, bei dieser puren Glaubensebene, dann ist in der Tat der Vorwurf berechtigt, das Ganze bliebe letztlich subjektiv. Man muss, glaube ich, in eine Ebene hineinkommen, wo man überhaupt diese Phänomene einer höheren Bewusstseinsmöglichkeit sich neu anschaut. Das geschieht im Ansatz eigentlich nur, wenn ich das richtig sehe, in der sog. Bewusstseinsforschung der letzten 20, 25 Jahre, die ja vor allem in Amerika ein riesiges Material zusammengetragen hat, phänomenologisch aus den verschiedensten Kulturen und versucht bestimmte Modelle aufzustellen: Wie ist das dann etwa, meinen vielleicht die mystischen Moslems, die Sufis, wenn sie Sikkha [eigentlich ein buddh. Begriff für „Schulung“] sagen und praktizieren etwas ähnliches, was die Zen-Buddhisten als Satori bezeichnen? Ist das vergleichbar, oder ist das etwas vollkommen Verschiedenes?

Und da müsste man dann auf eine neue Weise ansetzen. Und ich meine, dass da noch eine ungeheure Aufgabe vor uns liegt. Aber ich glaube, dass das im Kulturellen nur möglich ist, wenn das wirklich gelingt, diese neue Stufe wirklich plausibel zu machen. Es muss der Dialog darüber möglich sein. Denn wenn, ich sag’s noch mal in aller Schärfe, wenn ich von vornherein annehme, es gibt diese Wirklichkeitsdimension gar nicht oder sie sind nicht beweisbar, sind nicht objektivierbar, dann schneide ich eigentlich den öffentlichen Dialog darüber ab. Dann muss ich darüber eigentlich nicht weiter verhandeln. Da kann ich sagen, gut, Sie glauben das, ich glaube das, wir können uns verständigen, einen ganzen Abend lang oder eine ganze Nacht, was wir alles glauben. Aber können wir auch darüber reden, was wir erfahren haben auf diesen anderen Dimensionen? Und haben wir Kriterien? Und dann kann man in die Traditionen auch der spirituellen Strömungen hineinschauen, unter anderem auch den Mahayana-Buddhismus, und findet dann tatsächlich Kriterien, auch bei den Zen-Buddhisten. Ganz bestimmte Visionen werden ganz bestimmten Klassen von Erfahrungen, ganz bestimmten Erfahrungsebenen zugeordnet. Und da wird es dann wirklich interessant. Und da gibt es dann wirklich, was man im Englischen „plausibility claims“ nennt, also Plausibilitätskriterien. Das ist dann keineswegs so ein Tanzplatz der Subjektivität und der Willkür. Und dann hätte … dann wäre wirklich, vielleicht, ein … dann wäre vielleicht wirklich die Spiritualität ein echter Dialogpartner. Das ist ja noch nicht der Fall. Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt einige Ansätze, fraglos, aber da ist noch viel zu leisten.

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Tiefenökologie – Der Neue Bund von Mensch und Pflanze

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 46

Transkript als PDF:


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Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser zehnten und nunmehr für das Sommersemester auch letzten Vorlesung zum Thema: Der Mensch, das Licht und die Pflanzen. Ich habe in früheren Semestern oft das Verfahren gewählt, am Ende des Semesters die Grundthemen, Motive noch einmal anklingen zu lassen und gewissermaßen eine Conclusio, eine Art Zusammenfassung zu bringen. Das mache ich heute nicht. Ich werde, wie ich Ihnen das schon angekündigt habe, ein eigenständiges Thema behandeln, das natürlich vielfältige Bezüge hat zu den anderen Themen. Aber ich gebe nicht eine conclusio-artige, thesenartige Zusammenfassung unserer bisherigen Abende hier über dieses Thema.

Ich habe das heute Abend genannt, aus guten Gründen: „Der neue Bund von Mensch und Pflanze“ als Hauptzeile und dann im Untertitel: „Wie können wir uns den Pflanzen geomantisch, tiefenökologisch und existenziell neu verbinden?“ Geomantie ist eine Strömung, die alt ist in der Menschheitsgeschichte, die in den letzten Jahren zunächst einmal über China, Feng Shui und so weiter eine gewisse Popularität erlangt hat. Sie wissen vielleicht, im deutschen Sprachraum gibt es mittlerweile seit drei Jahren diese Zeitschrift, wo ich auch mitarbeite, „Hagia Chora ‒ Zeitschrift für Geomantie“, die Internet-Freaks können auch nachschauen, www.geomantie.net, und dazu mehr. Dann habe ich Ihnen gesagt, dass ich den Fokus legen wollte auf die Frage einer möglichen Wiedervereinigung, Zusammenführung, Verschmelzung des Natürlichen und des Heiligen. Die Frage der Sakralität, die ja eine zentrale Frage ist für unser Thema, auch zu tun hat mit der Frage des Bewusstseins der Pflanzen, auch zu tun hat mit der Frage der Orte, der Plätze, der Erde überhaupt, der Frage der Resakralisierung, die ja in der tiefenökologischen Diskussion, sagen wir mal seit 10, 12, maximal 15 Jahren auch vielfältig behandelt wird, auf ganz unterschiedliche Weise. Ich bin auf die Formulierung „Der neue Bund von Mensch und Pflanze“ durch das Buch von Wolf-Dieter Storl gekommen, „Pflanzen-Devas“. Ich will Ihnen mal diese Passage vorlesen, die mir die Anregung zu dieser Themen-Formulierung gegeben hat. Das ist im Literaturverzeichnis drin, Wolf-Dieter Storl, „Pflanzen-Devas“, 1997 erschienen in der ersten Auflage, mittlerweile gibt es eine neue Auflage, da ist der Titel ein bisschen geändert, darüber habe ich gesprochen. Auf den letzten drei Seiten dieses interessanten Buches, das ich ja schon mehrfach herangezogen habe, heißt es: „Nachwort ‒ der schlimmste Krieg aller Zeiten“. Und jetzt taucht dieser Begriff hier auf. Ich lese mal einige Sätze hieraus vor, und Sie sehen daraus, wo die Quelle ist,dieses Begriffs, in diesem Kontext:

„Lautlos sind sie gegangen, die Ulmen. Die Tannen im hohen Erzgebirge, unter denen bunt gekleidete Skisportler Slalom fahren, sie sehen aus wie riesige Fischgräten. Unsere Wiesen und Felder sind eintönig grün, die blühenden Wildpflanzen verschwinden. Gifte, zynisch Pflanzenschutzmittel genannt, haben die Schmetterlinge, Bienen und Hummeln dezimiert, welche die farbenfrohen Freudenbringer zu ihrer Bestäubung brauchen. Flammen und Motorsägen machen jedes Jahr 200’000 Quadratkilometer Tropenwald nieder, eine Fläche dreimal so groß wie Bayern. Die Tiergeister und Pflanzendevas ziehen sich aus der Welt der Erscheinung zurück. Ernst Jünger drückt es einmal deutlich in einem Interview aus: ,Unser Verstand kann das Ausmaß dieses Geschehens gar nicht begreifen. Es lässt sich nicht in die gängigen Modelle und Kategorien einordnen, was über die Erde, über Midgard hereinbricht, sind mythologische, archetypische Gewalten. In die Tiefe verbannte titanische Mächte erheben sich, brechen aus, bekriegen und vertreiben die Götter, Devas. Chthonische Drachen, die Midgard-Schlange speit Feuer und Giftrauch über das Land. Diese Bilder aus uralten Mythen sind voller Aktualität. Es ist wirklich wahr, wir leben in Zeiten, in denen die in den Tiefen der Erde und im Kern der Materie gebündelten Gewalten von Leichtsinnigen oder sollen wir sagen titanisch besessenen Zauberlehrlingen entfesselt werden. Milliarden Tonnen Erdöl, Gajas Blut aus chthonischen Tiefen gepumpt und verbrannt, verpestet unsere Luft, erhitzt unsere Atmosphäre. Metalle, Schwermetalle, von roboterartigen Maschinen aus dem Bauch der Erde gerissen, nehmen Gestalt an, stampfen über den Boden, fliegen durch die Luft, umkreisen den Planeten, schleichen sich in die Nahrungskette, bohren sich in unsere Zähne. Energie aus zerfallender, zersplitterter Materie, treibt Mega-Maschinen, befeuert künstliche Intelligenz und verfängt Millionen von Menschen in die Gaukelwelten einer virtuellen Realität.’“ Und dann, am Ende heißt es hier, und jetzt taucht dieser Begriff auf: „Diese Bilder aus alter Weisheitstradition sollten uns Mut geben. Devas sind ewige Archetypen.“ Nicht, darüber habe ich öfters gesprochen. Storl ist ja der Überzeugung, dass Pflanzen-Devas makrokosmische Wesenheiten sind, die sich nur in ihrer äußersten Emanation auf der Erde überhaupt inkarnieren, Wesenheiten, die auch der menschlichen Intelligenz überlegen sind, so glaubt er. „Auch wenn sie in diesem Weltenwinter die Blümlein an Frost zu schwinden scheinen, tragen wir sie dennoch in unserem Herzen als Samenkräfte einem neuen Frühling entgegen.“ Der Weltenwinter ‒ das klingt natürlich auch an an den epochalen Winter des Schweizer Psychiaters Padrut. Er spricht ja im Zusammenhang mit der „Winterreise“ von Schubert vom epochalen Winter, so heißt eines seiner Bücher. „Es ist notwendig, uns von der titanischen Illusion zu befreien, die uns verkennen lässt, dass jede Pflanze Ausdruck “ ‒ Storl ganz dezidiert ‒ „eines Engelwesens einer göttlichen Persönlichkeit ist. Die Pflanzen-Devas rufen uns zu, sie wollen uns wachrütteln, sie wollen mit uns einen neuen Bund eingehen, sie wollen blühen und grünen, damit diese Erde wieder ein glücklicher, froher Ort wird. Denn in ihnen sind noch ungeahnte Möglichkeiten verborgen, neue Nahrungsmittel, Genussmittel, Heilmittel für Körper, Geist und Seele.“

Man mag jetzt das Pathos dieser Sätze bekritteln oder mag sich davon distanzieren wollen. Das spielt jetzt keine Rolle. Die Sache selber ist ziemlich deutlich, das greife ich auch auf. Auch wenn man diese These von den Devas als makrokosmischen Wesenheiten im Sinne von Storl und anderen so nicht akzeptieren muss, das ist auch gar nicht erforderlich für unseren Kontext.

Worum es mir geht jetzt, ist den Versuch zu machen, Ihnen zu erläutern, dass eine Wiederverwendung in diesem Sinne eine neue Verbindung, ein neuer Bund zwischen Mensch und Pflanze, damit auch zwischen Mensch und Natur, überhaupt zwischen Mensch und Erde, Gaia, Demeter nur möglich ist auf der Ebene der lebendigen Erfahrung. Das kann nicht sein eine ideologische Ebene, das kann nicht sein ein Postulat, das kann man nicht postulieren. Man kann nicht im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant sagen, das sollte so sein. Das ist keine moralische Forderung, die man legitimerweise in die Welt stellen könnte mit der Maßgabe, dass sie nun fürderhin befolgt werden sollte. Das ist so schlechterdings nicht möglich. Man kann aber bestimmte Impulse setzen oder geben, die möglicherweise dazu angetan sind, dass einige Einzelne, von mir aus auch Gruppen sukzessive in mittelfristigen, längeren oder größeren Zeiträumen dann auch in die Lage versetzt werden, diese neue Verbindung zu leisten und damit auch diese kollektive Neurose, von der ich so oft spreche, zu überwinden. Oder die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose, wie das Gottfried Benn sehr schön genannt hat, 1943. Also darum geht es hier, es geht um einige Impulse in dieser Richtung.

Es geht nicht um ein moralisches Postulat, und es geht schon gar nicht um ein Postulat, von dem man annehmen könnte, dass es in irgendeiner Form politisch mehrheitsfähig wäre. Das ist es nicht. Diese Illusion muss man sich einfach gar nicht machen. Immer wenn ich hier zu meinen Vorlesungen gehe, seit vielen Jahren gehe ich hier „Unter den Linden“ [Straße vor dem Gebäude der Humboldt Universität Berlin] entlang, dann denke ich jedes Mal, was ich hier sage im Saal ist so vollkommen abseits, so vollkommen getrennt von dem, was hier die großen Paukenschläger der Gegenwart in Technik, Wissenschaft und Medien usw. hier verkünden. Das wird mich nicht abhalten, das zu tun, hat mich nicht abgehalten das zu tun und wird mich auch in Zukunft nicht abhalten. Das muss man einfach wissen. Das ist eine bestimmte Art von seelisch-geistiger Sezession, die hier von mir initiiert wird. Gut. ‒

Was ist dieses Heilige, das Sakrale? Ein ganz schwieriger, belasteter Begriff, wie wir wissen, tausendfach missbraucht, so dass man fast schon Probleme hat, wenn man den Begriff überhaupt anführt. Was soll das denn sein? Die Sakralität eines Ortes? Die Sakralität einer Pflanze? Ist das nicht ein altes Denken was das Bewusstsein auf unserer kollektiven Stufe, aber auch auf der individuellen Stufe, längst überwunden hat? Ja und nein. Ich will Ihnen mal einige Thesen hier vorlesen, die ich in meinen Aufzeichnungen entdeckt habe. Ich habe vor viereinhalb Jahren mal einige Überlegungen aufgeschrieben zum sogenannten Sakralen oder Heiligen. Ich lese Ihnen das mal zu Beginn vor. Das können Sie vielleicht ein bisschen im Bewusstsein behalten, wenn wir dann der Frage nachgehen, wie man das Heilige, das Sakrale, von mir aus auch das Numinose, wie immer man das nun nennt, und das Natürliche zusammenschließen [kann oder könnte]. Also: „Vom Heiligen ‒ Überlegungen, Fragen, Aspekte“, habe ich damals aufgeschrieben. Das sind 14 Thesen, 19 Thesen, ich will nur einige Ihnen vorlesen, damit Sie sehen, wie man das denken kann.

„Was ist das eigentlich? Das so genannte Heilige? Was unterscheidet es vom Profanen, Alltäglichen, Gewohnten oder Gewöhnlichen?“ Und das ist ja schwierig. „Das Heilige ist immer auch das Geheimnisvolle, das Rätselhafte, das Undurchdringliche. Das Heilige entzieht sich dem rationalen Zugriff. Aber es ist nicht nur geheimnisvoll und rätselhaft undurchdringlich. Es ist auch mächtig. Das Heilige hat Macht von alters her. Es lebt aus der Macht des sehr Alten. Das Heilige kann und darf nie neu sein.“ Erste These. Also das Heilige lebt aus der Kraft des sehr Alten. „Was unterscheidet das falsch Heilige, das schlechte Heilige, siehe Hegels schlechte Unendlichkeit vom wirklich Heiligen, wenn es das geben sollte, vom authentisch Heiligen? Mache ich etwas individuell und kollektiv kulturell zum Heiligen? Sakralisiere ich ein Etwas?“ Das wäre dann eine Art Projektion, psychologisch gesprochen. Oder ist das Heilige ein Sein in eigener Kraft? Das ist ja etwas vollkommen anderes. Kommt mir da etwas aus dem Sein der Dinge selber entgegen, mit dem ich in Resonanz trete? Oder projiziere ich anthropomorph etwas in die Dinge hinein, etwa in die Pflanzen hinein? Könnte man ja sagen, der Bios, [das] Bioswesen wird anthropomorph aufgeladen mit einer quasi göttlichen sakralen Potenz. „Gibt es das Heilige oder schaffen wir das Heilige? Oder gilt beides zugleich? Wir geben, wir weisen zu, wir projizieren, und zugleich entbirgt sich das Heilige in eigenster der Substanz.“ Dritte Überlegung. „Das Heilige muss das Seltene sein, das Herausgehobene, das Singuläre. Es darf nicht zu häufig, es darf nicht überall sein.“ Das ist wichtig. Es darf nicht überall sein. Ich sage das deswegen, weil ich vor einigen Tagen einen Essay gelesen habe von der berühmten Matriarchats-Forscherin Heide Göttner-Abendroth, hier aus diesem Band „Hagia Chora“, wo sie die These aufstellt, dass in den von ihr unterstellten matriarchalen Kulturen eben grundsätzlich keine Trennung existiert habe zwischen dem Sakralen und dem Profanen. Alles war gewissermaßen sakral, könnte man auch sagen, alles war in gewisser Weise profan und sakral gleichzeitig. Als erstes Grundprinzip gilt, schreibt Heide Göttner-Abendroth, ja bekannt geworden durch ihr Buch „Die Göttin und ihr Heros“, seit Jahrzehnten ja auf diesem Sektor tätig: „Denn es ist in matriarchalen Gesellschaften keine Trennung zwischen Sakralem und Profanem. Das kennzeichnet diese Kulturform als durchgängig spirituell. Daher lassen sich, ohne etwas über matriarchale Spiritualität zu wissen, weder ihre weltanschaulichen noch ihre politischen, sozialen oder ökonomischen Muster verstehen.“ Und so weiter. Also, ich vertrete demgegenüber die These, dass das Heilige das Seltene sein muss, nach Heide Göttner-Abendroth wahrscheinlich eine typisch patriarchale These.

Viertens. „Gibt es nun das falsch Heilige? In gewisser Weise ja. Es gibt das angemaßt Heilige, die heilige Gebärde, die imperiale Gebärde heiliger Macht, des Heiligen Krieges, der heiligen Drohung. Auch das Hakenkreuz war heilig. Dem Führer galt das Heil. Das Heilige kann gesetzt werden, doch nicht vollständig. Das Falschgeld gibt es nur, weil es echtes Geld gibt, sagt sinngemäß Rumi. Wir statten das Falsche und Angemaßte mit den Attributen des echt Heiligen aus. Wir verleihen ihm die Aura der wirklich sakralen Würde. So gesehen stiften wir das Heilige.“

Fünf. „Ohne das Heilige kann es keine Spiritualität geben. Wahrscheinlich bedarf der Mensch des Sakralen. Er bedarf des Wirklichen, des eigentlichen, des gemeinten Menschen, des ganzen, des vollständigen Menschen. Er bedarf dieses hohen Bildes, um nicht unterzugehen im Meer der Bruchstücke, Treibgut der zerschmetterten und verratenen Ganzheit.“ Das erleben wir ja. Wir sehen ja überall die Fragmente, wir sehen das Treibgut der zerschmetterten und verratenen Ganzheit nun wahrlich überall. „Der Mensch ersehnt das Heil, das Heile, das Ganze, das Heilige als das Heilende. Das Fragment ersehnt die Ganzheit. Das Heilige ist oft, nicht immer, auch das berühmte Schöne, Gute und Wahre“, dieser neuplatonischen Trias. „Es ist die Manifestation dieser Trias, aber es manifestiert sich, indem es sich verbirgt. Es zeigt sich, indem es sich verschließt. Es enthüllt sich, indem es sich zurückzieht. Es zieht an und stößt doch ewig ab, so reißt sein Zauber nie ab.“ Das ist das, was ich ja immer wieder auch gesagt habe in dieser Vorlesungsreihe, dass die Natur auf eine rätselhafte Weise sich verbirgt und entbirgt, im Goetheschen Sinne geheimnisvoll offenbar ist.

Ich stieß heute beim Durchblättern einiger Bücher auf ein wunderbares kleines Goethe-Gedicht, was ich hier anführen möchte, was im Zusammenhang mit der Metamorphose der Pflanzen steht. Da heißt es in diesem Sechszeiler von Goethe:

„Müsset im Naturbetrachten

immer eins wie alles achten.

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen.“

‒ Nichts ist nur drinnen, nur draußen ‒

„Denn was innen, das ist außen,

so ergreifet ohne Säumnis

heilig öffentlich Geheimnis.“

Wunderbar gesagt, heilig-öffentlich Geheimnis. Das trifft auch für die Natur, das trifft für die Pflanzen zu, sind ein heilig-öffentliches Geheimnis.

Acht. „Das Heilige kommt aus den Zonen des Todes. Es sendet ein Licht, das von drüben kommt. Sakralität ist Todesnähe. Das Heilige wird als groß empfunden. Es kann dich zerstrahlen, wenn du kein Widerpart sein kannst, wenn es zu groß ist für deine Kleinheit.“

Neun. „Das Heilige liegt nah am Dämonischen. In seinen letzten Ausläufern pendelt es zwischen dem Lächerlichen und dem Teuflischen. Der Teufel ist der Großmeister der falschen Heiligkeit. Das Heilige ist nicht denkbar ohne das Göttliche, ohne die Götter. Gibt es die Götter, gibt es das Göttliche, muss es auch das Heilige geben, vielleicht auch die Heiligen im Sinne von die ganzen, die vollständigen, die geglückten Menschen. Nietzsches Kritik am Typus des Heiligen ist gerechtfertigt dort, wo das falsch Heilige berührt wird. Beim wirklich Heiligen greift sie fehl.“

Zwölf. „Das Heilige droht und tröstet zugleich. Es verheißt und es verdammt. Es sendet, und es hüllt sich in undurchdringliches Schweigen. Es will nicht erkannt und geschaut werden, und will doch und zugleich gerade dies und nur dies.“

Und dann der Schluss. „Die Natur als heilig zu nehmen, einfach so, und in dem bekannten Sinne, also die Natur da draußen, führt nicht weiter, weil dann das Heilige auf eine falsche Weise in die Welt ausgegossen wird. Derart büßt das Heilige sein Tremendum ein, und ohne Tremendum ist das Heilige das, was ohnehin der Fall ist, also das Profane oder eben ein Tummelplatz des Unverbindlichen. Das Heilige ist selten und fern und verbindlich. Es duldet keine ironische Distanz. Es will dich ganz. Es will ich in Gänze durchwalten. Es will dich transformieren und beherrschen. ,Hüte dich wohl. Es ist schon spät. Es ist schon kalt. Kommst nimmer mehr aus diesem Wald‘, singt die Hexe Lorelei in dem berühmten Heine-Gedicht, das Schumann vertont hat. So ist das Heilige stets gefährlich und niemals harmlos. Wer das Harmlose will, weiß nichts vom Heiligen. Harmlos ist das Unverbindliche, und gerade das ist das Heilige nicht.“ Und so weiter. ‒

Also, einige Überlegungen vor viereinhalb Jahren von mir einmal aufgeschrieben über das Heilige. Das kann man ein bisschen jetzt im Bewusstsein behalten.

Die Frage nach dem heiligen Ort im Zusammenhang mit den heiligen Pflanzen ist uns ja bei Eleusis begegnet. Und dieses Heft hier hat das Thema „Archäologie des Unsichtbaren“. Es geht der Frage, unter anderem der Frage nach, ob bestimmte Plätze, die in vergangener Zeit eine Sakralität hatten, die Weihestätten waren, etwa Eleusis in der Bucht von Salamis, auch heute noch etwas davon spiegeln oder atmen oder manifestieren. Da gibt es etwa einen Essay von einem gewissen Robert Wallace, einem Archäologie-Professor, ein Engländer, „Wem gehören die heiligen Orte? Neo-Schamanismus als Herausforderung für die Archäologie“. Also was heißt das? Der Demeter-Kult existiert nicht mehr, seit 17, 1800 Jahren, vielleicht auch etwas weniger lang. Was heißt das? Bedeutet das, dass der Ort Eleusis, Elefsina, heute 22 Kilometer von Athen entfernt, endgültig entsakralisiert ist? Oder gibt es die Möglichkeit, an dieser Stelle anzuknüpfen an eine alte, an eine sehr alte Sakralität im Sinne dieser Weihestätte. Sheldrake zum Beispiel, in mehreren seiner Bücher, behauptet das mit einigen Gründen. Er bringt das in Zusammenhang mit seiner These von der morphischen Resonanz. Er meint tatsächlich, dass Orte dieser Art in gewisser Weise in eine Resonanz treten können mit ihrer eigenen Vergangenheit. Dass also auch viele Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende nach der lebendigen Wirklichkeit solcher Kulte etwas noch in dem Feld vorhanden ist, in der Aura, wenn man will, in einem lebendigen Ganzen, das quasi eingespeist ist. Sehr schwer diese Frage, die wird in diesem Heft hier auch ventiliert: „Archäologie des Unsichtbaren“. Was kann der Archäologe davon möglicherweise mitbekommen?

Die Frage einer Wiederanknüpfung an die Sakralität der Erde habe ich in verschiedenen Zusammenhängen dargestellt.


(Sie kommen, mich stört das nicht. Ich kann das ganz gerne auch hören, mit halbem Ohr sozusagen. Das höre ich gerne, das beschwingt mich eher.)

Also, in dem Buch „Was die Erde will“ zum Beispiel gibt es ein Kapitel, das beschäftigt sich mit dem Thema Spiritualität, Tiefenökologie und Bewusstseinsforschung. Die Herausforderung transpersonaler Erfahrung, und da gibt es einen Unterabschnitt mit dem Titel „Die Grenzerfahrungen und das Heilige“, was genau dieses Thema berührt einer möglichen Re-Sakralisierung oder Re-Integration der menschlichen Wesenheit mit Pflanzen, mit der Intelligenz der Demeter. Denn das gehört zusammen. Das habe ich ja Ihnen versucht zu verdeutlichen mit meiner Vorstellung vom Pflanzen-Selbst, das behaupte ich ja, es gibt ein Pflanzen-Selbst im Menschen, dass diese Verbindung in gewisser Weise herstellt, diesen Kontakt auf eine lebendige Weise tatsächlich ermöglicht. Das ist keine Theorie, keine abstrakte, postulierte, keine abstrakte philosophische Idee, sondern es ist eine existenzielle Wirklichkeit.

Die Grenzerfahrung, das Heilige. „Von dem Heiligen war bereits im Zusammenhang mit den heiligen Bergen und ihrer geomantischen Bedeutung die Rede. Und zweifellos ist die Frage einer möglichen Re-Sakralisierung, Wieder-Heiligung der Erde, für eine tiefenökologische Perspektive von zentraler Wichtigkeit.“ Das kann man schlechterdings nicht leugnen, dass das so ist. „Ohne einen gewissen Grad an Re-Sakralisierung wird es nicht möglich sein, Landschaften, Tiere, Pflanzen, von mir aus auch Ökosysteme vor dem brutalen Zugriff der Megamaschine zu bewahren“, der ja existiert. Ich habe das hier auf dem Bahro-Kongress vorgestern noch einmal ganz dezidiert gesagt, die ökologische Krise gibt es, auch wenn man nicht ständig von ihr redet und viele meinen, sie existiert nun gar nicht, das ist also eine Täuschung. Sie existiert wirklich, und die Megamaschine existiert auch wirklich und die Erde wird wirklich zerstört, das ist kein Phantasiegebilde, auch wenn man nicht mehr gerne davon spricht. „Es geht umfassend um Kommunikation und, ja auch das, Kommunion mit der Erde, die damit zur Erde, zu Demeter wird. Und das Kardinalproblem besteht heute und in der näheren Zukunft darin, wie sich eine echte Verbindlichkeit in der Verbindung mit der Erde herstellen lässt. Dass sie nicht verordnet werden kann, ist evident.“ Das kann man nicht, kann man ja nicht verordnen, „Du sollst“, im Sinne eines Postulats, die Pflanzen sakralisieren. Das hab ich vorhin schon angedeutet, das wäre geradezu absurd. „Das Heilige in der Natur wird wahrgenommen oder eben nicht wahrgenommen. Es hat eine kulturell gewachsene Präsenz oder eben nicht.“ Hier muss man natürlich sagen, das sage ich hier zum ersten Mal in dieser Vorlesung im Sommersemester, dass alle diese Fragen selbstverständlich immer eine starke sozial-ökologische Dimension haben, überhaupt eine soziale Dimension, natürlich auch eine strukturelle, eine institutionelle, eine politische Dimension. Das ist doch ganz klar, auch wenn diese Dinge nicht ständig von mir erwähnt werden. Das ist nicht im Belieben des hier Einzelnen gestellt. Das hat aufs Ganze der Wirkenden immer auch eine sozial-ökologische Komponente. Der eleusinische Demeter-Kult in der Antike war auch ein sozial-ökologisches Phänomen. Es wurde nicht deswegen über Jahrtausende, über anderthalb tausend Jahre praktiziert, weil das eine tiefe Erfahrung für Einzelne war, das war auch eine soziale Verbindung, die immer wieder neu hergestellt wurde, sonst hätte sich der Kult gar nicht halten können.

Also, „es hat eine kulturell gewachsene Präsenz oder eben nicht. Verbindlichkeit kann sich nur durch Erfahrung herstellen. Und da helfen zum Beispiel Rituale, geomantische, an alte spirituelle Traditionen anknüpfende, diese aber zugleich überschreitende Gemeinschaftsübungen. Ralph Abraham, ein kalifornischer Mathematiker, der sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt hat, sagt, und dem möchte ich im Grunde zustimmen. Zitat Ralf Abraham: ,Ich glaube, das Wichtigste, was wir tun müssen, um die Welt zu retten oder wenigstens um Hoffnung in dieser Richtung haben zu können, ist die Neu-Anknüpfung an das Heilige. Der fallen gelassene Faden dieser Verbindung muss für einen größeren Teil der Menschheit wieder aufgenommen werden. Dieses Programm nenne ich, sagt Abraham, die Wiederheiligung der Erde.‘

Soweit ich weiß, gibt es nur wenige Vorschläge zu direktem Handeln in dieser Richtung.“ Jetzt entscheidend. „ ,Der Kernpunkt‘, immer noch Abraham, ,ist eine tatsächliche Verbindung mit dem Heiligen. Ich glaube nicht, dass wir eine archaische Erneuerung bekommen, indem wir einfach zurückgehen.’“ Von der archaischen Erneuerung spricht zum Beispiel der vor zwei Jahren verstorbene Neo-Schamane und Psychologe Terence McKenna, der in Hawai gelebt hat. Also „,ich glaube nicht, dass wir eine archaische Erneuerung bekommen, indem wir einfach zurückgehen. Wir müssen unsere Archäologie des Wissens zu dem Punkt treiben, wo wir das Wesen dessen begreifen, was damals geschah und es dann in moderne Formen umsetzen.’“ Also nicht einfach eine Wiederanknüpfung, eine Wiederauflage alter Kulte, etwa alter Mysterienkulte, die ganze Frage nach einem neuen Eleusis. Das kann so nicht gehen. Das kann auch nur zu einem Programm werden, das scheitern muss in dieser Form. Zitat Ende.

„Wir müssen, um die Formel von Sloterdijk aufzugreifen, einen ritualisierten Grenzverkehr mit der Erde ins Werk setzen. Ein Grenzverkehr, der ja ein sinnlicher, physischer und ein übersinnlicher, metaphysischer zugleich ist. Ohne Gaia bleibt auch Demeter stumm oder unsichtbar. Wir brauchen so etwas wie einen neuen Demeter-Kult, und der ist nicht im Handstreichverfahren zu gewinnen. Und es ist schon schwierig, auch nur [in] die Nähe dieser Möglichkeit zu gelangen. Zu schwer lastet noch immer auf uns allen, was Gottfried Benn als zentrales Verhängnis bezeichnet hat, die Trennung zwischen Ich und Welt, die schizoide Katastrophe und damit das fortgesetzte Ringen um den Begriff Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die sich eben nicht mehr von selbst versteht, die abhanden gekommen ist.“ Das muss man in aller Schärfe und schmerzlichen Schärfe sagen: Es geht wirklich um eine, um die oder eine Wiedergewinnung, eine Wiedereinführung auch an die Wirklichkeit. Das ist einer der schwierigsten Begriffe überhaupt. Was ist Wirklichkeit?

Wie können wir überhaupt wirklich werden, wo wir offenbar uns so in eine Unwirklichkeit hineinmanövriert haben … „die abhanden gekommen ist oder in der wir Fremde geworden sind, Outcasts, heimatlose Zigeuner, Winterreisende. Die ökologische Krise ist ein überwältigender Ausdruck von Wirklichkeitsverlust. Den epochalen Winter ‒ Padrut ‒ kann man nicht einfach an einen alten, längst erloschenen Kult in neuer Form auf neuer Ebene anknüpfen, auch nicht mit Psychedelika, wie Terence McKenna meint. Gleichwohl gibt es hier einen machtvollen Impuls, der nur noch keine kulturell verbindliche und überzeugende Gestalt gefunden hat.“ Das glaube ich. Es gibt diesen Impuls und darauf vertraue ich auch. Sonst wäre es ein müßiges Reden ohne dieses Vertrauen. „Ohne Eleusis, ohne den eleusinischen Demeter-Kult und zwar in seiner Substanz jenseits der konkreten Form im antiken Griechenland wird es nicht möglich sein, die integrale Tiefenökologie sozial zu verankern, ihr eine soziale Form zu verleihen.“ Das habe ich Ihnen ja dargestellt, dass der Demeter-Kult auf eine einzigartige, menschheitsgeschichtlich einzigartige Weise die Verbindung hergestellt hat zwischen einem Mutter-Mysterium, einem Erdmutter-Mysterium in Verbindung mit dem Kreislauf der Pflanzen am Beispiel des Korns ‒ und einer Initiation, dem ständig aufs Neue, Jahr für Jahr aufs Neue verwirklichten Durchgang durch die Todesschwelle, durch ein Todeserlebnis. Das berichten ja, oder es wird ja von den Initianden berichtet, ohne dass wir im Einzelnen wissen, was passiert war. Wir haben über diese Fragen ja gesprochen, ob in Eleusis möglicherweise eine psychotrope Substanz verwendet wurde. Wir wissen es nicht. Keiner weiß das, aber eine Möglichkeit zumindest besteht. Dass es sich so verhalten hat. „Psychoaktive Substanzen als Reagenzien des Heiligen ‒ Sloterdijk ‒ das bedarf der näheren Bestimmung. Es ist schwierig, in einer weitgehend hysterisierten Öffentlichkeit der schlichten Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass bestimmte psychoaktive Substanzen, Psychdelika, auch heute noch in der Lage sind, Bewusstseinszustände zu induzieren, die eine echte Erfahrung des Sakralen ermöglichen.“ Eine zentrale These des Buches „Die Speisen der Götter“ von Terence McKenna, das auch im Literaturverzeichnis angegebenen ist.

Gut, ich will jetzt auf Terence McKenna eingehen. Ich habe noch mal sehr gründlich mir dieses Buch „Die Speisen der Götter“ angeschaut für diese Vorlesung und will da anknüpfen. Terence McKenna hat in diesem interessanten Buch, das vor zehn Jahren erschienen ist, den Versuch gemacht, genau dies, was ich hier als Thema formuliert habe, in den Mittelpunkt zu stellen, nämlich folgende Frage: Welche Möglichkeiten gibt es für den Menschen heute, auf eine authentische Weise, sich wieder den Pflanzen zu verbinden und damit, und dem stimme ich vom Wort her zumindest zu, und damit auch zu verbinden mit der Intelligenz der Erde, mit der Intelligenz von Gaia. Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, ist schon immer wieder angeklungen. Denken Sie an meine Überlegungen und Aussagen zur Phänomenologie, nicht, zur denkenden Anschauung im Sinne von Goethe, die bei McKenna überhaupt keine Rolle spielt. Nicht, das scheint ihn gar nicht zu interessieren, was eine Schwäche dieses Buches ist. Aber das soll uns nicht daran hindern, trotzdem auch die Stärken einmal zu betrachten.

Wir haben ja im Zusammenhang mit den psychoaktiven Pflanzen vor einer Woche die Frage auch gestellt: Wie ist es möglich, dass bestimmte Pflanzen in der menschlichen Psyche solche unglaublichen Auswirkungen haben können? Also wie ist es möglich, dass dramatische, dass Bewusstsein überflutende, überwältigende Vorstellungen, Imaginationen und Durchbrüche passieren? Das wissen wir nicht. Das weiß niemand. Auch Albert Hofmann, der große Chemiker, und auch Richard Schultes, der Ethno-Botaniker, sie sagen, andere sagen es auch, es ist ein Mysterium. Wenn man chemisch das analysieren kann, herausdestillieren kann, das kann man ja mittlerweile, das bleibt trotzdem das Mysterium. Letztlich weiß niemand, warum das so ist. Es ist eine Frage, die wahrscheinlich zu tun hat mit den Tiefen der kosmischen Entwicklung überhaupt. Aber letztlich ist es unbekannt. „Die Verwendung von Pflanzen“, schreibt Terence McKenna in dem Buch „Die Speisen der Götter“ „wie die oben beschriebenen, wird uns helfen, das kostbare Geschenk einer Partnerschaft mit Pflanzen zu verstehen, das zu Beginn der Zeit verlorenging. Viele Menschen sehnen sich danach, an diese Tatsache über ihre wahre Identität herangeführt zu werden. Diese grundlegende Identität ist es auch, die von einer halluzinogenen, psychoaktiven Pflanze deutlich angesprochen wird. Die eigene wahre Identität nicht zu kennen, bedeutet, ein sich wie wahnsinnig gebärdendes, seiner Seele beraubtes Ding zu sein, ein Golem.“ Das ist nun sehr scharf und radikal formuliert, aber kaum ernsthaft zu entkräften.

Ohne ein Verständnis der eigenen Identität ist man eigentlich ein Ding, ein an der Seele beraubtes Ding, ein Golem. „Und tatsächlich lässt sich dieses Bild, so widerlich es auch nach Orwell klingt, auf die Masse der Menschen anwenden, die heute in den hochtechnisierten industriellen Demokratien leben. Ihre Authentizität besteht aus ihrer Fähigkeit, die durch die Medien vermittelten Veränderungen im Lebensstil der Masse zu befolgen und mitzumachen, von minderwertiger Nahrung und dem Müll aus den Medien überschüttet, eingebettet in die politischen Machenschaften verkappter Faschisten, sind sie dazu verdammt, ein vergiftetes Leben mit geringer Bewusstheit zu führen.“ Ja, nun wollen wir mal den McKenna dann auch so zu Wort kommen lassen. „Durch den ihm täglich verordneten Schuss einer Dosis Fernsehen ruhig gestellt, sind sie lebende Tote, die außer zum Akt des Konsums zu nichts mehr fähig sind.“ Das mag sehr radikal klingen. Niemand wird ernsthaft leugnen, dass ein Gran Wahrheit da drin steckt. Man kann es noch radikaler übrigens formulieren, als es McKenna macht. Es ist auch gut, dass man mal die Dinge so in dieser Radikalität betrachtet, weil, das muss man, weil man sonst sich des Zugangs oder des Verständnisses [ver-]/be-gibt, wie überhaupt diese Zugänge möglich sind. Es ist ja nicht so, dass diese Zugänge einfach so gegeben sind. Das sage ich ja auch immer wieder. Es ist ja nicht so, dass man einfach einen reinen, einen unverfälschten, einen nicht kontaminierten Zugang haben könnte, eröffnen könnte, einfach so, das geht nicht. Wir alle sind Erben einer langen Bewusstseinstradition und müssen auch mittels des Denkens, mittels der intensiven geistigen Beschäftigung diese eigenen Voraussetzungen versuchen zu verstehen, in das Dickicht der eigenen Voraussetzungen eintauchen. Dabei bleibe ich, das habe ich immer wieder gesagt. Das muss ich auch immer wieder sagen, um einer Illusion nicht aufzusitzen, als ob das einfach wäre, als ob man das eben so mal realisieren könnte.

„Es ist für uns an der Zeit, in einen Dialog zu treten, der auf einer objektiven Einschätzung dessen beruht, was unsere Kultur tut und bedeutet. Noch weitere 100 Jahre so zu tun, als wäre alles in Ordnung, ist undenkbar. Dogmen und Ideologien sind überholt. Ihre bösartigen Annahmen erlauben uns, die Augen vor unserer abscheulichen Destruktivität zu verschließen und selbst jene Ressourcen zu plündern, die eigentlich unseren Kindern und Enkeln gehören. Unsere Spielzeuge belügen uns nicht. Unsere Religionen sind nicht viel mehr als Wahnvorstellung. Unsere politischen Systeme sind ein groteskes Nachäffen dessen, was wir ursprünglich damit beabsichtigten. Hilfe aus der Natur bedeutet zu erkennen, dass religiöser Impuls nicht durch ein Ritual und noch weniger durch ein Dogma befriedigt wird, sondern vielmehr durch“ ‒ jetzt seine These ‒ „fundamentale Erfahrung, die Erfahrung der tiefen Symbiose mit psychoaktiven Pflanzen und anderen und dass durch sie das Erlebnis einer Symbiose mit der Gesamtheit planetarischen Lebens.“

Das ist nun seine sehr radikale, vollkommen kompromisslos hingestellte These, dass die ritualisierte Neubelebung psychoaktiver Substanzen eine Möglichkeit wäre, sich der Intelligenz von Gaia auf neue Weise zu vergewissern, jenseits religiöser Überzeugungen. Das hat er kompromisslos und direkt vorgetragen. Das hat ihm natürlich viel Kritik eingetragen, als sei er nun ein Propagandist der Drogen. Das ist viel zu vereinfacht gesagt. Es geht bei ihm um einen ganz bestimmten Zugang, der nicht einfach zu benennen und schon gar nicht einfach zu praktizieren ist. „Nun müssen wir uns die gesuchte und gefundene Antwort ansehen. Vor uns flackert eine Dimension auf in diesen Erfahrungen, die so gewaltig ist, dass sich ihre Umrisse kaum noch im menschlichen Koordinatensystem fassen lassen. Unsere tierhafte Existenz, unsere planetarische Existenz geht ihrem Ende entgegen.“ Das glaubt er, nicht, das hat er immer wieder gesagt, er glaubt, dass das nicht mehr lange weitergehen kann. „In geologischen Zeiträumen gerechnet ist dieses Ende jetzt nur noch wenige Augenblicke entfernt. Unsere Zukunft liegt im Bereich des Geistes. Die einzige Hoffnung unseres erschöpften Planeten auf ein Überleben besteht darin, dass wir uns in diesem Geist wiederfinden und aus ihm einen Freund machen … werden lassen, der uns wieder mit der Erde vereinigen kann. Es ist ein um ein Vielfaches größerer und radikalerer Wandel als je zuvor, steht uns unmittelbar ins Haus. Schamanen haben die Gnosis der Erreichbarkeit des Anderen über Jahrtausende hinweg bewahrt. Die Konsequenzen dieser Situation beginnen sich erst gerade zu entfalten.“

Also, er meint, dass es eine Möglichkeit gibt, über die Pflanzen, über die Verbindung mit ganz bestimmten psychoaktiven Pflanzen, eine elementare, eine existenzielle, eine wirkliche Verbindung mit Gaia zu erreichen. Ich sage es nochmal, Terence McKenna weiß nichts von einem denkenden Anschauen, Schauen im Sinne von Goethe. Diese Gedanken sind Ihnen viel zu, sagen wir mal, distanziert, nüchtern, wenn man das so nennen will. Aber, man kann diese Ansätze miteinander verbinden, und das ist ja auch etwas, was ich in dieser ganzen Vorlesungsreihe versucht habe, diese ganz verschiedenen Ansätze zusammenzuschließen. Synergetisch von mir aus, um ein wunderbares Modewort mal zu verwenden. (…)

… hier das genaue denkende Beobachten, wo auch immer wieder die Sakralität der Natur zum Tragen kommt. Das finden Sie in allen Goethe-Ausgaben der Gedichte, die berühmte Metamorphose der Pflanzen. Nur mal einige Zeilen hierzu:

„Dich verwirrt, Geliebte, die tausendfältige Mischung

des Blumengewühls über dem Garten umher.

Viele Namen hörest du an, und immer verdränget

mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr.

Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleicht der andern;

und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz.“

Und dann heißt es später:

„Und dem Reiz des Lichts, des heiligen, ewig bewegten

gleich den zartesten Bau keimender Blätter entfiel.“

Und das Licht hier als heilig, und dann sehr schön am Ende, denn man müsste eigentlich das ganze Gedicht vorlesen, interpretieren, das wäre eine eigene Vorlesung, das mache ich jetzt nicht. Wunderbares Gedicht.

„Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.

Jede Pflanze verkündet dir nun die ewgen Gesetze,

jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.

Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern“

‒ die Buchstaben der Göttin, sagt da der Goethe ‒

„Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.“

Also die Pflanzen, die Metamorphose der Pflanzen als eine Manifestation des geheimen Gesetzes der Dinge, der Göttin heilige Lettern, der Göttin heilige Buchstaben, ganz im Sinne dessen, des geheimnisvoll Offenbaren, wie das bei Goethe ja immer wieder zum Ausdruck kommt.

Bei dieser Frage der Beziehung zu den Pflanzen ist man immer an einem entscheidenden Punkt. Man kommt immer an einen entscheidenden Punkt, der auch schon verschiedentlich angeklungen ist. Man kommt nämlich immer an den Punkt der ontologischen Barriere zum Pflanzenreich, die es ja gibt, und man kommt an den Punkt der menschlichen Selbst- oder Ichhaftigkeit. Gibt es eine Möglichkeit, das habe ich ja verschiedentlich gefragt, eine Re-Sakralisierung, eine Re-Integration in die Intelligenz von Gaia, eine Wiederverbindung mit den Pflanzen ohne die Errungenschaft des Selbst, des Ich-Impulses aufzugeben? Das halte ich in der Tat für eine ganz große Errungenschaft der geistigen Entwicklung, der geistigen Evolution im Sinne auch von Ken Wilber, Spirit of Evolution, dass eine integrierte Ichhaftigkeit entstanden ist. Das ist nicht zu verwechseln mit dem verdünnten und pervertierten Ego des modernen Menschen, sondern das ist das Selbst, das Ich in der Tiefe. Und da liegt eine entscheidende Stelle. Das muss man immer mitbedenken, damit man nicht bei dieser Frage in einen, sagen wir mal, regressiven, in diesem Sinne dann neo-schamanischen, regressiven Schub hineinkommt.

Nochmal Terence McKenna, der an dieser Stelle zumindest sehr nahe kommt an diese Art von regressiven Schub, obwohl er dann auch wieder andere Äußerungen hat, wo er das zurücknimmt. Aber er kommt da sehr nah. Ich lese mal nur zwei Stellen vor, wo das ganz deutlich wird, dass er eine Bewusstseinsevolution in diesem Sinne nur mit großen Einschränkungen überhaupt akzeptiert. Er meint ja geradezu, man muss da anknüpfen und dann hätte man diese Re-Integration geleistet, was ich ja auf gar keinen Fall glaube, weil das einfach nach meiner Überzeugung eine pure Illusion ist. „Der weltweite Triumph westlicher Wertvorstellung bedeutet, dass wir uns als Spezies“, meint er, „wegen des Fehlens einer Verbindung zum Unbewussten in einem Zustand anhaltender Neurose verloren haben.“ Zugegeben, das ist so, auch er spricht von einer kollektiven Neurose. Wenn wir durch die Verwendung bestimmter psychoaktiver Pflanzen Zutritt zum Unbewussten erhalten, bekräftigt das unsere ursprüngliche Bindung an den lebendigen Planeten“, hebt also in diesem Sinne, meint McKenna, die Neurose auf. „Und zur Entfremdung von der Natur und vom Unbewussten verfestigte sich vor etwa 2000 Jahren, und zwar in der Zeit des Übergangs vom Zeitalter des großen Gottes Pan in das der Fische, in der auch die Unterdrückung der heidnischen Mysterien durch den Aufstieg des Christentums erfolgte.“ Darüber haben wir auch gesprochen, dass das Christentum massiv gegen den eleusinischen Demeter-Kult vorgegangen ist, aus verschiedenen Gründen.

„Die psychologischen Veränderungen, die sich daraus ergeben, hinterließen eine europäische Zivilisation, die mit starrem Blick auf zwei Jahrtausende religiösem Wahn, Verfolgung, Krieg, Materialismus und Rationalismus zurückschaut, die in die moderne Zeit hineingetragenen monströsen Kräfte des wissenschaftlichen Industrialismus, der Weltpolitik, entstanden, als sie symbiotischen Beziehung mit den Pflanzen zerschlagen wurden.“ Das ist sicher richtig, als die symbiotischen Beziehungen mit den Pflanzen zerschlagen wurden und damit die symbiotischen Beziehungen überhaupt mit Gaia, mit Demeter, auch mit der Intelligenz von Gaia. Aber auch darüber haben wir schon gesprochen. Bis zu einem gewissen Grade war es notwendig zur Herauskristallisierung des mentalen Selbst, diese Verbindungen abzuschneiden. Ich habe das ja ausführlich im Zusammenhang mit der Bewusstseinsgeschichte und [in] „Was die Erde will“ dargestellt. Da habe ich auch nichts von zurückzunehmen.

„Schreckliche Angst vor dem Sein war der Nährboden für die Entstehung des Christentums, dieses Kultes einer endgültigen Vorherrschaft des entfesselten männlichen Egos.“ Ganz dezidiert sagt er das. „Die Abkehr von Riten, die mit visionären Pflanzen das Ego auflösen, macht es möglich, dass das Ziel einer anfänglich auf individueller Ebene vollzogenen schlechten Anpassung zum Leitbild des gesamten gesellschaftlichen Organismus wurde. Der Drang nach einheitlicher Ganzheit innerhalb der Psyche, der in hohem Maße instinktiver Natur ist, kann trotzdem pathologisch werden, wenn ihm in einem Kontext nachgegangen wird, indem die Auflösung von Grenzen und die Wiederentdeckung des Seinsgrundes unmöglich gemacht wird. Der Monotheismus wurde zum Überträger des dominatorischen Herrschaftsmodells, dem apollinischen Modell vom Selbst als sonnengleich, um seinen männlichen Ausdruck vollständig. Dieses pathologische Modell hatte zum Ergebnis, dass der Wert und die Kraft der Emotion und der Natur entwertet und durch eine narzisstische Faszination vom Abstrakten und Metaphysischen ersetzt wurde. Diese Einstellung hat sich als zweischneidiges Schwert erwiesen. Sie hat der Wissenschaft die Macht verliehen, Erklärungen zu liefern und sie in die Lage versetzt, moralisch bankrott zu gehen. Energisch leugnet der Monotheismus die Notwendigkeit einer Rückkehr zu einem Kulturstil“, ‒ das ist eine Bemerkung hier von McKenna ‒ „der das Ego und dessen Wertvorstellungen regelmäßig in die richtige Perspektive rückt und zwar durch den Kontakt mit einem Grenzen auflösenden Eintauchen in das archaische Mysterium einer von Pflanzen hervorgerufenen und daher mit der Mutter verbundenen Ekstase und Ganzheit.“

Schwierig, natürlich verständlich und auch nachvollziehbar, aber doch heikel, wenn man bedenkt, dass McKenna ja letztlich, wenn man das wörtlich nimmt, wenn man das explizit macht, nichts weiter sagt, als man müsste über die Verbindung mit ganz bestimmten visionären Pflanzen auch die mentale Ichhaftigkeit zurücknehmen, das sei herrschaftbehaftet, das sei in sich schon die Pathologie. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass da McKenna entscheidend die Dimension der Entwicklung im Bewusstsein unterschätzt oder völlig falsch einschätzt. Ich glaube, das ist ein Irrweg, der in dieser Form nicht weiterführt.

Ich darf noch einmal eine kurze Passage aus „Was die Erde will“ zitieren, wo ich mich auch zu dieser Frage nochmal äußere, zu der Frage des Ichs in dem Zusammenhang: „Wenn alles Werden, Werden hin zu Atman, Werden als Erinnerung und das augenscheinlich im Angesicht und unter der Ägide höherer Intelligenzen, wo stehen dann die Pflanzen? Wie nah sind sie noch am Ursprung? Wie scheint in ihnen das Ziel auf? Das lässt sich nur mutmaßen. Wahrscheinlich sind sie die kollektiven Träger eines kosmischen Bewusstseins.“ Das ist ja nicht das Gleiche wie die Pflanzen-Devas. Das ist sozusagen eine abgemilderte Form. Ich teile nicht diese Überzeugung von den Pflanzen-Devas. Das ist ja auch schon mal in einem Vortrag deutlich geworden. Manche mögen da enttäuscht gewesen sein. Ich habe ja auch schon da einen Anruf bekommen von einem New-Age-Bewegten, der enttäuscht war darüber, dass ich nun nicht diese Gestalten, die doch ganz eindeutig visionäre Menschen sehen können, nun hier dargestellt habe. Also eine Enttäuschung darüber. Das war ja gar nicht meine Absicht, hier in irgendeiner Form diese Überzeugung einfach so zu bedienen. Also die Vorstellung der Pflanzen-Devas in diesem Sinne von Storl halte ich für schwierig, sagen wir mal, doch wahrscheinlich für eine Projektion, so in der Form, obwohl was Wahres dran [ist], glaube ich. „Wahrscheinlich sind sie die kollektiven Träger eines kosmischen Bewusstseins, das ohne Ich oder Selbst auskommt“ ‒ das kann man nun kaum leugnen ‒ angesiedelt irgendwo zwischen Es, Wir und Ich, das Nicht-mehr-Mineral und das Noch-nicht-Tier. Dieses kosmische Bewusstsein ist nur im uneigentlichen Verständnis wirklich Bewusstsein, wie der Mensch es kennt. Es ist Seelenausdruck ohne ichhafte Seele, ohne Schmerz und Freude in unserem Sinne, aber auch im Sinne der höheren Tiere. Was die Pflanzen einfach sind, erd- und lichtverbunden und Träger eines kollektiven kosmischen Bewusstseins, müssen wir in individualisierter Form werden. In einem vom Ich getragenen Bewusstsein könnte das ichlose Wissen der höheren Pflanzen in anderer Gestalt erwachen.“

Das muss ich nochmal lesen, weil das sehr weitgehend ist. „In unserem vom Ich getragenen Bewusstsein, könnte das ichlose Wissen der höheren Pflanzen in anderer Gestalt erwachen bzw. wir könnten“ ‒ und müssten wir auch ‒ „Pflanzenwesen, an das wir ohnehin ständig angeschlossen sind über unser Pflanzen-Selbst zum bewusst und ichhaft erworbenem Wissen machen. Also ohne Regression. Es geht dabei nicht um naturmagische Rückverwandlung, nicht um diese Art Schamanismus, die es ja analog auch in Bezug auf das Tierreich gibt, sondern um einen Neo-Schamanismus ganz neuer Prägung, wenn der Neo-Schamanismus überhaupt das richtige Etikett ist.“

Das heißt nun auch wieder nicht, dass man derartige Erfahrungen auch einer ekstatischen Überschreitung des Selbst nun mit einem Etikett vorschnell versieht, im Sinne einer nur naturmystischen Erfahrung einer vergleichsweise niederen Stufe. Das glaube ich, wird diesen Erfahrungen nicht gerecht. Man muss versuchen, diese Art ekstatischer Entgrenzungserfahrung, die es ja gibt, ernstzunehmen, ohne in gewisser Weise im Sinne des Neo-Schamanismus, der ja weltweit existiert, ohne im Sinne dieses Neo-Schamanismus regressiv zurückzugehen, sondern vorausgehen, trotz aller Pathologien. Und das ist ein heikles Thema. Das werden Sie auch von mir hier nicht erwarten, dass ich nun pauschal und plakativ ihnen sozusagen Methoden an die Hand gebe, wie man das machen kann. Das wäre absurd. Es gibt ganz viele Bücher darüber, die sagen, wie man das machen könnte. Da gibt es viele Möglichkeiten. Ich habe hier eine ausführliche Literaturliste Ihnen gegeben, da kann man auch nachschlagen, da kann man forschen, wenn man das möchte. Also, das ist ein kolossal schwieriges Gebiet. Der moderne Mensch ist in einem so unvorstellbaren Maße neurotisch, abgespalten vom Elementarsten, dass ihm das ganz schwer nahezubringen ist. Und die Erdung, die Rückbindung an auch das Kreatürlich-Sinnliche ist überhaupt die Grundvoraussetzung für alles weitere. Sonst gelangt man in einen vollkommen neurotischen, einen krankhaften Impuls hinein, die Erde zu verlassen, der dann wirklich nur in der Psychiatrie enden kann. Und wenn Ken Wilber von der „Decent of the World Soul“ spricht, vom Herabsteigen der Weltseele als einem großen kollektiven Impuls, dann ist das eine wunderbare Formel. Aber natürlich muss man sich fragen: Was heißt das konkret? Ich habe das ja auch auf dem Bahro-Symposion vorgestern gesagt. Was heißt das? Wie weit gehen wir da? Wovon gehen wir aus? Was erwarten wir? Sehr schwierig. Ungeheuer schwierig. Gibt es das wirklich?

Das muss man jetzt mal, diese Ebene, ansprechen. Ein kollektives Potenzial, das behaupten ja einige, etwa der Amerikaner Paul Ray behauptet ja, 20 bis 25 Prozent der amerikanischen Bevölkerung seien bereit, in irgendeiner Form an dem neuen integralen Denken zu sein, gewissermaßen auf dem Wege zu einer integralen Kultur. 20 bis 25 Prozent ist ja eine riesige Zahl. Wenn ich mir das überlege im Hinblick auf Deutschland, 80 Millionen Menschen, dann davon 20 Prozent. Das ist ja unglaublich. Da würde ich jubeln vor Hoffnung. Dann hätte ich wirklich keine Minute mehr deprimiert [zu] sein. Also das ist erstaunlich. Ken Wilber übrigens äußert sich auch zu diesen Fragen. Der sagt, na ja, so viele sind es nicht. Es ist ein Prozent, immerhin ein Prozent von 80 Millionen, das ist auch etwas. Also das muss man ja bedenken. Deswegen muss ich noch einmal diese geschichtliche Dimension ansprechen, die da ja hineinspielt. Jeder Einzelne kann ja diese Zugänge finden. Er kann die Sezession realisieren von der Megamaschine. Dazu ermuntere ich ja auch. Aber was macht er dann damit? Wie kommen diese Einzelnen zusammen? Wie verbinden sie sich? Was ist der große, tragende, Tiefenimpuls in der Epoche? Und da kann man einfach nur eine gewisse Hoffnung haben. Man muss sie geradezu haben, dass sozusagen, wie ich das auch vorgestern gesagt habe, der Weltgeist mit uns ist. Denn wenn man diese Hoffnung ganz aufgibt, dann kann man gleich … dann braucht man gar nicht erst anzutreten, nicht, das ist klar.

Insofern muss man das in diesem Kontext mit einbeziehen. Das ist nicht isoliert zu betrachten. Man kann nicht sagen, gut, jetzt machen wir diese Pflanzen-Meditation. Auch der Storl gibt wunderbare Hinweise, wie man mit Topfpflanzen meditiert, das ist ja ganz wunderbar. Es kann ja jeder Einzelne ein ganz eigenes, wunderbar zartes Verhältnis entwickeln zu irgendeiner Topfpflanze. Das ist ja großartig. Ich will das auch gar nicht lächerlich machen. Aber die Frage ist doch, wie bettet sich das ein in einen großen, auch geschichtlich relevanten Impuls? Das interessiert doch die Menschen jenseits des nur Individuellen. Und da liegt der entscheidende Punkt, der ungelöst ist, den man aber in irgendeiner Form lösen muss, wenn man die Hoffnung nicht vollkommen aufgeben will. Und da wird man wahrscheinlich zurückgreifen müssen auf Vorstellungen von Bewusstseinsentwicklung überhaupt, wie sie unter anderem Ken Wilber entwickelt hat, aber er ist ja nicht der Einzige, und das in diesen Kontext einbeziehen. Also das ist eine schwierige … , ein schwieriges Unterfangen, und das will ich nie verschweigen. Das habe ich in diesem Semester auch immer wieder betont. Das ist schwierig, das ist nicht naiv und direkt zu erlangen. Es gibt auch in den verschiedensten anderen Zusammenhängen auch wunderbare Impulse, auch von den Anthroposophen übrigens gibt es einige sehr interessante, sehr fruchtbare Impulse zum Umgang mit Pflanzen, unter anderem auch dargestellt in diesem Sammelband „Phänomenologie der Natur“. Man kann das auch jenseits der ideologischen Verfestigung dieser Strömung, dieser Bewegung erkennen. Man kann das unverkrampft, auch fruchtbar machen. Man muss sich da nicht gewaltsam und dagegen abgrenzen. Man kann das aufgreifen und damit wirklich arbeiten, ohne dass man nun das andere alles mit zu übernehmen braucht, was einem ja natürlich nahegelegt wird, aber das muss man ja nicht.

Also ich habe versucht, Ihnen darzustellen, immer wieder in diesen zehn Vorlesungen, dass man das nur in einem, wirklich in einem integralen Zugang von den verschiedensten Ebenen aus realisieren kann, eben existentiell, tiefenökologisch, mittels des Denkens, mittels Tiefenerfahrungen, auch ästhetischer, spiritueller Art. Immer wieder habe ich das gesagt, und das möchte ich auch als Abschluss Ihnen sozusagen mit auf den Weg geben. Das ist für meine Überzeugung die einzige Möglichkeit, wie man sich dem Thema nähern kann. Es gibt so viele Bücher, die auf eine sehr verkürzte Weise sozusagen das Thema darstellen, verengen, auf eine ganz simple Methodik reduzieren oder pure Ideologie liefern. Auf dem Sektor wird ja auch ungeheuer viel Ideologie einfach geliefert. Pure Behauptungen werden in den Raum gestellt. Das hilft uns alles überhaupt nicht weiter. Man muss wirklich versuchen, eine eigenständige Zugangsweise sich zu erarbeiten. Und das kann man nur, es ist wirklich Arbeit, es ist wirklich geistig-seelische Arbeit, die man da leisten muss und zu der ich aber ermuntere, weil sie wirklich lohnend ist. Und sie müssen nicht alle Bücher lesen, die ich da auf dem Literaturzettel habe, aber einige lohnen sich durchaus und sie sind sehr bewusst von mir gewählt worden, diese Bücher.


Ich werde jetzt wieder gefragt, wie ist es mit dem Wintersemester? Es wird dieses Wintersemester von meiner Seite aus nicht gehen. Ich werde nicht im Wintersemester, ich sage es nochmal offen, eine Vorlesung machen, weil das ist eine bewusste Entscheidung von mir. Ich will im Wintersemester mich zurückziehen, mache da und dort andere Seminare und Vorträge. Ich will schreiben und nachdenken. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, dieses Wintersemester keine Vorlesung zu machen. Letztes Sommersemester wussten Sie das nicht, dann haben Sie das Plakat gesehen, dass ich nicht das Wintersemester mache. Ich habe zehn Jahre lang Wintersemester immer auch gemacht. Wie das im nächsten Frühjahr ist, das werde ich rechtzeitig bekannt geben. Über die Medien, wie ich das ja auch diesmal gemacht habe. Sie haben es ja auch mitbekommen. Und im Wintersemester wird es keine Vorlesungen geben. Es gibt da und dort vereinzelte Veranstaltungen, Seminare, die ich mache. Das können Sie auch, wenn Sie das interessiert, immer mal irgendwo lesen, aber keine Vorlesung. Ich meine, dass ich, was diese Wintersemester betrifft, diese zehn Jahre, so viel gebracht habe, vielleicht viel zu viel. Und ich will nicht Dinge wiederholen, die ich schon oft gesagt habe, sondern auch, wenn immer wieder neue Hörer zu den alten dazukommen. Es gibt ja auch eine große Fluktuation. Das will ich einfach nicht. Ich habe genügend geschrieben dazu. Die Bücher gibt es ja. Es gibt wieder das neue Buch, das ich Ihnen sehr ans Herz lege. Das kann man und das sollte man auch studieren. Es gibt im Internet viel, wenn Sie das nachschlagen, was ich da gemacht habe, was da auch von mir und über mich steht.


Also man kann da forschen, wenn man das möchte. Und da muss ich einfach auch ermuntern, das zu tun. Man ist da nicht dann …, man kann da wirklich weiterarbeiten.

Gut, ich möchte dann diese Vorlesung beenden und will auch keine Diskussion machen, weil ich finde, das kann man sich setzen lassen. Man muss nicht immer gleich alles kommentieren. Oft sind diese Kommentare ja auch sehr kurz, also auf den Augenblick bezogen und das muss gar nicht jetzt sein. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Sommer und hoffe, dass ich Ihnen in diesen zehn Abenden einige Impulse vermittelt habe, mit denen Sie selbstständig weiterarbeiten können. Und mehr kann es nicht sein.

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Pflanzen der Götter – Zur Tiefenwirkung psychoaktiver Pflanzen

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 45

Transkript als PDF:


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Ich möchte eine Ergänzung noch bringen zum letzten Mal, diese Ergänzung dann als Brücke benutzen zu dem heutigen Thema: Pflanzen der Götter. Es geht ja also um psychotrope, halluzinogene Pflanzen und Ähnliches.

Wir hatten ja am Ende die Frage gestellt bzw. ich hatte das versucht Ihnen zu verdeutlichen, dass die Mysterienkulte in der Antike nicht restlos kompatibel waren mit der Olympischen Homerischen Religion. Dass das eine im echten Sinne esoterische Unterströmung war, die zwar vielfältige Wechselbeziehung hatte mit der Olympisch-Homerischen Religion aber doch in vielerlei Hinsicht abwich. Die entscheidendste Komponente dieses Abweichen ist die Frage nach der Seele. Ich habe Ihnen das ja versucht darzustellen an dem Gegensatz von Thymos und Psyche. Psyche ist das Individualitätsprinzip im Menschen, schon das Selbst, schon das fokussierte Ich in seinen Vorformen, wenigstens im sechsten und fünften vorchrist­lichen Jahrhundert, bei Homer noch nicht ganz, und Thymos ist ein über-individuelles Prinzip. Ein „autonomer Regungsherd“, wie Hermann Schmitz das nennt oder auch eine Art Lebensprinzip, was den natürlich-kosmischen Kreislauf weitergeht, ohne sich mit dem Einzelnen zu verbinden.

In der antiken Welt der Olympischen Religion ist der Fokus ganz eindeutig gelegt auf die physisch-sinnliche Erfahrungs- und Erscheinungs­welt: der Mensch im Lichte, der Mensch im Lichte des Diesseits, in Anführungszeichen. Es gab Jenseitsvorstellungen vielfältiger Art, eben auch apokryphe, auf die Mysterien bezogene, aber eine restlos in sich konsis­tente Vorstellung im Rahmen der Olympischen Religion hat es nie gegeben. Ich habe das nochmal recherchiert an einem Buch, das mehr als alle anderen Bücher sich mit dieser Frage beschäftigt, das berühmte Buch von Erwin Rohde „Psyche ‒ Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Grie­chen“. Und der stellt hier sehr ausführlich diese Dinge dar und zeigt, wie in der Antike der Hades gedacht wurde, bei Homer und auch in den Jahrhun­derten danach, wie Psyche gedacht wurde, wie der Schatten gedacht wurde als eine Art astrales Double, allerdings eigenartig entpersönlicht, schemen­haft, also nicht herauskonturiert im Sinne einer höheren Individualität. Das ist ein Gedanke, den man erst in den Mysterienreligionen findet.

Zwei kleine Passagen mal aus diesem wunderbaren Buch von Erwin Rohde „Psyche“: „Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig tätig, nur, solange die Psyche in ihm verweilt, aber nicht sie ist es, die durch Mitteilung ihrer eigenen Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkenntnis-Vermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des Lebens und der Tätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen Funktionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese und alle seine Tätigkeiten nicht aus, durch die oder vermittels der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche Tätigkeiten im lebendigen Menschen zu. Sie wird überhaupt erst genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevorsteht oder geschehen ist“. ‒ Ganz wichtig ‒ „Als ein Schattenbild überdauert sie ihn und alle seine Lebenskräfte. Fragt man nun, wie es bei unseren homerischen Psychologen üblich ist, welches bei dieser rätselhaften Vereinigung eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der eigentliche Mensch sei, so gibt Homer freilich widerspruchsvolle Angaben.“ Und dann heißt es hier: „Der Mensch ist nach homerischer Auffassung zweimal da ‒ in seiner wahrnehmbaren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche. Eine solche Vorstellung, nach der in dem lebendigen, beseelten Menschen wie ein fremder Gast, ein schwächerer Doppelgänger“ ‒ das ist wichtig ‒ „ein schwächerer Doppelgänger, ein anderes Ich als seine Psyche wohnt, will uns freilich sehr fremdartig erscheinen“, schreibt Erwin Rohde 1895. „Aber genau dies ist der Glaube der sogenannten Naturvölker der ganzen Erde. Es hat nichts Auffallendes, auch die Griechen eine Vorstellung teilen zu sehen, die im Sinne ur-anfänglicher Menschheit so naheliegt. Wahrnehmen, nichts aus den Erscheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und Denkens im wachen und bewussten Menschen, sondern aus den Erfahrun­gen eines scheinbaren Doppellebens im Traum, in der Ohnmacht und Eks­tase ist der Schluss auf das Dasein eines zweifachen Lebendigen im Menschen, auf die Existenz eines selbstständig ablösbaren zweiten Ich in dem Innern des täglich sichtbaren Ich gewonnen worden.“ Und so weiter.

Bloß, dieses zweite Ich, im Sinne der Homerischen, der Olympischen Religion, ist eine abgeschwächte Form. Dieser astrale Doppelgänger, wenn man ihn so nennen will, ist eine sehr ausgedünnte Form des Menschen in seiner Leiblichkeit. Es gibt eine einzige Ausnahme in der offiziellen Religion der Griechen. Das war der sogenannte Heroen-Kult. Im Heroen-Kult war es anders. Da wurde auch die Vorstellung gedacht, dass es einzelne Menschen, nicht alle, dass es einzelnen Menschen gelingt, eine höhere jenseitige Bewusstseins- und Seinsform zu erreichen. „Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig tätig, nur solange die Psyche in dem verweilt.“ Das hatten wir schon diese Stelle … Das kann ich so paraphrasieren, das muss ich gar nicht vorlesen. Die Vorstellung war in Griechenland verbreitet, dass [es] sogenannte Heroen gibt, einzelne herausragende Menschen, die dann nach ihrem Tode in eine diesmal als höher vorgestellte Seinsform über­wechseln. Wunderbar drückt das aus Pindar [griech. Dichter] in einem Gedicht, das ich Ihnen vorlesen möchte. Ein Gedicht, in dem auch der Gedanke der metempsychosis eine Rolle spielt, der Seelenwanderung, ein Gedanke, der im griechischen Denken nur eine apokryphe Unterströmung war. Da heißt es bei Pindar, zitiert nach Thassilo von Scheffer, „Hellenische Mysterien und Orakel“, das ist ganz im Sinne des Heroen-Glaubens gedacht: „ Die aber vermocht drei Mal in beiderlei Leben verweilend“ ‒ also hier und dort ‒ „die Seele zu wahren unsträflich und rein die wallen hinan den Weg des Zeus zu Chronos‘ Burg, wo Lüfte des Meeres, die Insel der Seligen ewig umhauchen, wo golden erglühen die Blumenkelche von leuchtenden Bäumen am Ufersaum und sprießen dort aus des Wassers Schoß, davon die Gewinde, die flechtend sich legen um Stirn und Arm kraft Rhadamanthys‘ gerechtem Spruch.“ Rhadamanthys war ein als gerecht angesehener König auf Kreta.

Hier wird also eine Jenseitsvorstellung aufgestellt, aufgebaut. Die Seele weilt in einem anderen jenseitigen Zustand, der aber kein abstraktes, kein vollständig nicht-leibliches Etwas ist, sondern der vielerlei Verbin­dungen aufweist. „Die Lüfte des Meeres, die Insel der Seligen ewig umhau­chen, wo golden erglühen die Blumenkelche.“ Also eine Art gesteigertes Diesseits, als Wohnort einzelner, herausragender, in diesem Sinne heroisch verstandener Menschen. Das sind zwei völlig verschiedene Vorstellungen, und in den Mysterienkulten wird, ganz stark beeinflusst von der Orphik, ja der Gedanke gedacht und auch praktiziert, dass die physisch-sinnliche Existenz nur eine Durchgangsstation ist zu einem höheren jenseitigen Sein. Das Faszinierende an dem eleusinischen Demeter-Kult ist ja gerade, dass wir auf der einen Seite einen Naturkult haben, auf der anderen Seite aber einen Kult, in dem es um eine initiatorische Jenseitserfahrung geht, um ein Todes-Erlebnis, was in diesem Mysterium in Eleusis ganz bewusst über anderthalb tausend Jahre hinweg initiiert wurde. Wie das möglich war, ist und bleibt ein Rätsel. Es ist durchaus möglich, dass in diesem Falle eine psychotrope Substanz im Spiele war.

Es gibt aber auch zu der häufig dargestellten These vom Mutterkorn-Bier erhebliche Gegenargumente. Zum Beispiel bringt Terence McKenna, der an sich dieser These zuneigt, ein nicht unwichtiges Gegenargument folgender Art: Wenn Mutterkorn-Bier hinter dem eleusinischen Mysterium stand, wie konnte dies dann über so viele Jahrhunderte hinweg genommen werden, ohne dass in den Legenden irgendetwas über unangenehme Nebenwirkungen zu hören war? Die gab es nämlich bei Claviceps in erstaunlichem Maße. Es gab ja ganze Mutterkorn-Epidemien. Wie ist es gelungen, das herauszufiltern? Das wissen wir nicht. Das bleibt letztlich spekulativ. Auf jeden Fall ist es möglich, dass in Eleusis eine psychotrope Substanz eingesetzt wurde.

Nun will ich Ihnen heute darstellen die Frage: Was sind sogenannte „Pflanzen der Götter“ und welche Wirkung haben diese Pflanzen? Und auch, wie können wir diese Wirkung verstehen? Wie können wir uns damit auseinandersetzen? Man muss sich grundsätzlich darüber im Klaren sein, dass man bei diesen Fragen ein schwieriges Terrain betritt. Das ist ein vielfältig vermintes Terrain, ein kontaminierter Boden. Alles was man sagt zu diesem Thema, fällt ja in eine bestimmte Bewusstseinsform, die sich als die herrschende darstellt. Und alles was zu diesem Thema gesagt ist, ist nicht loszulösen von der Dominanz dieser Bewusstseinsform, die ich immer wieder charakterisiert habe als eine im Grunde genommen pathologische, als eine kollektive Neurose, also was Arno Grün den „Wahnsinn der Norma­lität“ nennt. In dieser Bewusstseinsform müssen … bewegen wir uns, und in diesem Kontext sind alle Gedanken dazu einzuordnen. Das macht es schwierig. Man kann nicht sozusagen voraussetzungslos direkt auf diese Frage zugehen, nach dem Motto Wolfgang Neuss‘: Geh aufs Ganze, nimm die Pflanze. Das ist zu einfach. Das hieße eine, in einer völlig naiven Weise die These vertreten, als ob es möglich wäre, durch die gesamten neuro­tischen Verbiegungen, die ja in langen Jahren gewachsen sind gewisser­maßen, einen unmittelbaren Zugang zu finden. Als ob es möglich wäre, all das auf eine direkte Weise zu durchstoßen. Das glaube ich nicht. Jede Erfahrung dieser Art muss eingeordnet, muss interpretiert werden und verdient auch eine sehr gründliche Betrachtung. Das muss man vorab sagen, weil viele, die eine vollkommen naive These hierzu vertreten, die man eigentlich scharf zurückweisen muss.

Es gab in der letzten Woche einen Artikel im „Spiegel“ über Pilze. Vielleicht haben einige von Ihnen das gelesen, „Stoff aus dem Fleisch Gottes“. Und dieser Artikel ist sehr bezeichnend für diese Thematik. Ich lese nur mal eine kurze Passage vor, die das recht deutlich macht, „Stoff aus dem Fleisch Gottes“ heißt es hier, also letzte Woche: „In den High-Tech-Zuchtkammern einer niederländischen Firma sprießen Drogenpilze. Dank einer rechtlichen Grauzone ist ihr Verkauf legal. Deutsche Drogen-Experten warnen vor wahnhaften Horrortrips. In den 60ern und 70ern hatten psycho­delische LSD-Trips Konjunktur. In den 80ern lockten dann eher leistungs­steigernde Drogen wie Kokain oder auch Heroin. In den 90ern, auf dem Höhepunkt der Techno-Ära dominierte die Durchtanz-Droge Ecstasy. Seit einigen Jahren beobachten wir wieder einen Trend zur halluzinogenen Stoffen, erzählte Hurk. Für den Drogen-Forschungsbeauftragten der Ge­meinde Amsterdam, Tom Nabben, geht deren Erfolg vor allem auf das Interesse für Esoterik und Spiritualität, das ganze New-Age-Geschehen zurück. Da passen Psylos [halluzinogene Pilze] genau rein. Die Smartshops bieten neben den Psycho-Pilzen auch Vitamin-Präparate, Energy Drinks und natürliche Aufputschmittel feil, vor allem Kräutermischungen und Tees, etwa aus Guarana. Im Vergleich zu der Wirkung von Zauberpilzen verhalten sie sich aber ähnlich wie ein Glas Cidre zu einer Flasche Wodka. Der Gesetzgeber übt sich ähnlich wie bei Cannabis“ ‒ das wissen wir ja alle ‒ „in Pragmatismus. Laut Betäubungsmittelgesetz ist ein natürlicher Stoff erst als Rauschmittel zu bezeichnen, wenn er von Menschenhand behandelt wurde. Und in diesem Sinne hat auch der Oberste Gerichtshof der Nieder­lande entschieden: Frische Pilze sind legal, getrocknete hingegen illegal.“ Und dann heißt es hier weiter: „In diesem Fruchtkörper, der von india­nischen Ureinwohnern Mexikos huldvoll ,das Fleisch Gottes‘ genannt wird, bildet sich ein Stoff, der im Magen in die psychoaktive Substanz Psilocybin umgewandelt wird. Die bewusstseinserweiternde Wirkung setzt 10 bis 60 Minuten nach der Einnahme der Pilze ein. Der Trip beginnt oft mit Lachanfällen. Danach entfaltet sich vor den Augen ein buntes Farbenspiel aus grünen oder rosafarbenen Nebelschleiern. Die Halluzinationen werden abgelöst durch eine extrem gesteigerte Wahrnehmung. Die Augen sehen schärfer, die Ohren hören besser, so Arno Adelaar, dessen Buch ,Alles über Psylos‘ in keinem Smart Shop fehlt.“ Na gut. „Auch die Fachzeitschrift …“‒ jetzt typisch der Schluss ‒ „Auch die Fachzeitschrift Kriminalistik sorgt sich um den Trend zur Öko-Droge. ,Verkannte Gefahr‘ lautet der warnende Untertitel eines Aufsatzes über biogene Drogen. Die Autoren warnen davor, das vermeintliche Naturprodukt als sauber, unschädlich und damit ökolo­gisch zu betrachten. Sorge bereitet den Drogenbekämpfern vor allem die rituelle Verklärung. Zitat aus der Fachzeitschrift ,Kriminalistik‘: ,Der Konsum beschränkt sich nicht auf die bloße Einnahme der Drogenzu­bereitung, sondern es erfolgt zunächst eine gewisse Einstimmung mit Musik bis hin zu einer regelrechten spirituellen Vorbereitung auf das Rausch­erlebnis‘, heißt es in dem Fachblatt.“ Gut. Dieser Artikel ist in dem üblichen und sattsam bekannten Stil abgefasst. Man findet hier grinsende Dealer, die daran Geld verdienen und die Häme der intellektuellen Distanzierung auf der einen Seite, aber auch der Spott über die spirituell und tiefe Verbin­dung mit diesen psychotropen Substanzen. (…)

Das nur [als] eines von ganz vielen Beispielen. Wer ein bisschen aufmerksam die Szene der letzten Wochen und Monate verfolgt, dem wird auffallen, dass das Thema immer wieder auftaucht. Also es scheint ein Thema zu sein, was in gewisser Weise auch Aktualitätsrang genießt. Aber ich sage es nochmal: Wir bewegen uns bei diesem Thema auf einem konta­minierten Gelände, auf einem verminten Boden. Wo immer man allzu freimütig und naiv hintritt, kann die nächste Mine hochgehen. Das ist einfach so.

Es gibt einen sehr schönen kleinen Aufsatz von Peter Sloterdijk zu dieser Frage, 1993, „Wozu Drogen? ‒ Zur Dialektik von Weltflucht und Weltsucht“. Und da will ich Ihnen mal eine Passage vorlesen, auf die ich gestern gestoßen war. In dem Abschnitt „Heilige Drogen“, der stellt auf eine sehr schöne, präzise und kluge Weise ‒ Sloterdijks ist manchmal sehr klug ‒ auf eine kluge Weise schon den Begriff „Droge“ in Frage. „Heilige Drogen“, ich lese mal diese Passage vor, die man mitbedenken muss bei diesem Thema: „Zu Beginn jedes kritischen Nachdenkens über die Quellen menschlichen Drogengebrauchs müsste eine moderne Denkfreiheit geopfert werden. Die historische Drogen-Forschung hält die für zeitgenössische Menschen erstaunliche Lektion bereit, dass die Assoziation von Drogen und Sucht im Wesentlichen eine neuzeitliche Verknüpfung darstellt. Um die ältere Realität des Drogengebrauchs zu verstehen, wäre es notwendig, die vorherrschende unheilige Allianz von Droge und Sucht aufzusprengen und beide als grundverschiedene Größen zu begreifen. Die Herausforderung der Sache an zeitgenössische Forscher besteht darin, mithilfe von historischer Einbildungskraft zurückzugehen in eine Epoche, in der die Drogen über­wiegend als Vehikel eines ritualisierten metaphysischen Grenzverkehrs fungierten.“ ‒ Sehr schön gesagt: als Vehikel eines ritualisierten metaphy­sischen Grenzverkehrs. ‒ „Der rituell gehegte Gebrauch von Drogen gehört im psycho-historischer Sicht zu dem untergegangenen Weltalter des alten Mediumismus. In diesem begreift sich das menschliche Innere“ ‒ jetzt ganz wichtig und sehr präzise gesagt ‒ „begreift sich das menschliche Innere, sofern es überhaupt schon abgegrenzt ist, nicht so sehr als eine in sich geschlossene und selbstgesetzliche Seelensphäre, sondern als Erschei­nungsraum und Bühne für Ankommendes, Eintretendes, Durchgehendes, ganz im Sinne“ ‒ obwohl er es hier nicht erwähnt ‒ „des altgriechi­schen ,thymos‘, weniger der Psyche. Anders als beim homo clausus der neuzeitlichen Individualitätsauffassung bedeutet Subjektivität im Zeitalter der sakralen Drogen eine erhöhte Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit für das nicht immer Manifeste und doch äußerst Wirkliche, das sich im psy­chischen Ausnahmezustand zu enthüllen pflegte. Das menschliche Innere öffnet sich und bildet sich heraus in dem Maß, wie es Klangkörper und Bildschirm ist für die Epiphanien über- und außermenschlicher Mächte. Deren sakrale Repräsentanten können jene Stoffe sein, die in moderner Apothekersprache ,Drogen‘ heißen. Das Wort Droge bleibt aber so lange eine Fehlbezeichnung, wie wir sie nur mit einem Interesse an ihrer chemisch-pharmazeutischen und kulturpolizeilichen Identifizierung auffas­sen. In der alten mediumistischen Weltordnung besitzen die Drogen einen pharmako-theologischen Status. Sie sind selber Elemente, Akteure und Mächte des geordneten Kosmos, in denen die Subjekte sich um ihres Überlebenswillens zu integrieren versuchten.“ ‒ Sehr schön gesagt ‒ „Elemente, Akteure und Mächte des geordneten Kosmos, in denen die Subjekte sich um ihres Überlebenswillens zu integrieren versuchen. Die pharmazeutischen Helfer werden besonders angerufen in Zeiten, in denen sich die Individuen krank und entfremdet fühlen. Zu ihnen nehmen Menschen Zuflucht, wenn sie sich am eigenen und am sozialen Körper davon überzeugt haben, dass eine Störung der globalen Harmonie vorliegt. Die psychotropen Stoffe dienen also nicht der privaten Berauschung, son­dern fungieren als Reagenzien des Heiligen, als Türöffner der Götter. Ernst Jünger hat einen bedeutsamen Aspekt früher Drogenpraktiken formuliert, als er in den durch sie induzierten Räuschen einen Siegeszug der Pflanze durch die Psyche erkennen wollte.“ ‒ Diese Formulierung haben wir schon genannt. ‒ „Der Ausdruck bringt das Prinzip medialer Durchlässigkeit gut zur Geltung, das zu den archaischen prä-autonomistischen Subjektver­fassungen gehört.“ Und dann ein paar Seiten später, das muss man auch mit dazunehmen zur Frage der möglichen Ekstase in diesen alten sakralen Zusammenhängen: „Und heute, wenn die Ekstase uninformativ wird, weil die Götter offenbarungsmüde sind wie heute …“. (…) Sloterdijk spricht mit einige Recht vom Verstummen der Götter. Die Götter reden zunächst einmal nichts. Man fragt sich, ob sie existieren, wenn sie existieren, schweigen sie erst einmal, in der normalen Bewusstseinsverfassung. „Weil die Götter offenbarungsmüde sind und die Rauschbilder ihre Profilschärfe verlieren. Dann setzt sich ein flacher und entritualisierter Umgang mit den mächtigen Substanzen durch“, wie wir es heute ja haben. „Sobald die rituellen Halterungen fallen, die dem Subjekt beim Gebrauch sakraler Drogen den Rücken stärkten, findet sich dieses“ ‒ also das Subjekt ‒ „in einer ungeschützten Direktbeziehung zu dem vor, was aller Erfahrung zufolge stärker ist als das profane Selbst. Zu den tragischen Lektionen der Droge gehört es, dass sie es dem Menschen verbietet, ein Privatverhältnis zum Überwältigenden aufzubauen. Unter Bedingungen des Privatkonsums nämlich erfüllt jede psychotrope Substanz früher oder später die Definition des Dämonischen. In der Beziehung zum Dämon verliert das Subjekt seinen Willen an den stärkeren Partner. Es sitzt von da an in der Falle, sofern er zum schwachen Teilhaber einer Überwältigungsbeziehung geworden ist. Sein legitimes Verlangen nach Teilhabe an einer Quelle von Kräftigungen und Erhöhungen führt im privaten Konsum von Rauschgift zu einer dämo­nischen Platzvertauschung. Statt an der Kraftquelle zu saugen, wird es selber zum Gesogenen. Es entleert sich zugunsten des Überwältigenden, von dem es zuvor gefüllt werden sollte. Diese Sogumkehrung gehört zu den Merkmalen der Sucht, an denen sich deren Herkunft aus missratener Metaphysik am deutlichsten ablesen lässt.“

Das finde ich sehr schön gesagt, dieses Wort von der „missratenen Metaphysik.“ Das muss man einfach dazu sagen, dass die Entritualisierung der Überwältigung den Einzelnen eine vollkommen ungeschützte, ihn letzt­lich vollkommen überfordernde Direktbeziehung mit diesen „Pflanzen der Götter“, mit diesem Übermächten bringt. Das spielt in diese ganze Thema­tik hinein.

Nun, „Pflanzen der Götter“ ist zunächst mal ein Synonym für, ganz weit gefasst, psychotrope Substanzen oder auch halluzinogene Substanzen bzw. Pflanzen. Ich habe das entnommen einem Buchtitel, „Pflanzen der Götter ‒ die magischen Kräfte der Rausch und Gift-Gewächse“ von Albert Hofmann und Richard Schultes. Richard Schultes, Botaniker, Direktor des Botanischen Museums von Harvard und emeritierter Professor für Natur­wissenschaften an der Harvard-Universität. Zu seinen Hauptgebieten zäh­len die Ethno-Botanik sowie die Erforschung und Konservierung von Pflan­zen. Albert Hofmann, ja bekannt, heute 95-jährig, Chemiker, ehemaliger Leiter der Abteilung Naturstoffe der pharmazeutisch-chemischen Labora­torien der Sandoz AG Basel, Entdecker der halluzinogenen Wirkung des LSD, 1943. Dadurch ist er ja weltberühmt geworden. Erforschung weiterer psychoaktive Substanzen, so unter anderem der mexikanischen Zauber­drogen mit ihren heilkräftigen Wirkungen. Chemische Erforschung, Isolie­rung und Synthese der Wirkstoffe wichtiger Arzneipflanzen.

„Das Wort ,halluzinogene Pflanzen‘ ist nur mit gewissen Einschrän­kungen zutreffend, denn viele der „Pflanzen der Götter“ sind im engeren Sinne nicht halluzinogen. Insofern hat es immer schon im 19. Jahrhundert einen Streit um diese Bezeichnung gegeben. Eine berühmte Bezeichnung im 19. Jahrhundert war von dem Toxikologen Levin ,die Phantastika‘. Die Phantastika. Es ist in der Tat unmöglich, die so vielfältig psychoaktiv wirksame Gruppe von Pflanzen unter einen einzigen Begriff zusammen­zufassen. Der deutsche Toxikologe Levin, der als erster den Ausdruck Phantastika gebrauchte, räumte ein, dass dieser nicht alles umfasst, was nach meiner Vorstellung darunter verstanden werden sollte. Das Wort Halluzinogen ist leicht zu verstehen, doch rufen nicht alle als Halluzinogene bekannten Pflanzen wirklich Halluzinationen hervor. ,Psychotomimeticum‘, ein ebenfalls häufig gebrauchter Begriff, wird von manchen Spezialisten nicht anerkannt, weil nicht alle Pflanzen aus dieser Gruppe psychose­ähnliche Zustände bewirken.“ Das ist eine Klassifizierung, die davon aus­geht, dass letztlich Psychosen, temporäre Psychosen, ausgelöst werden. „Unter den vielen vorgeschlagenen Definitionen der Halluzinogene ist dieje­nige von Hoffer und Osman umfassend genug, um allgemeine Anerkennung zu finden. Halluzinogene sind Chemikalien, die in nichttoxischen Dosen“, also nicht giftigen Dosen, es ist immer eine Frage der Dosis, wie man nicht erst seit Paracelsus weiß, also, „Halluzinogene sind Chemikalien, die in nichttoxischen Dosen Veränderung in der Wahrnehmung, im Bewusstsein und in der Gemütslage hervorrufen, selten jedoch geistige Verwirrung, Gedächtnisverlust oder Desorientierung in Bezug auf Personen, Raum und Zeit bewirken. Hofmann unterteilt die psychoaktiven Drogen, sich dabei auf die ältere Gliederung Levins stützend, in Anagetika und Euphorika, Opium, Kokain, Beruhigungsmittel, Reserpin, Hypnotika, Taba Kava und Halluzino­gene, Peyote, Marihuana.“ Und so weiter.

Also, wir können uns auf den Begriff der „Pflanzen der Götter“ erst einmal einigen. Es geht also um vielleicht 150 Pflanzenarten, die offensicht­lich psychoaktive, psychotrope Wirkung haben. Man schätzt die Gesamtzahl der Pflanzenarten auf dieser Erde auf eine halbe Million. Andere Botaniker setzen die Zahl viel höher an, auf 700’000, 800’000. Es mag ein Schätzwert sein, der einige Richtigkeit hat, eine gewisse Plausibilität. Eine halbe Million Pflanzenarten gibt es auf dieser Erde, und davon sind 150, soweit wir das sagen können, psychotrop oder psychoaktiv oder halluzinogen. Interessant ist es übrigens, dass von diesen 150 psychotropen Pflanzen 130 in den tropischen Gebieten Amerikas wachsen und nur 20 zusammenge­nommen in Afrika, Europa und Asien. Also der überwiegende Teil der psychotropen Substanzen stammt aus den tropischen Regionen Amerikas. Hofmann, in diesem hochinteressanten, faszinierenden und sehr informa­tiven Buch, stellt immer wieder die Frage: Wie ist es zu erklären, dass einige Pflanzen so weitreichende Wirkungen auf die menschliche Psyche auslösen können, dass die gesamte Wahrnehmung von Raum, Zeit und Selbst auf eine fundamentale, eine oft dramatische Weise verschoben wird und der Einzelne das Gefühl hat, eine vollkommen andere Welt, in diesem Sinne eine Anderswelt, einzutauchen, die ihm häufig genug wirklicher, lebendiger, tatsächlicher erscheint als die physisch-sinnliche Welt? Und das ist ja ein wesentlicher Faktor, den man weltweit beobachten kann, dass diese auf diese Weise induzierten Zustände einen ungeheuren Wirklichkeits­charakter haben und überhaupt die Frage aufwerfen: Was ist eigentlich Wirklichkeit, wenn man diese Zustände vergleicht mit der physisch-sinnlichen Wirklichkeit?

„Halluzination“ ist ja ein eher negativ besetzter Begriff, der davon ausgeht, dass die physisch-sinnliche Wahrnehmung die eigentlich wirkliche ist. Dann ist natürlich die Halluzination die Täuschung. „Es bleibt also ein ungelöstes Rätsel der Schöpfung“, schreibt Hofmann immer wieder, ähnliche Formu­lierung, „warum manche Pflanzen Stoffe erzeugen, die auf die psychischen Funktionen des Menschen einzuwirken vermögen. Von den vielen hundert verschiedenen Substanzen, die den chemischen Aufbau einer Pflanze aus­machen, sind nur ein, zwei oder selten bis zu einem halben Dutzend für die psychische Wirkung der betreffenden Pflanze verantwortlich. Chemiker haben mittlerweile sehr genau herausdestilliert, wo die eigentlichen Wirk­stoffe liegen. Der gewichtsmäßige Anteil beträgt meistens nur Bruchteile von Prozenten, oft nur von Promille der Pflanze. Hauptbestandteile der frischen Pflanze, in der Regel über 90 Prozent des Gewichtes, sind Zellu­lose, die als Gerüststoff dient, und Wasser, dem die Rolle des Lösungs- und Transportmittels für die Nährstoffe und Stoffwechselprodukte der Pflanze zukommt. Kohlenhydrate wie Stärke und verschiedene Zucker, Eiweiße, Farbstoffe, Mineralsalze machen weitere Prozente aus.“

Also, Chemiker haben sehr genau herausdestilliert, welche Stoffe kristallisierter Form, hat man festgestellt, nun die eigentliche Wirkung aus­lösen, und man konnte hier Beziehungen herstellen. Das ist ein Erklä­rungsansatz, der aber bei Licht besehen nicht sehr weit trägt, dass es chemisch sehr ähnliche Stoffe, körpereigene Drogen gewissermaßen, wie das der Psychiater [Josef] Zehentbauer gibt, und dass aufgrund dieser Analogie und ganz großen Ähnlichkeit der nahen chemischen Verwandt­schaft eine Möglichkeit besteht, dass also diese Stoffe den im Körper vorhandenen, vom Gehirn produzierten Neurotransmitter oder Botenstoffen chemisch sehr ähnlich sind. „Dabei stellt sich heraus, dass sie eine nahe chemische Verwandtschaft mit im Gehirn natürlich vorkommenden Substanzen aufweisen, die bei der Regulation einer psychischen Funktion, eine gewisse Rolle spielen.“ Ich sage es nochmal, der Psychiater und Arzt Zehentbauer nennt das „körpereigene Drogen“, was ein ganz sinnvoller Begriff ist. „Mithilfe der genau dosierbaren Reinsubstanzen konnten unter reproduzierbaren Bedingungen die pharmakologischen Wirkungen im Tierversuch und das psychische Wirkungsspektrum beim Menschen ermit­telt werden. Das war mit den Pilzen nicht möglich gewesen, weil der Wirkstoffgehalt starken Schwankungen unterworfen ist, beträgt 0,1 bis 0,6 Prozent der getrockneten Pilze, wobei Psilocybin den Hauptanteil ausmacht und Psilocin meist nur in Spuren vorkommt. Die mittlere wirksame Dosis beim Menschen beträgt 4 bis 8 Milligramm Psilocybin oder Psilocin. Statt zwei Gramm des schlecht schmeckenden getrockneten Pilzes zu essen, genügt es, etwa 0,008 Gramm [8 mg] Psilocybin einzunehmen, um einen mehrere Stunden dauernden Pilzrausch zu erzeugen. Der Beitrag des Chemikers an der Erforschung sakraler Drogen soll am Beispiel der Untersuchung der mexikanischen Zauberpilze anschaulich gemacht wer­den.“ Das war auch nur über den Selbstversuch möglich. Also alle entschei­denden Forscher, auch Mykologen, Pilzforscher, haben das über den Selb­stversuch gemacht. Auch übrigens Hofmann und Schultes.
Ich will dann erstmal eine kleine Pause machen. Ich will nach diesen einleitenden Bemerkungen dann den Versuch machen, an einigen Bei­spielen zu zeigen, wie bestimmte psychotrope Pflanzen in die Seele einwir­ken, welche rituellen sakralen Verbindungen sich hier aufweisen lassen, und dann in einem nächsten Schritt, der vielleicht der entscheidende, aber auch der schwierigste Schritt ist, wenigstens umrisshaft den Versuch machen, diese Zustände, die durch die „Pflanzen der Götter“ induziert werden in der Psyche, im Spektrum der menschlichen Bewusstseinsphäno­mene einzuordnen, ohne dass man das hier schematisch machen könnte oder sollte. Aber das ist wichtig, denn nur indem man den Willen aufbringt, eine geistig seriöse, in diesem Sinne wirklich integrale Denkarbeit auch bei diesen Zuständen aufzubringen, nur dann wird man in der Lage sein, diesen Phänomenen wirklich adäquat zu begegnen. Ich sage es nochmal: Eine direkte, gewissermaßen naive, unreflektierte, undurchdachte Zugangsweise kann es so in Ansehung des heute herrschenden kollektiven Bewusstseins­zustands und der einzelnen Individuen, die davon nie restlos abzutrennen sind, nicht geben. Insofern ist eine geistige Arbeit bei dieser Frage unbedingt notwendig. Es ist unabdingbar, und gerade an dieser mangelt es auf ganzer Linie – leider.

(…) und 150 im eigentlichen Sinne als psychotrop oder psycho-aktiv oder halluzinogen gelten, und davon, ich sagte es, 130 im tropischen Bereich Amerikas. Mir fiel, als ich unten im Hof war, eine Stelle ein aus diesem interessanten Buch von Terence McKenna „Die Speisen der Götter ‒ die Suche nach dem Baum der Erkenntnis“, die ich Ihnen vorlesen möchte. Am Ende dieses Buches gibt es ein Kapitel mit dem Titel „Zur Geschichte psychedelischer Drogen“, und das fängt folgendermaßen an. Das ist für uns ein ganz guter Übergang. Das Buch ist vor zehn Jahren erschienen, wie Sie vielleicht wissen, ist Terence McKenna vor zwei Jahren verstorben. Er war einer der Autoren, die sich wie wenige Andere vehement für diesen Weg der Bewusstseinsarbeit mit psychotropen Substanzen eingesetzt haben. Das war für ihn geradezu der Königsweg, seitdem er in Südamerika Ayahuasca entdeckt hatte. Er hatte vorher lange in Indien gelebt und hat dann fest­gestellt, da lebt gar nichts mehr, behauptet er, an Spiritualität. Aber diese eigentlichen pflanzlichen sakralen Stoffe haben ihm eine Tür geöffnet. Und so glaubte er, und er hat vehement das in der Öffentlichkeit vertreten, auch mit der Vehemenz desjenigen, der ideologisch, kann man auch sagen, festgelegt war. Denn diese einseitige Form, mit der er das Thema vorstellt, hat auch etwas Bedenkliches, weil sie vielerlei Reflexion für entbehrlich hält, ja geradezu herabgewürdigt. Da heißt es am Anfang des 14. Kapitels: „Psychedelische Pflanzen und psychedelische Erfahrung“, es ist jetzt egal, wie treffend oder nicht dieses Wort ist, „wurden von der europäischen Kultur zunächst unterdrückt, dann ignoriert und schließlich vergessen. Das vierte Jahrhundert erlebte die Unterdrückung der Mysterien, Religionen, der Bacchus- und Diana-Kulte, der Kult um Attis und Kybele. Der für die hellenische Welt typische reichhaltige Synkretismus war Vergangenheit“, also eine Zusammenführung der verschiedensten geistigen Strömungen im Mittelmeerraum der Spätantike. „Das Christentum triumphierte über die Sekten der Gnostiker, über Valentinen, Marcioniten und andere, die letzten Bastionen des Heidentums.“ Wir hatten das ja letztes Mal auch dargestellt, dass, als das Christentum sich als Staatsreligion etabliert hatte, [es] rabiat brutal gegen Eleusis vorgeht. Nicht, weil es in diesem eigenartigen Mysterium auch des göttlichen Kindes, was da in der psychotropen Schau, wenn man das so nennen will, gezeigt wurde, wie eine Verhöhnung sah der eigenen Glaubensvorstellungen.

„Diese repressiven Episoden in der Entwicklung des westlichen Denkens schlossen mit Erfolg die Tür zu einer Kommunikation mit der Intelligenz Gaias, mit der Intelligenz der Erde.“ ‒ Für ihn ein ganz wesentlicher Verbindungssstrang ‒ diese Pflanzen eröffnen den Zugang zur Intelligenz der Erde, was ich bis zu einem gewissen Grade auch für richtig halte, dazu habe ich mich hier ausführlich geäußert. „In einem hierar­chischen System aufgezwungener Religion und später über eine hierar­chische Struktur verbreitete wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzten jedes direkte Erleben der Intelligenz hinter der Natur. Die Rauschmittel der christlichen Herrschaftskultur waren unabhängig davon, ob es sich dabei um Pflanzen oder synthetische Drogen handelte, unweigerlich Anregungs- oder Betäubungsmittel.“ Die ganze neuzeitliche Kultur ist ja gar nicht denkbar ohne Drogen, nur durch ganz bestimmte Drogen, die sozusagen einen Betäubungscharakter haben, die den herrschenden Irrsinn also erträglich machen. „ … Unweigerlich Anregungs- oder Betäubungsmittel, Drogen für den Arbeitsplatz und Drogen, um Fürsorglichkeit und Schmer­zen zu dämpfen. Im 20. Jahrhundert dienten Drogen nur noch medizini­schen Zwecken oder waren Genussmittel und Freizeit-Drogen. Doch selbst der Westen hat sich noch einen dünnen Faden einer Erinnerung an das archaische und ekstatische Potenzial bestimmter Pflanzen bewahrt, die in das Mysterium einführen konnten.“

Kurz noch zu dem Buch. Interessant sind seine Aussagen zur Geschichte des Kaffees und des Zuckers. Er stellt auf eine wunderbare, sehr überzeugende Weise Zucker als eine fatale Droge [dar], die auch ökono­misch verheerend war. Alkohol, Zucker und dann auch Nikotin. „Tabak aus den nordamerikanischen Kolonien, destillierter Alkohol und Rohzucker aus dem mehr in den Tropen gelegenen Randzonen waren der Motor dieses ökonomischen Systems. Das Zeitalter der Aufklärung stützte sich auf ein auf Drogen basierendes Wirtschaftssystem, nur eben andere Drogen.“ Das ist eine eigenartige Entwicklung in der Geist- und Kulturgeschichte, dass eine Sparte, eine Art von Drogen legalisiert war, ja geradezu erwünscht war, während andere verteufelt wurden. Ein schwieriges Thema. ‒

So, mich hat in der Pause, zu Beginn der Pause, jemand gefragt, ob es nicht auch diese Widersacherseite gäbe in Bezug auf die Devas. Das ist richtig. Natürlich sind „Pflanzen der Götter“ immer auch Pflanzen der Dämonen und diese Überwältigungszustände, die durch psychotrope Pflanzen ausge­löst werden, sind häufig genug auch dämonischer Natur. Das ist natürlich eine Form der Überwältigung, die auch in Tiefenschichten der Psyche hineinreicht, die nicht harmlos sind, überhaupt nicht harmlos und den Einzelnen in der tiefsten Tiefe packen und ja auch aushebeln. Das ist ja gerade das Wesen der Überwältigung. Und die Frage ist ja grundsätzlich bei derartigen Überwältigungserfahrungen, bis zu welchem Grade kann das menschliche Selbst integrativ wirken? Bis zu welchem Grade hat das Ich noch die Navigationsfähigkeit? Denn wenn das Ich die Navigationsfähigkeit überhaupt nicht mehr hat, wird es ja zum Spielball von mächtigen Flutungen und Strömungen. Und die Frage ist keine nur rhetorische oder theoretisch abstrakte: Was hat es mit dem Ich überhaupt auf sich? Inwie­fern soll und kann es sich hier gewissermaßen einmischen? Wie weit kann es hier den Steuermann spielen, oder wie weit muss es sozusagen sich selbst aufgeben? „Shoes and minds are to be left at the gates“, hieß es ja bekanntlich in Poona. Also nicht nur die Schuhe, auch den Geist an der Haustür abgeben.

In diesem Buch „Pflanzen der Götter“ werden viele Beispiele gegeben für psychotrope Pflanzen. Ich will hier mal herausgreifen zwei, die eher im Randbereich liegen, ich greife jetzt nicht Cannabis raus und auch nicht das Mutterkorn und die Bezüge mit LSD, sondern ich nehme mal hier eine Pflanze, die einen ganz eigenen Charakter hat, nämlich Datura, Stechapfel. Eine Pflanze, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, nebenbei gesagt.

„In der Alten Welt hat diese Gattung, wie es scheint, nie die gleiche Bedeu­tung als zeremonielle Droge besessen wie in Amerika. Aber auch hier ist datura oder Stechapfel“, ähnlich wie auch Bilsenkraut, galt ja auch als Hexenmitttel schon im Mittelalter, „auch hier ist datura seit alter Zeit als Arzneimittel und heiliges Halluzinogen benutzt worden.“ Das kann man zeigen, Datura ist eine der am weitesten verbreiteten psychotropen Pflan­zen überhaupt, ähnlich verbreitet wie Cannabis, vielleicht sogar noch verbreiteter. „In verschiedensten Zeiten und Kulturen wurde Datura ein­gesetzt, auch im Mittelalter, auch in Europa. In frühen sanskritischen und chinesischen Schriften wird Datura Metel erwähnt. Die vom arabischen Arzt Avicenna im 11. Jahrhundert unter dem Namen Jusmatal beschriebene Pflanze war zweifellos mit dieser Art identisch. Die Beschreibung wurde in den Schriften des [Pedanios] Dioscurides übernommen. Die Bezeichnung „Metel“ entstammt diesem arabischen Wort. Der Gattungsname „Datura“ ist eine von Linné vorgenommene Latinisierung des sanskritischen Wortes „dhattūra“. In China galt die Pflanze als heilig.“

Also das ist wichtig, hier gibt es immer bei diesen psychotropen Pflanzen zwei Stränge der Interpretation. Auf der einen Seite gelten diese Pflanzen als mediale Wesen, die das Menschliche mit dem Göttlichen, mit der Anderswelt vermitteln. Auf der anderen Seite sind sie selber Götter. Das ist natürlich ein anderes Kapitel. Auf der einen Seite also mediale Wesen, sie vermitteln nur, sie sind, wie Sloterdijk sagt, Reagenzien des Heiligen Türöffners, auf der anderen Seite sind sie selber Götter. Das liegt ja der Vorstellung der Devas zugrunde. Man findet das ja bei Wolf-Dieter Storl ganz extrem, also einem Zeitgenossen, einem heutigen Etno-Botaniker, für den Pflanzen tatsächlich makrokosmische Wesen sind, in gewisser Weise Götter, denen der Mensch sich einfügen muss, sozusagen heilige kosmische Wesen, also nicht etwa Stufen einer Bewusstseinsevolution.

„In China galt die Pflanze, wir sind bei Datura, als heilig. Wenn Buddha predigte, besprengte der Himmel sie mit Tau oder Regentropfen.“ Es gibt viele Bilder in dieser Richtung, auch Reliefs, Gemälde. „Nach einer daoistischen Legende ist Datura einer der Zirkumpolarsterne. Von diesem Stern zur Erde gesandte Boten sollen eine Blüte dieser Pflanze in der Hand tragen. Mit Cannabis und Wein vermischt, diente sie bei kleineren Opera­tionen als Anästhetikum. Die Chinesen kannten ihre betäubende Eigen­schaft, denn Li Ching Yuen persönlich erprobte sie am eigenen Körper und schrieb: ,Die Tradition sagt, pflückt man die Blüten lachend zu dem Gebrauch mit Wein, wird der Wein einen zum Lachen verleiten. Pflückt man die Blüten tanzend, wird der Wein einen zum Tanzen verleiten.‘ In Indien nannte man die Pflanze den Busch Shivas, des Gottes der Zerstörung. Tanzende Mädchen verfälschten manchmal den Wein mit Datura-Samen. Wer von diesem Getränk kostete, verlor jede Willenskraft, wusste nicht, zu wem er sprach.“ Das ist extrem bei Datura, wird immer wieder beschrieben. Negativ gesprochen wird sie als eine der tückischsten psychotropen Sub­stanzen überhaupt angesehen, mit einem ganz lang dauernden Rausch, in Anführungszeichen, um das Wort mal zu verwenden, mit einer vollständigen Verschiebung der Grundkoordinaten von Raum, Zeit und Selbst. „Verlor jede Willenskraft, wusste nicht zu wem er sprach und vermochte sich nach dem Rausch an nichts mehr zu erinnern, obwohl er scheinbar bei vollem Bewusstsein war und auf Fragen reagierte. Viele Indianer nannten die Pflanze deshalb Trunkenbold, Verrückter, Betrüger und Schwindler. In anderen Teilen Asiens schätzte man Datura als Volksheilmittel ebenso wie als Rauschdroge. Noch heute werden in Indochina häufig die mit Cannabis oder Tabak vermischten Samen oder zerstoßenen Blätter dieser Pflanze geraucht. 1578 wurde sie als ein in Ostindien gebräuchliches aphrodisiches Mittel erwähnt. Schon im frühen klassischen Altertum war man sich der Gefährlichkeit von Datura bewusst. Der englische Botaniker Gerald hielt Datura für identisch mit Hippomanes, das nach der Meinung des grie­chischen Dichters Theokrit die Pferde verrückt mache.“ Im alten Grie­chenland, wahrscheinlich eine erstaunliche Aussage, die ich nirgendwo sonst gefunden habe, zu den vielen auch ungestützten Behauptungen in diesem Buch. „Im alten Griechenland verhalf wahrscheinlich Datura den apollinischen Priestern zu ihrem Traumzustand, in dem sie ihre Prophe­zeiung machten.“ Das habe ich nirgendwo sonst gelesen. Das ist eigenartig, zumal man ja gerade den apollinischen Priestern eine besondere Art der Nüchternheit und kosmischen Klarheit zuordnet. Ob das so war? Ich weiß es nicht. Mir ist keines, kein Beispiel aus der Antike sonst bekannt, wo das dargestellt worden wäre.

„In Mexiko erfreut sich Datura nach wie vor großer Beliebtheit als therapeutische und magisch-religiöse Droge. Bei den Yaqui beispielsweise, nehmen die Frauen sie als schmerzlinderndes Mittel bei der Niederkunft ein. Die Huichol machen in der Heilkunde sehr häufig von der Totoache“, das ist das Gleiche, „Gebrauch. Der Pflanze wird eine so starke Wirkung zugeschrieben, dass nur jemand, der dazu befugt ist, sie beherrschen kann. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Datura Wirkung extrem ist und alles in den Schatten stellt, was gemeinhin als die psychotrope Wirkung gilt. Und da alle Datura-Arten weitgehend identische chemische Grundstoffe enthalten, gibt es auch in ihrer Wirkung kaum Unterschiede. Die physio­logische Aktivität äußert sich zuerst in einem Gefühl der Mattigkeit, das in eine halluzinatorische Phase übergeht und schließlich mit tiefem Schlaf und Bewusstlosigkeit endet. Überdosen können zu dauernder Geistesgestörtheit oder zum Tode führen. Die psychoaktive Wirkung ist bei allen Datura-Arten so stark, dass man sich nicht zu fragen braucht, weshalb sie auf der ganzen Welt von Naturvölkern als ,Pflanzen der Götter‘ betrachtet worden sind.“

Nur als Beispiel, eine extreme Form der Überwältigung, eine extreme dramatische Form der Verschiebung der Grundkoordinaten von Raum, Zeit und Selbst. Hier kommt man immer wieder notwendig bei allen diesen psy­chotropen Substanzen auf die gleiche Frage: Was wird hier im wahrneh­menden Subjekt eigentlich an Wirklichkeit wahrgenommen? Ist es eine halluzinatorische Wahnwelt, die letztlich erklärbar wäre, vielleicht sogar reduktionistisch erklärbar wäre? Oder gibt es hier tatsächlich eine Enthüllung, eine Offenbarung einer tieferen Wirklichkeit, vielleicht gar einer wirklicheren Wirklichkeit? Denn was alle diese Substanzen gemein­sam haben, Datura steht da ganz oben, das gilt auch für Peyote zum Beispiel, das gilt für Psilocybin und andere, ist ja, dass die Wirklichkeit des Wahrgenommenen so überwältigend ist, dass die physisch-sinnliche Wirk­lichkeit in unserem Verständnis, in unserem mentalen Verständnis von Raum, Zeit, Kausalität und so weiter dagegen wie blass, schemenhaft wirkt, wie von außen betrachtet werden kann. Und das ist eine Frage, die letztlich die Wirklichkeit überhaupt berührt, die ungeklärt ist, der man sich aber nähern muss. Es bringt überhaupt nichts, wenn man naiv einerseits die physisch-sinnliche, raumzeitlich-kausale Welt für die einzig wirkliche und legitime hält und sie gegen diese psychotrope Wirkung ausspielt. Genauso wenig, wenn man nun meint, man würde gewissermaßen einen direkten Zugang, gewissermaßen durch einen Zaubergang nun einen Zugang gewin­nen zur wirklichen Wirklichkeit. Beides sind sehr vordergründige Zugänge, und sie führen letztlich nicht weiter.

Interessant ist natürlich, dass das etablierte Christentum alle diese Zugänge rabiat verteufelt hat. Das ist verständlich, weil natürlich auf diese Weise eigene Zugänge eröffnet werden, die der Offenbarungswahrheit radikal widersprechen. Ganz spürbar wird das an der Verteufelung von Peyote, dem Peyote-Kaktus durch die christlichen Missionare und durch die Spanier und Portugiesen und Andere, die in Mittelamerika herrschten.

„Seit der Ankunft der ersten Europäer in der Neuen Welt hat Peyote immer wieder Diskussionen, Unterdrückung und Verfolgung hervorgerufen. Die Pflanze wurde schon von den spanischen Eroberern, wegen ihrer teuflischen Durchtriebenheit“, Zitat, „verurteilt und vor nicht allzu langer Zeit wieder von den Behörden und von religiösen Gruppen in Amerika ange­griffen.“ Immer wieder, eine ganz entscheidende Polemik des etablierten Christentums ist es immer, derartige Zugänge grundsätzlich zu verteufeln. Das ist … also, daran hat sich nichts geändert, bis heute. „… Vor nicht allzu langer Zeit wieder von den Behörden und religiösen Gruppen in Amerika angegriffen. Dennoch spielt die Pflanze nach wie vor eine große Rolle bei den heiligen Handlungen der mexikanischen Indianer. Ihre Verwendung hat sich in den letzten hundert Jahren sogar bis zu den Stämmen in Nord­amerika ausgedehnt. Die Hartnäckigkeit, mit der sich der Peyote-Kult behauptet und zunehmend verbreitet hat, stellt ein fesselndes Kapitel in der Geschichte der Neuen Welt dar, gleichzeitig auch eine Herausforderung an Anthropologen, Psychologen, Botaniker und Pharmakologen, die Pflanze und ihre Substanzen ihrer Wirkung auf den Menschen zu erforschen.“ Von Philosophen ist hier nicht die Rede. Offenbar geht man von vornherein davon aus, dass Philosophen hier[zu] nichts zu sagen haben. Haben sie auch meistens nicht, die meisten jedenfalls nicht. Aber es ist trotzdem wichtig, dass man sich auch als Philosoph dieser Frage widmet. Das tue ich ja. Und dass man auch eine philosophische Herausforderung darin sieht, denn die besteht. Es ist eine philosophische Herausforderung, der man sich stellen kann und auch stellen soll, das ist letztlich die Frage nach der Wirklichkeit und die Frage nach dem Bewusstsein.

„Wir können in diesem wolligen mexikanischen Kaktus ein Musterbeispiel für ein Halluzinogen der Neuen Welt sehen. Peyote war eine der ersten von den Europäern entdeckten Drogen und zweifellos die aufregendste der Visionen auslösenden Pflanzen, auf die die spanischen Eroberer stießen. Sie bildet einen festen Bestandteil der religiösen Zeremo­nien der Eingeborenen. Die Bemühung der Europäer, diese Praktiken zu unterbinden, bewirkten, dass sie nur noch heimlich in den Bergen abge­halten wurden, wo sich der Brauch aber bis heute behauptet hat.“

Dann wird darüber spekuliert, wie alt dieser Peyote-Kult ist. Das weiß keiner. Die Schätzungen gehen bis auf 2000 Jahre. Und es ist interessant, dass, wie ich das gesagt habe, diese Verteufelung von Seiten der etablierten Religionen ganz massiv vorgetragen wurde. Das ist verständlich, weil natür­lich, wenn es diese Zugänge gibt, wenn man auch nur die Möglichkeit einräumt, dass es eigenständige Zugänge dieser Art geben könnte, sozu­sagen eigenmächtige Offenbarungen, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Offenbarung überhaupt vollkommen neu. Und diese Verteufelung hat sich natürlich auf vielfältige Weise bis in die Gegenwart hinein fortge­pflanzt und bestimmt auch immer noch das Klima.

„Die meisten frühen Aufzeichnungen aus Mexiko stammen aus der Hand von Missionaren, die sich dem Peyote-Gebrauch in den religiösen Handlungen der Indianer widersetzten. Für sie hatte Peyote im Christentum keinen Platz, weil damit heidnische Vorstellungen verbunden waren.“ McKenna interpretiert das vollkommen eindeutig. Das Christentum mit seiner einseitigen Gottesvorstellung habe die alte planetarisch-kosmische Intelligenz von Gaia verleugnet und im Bunde mit der mental-rationalen Ichhaftigkeit letztendlich die Menschheit in die völlige Neurose gebracht, in die herrschende Pathologie. „Für sie hatte Peyote im Christentum keinen Platz, weil damit heidnische Vorstellungen verbunden waren. Die Intoleranz der spanischen Kirche, die keinen anderen Kult neben dem ihren duldete, führte zu strengen Verfolgungen, sogar rabiat mit polizeilichen Mitteln wurde da vorgegangen. Aber die Indianer gaben ihre während Jahrhun­derten gepflegte Tradition nicht so leicht auf. Die Unterdrückung von Peyote dauerte lange Zeit an. So publizierte ein Geistlicher bei San Antonio, Texas, im Jahre 1760 ein Handbuch, in dem unter anderem folgende Fragen an die zu Bekehrenden standen.“ Ich lese Ihnen das mal vor. Ich habe mir das hier angestrichen, weil das bezeichnend ist, also die zu Bekehrenden wurden folgendermaßen gefragt: „Hast du Menschenfleisch gegessen? Hast du Peyote gegessen? Ein anderer Priester, Padre Nicolas de León, prüfte die Bekehrungswilligen in ähnlicher Weise: Bist du ein Wahrsager? Kannst du Ereignisse voraussehen, indem du Zeichen und Träume deutest oder Kreise und Figuren auf dem Wasser ziehst?“ Offenbar wurde das mit Peyote in Verbindung gebracht. „Bekränzt du Götzenbilder und Altäre mit Blumen­girlanden, saugst du anderen das Blut aus, wandelst du nachts umher und rufst Dämonen zu Hilfe?“ Das sind die alten Verdachtsmomente, die auch schon im Mittelalter den Hexen gegenüber aufgebracht, vorgetragen wurden. „Bekränzt du Götzenbilder und Altäre mit Blumengirlanden? Saugst du andern das Blut aus? Wandelst du nachts umher und rufst Dämonen zu Hilfe? Hast du Peyote getrunken oder anderen zu trinken gegeben, um Geheimnisse zu erfahren oder gestohlene und verlorene Gegenstände wiederzufinden?“ Also das Verdikt, dass derartige Zugänge in die Tiefen des Seins einfach illegitim sind, dass sie aufs Schärfste zu bekämpfen sind.

Nun will ich nicht jetzt in der Phänomenologie weiter fortfahren. Man könnte jetzt viele andere Pflanzen ja auch anführen und die Wirkungsweise im Einzelnen darstellen. Das würde uns jetzt im Moment nichts nützen. Wenn Sie das wollen, müssten Sie das im Einzelnen nachlesen. Viel wichtiger ist jetzt erst einmal die Frage, wenn man das sich vergegen­wärtigt, was ich jetzt in knapper Form und im Hinblick auf Peyote und Datura angedeutet habe: Was heißt das? Man muss hier nochmal, was ich ja immer wieder versuche zu sagen, den Ablauf, den evolutionären Prozess von Bewusstsein überhaupt sich klarmachen. Was heißt das? Ich meine, die Frage bleibt doch: Was wird da eröffnet? Ist es eine archaische, vor-ichhafte, prämentale, sozusagen Unterwelt, die sich da öffnet? Wird der Mensch in gewisser Weise zurückgesogen in eine Seinsstufe, die er im Grunde genommen in seinem evolutionären Prozess überwunden hat? Oder noch schärfer gesagt: Handelt es sich letztlich um regressive Momente? Ist das eine Art von Regression in eine Pflanzennähe, die das Ich gemeinhin überwunden hat?

Ich spreche hier wiederholt von der ontologischen Barriere, die besteht zwischen der Ichhhaftigkeit des Menschen und dem unterichhaften Bewusst-Sein der Pflanzen. Und da ist eigentlich die entscheidende Stelle. Was passiert hier? Handelt es sich um eine regressive Form des Bewusst­seins, die letztlich überschritten werden muss? Werden wir hier überflutet von Strömungen, die letztlich das Ich aufzehren, überwältigen, ja zerstören, in einem dämonischen Sinne? Oder gibt es hier im Sinne von Ken Wilber und Anderen eine höhere Öffnung, eine transmentale Öffnung, sozusagen eine kosmische Öffnung? Oder, was die Sache noch schwieriger macht, vielleicht aber den wahren Sachverhalt am besten beschreibt: Es liegt beides vor.

Diese Wirkungen sind auf eine schwer begreifbare Weise beides. Ich spreche öfter vom sogenanntem mentalen Fenster, und ich habe immer wieder die These vertreten, dass bei bestimmten Überwältigungs­erfahrungen das mentale Fenster in beide Richtungen durchlässig wird, dass also nicht nur eine Durchlässigkeit nach unten passiert, sozusagen in die Unterwelt der Psyche, in die Abgründe auch des Magisch-Mythischen, des Pflanzlich-Tierhaften, genauso eine Öffnung nach oben. Und für das menschliche Bewusstsein in seiner Selbsthaftigkeit am schwierigsten zu verkraften ist, wenn beides gleichzeitig passiert, wenn es also eine Öffnung nach unten und nach oben gleichzeitig gibt, und wenn sich das auf eine schwer entwirrbare Weise ineinanderfügt. Dann ist das Bewusstsein zunächst einmal überfordert.

Insofern ist es verständlich, wenn viele, wenn die gesamte mentale Ichhaftigkeit erstmal darauf aufbaut, die Barriere nach unten und die Barriere nach oben möglichst festzuziehen, das mentale Selbst zu festigen und alle Zugänge nach unten und nach oben erst einmal abzuschneiden.

Das muss man wissen bei dem Thema und alle Erfahrungen, über die man lesen kann, die man machen kann, bestätigen eigentlich immer wieder dieses eine, dass wir offenbar bei den „Pflanzen der Götter“, bei der Tiefenwirkung der psychoaktiven Pflanzen auf eine rätselhafte Weise beides vorliegen haben. Und es öffnet sich sozusagen die Unterwelt, jetzt symbolisch-metaphorisch gesprochen, es öffnet sich aber auch oder kann sich öffnen, eine kosmische Überwelt, und beides überflutet die rationale Ichhaftigkeit, beides überflutet das mentale Fenster und stellt das Ich vor eine extreme Zerreißprobe. Und da ist die entscheidende Stelle der geistigen Arbeit, die geleistet werden muss, wenn man an dieser Stelle weiterkommen will, auch übrigens bei dem elendigen und vielfältig, wie ich schon sagte, kontaminiertem Thema der Frage nach Drogen, nach soge­nannten Drogen überhaupt, muss diese Frage geklärt werden. Und sie ist schwer. Sie ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt auch im Zusam­menhang mit der Frage, kann es so etwas geben wie ein „Neues Eleusis“, wie das ja manche behaupten?

Ich habe mich ja selbst auch in meinem Buch „Was die Erde will“ zu diesen Fragen geäußert. Kann es so etwas geben? Gibt es eine neue Form der Wiederanbindung, der Wiedereingliederung derartiger Zustände in ein anderes Bewusstsein? Oder ist das blanker Illusionismus in Ansehung der herrschenden Bewusstseinslage, der überhaupt keine Basis hat in der Wirk­lichkeit? Ist das pure Ideologie? Das kann man zunächst mal offen lassen. Aber die Frage ist wichtig, gibt es so etwas? Kann man da anknüpfen? Kann man da etwas Neues erschließen, ohne dass man, regressiv sozusagen, dem eigenen Pflanzen-Selbst in diesem Sinne der Öffnung der Unterwelt anheim­fällt? Diese Frage ist weitgehend ungelöst. Ganz naiv, sage ich mal, bei aller doch Wertschätzung auch der Forschungsleistung von McKenna, sind seine Thesen hierzu. Er bringt geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie es nach meiner Überzeugung, wie es gerade nicht geht.

Und ich will das aber in der nächsten Vorlesung weiterführen, weil das jetzt zu weit führen würde. Ich will den Bogen spannen dann, in der letzten Folge im Sommersemester, zu der Frage: Wie können wir eine authentische Verbindung mit den Pflanzen realisieren? Wie können wir, wie ich das mit Ralf Metzner sagen möchte, eine Wiedervereinigung des Heili­gen und des Natürlichen realisieren? Und darum geht es. Kann das Sakrale mit dem Natürlichen in irgendeiner Form zusammengeführt werden? Lässt sich das Natürliche resakralisieren? Dass es entsakralisiert worden ist, das wissen wir alle, das ist die Bewusstseinsrealität nicht erst unserer Zeit. Gibt es da eine Möglichkeit der Resakralisierung, also Wiedervereinigung des Heiligen mit dem Natürlichen? Ich habe das ja genannt: Der „neue Bund von Mensch und Pflanze“ ‒ wie können wir uns den Pflanzen geomantisch, tiefenökologisch und existenziell neu verbinden. Das will ich das nächste Mal aufgreifen und damit auch die Frage nochmal neu stellen und in umrisshafter Form beantworten, ob es die Möglichkeit gibt, eines „neuen Eleusis“ oder ob das in dieser Form letztlich Illusionismus ist.

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Pflanzen und Erdmutter (Gaia) – Die Bedeutung des antiken Demeterkults

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff

Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 44

Transkript als PDF:


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[Wir kamen in der letzten Vorlesung auf die] geistige Dimension zu sprechen, kann man sagen, dass die Pflanzen in gewisser Weise Bewusstsein haben jenseits einer zerebralen Substanz, also jenseits eines Nervensystems. Dann habe ich Ihnen versucht zu erläutern, dass man das nur dann denken kann, wenn man Bewusstseinsqualitäten in der Welt, im Universum, im Kosmos überhaupt annimmt. Man kann lebendige Pflanzen ‒ im Sinne von bewusstseinserfüllten Pflanzen ‒ nur sinnvoll denken im Rahmen einer Kosmologie, die die Gestirne überhaupt als lebendig begreift, in diesem Fall also die Erde als lebendig begreift. Und dann waren wir der Frage nachgegangen, was sind sogenannte Pflanzen-Devas? Das ist ja noch eine Schicht darüber. Gibt es vielleicht so etwas wie eine autonome Pflanzenwesenheit, was ja auch Ernst Jünger annimmt?

Und ich bin in der FAZ vorgestern, in der Sonntagszeitung, auf ein Buch gestoßen, das hier kurz vorgestellt wird, was einen vollkommen anderen Fokus hat, aber auch eine merkwürdige, in gewisser Weise kuriose Weise mit der Frage der seelisch-geistigen Dimension der Pflanzen zu tun hat. Hier wird ein Buch vorgestellt von einem gewissen Michael Pollan: „Botanik der Begierde“. Und da heißt es in der Überschrift, also FAZ Sonntagszeitung: „Unser Gebieter, die Pflanze. Wer gärtnert, weiß es. Gerade bei eintönigen Verrichtungen sprießen mitunter furiose Gedanken. So erging es auch dem amerikanischen Journalisten Michael Pollan. Zitat: ,Eine Biene würde sich im Garten vermutlich auch als Subjekt und die Blüte, deren Nektartropfen sie plündert, als Objekt betrachten, und dabei verhält es sich gerade andersherum‘, behauptet Pollan. Es ist der Samen einer wunder­baren Theorie, dass nämlich im Bauplan der Pflanzen der Mensch als Werkzeug bota­nischer Evolution vorgesehen ist.“ Also der Mensch als Werkzeug der Pflanzen. „Durch bestimmte Strategien veranlassen sie, die Pflanzen, uns, ihre Verbreitung voranzutreiben. Dazu setzt beispielsweise der Apfel seine Süße ein, die Tulpe ihre Schönheit, und die Kartoffel nährt uns mit ihrer Stärke. Man mag das für vollkommen abwegig, für wissen­schaftlich unhaltbar oder für den Auswuchs einer Neurose halten. Kurzweilig liest sich Pollans Abhandlung allemal, da seine Beschreibungen den Vorzug haben, abgegriffene Metaphern zu meiden und alle naheliegenden Einwände amüsant zu entkräften.“ ‒ Finde ich immer schön, wenn das wirklich gelingt. Es gibt ja immer die berühmten naheliegenden Einwände, die sozusagen immer in Griffnähe liegen, die meistens schnell entkräftet und widerlegt werden können. ‒ Bei aller Genauigkeit erlaubt Pollan uns dennoch immer wieder, auch über den Autor als glücklichen Gärtner zu lachen, etwa über seine Karriere als Marijuana-Züchter. Eins allerdings verrät er nicht: ob die hochintelligenten Pflanzen nicht sogar den Namen dieses Autors zwecks Bestäubung des PR-Werts vorab erdacht haben. Resümee: Die ideale Lektüre nach getaner Gartenarbeit fördert die Einsicht, dass mensch­liches Tun im Garten und anderswo stets von begrenzter Wirksamkeit ist.“

Ich meine, das ist wirklich ein Kuriosum. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber man kann diesen kurzen Bemerkungen hier ein bisschen nachgehen und stellt also fest, dass die Pflanzen, hier tatsächlich als eine eigene Wirkpotenz vorgestellt werden, die sich in gewisser Weise der Menschen bedient. Es gibt ja solche Gedanken auch bei Wolf-Dieter Storl, wenn er über die Pflanzen-Devas schreibt. Nicht, das habe ich ja angedeutet. Er behauptet ja, dass die Pflanzen-Devas in gewisser Weise als gewaltige makroskopische Wesen in die Menschheitsgeschichte hineinwirken und Menschen, Individuen, ganze Menschengruppen und auch kulturelle Zusammenhänge von ihrer Ebene aus in ihrem Sinne bestimmen. Gut, das vorab.

Ich habe das gesagt: Eleusis ist das größte Rätsel der antiken Welt und eines der faszinierendsten Phänomene der Geistesgeschichte überhaupt. Warum? Einmal deswegen, weil hier wirklich authentisch und wahrhaftig Esoterik vorgelegen hat. Nicht in diesem abgeflachten New-Age-Sinn, wo alle Irrationalismen nun gleich Esoterik sind, sondern in dem eigentlichen, tiefsten Sinne des Wortes „Esoterik“ im Sinne der nur für Eingeweihte erschließbaren und verständlichen Bewusstseinsformen.

Der Kult von Eleusis war ein Mysterienkult. Wir wissen nicht, wann dieser Kult entstand. Es gibt nur Vermutungen. Aristoteles sagt, dass der Kult schon zu seiner Zeit über 1000 Jahre alt gewesen sei. Das würde dann sehr weit zurückgehen. Er ging auf jeden Fall bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert, als dann die Christen aus einem starken Konkurrenzimpuls heraus Eleusis bekämpften und die Weihestätte restlos zerstörten. Sie ist immer wieder einmal zerstört worden im Laufe der Geschichte, unter anderem auch von den Persern. Und was man heute an diesem Ort findet, in Elefsina, also in der Bucht von Salamis, in einem musealen Raum, ist eine Mischung aus römischen Bauten, die zum Teil noch von Hadrian stammen, also Ruinen, dann einige Teile des Peisistratos oder von ihm angeregten, und auch Restbestände dessen, was Perikles angeregt hat. Man sieht noch das Telesterion, diese gewaltige Einweihungshalle im Grundriss, man sieht Säulenfragmente, man sieht an der Seite die Sitzmöglichkeiten, denn diese gewaltige Halle, 54 mal 52 Meter, sollte bis zu 3000 Initianden beherbergen, eine erstaunliche Zahl. Über diese Frage werden wir noch sprechen.

Wir müssen uns bei Eleusis erst einmal generell in einen völlig anderen Bewusst­seinsraum einzuschwingen versuchen. Das ist schwer genug. Schon deswegen schwer, weil es eine unverbrüchliche Schweigepflicht gab für alle Initianden in diesem Eleusis. Keiner der Initianden hat in diesem gewaltigen Zeitraum von 1200 bis maximal 2000 Jahren jemals diese Schweigepflicht gebrochen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. In unserer heutigen vollkommen geschwätzigen Zeit, wo jeder über alles redet und keiner irgendetwas für sich behalten kann, ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass ein Kult existiert hat, über einen so riesigen Zeitraum hinweg und tatsächlich die Schweigepflicht von niemandem ernsthaft gebrochen worden ist. Es gab hin und wieder mal zaghafte Andeutungen, was möglicherweise in Eleusis passiert sein könnte, zum Beispiel in den Tragödien des Aischylos. Man hat ja verschiedentlich Aischylos den Vorwurf gemacht, er habe Mysterienwissen von Eleusis in seinen Tragödien preisgegeben. Und es gab natürlich auch verschiedene Versuche, das Mysterium zu entweihen. Darüber sprechen wir noch. Etwa im Jahre 415 v. Chr. gab es einen Skandal in Athen. Einige hätten sich unbekannte Kultgegenstände und eine unbekannte Substanz privat, im privaten Rahmen zugeführt oder einverleibt. Was das war, wissen wir nicht. Wahrscheinlich das sogenannte Kykeon, ein Gerstegetränk, von dem ja immer wieder vermutet worden ist, dass es mit psycho­troper Wirksamkeit ausgestattet gewesen sei. Das wird uns noch beschäftigen.

Alle, die in Eleusis eingeweiht waren, haben davon in den höchsten Tönen gekündet, ob das Pindar war, die Tragöden Sophokles, Euripides, ob das Platon war und viele, viele andere. Immer wieder ist gesagt worden, das sei eine überwältigende Erfahrung gewesen, etwas Unvorstellbares, etwas Unsagbares. Also man muss sich das bitte mal überlegen, über einen so riesigen Zeitraum hinweg ist das nicht gebrochen worden, ist das Schweige­gelöbnis nicht gebrochen worden. Das kann man sich nicht vorstellen. Daraus kann man schon schließen, es muss etwas Besonderes mit diesem Kult auf sich gehabt haben.

In den letzten Jahren, und so stellt sich ein gewisser Kontext her, hat es ja ver­schiedene Zusammenhänge, verschiedene Fragen gegeben, den Kult von Eleusis in einen neuen, zeitgemäßen Kontext einzubinden, Stichwort „Neues Eleusis“. Es hat immer wieder Überlegungen gegeben, ob man vielleicht doch an das Rätsel von Eleusis herankommen könnte, ob man wesentliche Komponenten entschleiern könnte und ob es möglicherweise, die Möglichkeit und Wirklichkeit geben könnte, einen neuen Demeter-Kult zu initiieren. Von denen, die das schriftlich verschiedentlich geäußert haben, seien nur einige genannt. Das ist Terence McKenna, der vor zwei Jahren Verstorbene, dann Ralph Abraham, der Mathematiker aus Kalifornien, dann auch Albert Hofmann, kürzlich 90 Jahre alt geworden, der Entdecker, man kann auch sagen Erfinder, wie immer, des LSD, und ich habe das auch getan. In meinem Buch „Was die Erde will“ habe ich an mehreren Stellen die Frage gestellt: Gibt es möglicherweise so etwas wie ein Neues Eleusis? Wie könnte man das denken in einem geomantischen, tiefenökologischen Zusammenhang, der unserer Bewusstseinsform heute entspricht?

Das ist allerdings die Voraussetzung ‒ denn wir können ja nicht einfach ein altes Mysterium wieder aufleben lassen, zumal wir ja in der Essenz gar nicht genau wissen, was wirklich passiert ist. Auf einer Gedenkveranstaltung zum neunzigsten Geburtstag von Albert Hofmann, wie ich gehört habe, soll Christian Rätsch, der Etnobotaniker, gesagt haben: LSD ist Eleusis. Eine erstaunliche Aussage, die wirklich sehr weitgehend ist und eine Fülle von Fragen auslöst, und hier einfach mal als These hingestellt sei. Ich bin nicht dort gewesen, habe das aber von verschiedenen Seiten gehört, dass das Christian Rätsch gesagt haben soll. Dann wäre natürlich die Frage eine völlig andere, in gewisser Weise einfachere, wenn man das so nennen will.

Eleusis war ein Mysterienkult, schon im Rahmen der antiken Religiosität ein Unikum, also keineswegs unbedingt integrierbar in die Olympische Religion der Griechen, sondern wahrscheinlich viel älter als diese. Wie die Olympische Religion der Griechen entstanden, wissen wir nicht. Es gibt buchstäblich nur Spekulationen, Vermutungen, Arbeitshypothesen. Kein Mensch weiß, wie diese rätselhafte Welt, wie dieses rätselhafte Pantheon der Gestalten wirklich entstanden ist. Bei Homer bereits 800 v. Chr. finden wir es vollständig vor, rätselhaft, und in den nachfolgenden Jahrhunderten wird das nur noch ausdifferenziert.

Demeter ist offenbar noch viel älter. Hier scheinen sich in die Olympische Religion, in die griechisch-homerische Religion, alte Elemente, Mutterkult-Elemente zum Beispiel, dionysisch-orphische Elemente eingeschlichen zu haben, scheinen darin integriert worden zu sein. Und es scheint hier eine Verbindung hergestellt worden zu sein, die selbst für die Griechen etwas Fremdartiges hatte. Denn wenn das nicht so gewesen wäre, wäre ja gar nicht verständlich gewesen, warum man dieses Mysterium geheimhalten musste. Es muss etwas gewesen sein, was selbst im offiziellen Kanon der griechischen Mythologie etwas Singuläres, etwas Einzigartiges und etwas zu Bewahrendes, als Geheimnis zu Bewahrendes gewesen sein.

Nochmal eine kurze Bemerkung, die wichtig ist für den jetzt kommenden Zusam­menhang. Ich habe in der zweiten Vorlesung dieses Sommersemesters Ihnen versucht zu zeigen, dass vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren ein radikaler, ein revolutionärer Bewusstseinsbruch in der abendländischen Geistesgeschichte stattgefunden hat. Ich nenne das „die Geburt des mentalen Selbst“, habe dazu viele Gedanken entwickelt, unter anderem in dem Buch „Was die Erde will“ im Zusammenhang mit dem Erlösungsgedanken usw. Das will ich hier nicht im Einzelnen darstellen. Was aufschlussreich ist, dass diese revolutionäre Wandlung im abendländischen Denken im fünften vorchristlichen Jahrhundert zwei entscheidende Komponenten hatte, die auch in der Tiefe mit dem Mysterium von Eleusis zusammenhängen. Hermann Schmitz, der von mir geschätzte Kieler Philosoph, nennt diese beiden Komponenten: a) die Selbstermächtigung der Person, also eine Art Selbstergreifung, wie ich sage würde, des mentalen Selbst. Und der zweite Faktor [b] ist die Objektivierung der Außenwelt, die uns ja allen, ich habe das ja mehrfach gesagt, vollkommen selbst­verständlich erscheint. Jedem erscheint es wie die selbstverständlichste Sache von der Welt: Da draußen ist eine für sich seiende, existierende Objektwelt. Hier sind wir als Körper, und in der Brust des je Einzelnen gibt es eine Innenwelt, eine Innenpsyche, einen Innenraum und da draußen den gemeinsamen Außenraum.

Das kann man an zwei griechischen Begriffen sehr schön zeigen in der Gegen­überstellung, nämlich an den Begriffen „psyche“ und „thymos“ oder „thymo“. Psyche meint schon so etwas wie Selbst, schon so etwas wie eine Bewusstseinsfokussierung auf einen selbsthaften, ichhaften Kern. Und thymos ist ein Etwas, eine eigene Seinsqualität, die etwas zu tun hat mit Zorn, Zürnen, Liebe, Herrschen, frei sein, mit einer Art von Wildheit, auch häufig mit Eros, Liebe, Lust und so weiter übersetzt. Und man kann in dieser Zeit zeigen, dass es einen Antagonismus gibt zwischen Psyche, der Konstellierung des Einzelnen, häufig auch verbunden mit dem sogenannten Apollinischen, mit dem Gott Apollon, dem Ordnung stiftenden Prinzip, das immer auch mit Selbsthaftigkeit, Harmonie und Gleichmaß verbun­den ist und Thymos, dem eher dionysischen Element. Und das spielt hier hinein in die ganze Frage von Eleusis.

Nietzsche hat ja in seinem berühmten philosophischen Erstling „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ von 1872 einen Gegensatz aufgestellt bzw. eigentlich aufgegriffen von den Romantikern und Anderen, den er beschreibt als das Apollinische und das Dionysische; das Dionysische, das rauschhaft Wilde, in gewisser Weise auch Eksta­tische, ein ganz starkes Element in der griechischen Seele, und auf der anderen Seite das Apollinisch-Formhafte, das Gestalthafte, das selbsthaft Gestaltete. Die ekstatische Kompo­nente, die Rauschkomponente war im alten Griechenland ungeheuer stark. Man kann sagen, dass die Griechen Apollon so nötig hatten, weil sie in der Tiefe ganz stark geprägt worden sind von diesen archaischen, dionysischen, wilden, ekstatischen Strömungen, die sich unter anderen verbanden mit dem Namen „Dionysos“, der ja auch kein griechischer Gott ist. Wir begegnen dem Dionysos dann in verschiedenster Form, auch im eleusinischen Mysterium, nicht, als Iakchos tauchte er da auf. Manchmal allerdings wird er auch synonym verwendet mit Hades oder Pluto, und dann wieder hat er ganz andere Konnotationen.

Das ist überhaupt aufschlussreich für die griechische Götterwelt bis in die Myste­rienwelt hinein. Es gibt eine eigenartige Identitätsverschiebung. Im Kult geht es ja um Demeter und Persephone, also Persephone als Tochter von Demeter, die von Pluto entführt wird in die Tiefen der Erde. Aber in gewisser Weise ist Persephone als Tochter von Demeter auch Demeter selber, und sie ist auch ihre Schwester. Eigentlich sind sie beide identisch. Es geht also um ganz tiefes Mysterium ja auch von Erdentiefe, auch von pflanz­lichen Prozessen und Geburt und Tod und Wiedergeburt. Also letztlich um die Frage von Palingenese, was ja in Griechenland eine entscheidende Rolle gespielt hat außerhalb der antiken Religion. In der normalen, in der antiken Religion des Homer gibt es nicht den Gedanken von Tod und Wiedergeburt. Hades ist das Reich der Schatten. Wer da hinkommt, bleibt dort. Es gibt keine Wiederkehr im Sinne der klassischen griechischen Religion.

Also, was interessant ist und auch in die Mysterien hineinwirkt, ist die Frage des Ekstatischen, und das verbindet sich interessant und kaum bekannt etwa mit der Frage: Was war eigentlich in dem griechischen Wein? Dass der griechische Wein nicht der Wein war, den man heute kennt, ist klar. Alle Überlegungen, die wir kennen, alle Texte, alle Quellen, die wir heranziehen können, belegen das Eine: Der Wein im antiken Griechenland muss wie eine psychotrope Substanz gewirkt haben. Normalerweise wurde er nur verdünnt getrunken, dreiviertel Wasser, ein Viertel Wein, und er wurde ganz stark verbunden mit Trunkenheit, mit Ekstase bis hin zum Irrsinn. Das Moment des Wahnsinns, der Verzückung, der ekstatischen Verzückung, spielt ja in der griechischen Philosophie auch eine große Rolle, etwa bei Platon, unter anderem in dem Höhlengleichnis. Das wird ja von Platon auf eine andere Ebene gebracht. Bei sakralen Anlässen war der Wein stärker, und der aus­drückliche Zweck des Trinkens bestand darin, eine tiefere Trunkenheit herbeizuführen, in welcher die Gegenwart der Gottheit fühlbar wurde. Dionysos-Bakchos als der ekstatische Gott, der den Menschen in einen anderen Bewusstseinszustand hineinbringt, indem er dann ekstatisch überwältigt, eine höhere Wahrnehmung hat. Und das wurde häufig genug mit dem Wein verbunden. Unter dem Namen Dionysos heißt es hier in diesem Buch von Wasson/Ruck/Hofmann „Der Weg nach Eleusis“: „Überlebte der als Gatte der Mutter-Göttin assimilierte Zeus bis in die klassische Periode hinein. Sein Name weist ihn als Zeus von Nysa aus, denn Bios ist eine Form des Wortes Zeus. Nysa war nicht allein der Ort, wo Persephone geraubt wurde, es war der Name für jeden Ort, an dem jene mit der Passion von Geburt und Tod des Dionysos verbundene eheliche Begegnung aufgeführt wurde.“ Also der Hieros Gamos, der heilige Geschlechtsverkehr. „Wenn Dionysos seine Anhängerinnen, die Mänaden oder Bacchantinnen in Besitz nahm, war er synonym mit Hades, dem Herrn des Todes und Bräutigam der Göttin Persephone. Die Persephone sammelten auch die Mänaden Blumen, wir wissen das, weil ihr Emblem der Thyrsos war, ein mit Efeu-Blättern gefüllter Fenchel-Stängel. Derartige hohle Stängel wurden üblicherweise von Kräuter­sammlern als Behälter für ihre Ernte verwendet und der Efeu, mit dem die Stängel der Mänaden gefüllt waren, war dem Dionysos heilig und galt als psychotrope Pflanze.“

Also der Thyrsos als ein Stängel, ein Fenchel-Stängel, und innerhalb dessen der Efeu, „war dem Dionysos heilig und galt als psychotrope Pflanze. Dionysos konnte seine ekstatischen Bräute jedoch auch vermittels anderer Pflanzen besitzen, denn er lebte als vegetativer Gatte in allerhand Rauschmitteln, darunter offenbar auch in gewissen Pilzen. Deren Stiel wurde in Analogie zum Emblem der Mänaden ebenfalls ,Thyrsos‘ genannt. „Auch der Stiel der Pilze galt als Thyrsos, wobei der Pilzhut an die Stelle der psychotropen Kräuter trat.“ Gut.

Die Äußerungen, die wir haben über Eleusis sind voller Verzückung. Ich habe das schon angedeutet. Man muss das ernstnehmen, dass über einen so gewaltigen Zeitraum hinweg immer wieder hochkarätige Geister voller Verzückung, voller Ehrfurcht davon sprachen, was in Eleusis geschaut worden wäre [ist]. Das ist das Entscheidende, das kann man mit Sicherheit sagen. Es gab in diesem Mysterienkult in der entscheidenden letzten Nacht nach neun vorbereitenden Tagen eine Art von Schau. Es gab eine Art von visionärer Schau für alle Initianden. Im Höchstfalle handelte es sich um 3000, das muss man sich bitte mal überlegen. Ein Einweihungsgeschehen, wobei 3000 Menschen in einer riesigen Halle gemeinsam eingeweiht wurden, und alle 3000 haben das als eine der größten, vielleicht die größte Erfahrung ihres Lebens bezeichnet. Also, es ist gesagt worden, na ja, in dem Telesterion ist eine Art Mysterienspiel vorgeführt worden. Man hat dann festgestellt, das kann gar nicht sein, weil die Säulen, wenn man sich das genau betrachtet, einander verdecken. Man hätte nur von einem ganz kleinen Teil dieses Telesterion aus eine wie immer geartete Bühne sehen können. Das heißt, die meisten, die dort anwesend gewesen sind [waren], hätten die Bühne gar nicht sehen können. Also so kann es nicht gewesen sein.

„Dreimal selig, die dies geschaut haben, von dieser Gewissheit der Mysten sprechen mehrere Zeugnisse“, hier Marion Giebel, eine zeitgenössische Altphilologin in ihrem Buch „Das Geheimnis der Mysterien“. „Von dieser Gewissheit der Mysten sprechen mehrere Zeugnisse, die umso kostbarer sind, als sie nicht aus der Spätzeit oder von christlichen Schriftstellern stammen.“ Als die Christen die Macht ergriffen, haben sie sofort Eleusis diabolisiert. Unter anderem kam der Vorwurf auf, hier würden Orgien gefeiert. Orgia, das griechische Wort „orgia“ war ursprünglich nichts weiter als ein sakrales Geschehen, war der Vorwurf, Orgien würden gefeiert. Außerdem sei das Ganze eine satanische Perversion des christlichen Mysteriums.

„Im Demeter-Hymnus heißt es über die Weihen: ,Selig der Erde bewohnende Mensch, der solches gesehen, doch wer die Opfer nicht darbringt oder sie meidet, wird niemals teilhaftig solchen Glücks. Er vergeht in modrigem Düster.‘“ Immer kommt auch der Gedanke des Opfers heim, zum Beispiel ein Schwein wurde geopfert. Schwein haben, im Sinne von Glück haben, geht, viele wissen das nicht, aber es sei gesagt, auf den eleusi­nischen Demeterkult zurück. Der Dichter Pindar sagt, Zitat: „Glücklich, wer dies gesehen hat, bevor er unter die Erde geht, denn er weiß um das Ende des Lebens, und er weiß den gottgegebenen Anfang.“ Also er weiß das Ende, er weiß den Anfang, er weiß um die Geburt, er weiß um den Tod. Und bei Pindar, ganz eindeutig, das geht aus anderen Aussagen hervor, da geht es ja auch um die Wiedergeburt und im Sinne von orphischen Strömungen, auch um die Wirklichkeit einer jenseitigen, andersweltlichen Sphäre. Das war ja ein starkes Element aus den orphischen Kulten, das auch in die eleusinischen Mysterien eingeflossen war. Das war an sich ja auch der antiken Religion der Griechen wesensfremd. Nicht, in der Orphik geht es ja um eine, sagen wir mal, dualistische Sicht. Der Körper ist eine Art Grab eines seelischen Etwas, einer geistigen Essenz, die es in einem langen Läuterungsprozess aus der Verunreinigung des Körperlichen zu befreien gilt. Die orphischen Mysterien waren ja auch Versuche, den Menschen von der Körperlichkeit, von der Unreinheit des Leiblichen zu befreien, ganz im gnostischen Sinne, zugunsten einer höheren Geistwesenheit. Nicht, also der Mensch galt als ein Mischwesen, entstanden aus der Asche der Titanen, der dämonischen Kräfte, die Zeus‘ Blitze zerschmettert haben. Aber die Titanen haben kurz vorher den Dionysos, eine Manifestation des Dionysos, gegessen. Und insofern lebt im Menschen ein Element des göttlichen Dionysos und der titanischen Kräfte. Wir werden dem noch begegnen, dass das immer wieder in diesem Mysterium ungeheuer gewaltsam, blutig, wenn man das direkt nimmt, zugeht. Nicht nur Orpheus wird zerrissen von Bacchanten oder Mänaden, auch die verschiedenen Manifestationen des Dionysos, das erinnert natürlich auch an den Osiris-Mythos, werden immer wieder zerrissen, zerfetzt. Es geht immer wieder um Zerstörung und um dann anschließende Neugeburt. Bei Sophokles heißt es, also dem zweiten der großen griechischen Tragödiendichter: „Dreimal selig sind die unter den Sterblichen, die dieses geschaut haben, bevor sie zum Hades gehen. Nur für sie allein ist dort Leben. Für die Anderen aber ist alles dort schlimm.“ Auf einer in Eleusis gefundenen Inschrift ist zu lesen: „Wundervoll ist fürwahr das Mysterium, das uns von den seligen Göttern gegeben wurde. Der Tod ist für die Sterblichen nicht länger ein Übel, sondern ein Segen.“ Der Tod als Übergang zu einem anderen und höheren Bewusstseins­zustand, insofern [wird] das Einweihungsgeschehen als ein Todeserlebens [gesehen], das wird uns noch beschäftigen.

Der Kern des Mysteriums war die Initiierung eines Todeserlebnisses über ganz bestimmte rituelle Beeinflussung des Bewusstseins: Schlafentzug, Fasten, möglicherweise auch eine psychotrope Substanz, das sogenannte Kykeon. Darüber werden wir noch reden. Und es galt, die Initianden auch durch Schockeffekte in einen anderen Bewusstseins­zustand zu bringen. Ihnen wird, wie man es heute vielleicht sagen könnte, eine transpersonale Erfahrung verschafft. Aber gleichzeitig sollten sie erkennen, dass dies nicht getrennt war von den natürlich-kosmischen Prozessen, sondern in dieselben integriert war. Das heißt, das was im pflanzlichen, im jahreszeitlichen Rhythmus ständig passierte, wurde übertragen auf die Menschenwelt, also Werden und Vergehen im kosmisch-natürlichen Gesamtzusammenhang.

Der athenische Redner Isokrates, nicht Sokrates, sagt: „Die Eingeweihten haben bessere Hoffnungen in Bezug auf ihr Lebensende überhaupt für alle Zeit. Cicero spricht von den eleusinischen Mysterien, durch die wir die Anfänge, wie sie genannt werden, in Wahrheit oder die Grundlagen des Lebens kennengelernt haben, durch die wir nicht nur mit Freude zu leben, sondern auch eine bessere Hoffnung zu sterben gelernt haben.“ Man hat verschiedentlich gesagt, das ist bestimmt auch zum Teil richtig, dass auch die Platon­ische Philosophie stark von Eleusis beeinflusst war, denn Platon hatte ja in verschiedenen Dialogen ganz klar gesagt: Philosophie in seinem Sinne heißt Sterben lernen. Und die Ideenlehre Platons, also dass … die Sicht, dass der Mensch aus einer höheren Ideenwelt herabsteigt in die physisch-sinnliche Existenz, ist letztlich eine sowohl orphische als eleusinische Denkfigur, in gewisser Weise auch eine pythagoräische Denkfigur. Aber es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wer hier wen beeinflusst hat.

Wahrscheinlich ist die Orphik die älteste Strömung dieser Art, die zweitälteste, sind die Eleusinien und die drittälteste sind die Pythagoräer. Wahrscheinlich sind die Pytha­goräer ganz stark von den Orphikern beeinflusst, obwohl sich das historisch nicht ganz klar festmachen lässt. Es gibt manche Forscher, die behaupten das Gegenteil, die meinen, dass eigentlich die Orphik stark von den Pythagoräern beeinflusst ist. Aber wahrscheinlich ist die Orphik wesentlich älter.

Nun, es gibt, bevor ich jetzt auf den Kult eingehe, soweit wir überhaupt etwas darüber wissen ‒ und ein bisschen wissen wir, möchte ich Ihnen etwas anführen, was viele nicht wissen und woran viele auch nicht denken. Es gibt eine literarische Darstellung einer Einweihung in Eleusis von Goethe, im „Faust“. Das wissen viele nicht, dass der Gang zu den Müttern, den Goethe im „Faust II“ beschreibt, letztlich eleusinisch ist. Der Gang zu den Mütter ist letztlich der Gang zur Erdmutter Demeter. Und es gibt einige Indizien, die für meine Wahrnehmung recht eindeutig sind, die darauf schließen lassen, dass Goethe im „Faust II“, im ersten Akt, tatsächlich eine eleusinische Einweihung dargestellt hat. Es tauchen zwei Begriffe auf bei Goethe, einmal der „Mystagoge“. Mystagoge muss ich erklären; jeder der Initianden, der zunächst als „Neophyt“ bezeichnet wurde, im Anfang als Neophyt, dann als Myste, jeder der Initianden hatte einen eigenen Mystagogen, also einen Begleiter, der ihm half, der schon eingeweiht war, der eine Art Hilfsfunktion hatte. Hier heißt es bei Goethe im Zweiten Teil, Erster Akt. Ich lese mal eine kurze Passage vor, da werden Sie sehen, dass das im Grunde genommen das eleusinische Mysterium darstellt. Mephisto [und] Faust unterhalten sich darüber, wie man Helena heraufbeschwören kann in dieser furiosen Szene. Vielleicht haben einige ja die Inszenierung von Stein gesehen, im Fernsehen, von Peter Stein, vor einem Jahr. [Zitat Faust II, Finstere Gallerie – der nachfolgende Text folgt nicht genau der Rezitation sondern dem originalen Text]:

„Mephistopheles.
Und hättest du den Ocean durchschwommen,
Das Gränzenlose dort geschaut,

So sähst du dort doch Well’ auf Welle kommen,

Selbst wenn es dir vor’m Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne;

Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,

Den Schritt nicht hören den du thust,
Nichts Festes finden wo du ruhst.

Faust.
Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;

Nur umgekehrt. Du sendest mich in’s Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;

Behandelst mich, daß ich, wie jene Katze,

Dir die Kastanien aus den Gluthen kratze.
Nur immer zu! wir wollen es ergründen,

In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden.”

Nicht, dann gibt er ihm diesen Schlüssel. –


„Mephistopheles.
Ich rühme dich eh’ du dich von mir trennst,
Und sehe wohl, daß du den Teufel kennst;
Hier diesen Schlüssel nimm.

Faust.
Das kleine Ding!

Mephistopheles.
Erst faß ihn an und schätz’ ihn nicht gering.

Faust.

Er wächs’t in meiner Hand! er leuchtet, blitzt!


Mephistopheles.
Merkst du nun bald was man an ihm besitzt!
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
Folg’ ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.

Faust (schaudernd).
Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!

Was ist das Wort das ich nicht hören mag?


Mephistopheles.
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört?
Willst du nur hören, was du schon gehört?
Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge,

Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge.

Faust.

Doch im Erstarren such’ ich nicht mein Heil,

Das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil;
Wie auch die Welt ihm das Gefühl vertheure,
Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.

Mephistopheles.
Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige!

’s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen,

In der Gebilde losgebundne Räume;
Ergötze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;
Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe,
Den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe.

Faust.
Wohl! fest ihn fassend fühl‘ ich neue Stärke,
Die Brust erweitert, hin zum großen Werke.


Mephistopheles.
Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund,
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn,
Die einen sitzen, andre stehn und gehn,
Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur;
Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.
Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß,
Und gehe grad‘ auf jenen Dreifuß los,
Berühr ihn mit dem Schlüssel!


Mephistopheles.
So ist’s recht!
Er schließt sich an, er folgt als treuer Knecht;
Gelassen steigst du, dich erhebt das Glück,
Und eh‘ sie’s merken, bist mit ihm zurück.
Und hast du ihn einmal hierher gebracht,
So rufst du Held und Heldin aus der Nacht,
Der erste, der sich jener Tat erdreistet;
Sie ist getan, und du hast es geleistet.
Dann muß fortan, nach magischem Behandeln,
Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.


Faust.
Und nun was jetzt?

Mephistopheles.
Dein Wesen strebe nieder;
Versinke stampfend, stampfend steigst du wieder.

Faust.
(stampft und versinkt).

Mephistopheles.
Wenn ihm der Schlüssel nur zum besten frommt!

Neugierig bin ich ob er wieder kommt?”


Dann kommt die Szene, die es ganz eindeutig als ein Einweihungsgeschehen zeigt. Plötzlich nämlich taucht Faust auf der anderen Seite des Proszeniums auf. Und jetzt? Ein Sprecher wird hier ausgewiesen als Astrologe, sagt über Faust:

„Astrolog.
Im Priesterkleid, bekränzt, ein Wundermann,
Der nun vollbringt was er getrost begann.
Ein Dreyfuß steigt mit ihm aus hohler Gruft,
Schon ahn’ ich aus der Schale Weihrauchduft.

Er rüstet sich das hohe Werk zu segnen,

Es kann fortan nur glückliches begegnen.

Faust (großartig).
In eurem Namen, Mütter, die ihr thront
Im Gränzenlosen, ewig einsam wohnt,
Und doch gesellig. Euer Haupt umschweben

Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben.

Was einmal war, in allem Glanz und Schein,
Es regt sich dort; denn es will ewig seyn.
Und ihr vertheilt es, allgewaltige Mächte,
Zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte.

Die einen faßt des Lebens holder Lauf,

Die andern sucht der kühne Magier auf. (…)”

So, ganz eindeutig erfährt hier Faust eine Art eleusinische Einweihung. Nun, was wissen wir über Eleusis. ‒

Wir wissen ungefähr den äußeren Ablauf. Zunächst muss man sagen, dass die Haupt-Eleusinien im Herbst stattfanden, im Frühherbst, September, Oktober, die sogenann­ten großen Mysterien. Es gab aber auch kleine Mysterien, die einführenden, hinführenden Charakter hatten im Februar bzw. März. Marion Giebel hat in ihrem Buch „Das Geheimnis der Mysterien“ die Phasen zusammengestellt, die wir nennen können und was wir nennen können. Es zog ein Zug von Athen die 22 km nach Eleusis, eine einstmals heilige Straße zur Bucht von Salamis. Heute ist das furchtbar, heute ist es ein hochindustrialisiertes Gelände. Häufig genug sind Kriegsschiffe in der Bucht von Salamis. Sie wissen, dass es diese berühmte Bucht, wo 490 v. Chr. die Griechen gegen die Perser in der berühmten See­schlacht gewonnen haben. Sie haben sie in die Enge getrieben, die konnten da nicht mehr ausweichen und sind dann vernichtend geschlagen worden.

Marion Giebel hat 14 Phasen aufgeführt. Ich will das nicht alles nennen, ich will Ihnen nur die wesentlichen nennen, aus denen man interessante Schlussfolgerungen ziehen kann.

„Zunächst mal haben sich alle versammelt in der Frühe zu einer großen Prozession. Zunächst die Priester mit den Kultbildern, die Priesterinnen, die in Körben die heiligen Gegenstände des Kultus trugen.“ Das weiß man, was das war. Ein solcher Korb hieß „ciste“, als cista mystica, aus anderen Kulten bekannt waren. „Er war ein zylinderförmiges Gefäß mit Deckel, das die Priesterin auf dem Kopf trug. Ein archäologisches Zeugnis dieser Votiv-Tafel der … aus dem vierten Jahrhundert gibt uns einen Eindruck vom Zug der Mysten.“ Das hat man hier auf der Antiken-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau gesehen. Wer das sich angeschaut hat, weiß, es gab, weiß das vielleicht auch. Es gab eine eigene Abteilung zu diesem Erdmutterkult. „Jeder trug einen Stab, der mit Blumen, Rosetten und Myrten­zweigen umwunden war und an dem ein Bündel hing. Es enthielt Proviant und die neuen Gewänder, die man am Tag nach der Weihenacht anlegte, um zu bezeugen, dass man ein neuer Mensch geworden war.“ Also die Einweihung beinhaltete eine so radikale Trans­formation, dass man fortan nun ein Wissender war und einen neuen, in gewisser Weise einen neuen Namen trug, auch wenn man durchaus den alten Namen beibehalten hat. „Die Frauen balancierten auf dem Kopf ein Kykeon-Gefäß. Die Männer trugen kleine Kännchen. Viele Teilnehmer hatten auch noch den Kernos bei sich, eine Opferschale mit mulden­förmigen Vertiefungen für kleine Näpfchen.“ Und so weiter.

Nächste Phase, man kommt zu einem Fluss, dem Kephyssos. Hier passiert etwas Eigenartiges, psychologisch interessant. „Es ist die Phase der sogenannten Brückenspäße.“ Jetzt darf obszön, ja soll obszön und derb geredet werden, ganz bewusst, vor der eigent­lichen Weihe hat die Obszönität ihr Feld. „Das Aussprechen derber, ja obszöner Schelm- und Spottreden, die ganz bewusst gewollt war, diente ursprünglich der Abwehr des Bösen. Sieht man zum Beispiel bei Hochzeiten, [dass] das Brautpaar Spotten schlecht machte, damit es nicht dem Neid der Götter ausgesetzt war. Die Scherzreden bewirken gleichzeitig eine Entlastung von der emotionalen Hochstimmung. Zur Zeit der athenischen Polis-Demokratie machten sich die Bürger bei den Brückenspäßen von Eleusis Luft gegenüber prominenten Teilnehmern, die kräftig durchgehechelt wurden und es schweigend hin­nehmen mussten.“ Also die Brückenspäße waren bewußte obszöne, herabwürdigende Scherze, um die emotionale Hochspannung abzubauen. Sehr klug, psychologisch sehr klug. Also das Weihevolle, gewissermaßen Schreiten in den Gewändern, feierlich, erratisch, wurde gleichsam abgemildert, wurde kontrastiert durch Spott, durch Spaß, durch Witz, durch die Brückenspäße.

„Nun erhielten die Mysten im Bereich der eleusinischen Priesterschaft angelangt, einen roten Wollfaden um die rechte Hand und um den linken Fuß geschlungen.“ Das weiß man, dass es so war. „Sie waren damit gebunden und geheilt, zugleich wie ein Opfertier, das ganz der Gottheit angehört.“ Dann gibt es einen kollektiven Tanz, von dem wir nicht genau wissen, wie er sich zugetragen hat, das wäre die vierte Phase. „Und tanzten am Kallikomo-Brunnen“, der heute noch existiert, „und tanzen die Mysten in ihrer Freude eigentlich ange­kommen zu sein. Danach konnte man sich ausruhen. Der Brunnen befand sich noch im profanen, allgemein zugänglichen Bereich. Inzwischen war es dunkel geworden. Mit dem Erscheinen der Sterne wurde das Fasten gebrochen“, vorher wurde gefastet, „und der Kykeon getrunken, das einzige, was die Mysten vor der Einweihung zu sich nahmen.“ Das ist nun der Schlüssel vieler Überlegungen und Spekulationen: Was war dieser Kykeon? Man weiß es aus dem homerischen Hymnus, es war also eine Mischung aus Gerste und Minze. Aber was war da drin? Möglicherweise also eine mutterkorn-befallene Gerste? Das wäre ja eine psychotrope Substanz, die aber schwere Nebenwirkungen hat. Von diesen ist aber niemals die Rede. Und das ist ein Rätsel. Also der Kykeon wird hier getrunken. Ein Trank.
Die Entweihung des Mysteriums wurde mit dem Tode bestraft. Also eine radikale Maßnahme, den heiligen Bezirk zu schützen, vor Entweihung zu schützen. Insofern hat der Staat, hat die erzieherische Polis auch, den uralten, viel älteren Kult als die Polis unter seine eigene Schutzhoheit genommen. „Euch allen sag ich zum ersten Mal zum zweiten und dritten Mal sag ich’s: hebt euch alle hinweg vor dem mystischen Chor. Ihr anderen beginnt die Gesänge, beginnt die heilige Feier der Nacht geziemend dem Fest der Geweihten.“ So lässt Aristophanes den Priester sprechen.

Aristophanes hat das verspottet. Er war ein großer Spötter der antiken Welt, er hat unter anderem auch die Eleusinischen Mysterien verspottet, was er davon wissen konnte. „Durch die großen Propyläen“, die übrigens zum Teil auf den Baumeister Iktinos zurück­gehen, der Teile der Akropolis gebaut hat, unter anderem den Parthenon-Tempel, der berühmteste Baumeister der antiken Welt, also „durch die großen Propyläen zogen die Mysten nun, umgeben in den von einer hohen Mauer umgebenen, in den heiligen Bezirk ein. Ja, abends, die Fackeln der Priester dienten den Mysten nicht nur zur Erleuchtung, sie waren Werkzeuge der Reinigung. Demeter und Kore sind auf Vasenbildern oft mit Fackeln abgebildet. Nach der Reinigung durch die Luft, das Schwingen der Getreideschlegel, der Spreu vom Weizen sondert und im Wasser, ein Bad im Meer“, vorher gab es ein rituelles Bad. „In der Bucht folgt nun die Läuterung durch das Feuer.“ Das haben sie ja bis in die „Zauberflöte“ hinein, nicht, das Wasser und Feuer, Wasser- und Feuerprobe, … bis in die Freimaurer-Riten hinein, das geht ja darauf zurück. „Der Myste hatte mit verhülltem Haupt den folgenden Reinigungsritus zu ertragen, bei dem Fackeln gegen ihn gerichtet wurden. Blind, vorausgesetzt, lernt er sich loszulassen und mit sich geschehen zu lassen, was der Ritus erfordert und was ihn in eine größere Nähe zur Gottheit bringt. Dann durfte der Myste, noch verhüllt, unter dem Beistand seines Mystagogen die Hiera, die heiligen Gegenstände aus der cista mystica berühren.“

Ich mach mal eine kleine Pause und gehe dann auf die zentrale Komponente der eleusinischen Schau ein und auf die Frage, wie man das möglicherweise deuten kann und vielleicht fruchtbar machen kann in tiefenökologischer, geomantischer Hinsicht.

(Kleine Pause.)


Ich muss eine Ergänzung bringen, bevor ich jetzt dem Ablauf weiter folge. Ich hatte Ihnen ja gesagt, Marion Giebel stellt 14 Phasen dar. Ich bin denen jetzt gefolgt bis zur sechsten Phase. Ich muss aber noch einen kleinen Schritt zurückgehen, das habe ich vorhin schlicht und einfach vergessen bzw. vorausgesetzt, was man aber so nicht voraussetzen kann. Hier noch einmal kurz den Mythos von Demeter und Persephone darstellen, wie er in einem grundlegenden Text, im sogenannten homerischen Demeter-Hymnus dargestellt ist, der Grundlagentext für das, was wir überhaupt wissen können über diesen Mythos.

Da heißt es hier in einem der interessantesten Bücher zu den griechischen Mys­terien, geschrieben 1940 von einem der großen Altphilologen, Thassilo von Scheffer, „Hellenische Mysterien und Orakel“. Folgendermaßen, „Hellenische Mysterien und Orakel“, Thassilo von Scheffer, einer der bedeutendsten Altphilologen des 20. Jahrhunderts neben Walter Otto und wenigen anderen, schreibt hier über diesen Mythos. Das hätte an sich am Anfang stehen müssen vor dem Prozedere von Eleusis: „Nach dem Hymnos tanzte die zarte Jungfrau Persephone mit den Töchtern des Okeanos auf einer Wiese, die sich plötzlich, nicht ohne listige Mithilfe des Zeus, mit zauberhafter Blumenpracht bedeckte“, wie magisch sprießen plötzlich Blumen dort, wie die Blumenmädchen in Wagners Parsifal. „Andere erwähnen, dass gerade eine besonders schöne Narzisse Persephone anlockte“, Narzissen werden häufig mit psychotropen Elementen verbunden. Sie galt als Todesblume, „und so berauschte auch im Hymnos der Duft die Jungfrau Persephone so sehr, dass sie nicht merkte, wie plötzlich der Boden gähnend aufklaffte und wie der Kronos-Sohn und Zeus-Bruder Aidonios-Pluton oder auch Hades, der Gott der Toten in der Tiefe mit seinem schwarzen unsterblichen Rossen aus dem Spalt hervorstürmte und das jammernde Mädchen in sein Reich entführt.“

Das ist der Ausgangspunkt, also Persephone wird geraubt. Tiefe öffnet sich und Pluton zieht sie zu sich hinab, ganz eindeutig auch ein Todesmysterium. „Alle Götter blieben absichtlich taub gegen ihr Schreien. Außer der nächtigen Göttin Hekate und dem Sonnen-Helios am Himmel, der alles sieht was geschieht. Auch Demeter hatte von fernher den Jammer vernommen, aber als sie herbeistürzte, konnte sie keine Spur der heiß geliebten, im Boden verschwundenen Tochter entdecken. Verzweifelt raufte sie ihr Haar und durchirrte in zerrissenem Trauergewand, überall mit leuchtenden Fackeln umher­spähend, die Welt, ohne dass ihr jemand die Wahrheit künden wollte, bis ihr schließlich die mit Fackeln schwingende Hekate begegnete und sie zu Helios geleitete, der nun Demeter alles kundtat, besonders aber auch, dass ihr eigener Bruder Zeus das Mädchen dem anderen Bruder Aidonios zugespielt hätte. So erfuhr Demeter, dass ihre Tochter Herrin des Totenreichs werden musste“, die Gattin von Pluto oder Hades.

Wieder seltsam identifiziert, wir haben das schon angedeutet, mit Dionysos. Diese eigenartigen Metamorphosen dieser Göttergestalten. Die sind nicht einfach Gestalten mit klar abgrenzbarer Identität. „Da fasste sie wilder Zorn auf alle Götter. Demeter mied die Himmlischen.“ Demeter, auch Gemeter, also Erdmutter-Göttin, in gewisser Weise die Gestalt gewordene Erde in ihrer nährenden, fruchtbaren, alles umhüllenden, alles tragenden Form. „Demeter mied die Himmlischen und in Gestalt einer gramgebeugten Greisin irrte sie durch die Erde, besonders durch die Einöden von Arkadien, bis sie sich dann schließlich in Eleusis, dem Hause des dortigen Herrschers Keleos nahte. Dessen Töchter brachten sie, ohne in der Alten die Göttin zu erkennen“‒ sie hat also ihre Gestalt geändert, sie tritt als Greisin auf, gramgebeugt ‒ „ohne in der Alten die Göttin zu erkennen, zu ihrer Mutter Metaneira, damit sie dort den kleinen Sohn Demophoon betreuend aufziehen solle. Die sorgliche Markt Jambe suchte dort die tonlose Greisin, die nichts außer Mehl und Wasser genießen wollte, zu erheitern.“

Man muss noch sagen, dass alles Land verdorrt. Ihre Pilgerschaft in der Einsamkeit hat zur Folge, dass das ganze Land verdorrt. Dem begegnen wir ja wieder in Teilen der Gralsgeschichte, wo ja auch vom verwüsteten Land, vom „waste land“, die Rede ist, das alles verdorrt und darnieder liegt. „So zog nun Demeter den jungen Demophoon auf. Als sie aber dabei entdeckt wurde, wie sie ihn im göttlichen Feuer zur Unsterblichkeit zu läutern versuchte, erkannte die entsetzte Mutter nicht die heilige Absicht, und die in ihrem Tun gestörte Demeter verwandelte sich zürnend in ihre wahre göttliche Gestalt.“ Ganz typisch, diese Metamorphose in der griechischen Mythologie. Plötzlich also manifestiert sich die Göttin in strahlender, furchtbarer, gleißender, überwältigender Gestalt. Was immer das war. Das spielte ja in dem griechischen Mythos eine ungeheure Rolle. „Oh ihr verblendeten Menschen“, jetzt Zitat, Hymnos: „Ihr Törichten, ob euch ein gutes ob euch ein schlimmes Geschick beschieden, ihr könnt es nicht ahnen, in deinem Unverstand hast du dich unheilbar geschädigt. Der Götterschwur, bei der Styx unerbittlichem Wasser wisse: Ich hätte in ewiger Jugend unsterblich für immer deinen Sohn gemacht, ihm Ruhm auf ewig verliehen.“ Und dann: „Ich bin die hoch geehrte Demeter, die immer die größte Hilfe und Wonne war für Götter und sterbliche Menschen. Doch einen mächtigen Tempel mit einem Altar darunter soll mir das ganze Volk bei Stadt und Mauer errichten. Über Khalifaros Quelle weit hervorspringendem Hügel selber lehr ich euch dann die Weihen feiern, damit ihr sie heilig vollzieht und meine Seele besänftigt.“

Da hat man also den Ursprung der Mysterien. Demeter selber, „Ich bin die hoch­geehrte Demeter“, leitet also diese Mysterien an. „Hier vernehmen wir deutlich, dass der Hymnos dem Zweck dient, die Gründung der eleusinischen Weihen kundzutun. Die Dichtung wird also wohl in Eleusis selbst abgefasst sein. Forschungen haben ergeben, dass dies vor dem Anschluss von Eleusis an Athen stattgefunden hat.“ Und so weiter.

Und dann kommt es zu einem Kompromiss, wenn man so will .Sie kann ihre Tochter wiedergewinnen, aber nur für zwei Drittel des Jahres, für ein Drittel muss sie in der Tiefe bei Hades bleiben. Das wird häufig so gleichgesetzt mit den jahreszeitlichen Rhythmen, zwei Drittel freundliche, helle Jahreszeiten, in Griechenland wohlbemerkt. Bei uns ist ja eher umgekehrt. Und ein Drittel also, Winter. „Es würde im kreisenden Jahre ein Drittel die Jungfrau im dämmernden Dunkel verweilen, zwei aber bei ihrer Mutter im Kreis der übrigen Götter. Nun erst gehorchte Demeter dem Rufe des Göttervaters und ließ Frucht auf dem Acker sprießen, die Erde wieder in Blättern und Blüten prangen.“ Das war ja vorher wie ausgelöscht, erst für das wüste Land, öde Land, waste land, nicht, wie im Gralsmythos. Und dann folgen die berühmten, für die eleusinischen Laien so aufschlussreichen Verse. „Und zu den waltenden Herrschern begab sich die Göttin Demeter, um dem Keleos und dem mächtigen Eumolpos zu künden, der schön Singende, dem Triptolemos und dem Diokles reisiger Stärke ihren heiligen Dienst und lehrte alle die Weihen, den Triptolemos, Diokles auch, heilige Bräuche, die keiner verraten, verletzen, erforschen darf.“ Jetzt kommt die Geheimhaltung, das Geheimhaltungsgebot. „Denn heilige Scheu vor den Göttern bindet die Stimme. Selig, wer sie je von den irdischen Menschen gesehen, der aber unteilhaftig der Weihen, der findet ein anderes Schicksal, wenn er weilend verblichen im dumpfigen Dunkel.“ Zitat Ende Demeter-Hymnus.

Und dazu schreibt Thassilo von von Scheffer: „Diese ganze Auffassung baut nun die Mysterien von Eleusis mit der Absicht tiefer Einweihung in die geheimen Zusammenhänge solche Vorgänge weiter aus. Nicht nur, um zu belehren, sondern um tröstlich und erhebend mit solcher Erkenntnis zu wirken und eine Hoffnung der Gewissheit eines jenseitigen Lebens, einer Unsterblichkeit, wohl auch einer Wiedergeburt zu gewährleisten. Die Auffassung des Todes als Übergang zu neuem Leben, die Doppelseitigkeit ewiger Frucht­barkeit und des dadurch notwendigen Wechsels der Rhythmen, das ist in Kürze die Hauptbelehrung der eleusinischen Mysterien, womit der Nutzanwendung der Verpflich­tung zu einer solchen Erkenntnis rein und würdig zu sein und sie veredeln, in sich wirken zu lassen. Wahrlich ein Naturkultus von höchster Weihe und größter Bedeutung für jeden, der sich nun harmonisch verwoben fühlte mit dem ganzen kosmischen Geschehen überhaupt, den unentrinnbaren Gesetzen des Lebens im Besonderen.“ So Thassilo von Scheffer in diesem wunderbaren Buch aus dem Jahr 1940. Das also ist sozusagen der Hintergrund. Das musste ich nachtragen.

Jetzt versuchen wir unseren Blick wieder zu wenden zu dem eigentlichen Prozedere. „Die Fackeln der Priester werden angezündet. Dann gibt es die Feuerläuterung. Der Myste hatte mit verhülltem Haupt des vollen Reinigungsritus zu ertragen, bei dem Fackeln gegen ihn gerichtet waren, wie in Freimaurer-Ritualen. Auf diesen Ritus bezieht sich das von dem Kirchenschriftsteller Clemens von Alexandria überlieferte Passwort, das alle Mysten anschließend beim Einzug in die Weihehalle zu sprechen hat: Ich habe gefastet, ich habe vom Kykeon getrunken, ich nahm aus der Cista, hantierte damit.“ Und so weiter.

Jetzt ziehen alle in die Halle ein, vorher noch gibt es ein undeutliches Etwas, eine Art Schauspiel, ein visionäres Geschehen in Höhlen, die man heute noch sehen kann in Eleusis. „Die Prozessionsteilnehmer gelangten nun an einen weiteren mythischen Ort, der uns heute noch sichtbar ist, eine große Höhle mit zwei Kammern, die als Bezirk des Hades und als Eingang zur Unterwelt galt. Manche Zeugnisse über die eleusinischen Mysterien sprechen von furchterregenden Erscheinungen im Dunkel, die den Mysten in Schauder und Schrecken versetzten, bevor ihn dann helles Licht und die tröstliche Gewissheit göttlicher Gegenwart umgaben.“ Schon rätselhaft, was ist da passiert? War das, wie viele vermutet haben, eine Art Schauspiel, was da inszeniert wurde? Was waren diese furchterregenden Erscheinungen im Dunkel? Was wurde denn überhaupt wahrgenommen? Wir wissen nichts darüber.

Schließlich begeben sich alle jetzt in den zentralen Raum, der heute noch in seinen Umrissen in Eleusis und Elefsina, [als] das Museum, zu bewundern ist. Weihetempel, das Telesterion, Einzug in die Weihehalle, bis zu 3000 Menschen. Ich betone das noch mal, eine unvorstellbare Zahl. Gleichzeitig, das Heiligtum hieß Telesterion ‒ Weihehalle. „Im Gegen­satz zum Naos, dem üblichen griechischen Tempel, der nur das Kultbild des Gottes enthielt, dessen Verehrer sich vor dem Tempel um den Opferaltar scharten, war das Telestarion ein Innenraum, in dem sich bei den Weihen bis zu 3000 Menschen versammelten. Die heute sichtbaren Baureste stammen von einem Bau des Perikles von 440 vor Chr.“ Der perikleische Bau, habe ich schon gesagt, war 54 Meter lang und 52 Meter breit. Da mussten 3000 Menschen Platz finden. „Von 42 Säulen getragen und von acht Stufenreihen umzogen, die zum Teil in den Fels gehauen den Teilnehmern an den Weiheplatz zum Sitzen boten. Säulenstümpfe und Sitzreihen sind noch erhalten. Kultuszentrum des Tempels war das Anaktoron, Ort der Herren, Götterwohnung, eine kleine Kapelle von etwa 3 mal 12 Meter, das Allerheiligste.“

Nun die große Frage, bis heute nicht geklärt, konnte nie geklärt werden: Was passiert jetzt im Innersten, sogenannten Allerheiligsten, in der kleinen Kapelle, 3 mal 12 Meter. „Im Innern befand sich ein Rundherd, auf dem offenbar das heilige Feuer entzündet wurde. Dem Mythos zufolge war hier die Stelle, an der ursprünglich im Tempel die Göttin selbst einst gesessen hatte, und daher war dieser heilige Ort immer wieder in die verschie­denen Tempelbauten waren einbezogen worden.“ Jetzt müssen alle die Schweigever­pflichtung abgeben, den Eid der Geheimhaltung bei Todesstrafe. Was sie fortan sehen werden, dürfen sie niemals irgendjemandem sagen.

Nun kommt der entscheidende Punkt: Was wurde wahrgenommen? Nach allem, was wir sagen können, ist es eine visionäre Erfahrung gewesen. Irgendetwas wurde, so ist es in vielen Darstellungen zu lesen, gezeigt. Einige gesagt, es war ein Phallus-Symbol, ein Symbol der weiblichen Geschlechtsorgane. Andere sagten, es wurde nur ein Korn, eine Ähre gezeigt. „Nun hielt der Oberpriester aus dem ihm allein zugänglichen Anaktoron die Hiera, die heiligen Gegenstände, die dort nach der Prozession wieder aufbewahrt worden waren.“ Und dann wird ein Opfer, ein Widder wird geopfert, und dann wird etwas ‒ jetzt kommt der Punkt, der am allerrätselhaftesten ist ‒ jetzt kommt eine Art von Schau, eine visionäre, überwältigende Erfahrung, eine Manifestation der Persephone selbst. Verschiedentlich wird berichtet, dass sich der ganze Raum, das ist immerhin durchgedrungen, das findet man auch bei Platon, mit sogenannten Phantasmata erfüllt hätte, mit geisterhaften Erscheinungen. „Die Eingangshalle füllte sich mit Geistern, wie Pausanias uns in einem Bericht über einen in der Folge umgekommenen Eindringling in die Zeremonie wissen lässt. Das letzte und größte Geheimnis der Weihenacht aber, durch dessen Schau der Myste den höchsten Einweihungsgrad, dem des Epopten, des Schauenden erhielt, war die Epiphanie der Kore selber, also Demeter.“ Ja, was heißt das? Da sind vermutlich Schau­spieler angestellt worden. Die haben sozusagen, wie im Vorgriff auf die griechische Tragödie, hier dieses ganze Drama noch mal wie auf einer Bühne vorgestellt. Ich habe schon gesagt, dass das so nicht stimmen kann, weil das nur … diese Bühne, wenn es sie gegeben hat, nur von ganz wenigen Sitzen aus überhaupt einsehbar gewesen ist. „Zuerst herrschte tiefes Schrecken, erregendes Dunkel, dann plötzliche Helle durch ein gewaltig aufloderndes Feuer aus dem Anaktoron, dessen Rauch durch eine große Öffnung im Dach herausdrang und weithin sichtbar war. Die Göttin wird heraufgerufen mit einem fremd­artig uralten Namen, deren unterweltigen Charakter mit all den Schrecken des Dunkels und der Erdentiefe betont.“ Und dann heißt es, sie habe ein göttliches Kind, ein Kind geboren und dieses göttliche Kind manifestiert sich gleichfalls. Was wurde gezeigt, doch nicht etwa wirklich ein Kind? Was wurde präsentiert ? „Und sie bringt aus dem Dunkel der Tiefe das Kind heraus in strahlendem Licht, Leben aus dem Bereich des Todes.“ Als göttliches Kind immer wieder bezeichnet. „Ist dies ist das Geheimnis der Erscheinung, dass Kore zugleich Demeter ist, die Mutter, die sich neues Leben spendet, in der Tochter verjüngt im ewigen Kreislauf des Lebens? Wie sich dieses vor den Augen der Mysten vollzog, als kollektive oder individuelle Vision oder ob auch die Demeter-Priesterin göttlicher Gestalt auftrat, bleibt ungewiss. Es ist auch unerheblich, denn das Erlebnis bestand in der heiligen Schau, die zugleich Erkenntnis war, nicht einer Göttergestalt, sondern eines religiös-existentiellen Phänomens, der polaren Einheit von Tod und Leben. Der Tod als Durchgang zu einem neuen, anderen Leben und die Geborgenheit des Menschen in diesem Lebenszusammen­hang. Diese Erkenntnis bedeutete die Wiedergewinnung eines in der Olympischen Religion verlorenen Bewusstseins. Als Mysterienhandlung vergegenwärtigte sie das Wiederfinden der Unterwelt-Göttin, der Erdmutter als Mutter und Tochter.“

Vollkommen rätselhaft. Man muss sich, ich sag das noch mal, überlegen, dass es sich um eine Epiphanie einer Gestalt und eine Vision, Phantasmata, handelte, die über Jahr­hunderte, über viele Jahrhunderte immer wieder aufs Neue ihre überwältigende Wirkung ausgelöst haben, das kann man sich gar nicht vorstellen. Natürlich war es naheliegend zu vermuten, es ist allerdings relativ spät erst vermutet worden, zum ersten Mal 1964 durch Robert Ranke-Graves, der hatte als erster die Hypothese aufgestellt, es könnte doch sein, dass dieser Kykeon, den alle Initianden trinken mussten, ein Trunk war mit einer gewissen, auch sehr starken psychotropen Wirkung. Und dann gab es natürlich das große Rätsel­raten: Wenn das so war, was genau enthielt dieses Kykeon? In diesem Buch von Wasson / Hofmann / Ruck „Der Weg nach Eleusis“, das es leider seit Jahren nicht mehr gibt, 1984 erschienen, zum ersten Man englisch 1978, ist der Versuch gemacht worden, von drei hochkarätigen Forschern, dem Mykologen Wasson, Pilzkenner, dem weltberühmten Chemiker Albert Hofmann, Entdecker des LSD und dem Altphilologen Ruck, oder Ruck von mir aus, ist er Amerikaner, ich weiß nicht, wie er ausgesprochen wird. Es ist der Versuch gemacht worden, dieses Mysterium zu enträtseln. Ich glaube nicht, dass es diesen drei Autoren wirklich geglückt ist. Das behaupten sie auch nicht oder nur mit ganz großem Vorbehalt. Es wird in keiner Weise dogmatisch behauptet: So waren die Dinge. Es wird eine Hypothese vorgestellt, die immerhin, sagen wir mal, eine gewisse Plausibilität hat. Man kann sie nicht ganz von der Hand weisen. Nicht Schauspieler waren zu sehen, sondern Persephone. Ja, was ? Eine Schauspielerin, die das darstellte, immer wieder neu? Perse­phone, ein scema, irgendeine Form oder Erscheinung, die über dem Boden schwebte, wie eine Quelle erwähnt. „Platon bezeichnete das Gesehene“, habe ich schon erwähnt, „ausdrücklich als Phantasmata, als geisterhafte Erscheinung. Es wird deutlich, dass in der Eingangshalle eine halluzinatorische Wirklichkeit inszeniert wurde. Und da zeitweise bis zu 3000 Eingeweihte, mehr als die Einwohnerschaft einer gewöhnlichen antiken Stadt, alljährlich, programmgemäß einer solchen Vision teilhaftig wurden, scheint offenbar eine psychotrope Droge im Spiel gewesen zu sein“, was auch verwirrend ist übrigens in der Literatur, die ich mir in ganzer großer Breite angeschaut habe. Einige sagen, dieses Mysterium habe jedes Jahr stattgefunden. Einige behaupten, nur alle fünf Jahre, andere sagen alle vier Jahre. Also wie es nun wirklich war, kann ich nicht sagen. Die Quellen sind unterschiedlich. Es ist ja immer ein Unterschied: jedes Jahr oder alle vier oder alle fünf Jahre.

„Wie uns der Christ Clemens abschätzig enthüllt, waren die Hiera oder das Heilige in den mystischen Körben in Wirklichkeit bloß verschiedene Nahrungsmittel. Auf diese Weise konnten natürlich Alkibiades und die anderen Teilnehmer an den Profanierungen des Jahres 415 ohne Schwierigkeiten zu Hiera für ihre weltlichen Feste gelangen.“ Es wird nämlich gesagt, sie hätten das privat eingesetzt. Man vermutet, dass sie den Kykeon entwendet haben. Ganz platt könnte man sagen: Sie haben mitbekommen, da wird mit einer psychotropen Substanz gearbeitet, die ist geraubt worden und dann hat man sozusagen seine private Feier gemacht damit, [sich eine] private psychedelische Erfahrung zugeführt.

„Tatsächlich wissen wir, dass die Einnahme eines besonderen Trankes, des Kykeon, einen wesentlichen Teil des Mysteriums bildete. Die Ingredienzien dieses Tranks sind in der homerischen Hymne an Demeter erwähnt: Gerste, Wasser und Minze. Watkins, ein Pilzforscher, hat nachgewiesen, dass die Prozeduren und Zutaten für die Zubereitung solcher magischen und rituellen Getränke in den griechischen Quellen in ihrer Formu­lierung exakte Übereinstimmung mit dem vedischen Soma-Ritual zeigen. Und er kommt zu dem Schluss, dass diese Übereinstimmung nicht zufällig sein könne, sondern als Hinweis darauf betrachtet werden müsste, dass das griechische Muster auf den rituellen Trank der indo-arischen Religion zurückgeht.“ Letztlich zu tun hat das mit dem vedischen Soma-Ritual. Das weiß man ja auch bis heute nicht wirklich, was war dieses Soma, von dem in der alt-indischen Lehre viel gesprochen wird. „Jener Trank ist halluzinogen, aus verschiedenen Bestandteilen gemischt und wird immer von einer Frau zubereitet oder durch die Zugabe von Milch als weiblich markiert. Noch einmal Wasson / Hofmann / Ruck, ich lese das vor, denn Sie können das Buch leider nicht käuflich erwerben. Eben sagte mir jemand in der Pause, auch im Internet ist das nicht zu kriegen. Manchmal kann man ja im Internet noch Sachen bekommen, im Verzeichnis aller lieferbaren antiquarischen Bücher, aber offenbar ist das nicht der Fall. „Die antiken Schriftsteller geben einmütig an, dass im großen Telesterion, der Initiationshalle im Innern des Heiligtums, etwas zu sehen war.“ Das durfte man sagen, so viel war zu sagen erlaubt. Die Erfahrung war ein Gesicht, durch das der Pilger zum Sehenden wurde, zum Epopten. Die Halle war jedoch, wie man heute anhand archäologischer Überreste rekonstruieren kann, völlig ungeeignet für Theaterauf­führungen, und auch die epigrammatisch erhalten gebliebenen Rechnungsbücher für das Heiligtum führen keinerlei Angaben für Schauspieler oder Bühneneinrichtungen auf. Was man dort zu sehen bekam, war kein Spiel von Schauspielern, sondern Phantasmata, geisterhafte Erscheinungen. Außerdem begleiteten, wie viele berichtet haben, körperliche Symptome die Erfahrung.“ Das man weiß von Dutzenden von Schilderungen, die nicht das Mysterium erfüllt haben, aber die die Symptome gezeigt haben. „Furcht und ein Zittern in den Gliedern, Schwindel, Übelkeit und kalter Schweiß.“ Wird immer wieder berichtet. „Furcht, Zittern in den Gliedern, Schwindel, Übelkeit und kalter Schweiß. Dann kam die Vision, ein Gesicht und eine Aura von strahlendem Licht, das plötzlich durch die ver­dunkelte Kammer zuckte. Die Augen hatten nie zuvor solches gesehen. Und abgesehen vom formalen Verbot, das Geschehene zu erzählen, ist nie gesprochen worden.“ Ich sage es nochmal, eine Ungeheuerlichkeit. Kann sich ein moderner Mensch nicht mal in seinen kühnsten Vorstellungen vergegenwärtigen, dass das auch nur über zwanzig oder dreißig Jahre eingehalten wird, geschweige denn 2, 3, 400 Jahre oder 800 Jahre oder über 1000 Jahre, unvorstellbare Zeiträume. Auch die Griechen waren, sage ich mal bei allem Respekt, recht geschwätzig häufig, schon Vorläufer der heutigen.

„Aber auch sie haben das Mysterium nicht enthüllt, weil die Erfahrung selbst nicht mitteilbar [ist], denn es gibt keine Worte, die dem Ansinnen gerecht werden können.“ Es wird immer wieder auf die Unaussprechlichkeit verwiesen: Was geschaut wurde, ließe sich nicht in Sprache kleiden. Eine Überwältigungserfahrung, die nicht sprachlich vermittelt werden kann, außer dass es eine Art von Lichtphänomen gewesen sein müsste. „Auch ein Dichter konnte nur sagen, er habe den Beginn und das Ende des Lebens gesehen und erkannt, dass sie eins seien, etwas von Gott Gegebenes. Die Trennung zwischen Erde und Himmel zerschmolz zu einer Säule von Licht.“

Und dann wird hier sehr schön dargestellt, dass dieses Einweihungsgeschehen sich verbindet mit einem in gewisser Weise tiefenökologischen Geschehen des Kreislaufs der Pflanzen. Das ist ja das Faszinierende an diesem Mysterium, dass das synchron lief, ein Einweihungsmysterium, stark angereichert mit orphischen Elementen, aber gleichzeitig die Fokussierung auf einen Erdmutter-Kult. Das hat viele Interpreten völlig verwirrt. Übrigens auch Ken Wilber, der war ganz stark beeinflusst von C. G. Jung, von Erich Neumann und Joseph Campbell, der nämlich die eleusinischen Mysterien ausdrücklich deutet als ein chthonisches, archaisches Mutter-Mysterium, was so nicht stimmen kann. Das auf jeden Fall nur eine Facette ist, nicht unbedingt die wichtigste. Das ist viel zu kurz gegriffen, zu sagen, dass es bei dem eleusinischen Mysterium um ein chthonisches oder nur archaisches Mutter-Mysterium, dass wir ja nur ein Mutter-Mysterium vor uns hätten, im Sinne der Worte C. G. Jungs oder Erich Neumanns, dass das mentale Selbst nur durch Muttermord sich zu sich selbst hin gestalten kann. So Erich Neumann in seiner „Ursprungsgeschichte des Bewusstseins“.

Das hat natürlich auch ideologisch eine ungeheuere Diskussion ausgelöst im 20. Jahrhundert etwa im Feminismus, in den 70er, 80er Jahren. Kernthese war, in Dutzenden von Darstellungen: Eleusis sei letztlich ein Mutter-Mysterium, ein dionysisches Mysterium gewesen, das vom Patriarchat überformt worden sei.

Und in sehr vielen Darstellungen ist das nachzulesen. Das war auch ideologisch besetzt, mittlerweile haben sich ja diese Wogen geglättet. Aber die Frage bleibt rätselhaft offen. Auch ich kann das nicht lösen. Ich kann nur aus meiner jahrelangen Beschäftigung damit Ihnen einige Elemente vortragen und Ihnen das einfach an die Seele legen, Ihnen das vorstellen.

Man kann wirklich noch einmal hervorheben: Diese eleusinischen Mysterien sind bis heute ein Rätsel geblieben sind. Was passierte wirklich? Und warum war dieses Mysterium für ganz viele hochkarätige Geister die größte Erfahrung ihres Lebens? Wie ist das möglich? Es muss etwas gewesen sein, was einen überwältigenden Eindruck vermittelt hat. Und jetzt nochmal den Bogen gespannt auf die Frage: Wie kann man das heute denken? Dann könnte man ganz vorläufig sagen, ich habe das ja auch in meinem Buch „Was die Erde will“ unter anderem versucht. Man kann ganz vorsichtig sagen, dass das vielleicht Zukunftsweisende dieses Kultes darin bestehen könnte, dass hier ein tiefenökologisches Mysterium in Verbindung mit Pflanzenkreisläufen, mit jahreszeitlichen Kreisläufen, in diesem Sinne mit Gaia, mit Erdmutter, sich zusammenschließen lässt mit einem Einweih­ungsmysterium, mit einem transzendenten Geschehen, mit der GÖTTIN großgeschrieben, wie das Wilber macht. Da scheint etwas auf eine einmalige Weise zusammengegangen zu sein. Und das ist großartig. Da ist nicht diese Dichotomie, diese rabiate Trennung, sondern hier ist etwas zusammengeführt worden: ein Erdmutterkult, ein Fruchtbarkeitsmysterium und ein Einweihungsgeschehen, soweit wir das mit aller Vorsicht überhaupt anführen können.

Ich sehe an meiner Uhr, dass wir in fünf Minuten den Raum verlassen müssen. Ich werde in einer Woche einige Elemente nochmal aufgreifen und will dann sprechen über die Frage der Tiefenwirkung psychoaktiver Pflanzen. Und das wird uns nochmal mit Eleusis konfrontieren. Und ich will jetzt mal diese fünf Minuten nicht für Fragen öffnen, sondern Sie einfach bitten, dass Sie das mal auf sich wirken lassen, dass sich setzen lassen, weil alles, was jetzt gefragt werden kann, würde, glaube ich, in der Kürze der Zeit uns nicht weiterhelfen. Ich kann dann nur in knappster Form antworten und Sie können, wenn Sie noch weitere Fragen haben, das auch gerne noch in der nächsten Vorlesung dann hier vortragen, wenn es um die Frage der psychoaktiven Pflanzen geht, dann greife ich nochmal das Thema Eleusis auf.

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„Pflanzendevas“ – Was wissen die Pflanzen?

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 43

Transkript als PDF:


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Wir haben uns ja in drei Vorlesungen beschäftigt mit der Frage der Polarität von Licht und Schwere. Ich habe Ihnen ja einige Hypothesen dazu vorgestellt. Große Pulsation des Organismus der Erde im Zusammenhang mit der Frage: Warum wachsen die Pflanzen? ‒hier primär gemeint die Vertikale der Pflanzenwachstumsprozesse. Vor 14 Tagen habe ich den Versuch gemacht, Ihnen etwas darzustellen über den anderen, höheren Raum, wie ich das nenne. Einen Raum hinter dem Raum, hypothetisch, versuchsweise so formuliert, der kein mathematisch-spekulativer, abstrakt-fiktiver Raum ist, sondern zunächst einmal ein existenzieller Raum, der auch erfahrbar ist. Das ist wichtig für die gesamte Argumentation in diesem Semester. Man muss unterscheiden zwischen der Modellebene, der abstrakten Modellebene, der begrifflichen Ebene, auch der sprachlichen Ebene, der objektivierenden Ebene, die gemeinhin als wissenschaftlich und auch reduktionistisch gilt, und der erfahrungsmäßigen Ebene, der existentiellen Ebene. Und die spielt gerade bei diesem Thema eine zentrale Rolle. Man kann ja schlechterdings über diese Dinge nicht reden, ohne diese existenzielle Dimension einzubeziehen. Das heutige Thema macht es ganz deutlich, Was wissen die Pflanzen? ‒ zur seelisch geistigen und spirituellen Dimension des Pflanzen­wesens. Das kann man schlechterdings nicht in einem objektivierenden Verfahren, gleichsam monologisch, modellbildend, von außen behandeln. Das gehört zum Wesen des Bewusstseins überhaupt, dass Bewusstsein innen ist, Bewusstsein ist Innen-sein. Alles, was außen wahrgenommen wird, ist zunächst einmal für ein wahrnehmendes Subjekt Objekt. Und insofern die Frage, ob das Bewusstsein hat oder nicht, ob Pflanzen Bewusstsein haben oder nicht, ob Tiere Bewusstsein haben, ob gar ganze Gestirne Bewusstsein haben oder nicht, lässt sich nicht objektivierend beantworten. Man muss von vornherein eine andere Zugangsweise ins Spiel bringen.

Das versuche ich ja in den bisherigen Vorlesungen und werde das auch weiterführen. Eine Vorgehensweise, die man als eine integrale bezeichnen kann, wo die verschiedensten Aspekte, Zugangsweisen, musikalisch gesprochen: Motive, Themen, zusammenkommen, um dann als Ganzes eine Gestalt zu bilden. Mit einer monokausalen oder einer eindimensio­nalen Betrachtungsweise ist mit dem Thema überhaupt nichts gewonnen.

Die Frage nach dem anderen oder höheren Raum hat sich ja dann vor einer Woche verknüpft mit vorsichtigen Versuchen, die Frage zu beantworten: Wie können wir Form- und Gestaltbildungsprozesse von der Ursachenebene aus denken? Was ist die Ursache von Pflanzenformen, Pflanzengestalten? Und ich habe Ihnen erläutert, dass das erkenntnis­theoretisch, naturwissenschaftlich sowieso, aber auch philosophisch ein sehr schwieriges Problem ist, dass man kaum so im Schnellverfahren lösen kann. Es gibt viele Ansätze dazu. Nichts ist wirklich restlos befriedigend. Ich habe Ihnen versucht, eine Vorstellung zu entwickeln, wie man möglicherweise das denken kann, dass von einer archetypischen Ebene aus, jetzt mal in Anführungszeichen gesagt, aus einem anderen, höheren Raum heraus gewisse Prägekräfte tatsächlich formativ wirken; ich muss das nicht im Einzelnen nochmal alles wiederholen; und dass man von dort aus ein Verständnis gewinnen kann, wie solche Prozesse ablaufen.

In einem recht schönen Buch, das ich auch heute heranziehen werde, „Geist der Bäume“, heißt es hier über diese Formen nochmal resümierend, über diese schwierige Frage: „Obwohl jeder den Formenreichtum der Natur für selbstverständlich hält, ist Form ein absolutes Rätsel für die orthodoxe Wissenschaft, die erklären kann, was in oder mit einer Form geschieht, physikalische Gesetze, Stoffwechsel, aber vor der Form selbst steht wie vor einer Tür mit sieben Siegeln. Warum sind die Formen der Kronen von Bäumen und die ihrer Blätter, Knospen, Blüten und Früchte so verschieden? Warum hat Eichenlaub diese Einbuchtungen an den Blatträndern? Warum sind die Blätter der Eberesche, einem Mitglied der Rosenfamilie wie auch Apfel- und Birnbaum, gefedert, die der anderen Rosengewächse aber nicht. Die Botanik hat keine Antworten auf diese Frage.“

Aber wir werden weiter unten auf einige Hinweise stoßen. Dieser Frage haben wir uns genähert, auf, sagen wir mal, hypothetische Weise. Wir haben uns beschäftigt, auch mit Phänomenen der Resonanz, der möglichen Resonanz aus diesem anderen, höheren Raum heraus. Ich habe Ihnen verschiedene Vorstellungen vorgestellt, aristotelische, eher eine platonische und andere Vorstellungen.

Nun muss ich ganz kurz ergänzen zur Frage der Formen, was ich nur andeuten möchte, ohne dass ich das noch einmal eingehend Ihnen darstelle. Ich habe die … Ich habe bei der Frage der Formen nicht behandelt die zwei wichtigen Aspekte, die ein eigenes großes Thema wären, gewissermaßen auch eine eigene Vorlesung: die Frage der harmonikalen, auch der geometrisch-mathematischen Formbildungsprozesse im Pflanzen­werden, in der Blattform, in der Anordnung der Blätter an einem Stängel. Das sind ja faszinierende Dinge, die auch ganz gut erforscht sind, sagen wir mal phänomenologisch.

Und ich habe nicht behandelt oder nur andeutungsweise behandelt, die Frage der rhythmischen Prozesse, das habe ich nur angedeutet. Rhythmische Prozesse, die auch damit zu tun haben, die möglicherweise, was ja viele vermuten, alte Vermutungen, die schon auf die Antike zurückgehen, dass bestimmte Verwirbelungen bzw. Spiraltendenzen im Wachstumsprozess auch etwas zu tun haben könnten mit planetaren Bewegungen. Das habe ich nur zart angedeutet, da bin ich nicht eingehender reingegangen. Wen das interessiert, darüber gibt es eine reichhaltige Literatur und auch in den Büchern, die ich im Literaturverzeichnis habe, ist davon viel die Rede. Etwa in dem Buch [von] Wolf-Dieter Storl „Pflanzendevas“, auch in dem Buch „Geist der Bäume“ über mathematisch-harmonikale Formen, etwa der Goldene Schnitt, an den Stellen, an denen die Blätter ansetzen und so weiter. Das müsste man also gedanklich ergänzen.

Wenn wir nach Pflanzendevas fragen, dann greife ich damit einen Begriff ganz bewusst auf, der vor ungefähr 40 Jahren in Europa langsam, dann aber zunehmend in einer beachtlichen Breitenwirkung Karriere gemacht hat, wenn man es so nennen darf. Nicht nur in der sogenannten New-Age-Bewegung, nicht nur bei Esoterikern, auch generell kann man sagen, dass seit ungefähr 40 Jahren, seit 1962, ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass das Pflanzliche möglicherweise noch eine andere, höhere, kosmische oder spirituelle Dimension hat, die noch oberhalb der Frage angesiedelt ist, ob Pflanzen Bewusstsein haben, was ja nicht identisch ist. Man kann ja sagen, gut, bei Pflanzen vollziehen sich bestimmte Bewusstseinsprozesse. Eine ganz andere Frage [ist], wie das möglich ist, wo kein Nervensystem vorliegt. Nicht, das ist ja viel diskutiert, aber das kann man erst einmal auf sich beruhen lassen.

Eine wesentlich weitergehende Frage ist ja dann, was hat es mit den Pflanzendevas auf sich? Das sind ja traditionell, um das mal formelhaft zu verkürzen, gewaltige, gewisser­maßen makrokosmische Wesen, wobei die sinnlich-physischen Pflanzen nur Manifesta­tionen sind, nicht. Das ist ja eine alte mythologisch-indische Vorstellung, dass also Pflanzen eine kosmische Verankerung haben, dass sie also aus den Weiten des Kosmos herein wirken ins Irdische und in gewisser Weise auch das Licht, das höhere Licht, das kosmische Licht, wie immer, heruntertransformieren auf die Erde. Ich habe Ihnen das ja im Zusammenhang mit der Photosynthese auch erläutert, die ja rein reduktionistisch schwer wirklich zu erklären ist. Nicht, denken Sie an das, was ich Ihnen erläutert habe, mithilfe des Chemikers Hauschka.

Ich möchte Ihnen drei Zitate an den Anfang stellen, die als Motti gelten sollen, die alle drei einen Hinweis geben auf dieses Thema der Pflanzendevas und der Frage, haben Pflanzen Bewusstsein. Übrigens ist interessant, dass 1962, das war zeitlich parallel, das Buch von Rachel Carson erschien „The Silence Spring“. Das war der Anstoß, der Grundimpuls für die gesamte Ökologiebewegung, nicht, 1962, und das gleichzeitig, auch das ist nicht uninter­essant und wird uns ja noch in 14 Tagen beschäftigen, eine Wiederentdeckung der psycho­aktiven Qualitäten ganz bestimmter Pflanzen zu verzeichnen war. Es ist also eine interes­sante zeitliche Synchronizität, Anfang der 60er Jahre, also vor 40 Jahren.

Ich bin hier gestoßen auf ein Wort, das Beethoven zugeschrieben wird. Ich darf das mal zitieren: „Auf dem Lande ist es“, soll Beethoven gesagt haben, „als würde jeder Baum ,heilig heilig‘ zu mir sagen. Wer kann jemals die Verzückung der Wälder aus­drücken?“ Damit sind wir bei einem Punkt, der uns auch beschäftigen wird, die Frage der Sakralität der Pflanzen, der Bäume, der Sakralität, der möglicherweise vorhandenen Sakralität der Erde als Ganzes und kosmischer Prozesse. Ein schwieriger Punkt, gerade für profane Individuen, wie es ja erst einmal der sogenannte moderne Mensch ist. Das ist das Eine. Und ein zweites Zitat habe ich gerade heute Mittag entdeckt, stammt von dem Mönch Thich Nhat Hanh, der sich sehr schön äußert über die Frage von Pflanzen und Dharma. Thich Nhat Hanh schreibt: „Wir sind gefangen von jenem Denken, das nur annehmbare Bedingungen für unser kleines Selbst sucht, während wir gleichzeitig unser großes Selbst zerstören.“ Ich darf da erinnern an meine Ausführungen über das sogenannte Pflanzen-Selbst im Menschen. Das kann ich jetzt nicht alles noch einmal wiederholen, wie ich das verstehe, dass das eine doppelte Wirkungsrichtung hat, eine eher ins Organisch-Vegetative gerichtete und eine mit Richtung, mit Blickrichtung auf die planetare Intelligenz. „Wenn wir diese Situation verändern wollen, dann müssen wir damit beginnen, unser wahres Selbst zu leben. Das bedeutet, wir müssen der Wald sein, der Fluss und die Ozonschicht. Wenn wir uns als den Wald sehen, dann werden wir die Hoffnungen und Ängste der Bäume erfahren. Wenn wir dies aber nicht tun, dann werden die Wälder sterben und wir werden unsere Gelegenheit zum Frieden verpassen. Da wir mit den Bäumen interagieren, können wir wissen, dass mit ihrem Ableben auch wir selbst bald nicht mehr da sein werden.“ Und jetzt kommt die entscheidende Passage, gewissermaßen die Pointe: „Eine Eiche ist eine Eiche. Das ist alles, was eine Eiche tun muss. Wenn eine Eiche weniger als eine Eiche wäre, würden wir alle in Schwierigkeiten geraten.“ Sehr feinsinnig und treffend gesagt: „Wenn eine Eiche weniger als eine Eiche wäre, würden wir alle in Schwierigkeiten geraten. Deshalb können wir sagen, dass die Eichen das Dharma, die Wahrheit und Wirklichkeit lehren. Wir können das Dharma von einer alten Eiche lernen.“ Oder auch den Dharma, auf jeden Fall wir können das Gesetz der Dinge, die Lehre, die Wahrheit in gewisser Weise von den Eichen lernen.

Und eine letzte Aussage stammt von George William Russell. Da bin ich kürzlich darauf gestoßen, will ich Ihnen eben vorlesen in diesem Buch „Geist der Bäume“ von Fred Hageneder, was ich Ihnen sehr ans Herz lege, weil es einen umfassenden Überblick gibt über die naturwissenschaftlichen, naturphilosophischen und spirituell-meditativen Dimen­sionen im Umgang mit Bäumen. Der „Geist der Bäume“, George William Russell wird hier zitiert: „ … die mich mit Plato zum Glauben brachten, dass die Erde ganz und gar nicht das ist, was die Geographen annehmen, und dass wir wie die Frösche auf dem Grund eines Sumpfes leben und nichts von der vielfarbenen Erde wissen, die diejenigen, die wir kennen, überlegen ist, doch mit ihr zusammenhängt, wie die Seele mit dem Körper.“ Also unsere herrschende Bewusstseinsverfassung, wird hier verglichen mit den Fröschen auf dem Grunde eines Sumpfes, die nichts von der vielfarbenen Erde wissen, also eine eher unfreundliche, um es mal gelinde zu sagen, eine eher unfreundliche Kennzeichnung des herrschenden kollektiven Bewusstseins.

Man muss ja nicht viel Phantasie haben, man muss ja auch gar nicht allzu harsch mit dem modernen Bewusstsein ins Gericht gehen, um zu sehen, dass dies auf jeden Fall eine recht beschränkte, eine einseitige, eine abgespaltene Wahrnehmung ist. Ich spreche ja gerne und oft von der kollektiven Neurose, aber das ist ja auch hier in meinem Buch „Was die Erde will“ eingehend dargestellt, die moderne Bewusstseinsverfassung im Grunde als eine kollektive Neurose. Da sich alle darauf eingerichtet haben, fällt es vielen gar nicht mehr auf. Aber ganz tief innen, denke ich mal, wissen das sehr viele Menschen, dass diese kollektive Neurose in seiner Abspaltung wirklich existiert. Und zu dieser Abspaltung, Neurose ist ja eigentlich Abspaltung, gehört auch eine zunehmend rabiater werdende, Jahrhunderte zurückreichende Entsakralisierung der Natur. Das wissen wir alle. Das ist eine fast schon gängige Münze. Die Natur ist weitgehend, die Bäume, die Pflanzen sind bald weitgehend entsakralisiert worden. Das ist keineswegs nur durch das Christentum erfolgt, wie man in manchen Büchern lesen kann. Das geht wesentlich weiter zurück, aber das Christentum hat an dieser Entsakralisierung einen ganz entscheidenden Anteil.

Es ist übrigens interessant, das habe ich auch erst relativ spät erfahren, dass diese Entsakralisierung noch im Besonderen ins Werk gesetzt wurde vom Protestantismus im 16. Jahrhundert. Sozusagen die Reste, die noch im Katholizismus vorhanden waren, sind dann durch den Protestantismus weitgehend planiert worden. „Es, das Christentum, entweihte auch die Erde und verbreitete eine Philosophie, die den Menschen ermutigte, die Erde zu vergewaltigen. Eine Flut von Zerstörung und Schmerz ging innerlich durch die menschliche Seele, bevor sie auch äußerlich die Erde überzog.“ Das wissen wir im Grunde alle. „Etwas, das für hunderte von Generationen unvorstellbar gewesen war, konnte langsam in die Hirne der Menschen sickern. Eine zunehmend materialistische Sicht, die schließlich den Wald in Holzmasse verwandelte, und Heiligtümer in Fabriken. Der Kreuzzug der christ­lichen Kirche gegen Bäume“, sehr stark, sehr stark gesagt, aber berechtigt, „der Kreuzzug der christlichen Kirche gegen Bäume, besonders gegen heilige Bäume findet nicht seines­gleichen in der Geschichte. Auch in anderen Epochen wurden in Kriegszeiten in Einzelfällen heilige Haine verletzt, aber nirgendwo erscheint eine solch langanhaltende Besessenheit von Eifersucht und Hass.“ Und so weiter.

Das sind nicht ferne Prozesse, sondern Prozesse, die unser aller Bewusstsein entscheidend mitgeprägt haben. Das versuche ich hier auch immer wieder Ihnen zu zeigen, dass wir die Erben einer bestimmten Bewusstseinsentwicklung sind und große Schwie­rigkeiten haben erst einmal, durch dieses Erbe hindurch eine neue, eine andere, eine vertieftere Wahrnehmung der Pflanzenwelt, der Erde als ganze, der kosmischen Um- und Mitwelt zu erlangen. Das ist nicht naiv direkt möglich. Da widerspreche ich ganz vielen Ansätzen, die meinen, man könnte durch relativ einfache Rituale sozusagen, sich über all das hinwegsetzen. Ich meine, dass diese bewusstseinsmäßigen Tiefenverankerungen dessen, was ich die kollektive Neurose und die Absperrung nenne, ganz, ganz tief in die Psyche reichen. Das geht bis in die Sprache hinein. Und dass man da erst einmal ansetzen muss, um in das Dickicht, um in den Urwald gewissermaßen der eigenen geistigen Voraus­setzungen reinzugelangen und zu begreifen, wovon eigentlich ausgegangen wird. Es wird nicht damit abgehen oder wird nicht möglich sein, in einem naiven Sinne die Natur einfach zu resakralisieren oder wiederzuverzaubern, wobei das ein Grundimpuls ist, der durchaus berechtigt ist. Berühmtes Buch, kennen Sie vielleicht, „Reenchantment of the World“ von Morris Berman, einem amerikanischen Mathematiker, ein damals in den einschlägigen Szenen sehr bekanntes Buch „Reenchantment of the World“, „Wiederverzauberung der Welt“, anknüpfend an Max Weber „Entzauberung der Welt“.

Ich habe mich übrigens an zwei Stellen in diesem Buch „Was die Erde will“, ich will das kurz noch einmal erwähnen, zu dieser Frage geäußert, wie man das Heilige, das Sakrale überhaupt von unserem Bewusstsein aus neu denken kann, wie man überhaupt eine Zugangsmöglichkeit dazu finden könnte. Gibt es das Heilige, oder schaffen wir es? Ist das eine Projektion? Projizieren wir es in die Natur rein? Da ist gar nichts, was der Mensch anthropomorph projiziert, oder ist das vorhanden? Nehmen wir das auf? Wahrscheinlich gilt auf paradoxe Weise beides. „Wir geben, wir weisen zu, wir projizieren. Und zugleich entbirgt sich das Heilige in eigenster Substanz. Das Heilige manifestiert sich, indem es sich verbirgt. Es enthüllt sich, indem es sich zurückzieht. Es zieht an, und es stößt ab. So reißt sein Zauber nie ab.“ Denken Sie an das, was ich mehrfach gesagt habe über das rätselhafte Sichverbergen und Sichentbergen der natürlichen Phänomene. Die Natur liebt es, sich zu verbergen, sagt Heraklit bzw. Herakleitos. Dann muss man als letztes noch, um an diese Bewusstseinsformation noch genauer heranzukommen, feststellen, dass unser aller Bewusstsein ja zugestellt ist mit einer Unzahl von Phänomenen unserer eigenen technisch-mentalen Bewusstseinsform. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Ich habe eine ganz schöne Stelle gefunden beim Storl, der bringt das auf den Punkt. Eine kurze Passage mal, um das dann als Anknüpfungspunkt zu benutzen: „Allen vernünftigen Argumenten zum Trotz ist unbestreitbar, dass mit der zunehmenden Verödung der menschlichen Seelenlandschaft, die ist ja nicht zu leugnen, vollzieht sich ja ständig, auch die äußere Natur weniger vielfältig geworden ist, dass sie geradezu auf eine Apokalypse zusteuert. Mit jeder Pflanzen- und Tierart, die zerstört wird, die ausgelöscht wird, geht ein Stück Seelensubstanz verloren.“ Man kann sogar die These vertreten, dass das Eine, dass das Zweite primär und das Erste das Sekundäre, die Folge ist, dass also wir sozusagen innerlich verarmen und dass wir also auch das Äußere dann zerstören. „Wären wir in der Lage, die Götter und Geister, die Elfen und Zauberwesen in die Wüste, zu der unsere moderne Seele geworden ist, zurückzurufen, wären wir das, Konjunktiv, dann würden sicherlich auch die Wälder an diesen neu beseelt werden und erstarken.“

Na gut, sagt Storl hier, und das kann man erstmal auf sich beruhen lassen. Es ist eine recht archaische Annahme, dass unsere Einbildungskraft, unsere Imagination eine ganz reale Energie ist, die Wirklichkeit erzeugt, übrigens keineswegs eine archaische Annahme, sondern eine Annahme, an die man auch recht zeitgemäß denken kann. Auch davon war ja schon die Rede, über die Vorstellung der Felder, wo tatsächlich Wirkung möglich ist. Aber wie finden wir erneut den Weg? Es hat kaum Sinn, die oben beschriebenen alten Rituale einfach nachzuahmen. Der heutige Mensch ist schon durch seine übertriebene Kopf­lastigkeit dazu unfähig. Es fällt ihm schwer, mit den Devas zu kommunizieren. Was das ist, darüber sprechen wir gleich, weil er im Grunde genommen kaum an sie glauben kann, auch wenn er noch so gerne möchte. Tief innen sitzt im modernen Menschen der skeptische Kobold: Stimmt denn das wirklich, ist das nicht letztlich nur eine Fantasie? Ganz tief innen der rationalistische Kobold, der einem immer ein Schnippchen schlägt, den er erst mal austricksen muss, in gewisser Weise. „Naturgeister und Devas bleiben für ihn letztlich inhaltslose gedankliche Schemen. Ganz im Gegensatz dazu der Wilde, der diese Wesen­heiten noch ganz real erlebt. Der Zivilisierte hat gelernt, automatisch alle Phänomene, die nicht wissenschaftlich wäg- und messbar sind, aus dem Bereich der Realität zu verbannen.“ Das wissen wir. Das kann man auch tiefenpsychologisch begreifen. Man nimmt nur das wahr, was man weiß. Die Phänomene sind nicht einfach da. Wir können umstellt sein mit lebendigsten Phänomenen und sehen gar nichts. Das heißt, wir nehmen nach Maßgabe unseres Bewusstseins die Dinge wahr. Also „der Zivilisierte“, wir alle, „hat gelernt, automatisch alle Phänomene, die nicht wissenschaftlich wäg- und messbar sind, aus dem Bereich der Realität zu verbannen.“ Natürlich sind sie nicht weg. Sie kehren dann auf Umwegen zurück, rumoren in der Seele, schaffen also auch Individualneurosen schlimm­ster Art. „Eine verinnerlichte Zensur fängt schon auf vorbewußter Ebene an, das erlebte Andere dringt gar nicht erst ins Bewusstsein ein.“ Und jetzt ein ganz wichtiger Punkt. „Zudem überdecken und neutralisieren die Plastikbilder der Science-Fiction-Monster und Fantasy-Produktion der Massenmedien schon im Vorfeld das Wahrnehmen wirklich vorhandener trans-sinnlicher Wesenheiten.“ Ich sehe mir Star Wars nicht an, aber ich habe durch einen Freund, der sich das gerade angeschaut hat, erfahren, was da gemacht wird. Das ist eine so rabiate, eine so brutale Kolonisierung der Innenräume des Menschen. Die werden so rabiat imperialistisch besetzt und angegriffen und überwältigt, auch mit einem raffinierten Soundtrack wie häufig in diesem Film, eine Mischung aus Gustav Mahler und Richard Wagner. Dass der Einzelne schon in ersten Minuten kapituliert und dass seine ganze Vorstellungswelt der Seelenräume von vornherein okkupiert ist. Also der ganze Bereich der Anderswelt ist bereits technisch-projektiv belegt. Und das ist ja ungeheuer schwer, überhaupt erst mal eine Öffnung zu gewinnen, durch das alles hindurch sich eine freie Seele, einen freien Geist zu verschaffen, um überhaupt erst mal mit diesen Fragen umzugehen oder an diese Fragen heranzukommen.

Devas. Devas ist ein Sanskrit-Wort, meint zunächst nichts weiter als „die Glänzenden, die Leuchtenden, die Strahlenden“. Devas kann man nicht hundertprozentig mit Gott über­setzen. Das ist eine .., einerseits sind es .., Devas sind Götter, andererseits sind es höhere Wesenheiten, höhere Konfigurationen von Energie, von Bewusstsein, manchmal kosmisch gedacht. Auf jeden Fall Wesenheiten, die weit oberhalb unserer normalen Bewusstseins­ebene angesiedelt sind. Sind sie auch individuiert? Haben Sie einen personalhaften Kern? Das ist eine weitere Frage, die sofort generell ins Spiel kommt bei der Frage des Bewusstseins der Pflanzen. Wenn man, ich gehe nochmal auf die Ebene darunter, Bewusst­sein von Pflanzen … Kann man das überhaupt sinnvoll behandeln? Kann man überhaupt sinnvoll eine solche Frage stellen? Sie wissen das alle, dass das vor 30 Jahren ja populär geworden ist, durch diesen Bestseller, hunderttausendfach verkauft, „The Secret Life of Plants“, „Das geheime Leben der Pflanzen“, nicht, ein ungeheuer erfolgreiches Buch, was ja den Versuch gemacht hat damals, populär, in mancherlei Hinsicht auch unhaltbar, aber in vielen Punkten doch hochinteressant und auch vielfältig verifizierbar, dass Pflanzen als Lebewesen bestimmt werden können, die tatsächlich ganz enge seelisch-geistige, emo­tionale Kontakte mit Menschen gewinnen können, auch in einer Weise und einer Subtilität, die etwas Schwindelerregendes hat. Die, sagen wir mal, reduktionistische Wissenschaft, hat in den letzten Jahren auch auf ihre Weise den Versuch gemacht, der Frage sich zu nähern, ob man möglicherweise den Pflanzen ein eigenes Bewusstsein zusprechen kann. Das geht ja auch noch weit, da kann man dann der Materie Bewusstsein zusprechen. Ich bejahe das ja, auch der sogenannten anorganischen Materie kann man bis zu einem gewissen Grade auch Bewusstsein zusprechen. Ich habe auch hierzu in diesem Saal mich ja zu diesem Pfad eingehend geäußert.

Vor vier Jahren erschien im Spiegel mal eine Zusammenfassung des neuesten Standes, sage ich mal, dieser Forschungen anknüpfend an die Lichtrezeptoren bei Pflanzen und Tieren. Da wurde also der Versuch gemacht zu erschließen, jetzt wissenschaftlich, auch von den Molekularstrukturen aus, molekular-genetisch, ob möglicherweise Pflanzen ein eigenes Bewusstsein haben. Ich lese Ihnen mal ein paar Passagen vor, weil das interessant ist, weil das jetzt rein, sagen wir mal, von der wissenschaftlichen Ebene aus gedacht ist, gleichwohl aufschlussreich ist, wenn man das mal weiterdenkt. „Sensibles Grünzeug“ ist die Überschrift, typisch erst mal, das Grünzeug, für den modernen Menschen ist es das Grün­zeug, sowieso. „Sensibles Grünzeug“, kommt eine Überraschung raus, „sensibles Grünzeug. Auch Pflanzen können, sehen, schmecken, riechen, fühlen und hören. Sie nutzen diese Fertigkeiten vor allem, um sich gegen Insekten und konkurrierende Gewächse zu behaupten.“ Nun mal ein paar Passagen aus diesem ganz interessanten Artikel. „Die Erforschung der Sinne von Pflanzen hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Dass Pflanzen sensibel auf Einflüsse ihrer Umgebung reagieren, was immer behauptet worden ist, von vielen, unter anderem von Peter Tompkins, Christopher Bird und anderen, konnte nun auch mit den modernen Methoden der Molekularbiologie nachgewiesen werden.

Da muss man natürlich nicht in die Bewusstseinsdimensionen, kann ja gar nicht sein. Man kann mittels der Molekularbiologie kein Bewusstsein nachweisen, ist klar. Um es nochmal zu sagen, Bewusstsein muss innen sein. Das muss man schon gleich auseinan­derhalten. „Keineswegs tumb ist das Grünzeug“, na bitte. „Im Gegenteil, Pflanzen, so steht fest“, sagt hier die Autorin ganz anthropomorph, „Pflanzen, so steht fest, können, sehen, schmecken, riechen, fühlen und wahrscheinlich auch hören.“ Hier wird also schon im Grunde genommen ein Vokabular benutzt, was, ohne dass das direkt gesagt würde, den Pflanzen eine Bewusstseinsqualität im Sinne einer gestalthaften Bewusstseinsqualität zuspricht, indem man solche Vergleiche mit den Sinnesorganen der Menschen macht. „Im Saft ihrer Äste und Blätter schwimmen Phytohormone, die wichtige Botschaften übermitteln. In ihren Stängeln werden Erregungen geleitet wie in einem Nervensystem. Über Duftstoffe können Pflanzen mit anderen Pflanzen kommunizieren und gezielt nützliche Insekten anlocken. Möglich wurden die neuesten und die meisten Entdeckungen erst durch neue Arbeitsmethoden. Der wichtigste Trick der Molekulargenetiker“, jetzt kommt etwas typisch Reduktionistisches, methodisch ist das interessant, wie vorgegangen wird, damit kann man natürlich der Bewusstseinsdimension nicht nahekommen, das ist alles … strukturell geht das nicht. „Sie fertigen sogenannte Null-Mutanten an, Pflanzen, in denen bestimmte Gene ausgeschaltet sind. Fällt dann eine bestimmte Funktion aus, wissen die Forscher, welches die Aufgabe des ausgeschalteten Gens war. Mit diesen und anderen Kniffen konnten sie seit langem ungelöste Fragen beantworten, vor allem solche nach den molekularen Mechanismen, die den Sinnesreaktionen zugrunde liegen. Schon Charles Darwin hatte die These aufgestellt, dass Pflanzen in der Lage sein müssten, das für die Pflanzen-Photosynthese wichtige Licht auch wahrzunehmen.“ Davon war ja die Rede, das habe ich ja versucht Ihnen darzustellen, wie man diesen rätselhaften Prozess der Photosynthese verstehen kann, wenn man das daran beteiligte Licht, den Regenbogen übrigens, da einbezieht. Es gibt ja eine wunderbare Formulierung da, die ich damals zitiert habe, von Hauschka, dass sich sozusagen in der Photosynthese der Regenbogen in das Pflanzliche hineinbegibt. „Wie sonst ließe sich das bekannte Phänomen erklären, dass Zimmerpflanzen, die am Fenster stehen, zielstrebig zum Licht hin wachsen?“ Das finde ich nun etwas vordergründig schnell geschlussfolgert. Nicht, das ist eigenartig. Das ist wahr­scheinlich der journalistischen Methode hier zu verdanken, das ist ja .., das muss ja keineswegs so sein. „Der Rezeptor, der auch in anderen Pflanzen vorkommt, kann Licht im blauen Bereich des Spektrums absorbieren (kann man sehen). Die Kaskade, biochemischer Reaktionen, die daraufhin in den Zellen abläuft, bewirkt, dass der Stängel der Pflanze nur noch auf der dem Licht abgewandten Seite weiter wächst. Er krümmt sich, die Blätter wenden sich im optimalen Winkel den Sonnenstrahlen entgegen. Setzt man ein Hütchen auf die Spitze des Keimlings, kann er sich nicht mehr zur Sonne hin ausrichten, er ist blind geworden.“ Und so weiter.

Also das ist 1998 im „Spiegel“, kann man bestimmt übers Internet auch noch abrufen, diesen Artikel. Der ist auf jeden Fall sehr aufschlussreich, weil er zeigt, dass auch in der eher reduktionistischen Naturwissenschaft solche Gedanken tatsächlich wenigstens erwogen werden. Auch wenn man natürlich, das liegt in der Struktur der Methode, sich der eigentlichen Bewusstseinsfrage damit nicht annähern kann. Man muss annehmen, wenn man die Frage bejaht, dass es Bewusstsein gibt jenseits einer zerebralen Substanz, jenseits eines zerebralen Substrats. Denn wenn man Bewusstsein ausschließlich koppelt an ein zerebrales Substrat, ist natürlich die Frage, ob Pflanzen Bewusstsein haben, von vornherein gewissermaßen apodiktisch zu verneinen. Man muss annehmen, wenn man die Frage bejaht, dass die Bewusstseinsqualität der Pflanzen eine andere ist als über das zerebrale Substrat vermittelte. Denken Sie an diese unsägliche Titelgeschichte im letzten „Spiegel“ über den Ort im Gehirn, wo sich das Göttliche aufhält. Ich war doch erfreut über die Leserbriefe, die abgedruckt waren gestern und habe mich doch dann .., ich war dann doch in gewisser Weise beruhigt, dass also doch viele Leser das in dieser Simplizität, wie das da vorgeführt wurde, in diesem wirklich rabiaten Reduktionismus, nicht hingenommen haben.

Devas. Devas, habe ich gesagt, sind makro-kosmische Wesenheiten. In der indischen Mythologie wird immer wieder gesagt, dass der Mensch in der indischen spirituellen Entwicklung, dass der Mensch im traumlosen Tiefschlaf, traumlosen Tiefschlaf, eine Art Kontaktmöglichkeit habe mit den sogenannten Pflanzendevas. Pflanzendevas sind gewaltige oder werden als gewaltige Wesen imaginiert, die auch einwirken auf die menschliche Geschichte, die auf ihre Weise starke Impulse setzen in die menschliche Geschichte, die also eigene Wirkkräfte sind, eigene Wesenheiten. Die archetypische Pflanze verbindet das Oben und das Unten, das Licht und die Dunkelheit, das Jenseits mit dem Diesseits, die göttliche mit der menschlichen Welt, den Makrokosmos mit dem Mikrokosmos, sind also mediale Wesen. Und damit sind die Devas, im Sinne dieser Vorstellung wohl bemerkt, auch mediale Wesen, die transformieren kosmisch-formative Licht-Energien auf die Erde, in das Materielle hinein und vermitteln damit diese höheren Energien an das Irdisch-Sinnliche. „Als Heil- und Nahrungspflanzen können sie uns die Kräfte der Erde und des Sternenhimmels zukommen lassen, um es dadurch ganzheitlich und heil zu machen“, im Sinne dieser Vorstellung. Wir haben noch nicht die Frage behandelt: Können wir die Vorstellung übernehmen? Ist das legitim? Ist das akzeptabel? Man muss erst einmal die Vorstellung kennen. „Diejenigen Pflanzen, die unsere Ahnen kannten und verehrten, können uns die Inspirationen unserer Vorfahren als weise Ahnungen vermitteln, denn die Totenwelt steht ihnen offen.“ Das ist ein ganz entschei­dender Punkt. Die Totenwelt steht ihnen offen. Die Annahme, dass das Pflanzenwesen in diesem Sinne etwas zu tun hat mit dem, was in der keltischen Mythologie die Anderswelt genannt wird, also mit dem nicht-körperlichen Bewusstsein, mit dem Reich, mit der Sphäre, mit der … mit der kosmischen Zone des Nicht-verkörpert-Seins. Nicht, wir haben ja vor einer Woche, glaube ich, oder habe ich Ihnen vor einer Woche im Hinblick auf eine Frage, die mir gestellt wurde in der Vorlesung vor 14 Tagen, da habe ich Ihnen versucht zu erläutern, wie man das denken kann, den anderen Raum bezogen auf das Vorgeburtliche, nämlich nicht nur den intra-uterinen Raum, sondern auch einen möglicherweise existie­renden anderen, höheren Raum, von dem aus dann überhaupt der Inkarnationsprozess sich vollzieht. Und das kommt hier zusammen, dass gewissermaßen im Inkarnationsprozess ein sehr weites Wesen, ein kosmisches Weitewesen im Sinne dieser Vorstellung, sich rabiat verengt, sich durcharbeitet durch das Inkarniertsein, um sich dann im Tode wieder auszu­weiten. Das ist eine uralte spirituelle Vorstellung, die man in vielen Traditionen findet, auch in der abendländischen Tradition, etwa bei den Theosophen, bei den Anthroposophen und anderen, dass die sich entkörpernde, die sich exkarnierende Seelenwesenheit, wie immer, eine Expansion erfährt, eine Ausdehnung und damit in einen Bewusstseinsraum rein­kommt, der den Pflanzendevas entspricht. „Also diejenigen Pflanzen, die unsere Ahnen kannten und verehrten, können uns die Inspiration unserer Vorfahren als weise Ahnung vermitteln, denn die Totenwelt steht ihnen offen. Die entheogenen, psychotropen, psycho­aktiven, bewusstseinserweiternden Pflanzen können uns sogar im rauschhaften Erleben in die jenseitigen Reiche der Götter und Dämonen mitnehmen.“ Und das wird uns noch in 14 Tagen beschäftigen bei der Frage der psychtropen Substanzen bzw. Pflanzen.

„Jede Pflanzenart hat dabei ihre besondere Möglichkeit und Fähigkeit, die sie uns zur Verfügung stellt. Jede Pflanzenart bietet uns ihre Mitarbeit an. Die Entscheidung anzunehmen oder abzulehnen liegt bei uns. Jede Pflanzenart oder besser gesagt jeder Deva, mit dem wir uns einlassen, wird uns verändern, wird uns verwandeln, wird uns zu dem machen, was wir sein werden. Schließlich haben wir es in ihnen mit göttlichen Wesen zu tun.“, sagt Wolf-Dieter Storl, der neben Christian Rätsch wahrscheinlich bedeutendste Ethnobotaniker. Da ist seine innerste Überzeugung, die er mit viel Engagement, mit viel Verve hier vorträgt in seinen Büchern. Er und Christian Rätsch sind wahrscheinlich die profundesten Kenner der ethnobotanischen Dimension und auch dieser Art von Dimension.

„Wir wollen uns den Pflanzendevas zuwenden. Auf keinen Fall dürfen wir sie als winzige Blütenelfen oder neckische Waldfeen vorstellen, sind wahrlich göttliche Wesen von kosmischem Ausmaß. Es ist durchaus angebracht, sie als Devas, Sanskrit: die Leuchtenden, Strahlenden zu bezeichnen, denn sie wirken von den Sternen und Planeten auf die Erde herab.“ Natürlich [ist] hier das geozentrisch zunächst gedacht und die Erde im Mittelpunkt, sphärisch abgestuft gewissermaßen werden diese Kräfte heruntertransformiert in unsere Wahrnehmung. Das kann man auch kopernikanisch-heliozentrisch sehen, das muss man nicht gekoppelt bleiben lassen an die geozentrische Sichtweise. „Die Blumen auf den Wiesen und Feldern“, ein eigenartiger Gedanke, „die Bäume und Sträucher sind lediglich ihre Schatten“, also die physisch-sinnliche Gestalt, die wir wahrnehmen, sind lediglich ihre Schatten, „ihre mit Stoff gefüllten Abbilder, ihr kondensierter Atem ihrer auf Erden verwirklichten Gedanken.“ Also wir nehmen nicht nur ihre Manifestation im Sinne der Wirkung wahr, wir nehmen in gewisser Weise nur die Schatten wahr, was man wieder platonisch interpretieren kann, wie wir das ja auch schon versucht haben. Ja, diese ganze Urbild-Abbild-Problematik, die ja bei der Frage der Formen immer ins Spiel kommt, egal wie man das denkt, auch wenn man das ganz eng reduktionistisch denkt, kommt man gar nicht darum herum. Das habe ich ja auch Ihnen erläutert.

Noch ganz kurz vor der Pause. „Diese können wir zwar messen, analysieren, also die äußere Erscheinung“, was sicherlich auch interessant ist, das geschieht ja auch, „aber das Eigentliche der Pflanzen, das würden wir verfehlen. Wir könnten wie der auf Tatbestände bedachte Positivist nur von einem intelligenzlosen, durch natürliche Auslese zufällig entstandenen protoplasmischen Gebilde reden, und damit hätte es sich. Sicherlich finden in diesem protoplasmischen Gebilden höchst komplizierte, kybernetisch vernetzte,“ Mode­begriff, „energetische und biochemische Vorgänge statt. Auch sind sie zu diversen Reizreaktionen fähig, aber ein positivistischer Wissenschaftler würde sich weigern, ihnen Bewusstsein oder gar Selbstbewusstsein zuzusprechen. Seine Experimente scheinen diese Annahme zu bestätigen, und dennoch steht er in dieser Ansicht allein. Die Überlieferung aller Kulturen mit Ausnahme der gegenwärtigen berichten von fühlenden Seelen …“

… zu kontaktieren. Also eine Durchbrechung der ontologischen Barriere in gewissem Sinne ohne Regression. Das ist ja der entscheidende Punkt, den man immer dabei denken muss: Kann man eine solche Kontaktaufnahme realisieren, ohne dass wir uns als ich-hafte Bewusstseinswesen in gewisser Weise und damit notwendig regressiv zurücknehmen?

In Trancezuständen, schamanisch-trancehaften, in gewisser Weise regressiven Zuständen. Ich meine das wertneutral. Geht das oder geht das nicht?

*** Pause ***

Noch nochmal zwei Passagen zu den sogenannten Devas über das hinaus, was ich schon gesagt hatte. Ich will Ihnen das zunächst erst einmal darstellen. Wir können dann ja der Frage uns nähern, ob man das mitdenken, mitvollziehen, akzeptieren für sich verleben­digen kann. Das ist ja das Wichtige. Das ist natürlich schwierig, das hier sozusagen in diesem Hörsaal Ihnen gedanklich-meditativ vorzustellen. Dazu bedürfte es einer Art der Stille, die in der Sprache eben gerade nicht anwesend ist. Ich kann also Ihnen das nur mittels der Sprache als eine geistige Gestalt vorführen und kann dann oder muss dann appellieren an die Schritte, die dann kommen müssten. Die müssten sich in der Stille vollziehen, denn zum Wesen der Annäherung an Pflanzen gehört Stille. Das ist unabdingbar. Das Laute, das Gespräch, das Geschwätzige, auch die CD im Kopf, die immer läuft, ist hinderlich. Also man muss tatsächlich eine meditativ-gedankliche Annäherung vollziehen, auf verschiedensten Ebenen. Ich habe schon mal gesagt, Goethe ist ein sehr guter Lehrmeister dazu in der „Farbenlehre“, nicht, was gedankliches … Denkende Anschauung betrifft oder Anschauendes Denken.

Noch einmal zwei Stellen zur Frage der sogenannten Devas. „Nach Auffassung der esoterischen Tradition ist der Mensch ein voll inkarniertes Wesen. Das Seelenhafte findet sich nicht irgendwo draußen, sondern wirkt von innen her.“ Also wieder diese Einstül­pungsprozesse, die schon im Tierischen zu beobachten sind, nicht im Pflanzlichen. „Der Mensch hat seine eigenen persönlichen Sterne. Das macht ihn zum Individuum. Er ist aber ätherisch“ im Sinne dieser Tradition „als Lebewesen astralisch, als Seele und Geist, als Ich, stark an seine Körperlichkeit gebunden. Die Pflanze, die im Garten oder auf der Wiese wächst, ist dagegen nur physisch und ätherisch gegenwärtig.“

Ganz andere Frage, ob das überhaupt stimmt. Ich sage das jetzt nurmal im Sinne dieser Tradition, wie sie hier Storl beschreibt. „Während wir das Seelische und Geistige mehr oder weniger in unserer Leiblichkeit eingeschlossen mit uns herumtragen“ ‒ auch das ist die Frage, ob das überhaupt stimmt ‒ „bleiben sie beim Gänseblümchen oder bei der Zimmerlinde außerhalb der Physis.“ Das ist wesentlich im Sinne dieser Vorstellung. „Ihr Seelisch-Geistiges bleibt ewig ungeboren und unberührt, bewegt und gestaltet den phy­sischen Leib nicht von innen, sondern von außen“, sozusagen vom Kosmos her. Das liegt in dieser Vorstellung der Pflanzendevas drin. Eine sehr kühne Behauptung, dass ich sozusagen das Pflanzenwesen, das ich ja ganz bewusst so nenne und nicht einfach in „Pflanzen“ sage, dass das Pflanzenwesen sich nicht wirklich inkarniert, nicht wirklich materiell-physische Gestalt annimmt, sondern das eigentliche Pflanzenwesen bleibt jenseits davon, bleibt, wenn man das in meiner Sprache nennen will, im anderen, höheren Raum. „Pflanzen haben keine inneren Organe und entsprechend auch kein inneres seelisches Leben.“ Auch hier die Frage, ob das stimmt. Wenn man dem hier folgen darf, was Peter Tompkins und Christopher Bird hier behaupten, dann wäre das ja nicht so, dann hätten die Pflanzen sehr wohl auch eine astral-empfindungsmäßige Schicht. „Pflanzen habe keine inneren Organe, entsprechend auch kein inneres Leben. Deswegen schreien sie nicht oder rennen weg, wenn man sie pflückt.“ Gut. „Statt eines inneren Organkosmos wie der Mensch haben Pflanzen außer­leibliche Organe, und diese stehen mit den Planeten am Himmel in Verbindung. Deswegen kann man mit Recht sagen, dass Pflanzenwesen im Gegensatz zu dem in sich abgekapselten Menschen weltoffen, makrokosmisch, gigantisch sind.“ Sehr weitgehend hier, was hier behauptet wird über diese Pflanzendevas. „Diese Aussagen sind für den modernen Zeitgenossen ein recht starker Tobak“, gibt Storl zu, aber nicht nur für den modernen Zeitgenossen. „Um sie nachvollziehen zu können, muss er erst einmal den Wust des gewöhnlichen Schulwissens ablegen. Vorübergehend wenigstens. Aber wie ist es mit dem vorgeburtlichen Menschen, dem Fötus im frühen Stadium, der noch keine inneren Organe hat? Entweder hat er noch kein Seelen- oder Geistesleben, wie die Materialisten behaupten, oder seine Seele und sein Geist befinden sich außerhalb wie bei der Pflanze im Makrokosmos ausgebreitet.“ Da war ja schon von die Rede.

„Auch der Sterbende wird wieder makrokosmisch, wie die Pflanze. Seher berichten, dass er, wenn er die Leibeshülle verlässt, zuerst Zuflucht in der Vegetation, besonders in großen Bäumen sucht. Da der Baum aber mit den Erdtiefen und mit dem Himmel verbunden ist, wird er zugleich zur Himmelsleiter des Toten, auf der er in die kosmischen Weiten reist.“ Das ist mitgedacht bei der Vorstellung der Pflanzendevas. Das heißt, Pflanzen, so wird gesagt, sind in diesem Sinne makrokosmische Wesenheiten, die sich nicht wirklich inkarnieren. Das ist, ich sag’s nochmal, auch, nicht nur für den modernen Menschen, erst einmal schwierig. Auch ich habe da meine Zweifel. Allerdings sind die anderer Art.

Noch eine zweite Passage von Hageneder. Er bezieht sich hier auf die griechische Mythologie. Wenn man einen Blick nochmal auf Griechenland wirft, da gibt es ja nicht im engeren Sinne die Vorstellung der Devas. Aber es gibt andere Vorstellungen. Es gibt die Vorstellung, dass ganz bestimmte Bäume, ganz bestimmten Göttern heilig sind. So zum Beispiel die Eiche dem Zeus, dann bei den Römern, Jupiter, übrigens bei den Germanen, dann dem Thor bzw. Donar heilig. Und es gibt die Vorstellung, dass den Bäumen Nymphen­wesen entsprechen. Denken Sie an die … den Mythos von Daphne, den ich in ihrer zweiten Vorlesung vorgestellt habe, als die rätselhafte Verwandlung der Daphne in den Lorbeerbaum. „Die Devas von Bäumen sind diejenigen, die die alten Griechen, Dryaden oder Baumnymphen nannten. Das Zentrum ihres Bewusstseins befindet sich auf der Astralebene, und ihre Körper wurden wiederholt als strahlend, schillernd, pulsierend und sich verändernd beschrieben, als wirbelnde Massen von Energie und Lebenskraft, von denen, die für sich in Anspruch nahmen oder nehmen, diese rätselhaften, pulsierenden, fluktuierenden Schwingungen tatsächlich wahrzunehmen. Im Vergleich erscheinen menschliche Auren wie Wolken glühenden Gases, die der Devas aber wie wogendes Feuer. Sie, die Devas, leben als die Beseelung eines Baumes oder einer Baumgruppe. Und oft verdichten sie ihre Substanz, um einen ätherischen Körper zu formen, indem sie den Stoffwechsel der Bäume anregen können.“

Also einerseits bezogen auf den Einzelbaum, das heißt der einzelne Baum, die einzelne Buche, die einzelne Eiche, der einzelne Olivenbaum hat ein eigenes Geistwesen, was ihn repräsentiert, was seine Gestalthaftigkeit ausmacht. Auf der anderen Seite ist es die Art als ganze, eine Baumgruppe, die Art als ganze oder im Sinne der botanischen Klassifizierung auch die Gattung oder die Familie als ganze, die dann das einzelne Exemplar in sich greift. Das hat uns ja schon beschäftigt im Zusammenhang mit den Eichen, mit der Frage, der grundlegenden Frage: Wie ist es eigentlich mit dem Einzelexemplar und dem Ganzen? Ich hatte ja die These vertreten, dass der einzelne Baum, nehmen wir mal die Eiche, bleiben wir bei der Eiche, nicht nur die anderen Eichen repräsentiert, sondern ist. Ist, was etwas anders ist. Also „sie leben, als die Beseelung eines Baumes oder einer Baumgruppe und oft verdichten sie ihre Substanz, um einen ätherischen Körper zu formen, mit dem sie den Stoffwechsel der Bäume anregen können. Admiral Hodson, von dem berichtet wird oder behauptet wird, er habe diese Fähigkeit, das wahrzunehmen, sah eine Gruppe von Baumgeistern in den Kronen einer Gruppe junger Bäume, von wo aus sie eine kraftvolle Grundnote für die Schwingungen der Auren der ganzen Baumgruppe erzeugten, wodurch ihre fortwährende Anwesenheit notwendig wurde für die Erhaltung der lebens­spendenden, energetisierenden Kraft, die sie erzeugten.“ Und jetzt eine weitreichende Behauptung, die hier immer wieder aufgestellt wird, die aber plausibel ist, auch im Hinblick auf die formativen Potenzen im anderen Raum, von denen ich spreche: „Devas haben ein exaktes Wissen um den vollkommenen Bauplan einer Pflanze und auch wie sie ihn fließend an störende Einflüsse wie Wetter, Tiere oder andere Pflanzen anpassen können. Ihr Bewusstsein ist vollständig eins mit dem Baum und sie überwachen und dirigieren die Tätigkeiten der zahlreichen Blatt- und Elementargeister.“

Das wird jetzt hierarchisiert, Blattgeister, Elementargeister, dann die sogenannten Devas, darüber dann noch weitergehende kosmische Stufen. Das ist auch eine alte Tradition. Wichtig ist zunächst einmal, dass man begreift, dass es eine ganzheitliche Ebene gibt, die bei dem Einzelbaum, bei Baumgruppen, bei Bäumen überhaupt, Pflanzen über­haupt, kontaktiert werden kann, dass man da energetisch-seelisch Zugang gewinnen kann. Das kann man mit einigem Recht behaupten, dass das wirklich möglich ist. Das ist nicht eine nur hypothetische Behauptung, sondern das lässt sich bis zu einem gewissen Grade tatsächlich verifizieren. Natürlich ist die Frage, die immer auftaucht, dabei: Wie denn? Wie lässt sich das verifizieren? Mittels ganz bestimmter Messverfahren im Sinne dessen, was ich Ihnen vorgelesen habe, sicherlich nicht. Sicherlich nur mittels einer ganz bestimmten meditativ-gedanklichen Zugangsweise, die natürlich erlernt werden muss, die man nicht einfach hat, sondern die man erschließen, an die man sich möglicherweise erinnern muss. Denn das ist wichtig, dass man in diese Schicht von der Erfahrung her eindringt. Wenn das nicht gelingt, bleibt das Ganze nur Theorie, bleiben das letztlich nur Worte, bleiben das mehr oder weniger interessante Metaphern, bleiben das aber keine Wirklichkeiten. Wobei eine ganz andere Frage ist, ob diese Metaphern, ob diese Worte überhaupt treffend sind.

„Viele Menschen wären froh“, schreibt Fred Hageneder, „wenn es so etwas gäbe wie ein Rezept, Devas zu begegnen. Aber keine magische Abkürzung kann die jahrelange Übung und Ausbildung unseres Geistes und unserer höheren Wahrnehmungsorgane ersetzen.“ Das würde ich auch sagen. Es bedarf einer jahrelangen, intensiven geistigen Arbeit, die auch etwas zu tun hat mit geistiger Disziplin, um mal diesen Begriff zu benutzen, auch wenn er nicht populär ist, der etwas zu tun hat mit geistiger Disziplin. „Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass höhere Formen von Bewusstsein und Feinsinnigkeit das Geburtsrecht und das schlummernde Potenzial eines jeden von uns sind.“ Das ist ganz entscheidend, dass im Prinzip jeder die Möglichkeit hat, weil wir alle aus den gleichen kosmischen Zusammen­hängen stammen, da ja keiner eine andere Herkunft hat. Wir sind ja alle in diesem einen großen kosmischen Zusammenhang, und es ist nicht einzusehen, warum einer die Fähigkeiten schlechterdings gar nicht haben soll. Im Prinzip müsste jeder diese Fähigkeit haben, auch wenn sie verschüttet ist. Und natürlich ist es schwierig, durch diese Ver­schüttung hindurch diese Ebene zu erschließen, und das kann ja auf vielfältigste Weise geschehen. Es gibt ja auch in diesen Büchern hier eine ganze Reihe von Anregungen, sage ich mal, wie man sich dem nähern kann. Zum Beispiel gibt Storl am Ende seines Buches lange Überlegungen preis, praktische Übungen, wie man das machen kann. Auch Hageneder gibt interessante Hinweise, die man nachvollziehen kann, wenn man sich dann dieser Mühe überhaupt unterzieht oder unterziehen möchte, wenn man nicht von vornherein das Gefühl hat, das ist müßig. Wichtig ist erstmal, dass man eine grundlegende Bereitschaft, eine grundlegende Offenheit aufbringt, dass man still sein kann. Ich rede hier, und das ist auch richtig für diesen Hörsaal, aber dazu bedarf es einer Stille. Wie gesagt, die CD die im Kopf läuft, muss zur Ruhe kommen, und es bedarf einer ganz bestimmten Öffnung, die auf mehreren Ebenen sich vollzieht. Diese Öffnung ist auf der einen Seite eine sehr genaue Phänomenologie, überhaupt erstmal genau wahrnehmen, was ist. Das können ja viele Menschen gar nicht mehr. Viele Menschen haben ja die Fähigkeit vollkommen verlernt, überhaupt das wahrzunehmen, was da ist. Das heißt, die pure Sinnlichkeit, zu schweigen von Übersinnlichkeit, fehlt. Fundamental wäre es also, die sinnlich-gestalthafte Wahrnehmung ersteinmal, ich sag’s noch mal … und da kann Goethe, da kann Goethe in der „Farbenlehre“ sehr viel beitragen. Das sind wunderbare Gedanken, die da geäußert werden, auch praktische Handhaben, wie man genau beobachten kann.

Dann bedarf es eines ganz bestimmten Sich-Einschwingen. Wir haben ja schon gesprochen über die Raumqualitäten, die die Bäume haben nicht, die ja etwa bei der Kastanie eine ganz andere ist als bei einer Birke oder einer Buche oder einer Eiche. Das ist ja aufschlussreich, dem wirklich mal nachzuspüren, der Raumqualität, die hier vorliegt. Ist sie bergend? Ist sie beschützend? Wie weit reicht sie? Wo setzt eigentlich diese Raum­qualität an bzw. wo beginnt sie? In welcher Entfernung vom Baum oder von der Baumgruppe ist sie wahrnehmbar? Auch das ist zu erspüren, wenn man eine bestimmte Aufmerksamkeit da walten lässt. „Für denjenigen, der Zugang zu den Pflanzen sucht, können Yoga-Übungen hilfreich sein“, behauptet Storl, wobei er den Begriff des Yoga hier weiter fasst als im gängigen Sinne. „Vertiefungsmeditation, in die Pflanze hineingehen. Diese Meditation lässt sich am besten an einem sonnigen Vormittag in der freien Natur durchführen, wer vormittags Zeit hat. Der Meditant“, furchtbares Wort, also lieber Wolf-Dieter Storl, ein furchtbares Wort, also, „der Meditant sollte fasten oder wenigstens nur eine leichte vegetarische Mahlzeit zu sich nehmen, er trägt leichte Kleidung aus Natur­fasern, geht barfuß über die Wiese und durch den Wald, und er lässt die überflüssigen, alltäglichen Gedanken und Träumereien beiseite und zentriert seinen Geist. Bei einer Pflanze, die ihn besonders anzieht oder anspricht, macht er Halt. Er setzt sich zu ihr hin oder legt sich neben sie. Das Wort Nabelschau daran zu üben oder sich in die eigene Innerlichkeit zu versenken“, jetzt wichtig, „geht er völlig in seine wachen Sinne hinein.“ Also keine, in dem Sinne, keine Nabelschau, sondern die wache Sinnlichkeit. „Er konzentriert sich ganz und gar auf die Pflanze und kümmert sich nicht um irgendetwas anderes, betrachtet die Pflanze genauestens, die Form der Blätter, die Farben, die Textur, den Glanz, nichts entgeht ihm, nichts lenkt ab, verschwendet auch keine Energie, um eventuelle Störungen auszublenden. Nach einer Weile sieht der Meditant Aspekte der Pflanze, die der flüchtige Blick sonst nie wahrnimmt. Er sieht zum Beispiel Käfer, Raupen oder Ameisen, die zur Ganzheit des Erscheinungsbildes dieser Pflanze gehören.“

Die Sinnlichkeit zu steigern bedeutet, wenn man das wirklich verfeinert und auch mit einer gedanklichen Meditation verbindet, auf diesem Wege tatsächlich in ein Stück Übersinnlichkeit hineinzugeraten. Ich unterscheide ja gerne, ich greife das auf aus dem 19. Jahrhundert, zwischen Übersinnlichkeit und Untersinnlichkeit. Die reduktionistische Weise, gegen die Natur anzugehen, wie die herrschende … ist untersinnlich. Sie geht ins immer Kleinere, ist reduktionistisch, analytisch. Sie untersteigt, sie unterhöhlt in gewisser Weise die Sinnlichkeit und versucht von dort ja dann die Sinnenwelt aufzubauen, was nie gelingen kann. Ganz anders die andere Vorgehensweise, die der Sinnlichkeit ihr Recht lässt und über eine verfeinerte, eine gedanklich-meditativ konzentrierte Sinnlichkeit den nächsten Schritt zu tun. Das kann man von Goethe lernen, dass man dann in dem Sinnlichen eine Ahnung gewinnen kann über das, was darin oder dahinter, an sogenanntem Übersinnlichen sich aufhält. Insofern kann man wirklich hier eine Art der gedanklich-meditativen Einstimmung praktizieren. Also wen das interessiert, der sollte tatsächlich dieses Buch hier sich anschauen. Auch die Übungen, die hier angegeben sind, auch Hageneder und andere Autoren zu diesen Themen geben natürlich Übungen an, wie das geschehen kann. Interessant übrigens an dem Buch von Hageneder ist, dass er die in unseren Breiten gängigen Bäume durchgeht und an jedem einzelnen Beispiel, etwa an der Eiche oder auch an der Ulme, an der Buche, an der Erle, am Ahorn und so weiter exemplifiziert, wie diese neue und andere Betrachtungsweise aussehen kann. Er geht immer von der äußeren Erscheinung, die sehr genau beschrieben wird ‒ wie ist der Stamm aufgebaut, wie ist die Formation der Zweige, wie ist die Krone gebaut, wie ist die Gesamterscheinung ‒ und geht dann in die Mythologie rein aus den verschiedensten Traditionen, auch in die indische Mythologie, germanische Mythologie oder griechische Mythologie und versucht dann, auch unter Heranziehung etwa der berühmten Bachblüten, eine vertieftere Betrachtung dieses Baumwesens, auch in den kosmischen Dimensionen. Beispiel Eiche. Das ist eine uralte Tradition, die auf die Antike zurückgeht, im Mittelalter verbreitet war, dass man zum Beispiel die Eiche mit dem Gestirn Mars in Verbindung bringt. Warum? Zunächst könnte man sagen, das hat eine, hat doch mit dem Anderen überhaupt nichts zu tun. Eine Begründung dafür, die angegeben wird, die eine gewisse Plausibilität hat, besteht darin, dass der Mars eine gewisse Exzentrizität im Hinblick auf die Position zur Erde aufweist. Er kann relativ nahe sein, wenn Sonne, Mars und Erde in einer Linie stehen und kann ganz weit entfernt sein, also in Opposition. Und dieses gewissermaßen Exzentrische der Relation der Gestirne soll sich, so wird in mehreren Büchern behauptet, widerspiegeln in dem eigentümlich Bizarren der Astformationen der Eichen, nicht, die ja doch eigenartig bizarr und wild wuchernd manchmal in den Raum hineingreifen, wodurch ja die Gesamteiche eine eigenartige Form annimmt. Wenn man mal darauf achtet und hat sich mal einen Blick dafür erworben, dann stellt man das immer wieder mit Erstaunen fest, dass tatsächlich die äußere Erscheinung einer Eiche eine völlig andere Gestalt hat als etwa die einer Buche.

Und worin besteht die Andersartigkeit? Das kann man dann auch ganz genau sich vergegenwärtigen. Das ist hochinteressant. Gleichwohl muss ich das mit einer gewissen Vorsicht sagen, weil mich überzeugt diese Zuordnung nur bedingt. Obwohl sie in vielen Büchern angeführt wird, hat sie mich so bisher noch nicht überzeugt, obwohl ich es interessant finde und das als Arbeitshypothese durchaus gelten lassen möchte. Zum Beispiel heißt es hier über die Eiche, um noch einmal bei der Eiche zu bleiben: „Die Untersuchungen der elektrischen Ströme von Bäumen haben gezeigt, dass die Eiche tatsächlich ein ganz besonderer Baum ist. Ihre Lebenskraft ist bei Weitem größer als die irgendeines anderen Baumes ihres Klimagebietes. Die Eiche drängt mit gewaltiger Kraft ins Leben. Mit ihrer einzigartigen Pfahlwurzel ‒ es gibt ja mehrere Wurzeltypen, das ist also der eine Wurzeltyp, die Pfahlwurzel ‒ mit ihrer einzigartigen Pfahlwurzel steht sie im Boden wie ein von den Göttern in die Erde gerammter Speer.“ Astrologisch, ja klar, natürlich jetzt astrologisch gesehen ist das Mars. Aber hier wird primär zunächst nicht astrologisch argumentiert, sondern wird astronomisch argumentiert. Das ist interessant, aber gut, das habe ich schon gesagt. „Und sie befindet sich dort, um schöpferische Urkraft zu bringen, das Grundwasser damit aufzuladen und sie über die Erde und all ihre Bewohner zu verteilen. Es ist Geist, der sich in der Eiche verkörpert, die Lebenskraft in die Schöpfung einsprüht. Während die Eibe“, interessant, „ein Ausgang ist, eine Tür von dieser Welt zurück ins Geistige.“ Übrigens soll die Weltenesche, die ja eine Esche ist, in der germanischen Mythologie ursprünglich eine Eibe gewesen sein, was etwas vollkommen Anderes ist. Bis vor kurzem dachte ich immer, das war eine Esche. Dann hab ich gelesen [es] war ursprünglich eine Eibe, die eine ganz andere Bewusstseinsqualität ausstrahlt. „Der Geist der Eiche trägt uns in die Welt, nicht in die Phase der Geburt, [wie die] Birke, sondern in die der vollen Blüte. Und wieviel Kraft hat sie somit tatsächlich den Menschen gegeben?“ Jetzt kommt das: „Die Eiche hat eine reale rhythmische Verbindung zum sich schnell bewe­genden dynamischen Planeten Mars als auch zum astrologischen Mars. Diese schöpferische männliche Kraft steht in der Vergangenheit“, da war der Mars nicht einfach ein Kriegsgott, wie heute viele glauben, „der keltische Mars besaß vor allem eine schützende und behütende Aufgabe. In Mitteleuropa stand er mit verschiedenen Kulten des Heilens in Zusammenhang.“

So, also ich möchte, dass wir noch ein bisschen ins Gespräch kommen, ich habe an meinem Stichzettel [gesehen], das ich [mir] viel zu viel für diese Folge vorgenommen hatte. Ich muss einfach mal hier einen Schnitt machen, damit wir noch ein bisschen reden können. Ich will noch eine Abschlussbemerkung machen. Die Frage nach dem Bewusstsein der Pflanzen und eine Stufe weiter nach den möglicherweise kosmischen Bewusstseins­qualitäten der Pflanzen ist nicht zu trennen von der Frage nach Bewusstsein überhaupt und von der Frage nach dem Bewusstsein und nach der Lebendigkeit des Erdganzen.

Das heißt, eine lebendige, bewusstseinserfüllte Pflanzenwelt ist nur zu denken in einer lebendigen, bewusstseinserfüllten Erde, auf einer lebendigen, bewusstseinserfüllten Erde. Und das führt uns natürlich schon in die nächste Vorlesung dann, wo ich ja am Beispiel des griechischen Demeter-Kultes Ihnen darstellen möchte, wie hier eine einzig­artige Verbindung entstanden ist zwischen Erdmutter-Kult, Getreide-Kult, Rituale, die mit Ackerbau und Anbau zu tun haben und der anderen, sagen wir, Anderswelt-Dimension der Einweihungsvorgänge im Sinne von Mysterienkulten. Es war vollkommen einmalig, was sich da vollzogen hat, über anderthalb bis zweitausend Jahre in Griechenland, faszinierend, menschheitsgeschichtlich in dieser Form singulär und in vielerlei Hinsicht rätselhaft. Das soll uns nächstes Mal beschäftigen. Also man muss letztlich die Frage stellen nach der Bewusstseins-Dimension der Erde als Ganzes. Man kann das nicht abkoppeln und landet letztlich bei der Frage: Was wissen die Pflanzen ‒ zur seelisch-geistigen Dimension des Pflanzenwesens? Was weiß die Erde? Was sind überhaupt die kosmischen Bewusstseins­wesenqualitäten des Gestirns, auf dem wir leben und des Kosmos, in dem wir leben? Letztlich mündet das in die Frage nach dem Kosmos. Man kann ja nicht einfach von der kosmischen Dimension der Pflanzenwelten reden, ohne dann auch [die] kosmische Dimension überhaupt einzubeziehen, die Frage nach Bewusstsein und Leben im Kosmos generell.

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