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Der Weltenwille als Baustoff und Lebenstrieb des Kosmos

Transkript des Videogesprächs
mit Jochen Kirchhoff (JK) und Gwendolin Walter-Kirchhoff (GWK)

(Gespräch vom 17.9.2023, Videoveröffentlichung am 18.9.2023)

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=FPoHkJ_bEqQ

Transkript als PDF::

GWK: Der Welten-Wille als Baustoff und Lebenstrieb des Kosmos – seit Galileo Galilei beschränkt sich die mathematisch-abstrakte Naturwissenschaft, das heißt zunächst die Physik und Astronomie, auf die quantifizierbaren Kräfte und Verhältnisse in der Natur. Obschon die Forces [engl. Kräfte] bei Newton noch als göttliche Wirkgrößen galten und damit quasi als Willensakte Gottes, hat sich im Zuge der Aufklärung die Galileische Vorstellung und damit ein Absehen von jeglicher Innen-Dimension dieser Kräfte durchgesetzt. Der Zufall tritt zunehmend an die Stelle teleologischer Erklärungen und mit ihm die probabilistische Mathematik.

Im eigentlichen Sinne kann von einem Willen erst in der Biologie die Rede sein, der zugleich das Leben und die Evolution antreibt. Bei Lamarck weist dieser Wille noch so etwas wie eine komplexe konkret-inhaltliche Intensionalität auf. Die Giraffe sieht oben im Baum ein schönes grünes Blatt und möchte das gerne fressen, und weil sie das gerne möchte, wächst ihr Hals allmählich. So stellt sich Lamarck das vor. Bei Darwin reduziert und entleert sich dieser Lebenswille zu einem blinden Grundinteresse an Fortpflanzung und Selbsterhalt in Abhängigkeit von Zufall und Nahrungsangebot.

Das Leben schwebt so haltlos, und gleichsam vom Abstieg in die Gleichgültigkeit des Anorganischen bedroht, als phantomhafte, ontologisch ungestützte Oase inmitten eines Ozeans toter Kräfte. So tut es nicht wunder, dass die Prediger der biodigitalen Konvergenz den Gedanken einer fundamentalen Differenz zwischen dem Technischen und dem Biologischen beerdigen wollen.

„Putting a nail in the coffin of vitalism.“ – um Mensch und Maschine in einer neuen, bewussten, intentional gerichteten Evolution zu verschmelzen und das Universum selbst mit einer technischen Superintelligenz zu fluten, um es mal in den Worten von Stanislav Lem zu sagen. Was aus dieser Weltsicht hervorgeht: „Ich bin aus moralischen Gründen Atheist. Ich bin der Meinung, dass man einen Schöpfer nach seinem Werk beurteilen muss, und die Welt erscheint mir als eine solch peinliche Fehlkonstruktion, dass ich es vorziehe, nicht zu glauben, dass irgendjemand so etwas absichtlich erschaffen hat.“ Dem wollen wir heute etwas entgegensetzen, nämlich mit der Willensmetaphysik, die ein genuiner Beitrag der deutschen Philosophie zur Welt-Philosophie ist. Lieber Jochen, fangen wir ganz einfach an: Was ist der Wille, und wie kommst Du auf diese Fragestellung?

JK: Naja, den Willen zu definieren, ist gar nicht einfach, nicht. Es ist ja also ein Grundimpuls im Menschen überhaupt, den ja jeder kennt: Ich will das, ich will berühmt werden, ja, ich will schön sein, ich will anerkannt sein, oder ich will dies und jenes erreichen. Also das kennt jeder aus der inneren Erfahrung heraus. Das ist eigentlich ein geistiger Akt, ein geistiger Akt, der sozusagen aus der tiefsten Tiefe heraufsteigt und den Einzelnen ja auch beflügeln soll. Es ist ja auch ein … und dann ist die große Frage, ist ja immer: Was ist dahinter?

Und der Wille wird ja traditionell auch immer als frei gesehen. Deswegen ja auch die ganze endlose Diskussion über die Jahrhunderte über die Willensfreiheit: Was ist die Willensfreiheit? Weil der Wille per se als frei gesetzt wird, da können wir sagen: Wieso eigentlich? Ja aber, wenn er nicht als frei gesetzt wird, ist es in diesem üblichen Sinne kein Wille, sondern dann ist es was Anderes, dann ist es ja ein zwanghafter Drang, dem der Einzelne sich unterwerfen muss.

Aber der Wille hat immer noch das Mysterium an sich, dass er frei ist und dass sozusagen „aus dem Nichts“ heraus [man] etwas tun oder wollen kann, das eben vorher nicht da war. Es ist eine Setzung, sozusagen aus dem Nichts. Deswegen ist ja auch die große Frage immer gewesen: Gibt es das überhaupt? Kann eine Handlung, ich meine jetzt mal rein intellektuell in der ganzen Diskussion über die Willensfreiheit, kann eine intelligente Handlung überhaupt, eine Handlung aus dem Nichts heraus erfolgen? Hat sie nicht eine Vorgeschichte? Dann ist sie kausal ableitbar, dann ist sie aber nicht in dem Sinne der Wille, dann ist sie nicht frei, sondern dann ist sie determiniert. Ist er sonst frei, oder ist er determiniert? Man ist ja dann auch so weit gegangen, dass man die Fragen gestellt hat, Leibniz z. B.: Ist Gott frei? Er hätte auch eine andere Welt schaffen können. Die Freiheit [bzgl. der Erschaffung] der Welt [ist] breit ventiliert [worden], und dann kam der zu dem Schluss: Na ja, er hätte auch vieles andere machen können, aber er hat eben das gemacht, was am vernünftigsten ist, die beste mögliche Welt.

Also diese Fragen sind endlos diskutiert worden, und der Mensch hat natürlich ein grundlegendes Interesse: Ist der Wille von ihm selber, der aus seiner Brust aufsteigt, ist der frei? Oder ist der nicht frei? Und dann ist natürlich immer die Verbindung mit dem göttlichen Willen. Das ist nie vollkommen getrennt gewesen, also immer auch die Frage: Was ist denn eigentlich der göttliche Wille?

Also wenn man im Alltagssprachgebrauch [sagt]: Mein Gott, um Gottes Willen, was machst du? Da taucht das immer wieder mit auf, das spielt immer eine gewisse Rolle, und die Willens-Metaphysik, von der Du gesprochen hast oder die Du hast anklingen lassen, hat da immer beides gedacht Und da will ich ganz kurz mal was sagen zu Dir, zur Willens-Metaphysik, weil die interessant ist, weil die heute, sagen wir mal, im allgemeinen intellektuellen oder kulturellen Bewusstsein gar keine Rolle mehr spielt, nicht, sozusagen es interessiert kaum einen noch. Dabei ist es hochinteressant, wie das eigentlich zusammenhängt.

Und da ist der Urvater – der Urvater der Willensmetaphysik ist ein berühmter Mann, ein Mystiker, Meister Eckhart. Das habe ich immer mehr begriffen. 1260, weiß man, ist er ungefähr geboren, wie Dante übrigens, und hat wahrscheinlich gelebt bis 1328, auch ungefähr wie Dante. Also das sind parallele Lebensläufe. Interessant, aber sie haben einander nicht zur Kenntnis genommen. Dante wusste nichts von Meister Eckhart, und Meister Eckhart musste nichts von Dante, soweit ich das erkennen kann oder wissen kann. Auf jeden Fall, das ist ein ganz eigener Punkt, also wie sieht es damit aus?

Also Eckhart ist ein Willensmensch unvorstellbarer Art. Eckhart schreibt z. B. einmal, dass, wenn man wirklich will, dann ist man sozusagen im Göttlichen. Es gibt sogar Aussagen von Meister Eckhart, wo er sagt: Ich selber in meinem tiefsten Willensimpuls kreiere erst die Gottheit. – Was ist denn das? Was sind denn das für Sätze, ja? Also solche Sachen sagt er dann, also ganz tief, sozusagen mystisch. In der tiefsten Tiefe ist der Mensch im Willen verankert, und er lebt darin, er wirkt darin, und er berührt dann auch das Göttliche. Also, das findet man ja auch … , solche Äußerungen findet man da noch später in der Mystik bei Agelus Silesius zum Beispiel, nicht, so ganz eigenartige Sätze: Wenn ich nicht bin, kann kein Gott sein und so weiter. Also auch diese tiefe Mystik, die da drin eine Rolle spielt, also Eckart ist in gewisser Weise, ich sage es nochmal, der Urvater der Willensmetaphysik. Er [der menschliche Wille / Eckhart] ist in dem tiefsten Willen ja auch gleichzeitig, kann man sagen, verankert im göttlichen Willen. Das ist für Eckhart das Gleiche.

GWK: Und der Wille und das Ich sind auch verbunden.

JK: Richtig. Man hat ihm ja auch den Vorwurf gemacht gerade zu der Gotteslästerung. Eckhart sagt so Sachen wie, auch so in dem Sinne: Der Gott und ich sind eigentlich identisch. Das auch war ganz altes mystisches Gedankengut. Hat man ihm natürlich vorgeworfen, galt als ketzerischer Satz. Dazu ist er ja noch mal angeklagt worden kurz vor seinem Tode. Da ist ihm der Prozess gemacht worden. Den hat er nicht mehr erlebt, aber es gab den Prozess. Das sind ja, nicht, ketzerische Sätze: Gott und Ich ist eigentlich das Gleiche. Es ist: Wenn ich in der tiefsten Tiefe mich selber bejahe und mithin den Willen bejahe, bin ich auch selber ein Stück weit Gott selbst. So ist es dann bei ihm.

Und dann natürlich auch, und das hast Du ja schon eben gerade angedeutet, die Ich-Frage. Das hat der Eckhart auch als Erster überhaupt begriffen, dass man das eben über das Ich erfährt. Es ist kein Es, der Mensch ist kein Es, sondern im Ich-Sein, im Ich-Sein, im tiefsten Ja-sagen zu sich selber, zur eigenen Existenz, sagt Eckhart, kann man alles. Das heißt das ist die höchste Form der Willensmetaphysik, die man denken kann, [und die] hat Eckhart gedacht. Man kann alles. Wer wirklich will, kann die Welt auseinandernehmen sozusagen, ja, oder der kann wirklich alles, und das sagt Eckhart unermüdlich, solche Sachen, und das sind natürlich unglaubliche Sätze, und da ist Eckhart hochinteressant und auch für Intellektuelle natürlich hochinteressant.

Eckart hat ja auch die Menschen immer wieder bewegt im Laufe der Zeit, nicht, viele haben ihn ja auch bewundert, und wenn man ihn dann wirklich liest, was ich jetzt wieder getan habe, dann staunt man eigentlich. Er ist ein Phänomen, also Eckhart ist ein Phänomen, nicht. Nun kann man das nicht im Original lesen. Man liest es ja in Übersetzungen, in neuhochdeutscher Übersetzung, [das ist] natürlich eine Interpretation schon. Auf jeden Fall, das ist der Ausgangspunkt.

Und dann ist der Zweite, den man da vielleicht nennen könnte dann, später, [das] ist dann Jakob Böhme, der ganz stark auch beeinflusst ist von Eckhart, nicht. Jakob Böhme, um 1600, also ungefähr um die Zeit, als Bruno hingerichtet wurde, hat er seine große Visionen gehabt.

Also dann greift die Philosophie das auf, nicht, also Schelling liest dann Meister Eckhart, den hat er auch gelesen, aber vor allen Dingen Böhme, und der Schelling greift das auf, und dann plötzlich kommt diese ganze Frage ins Spiel nach dem Willen: Was ist der Wille? Und da ist also der Schelling der Erste, der sagt dann: Wollen ist Ursein [Urseyn], also sozusagen, das alles geht auf den Willen zurück, und es ist immer auch hier die Zusammenführung von göttlichem Willen und menschlichem Willen, das ist nicht getrennt.

Helmut Krause schreibt ja in seinem Buch „Der Baustoff der Welt“, da reden wir noch drüber, dass Schopenhauer redet vom menschlichen Willen, und er redet vom göttlichen Willen, sagt er. Aber für Meister Eckhart, und in gewisser Weise auch für Schelling dann, ist es das Gleiche. Die Welt, sagt schon Schelling einmal, ist die unendliche Bejahung über den Willen: Ich sage Ja unendlich für die ganze Welt, [das] ist der Wille zur Welt, die unendliche Bejahung der Welt, ist überhaupt die Bejahung.

Man kann natürlich auch sagen: Der Wille kann ja auch ein verneinender Wille sein, ein Wille zum Nichts im Sinne von Nietzsche. Aber letztlich ist der Wille erst mal immer die Bejahung. Ich will das, weil ich das will, also weil es auch richtig ist. Der Mensch hat also das Gefühl, dass er im Willen verankert ist und dass er auch selber sozusagen da seine Würde hat, seine Ich-Würde, und so weiter. Also dieses spielt dann später eine große Rolle bei Schelling natürlich – und dann berühmt natürlich bei Schopenhauer.

Aber nur um das ganz kurz zu sagen, Schopenhauer geht ja von einem blinden Willen aus, [der Wille ist bei ihm] total blind, während die normale Definition des Willens, übrigens auch bei Schelling, ist ein Geistprinzip, ein gezieltes, aber intentionales Geistprinzip. Das ist ja bei Schopenhauer nicht der Fall. Der Wille ist bei Schopenhauer ein unbewusstes Prinzip in den Dingen überhaupt. Die Vorstellung bringt erst dann eine Konsistenz und eine Geordnetheit in die Phänomene hinein.

Anders jetzt auch wieder Nietzsche, können wir auch noch drüber reden, bei dem das undeutlich ist. Wenn man Nietzsche liest, hat man auch das Gefühl, dass er auch irgendwie den Willen [an]sieht als metaphysisch – und dann wieder nicht, dann ist es wieder ganz materialistisch. Aber auch da natürlich die Frage, die Bejahung, die ja dann unendliche Bejahung ist, eben zur ewigen Wiederkunft, das haben wir in unserem Video damals über Nietzsche auch gesagt. Also, das spielt eine große Rolle, und das verliert sich nachher, diese Art des Denkens, aber sie ist ein ganz großer Strang im Denken, dann bei Helmut Krause ganz stark der göttliche Wille – und mit gewissen Ausnahmen auch bei Jochen Kirchhoff, vielleicht dem letzten Willensmetaphysiker. Also das spielt eine ganz große Rolle, und es ist ein Mysterium.

Wir müssen nochmal klar sagen, wenn wir vom Willen reden, sei es vom menschlichen Willen oder vom göttlichen Willen: Man berührt auch ein Mysterium, das ist ein Abgrund, und das wusste Eckhart wie kein Anderer, man ist in [an] einem Abgrund. Böhme nennt das den Ungrund. Ja, man ist in tiefsten Tiefen, und man ist in gewisser Weise auch in mystischen Tiefen, wenn man mal das Wort Mystik jetzt hier heranziehen darf. Die Philosophie berührt dann die Mystik, und der mittlere Schelling ist ja ganz auch Mystiker, nicht, er ist erst mal nur Naturphilosoph, und er ist dann auch Mystiker, und er ist ganz stark beeinflusst von Jakob Böhme, ohne den man ihn gar nicht denken kann. So, das nur ganz kurz zur Einführung. Das ist heute noch immer wichtig, aber es ist natürlich verloren gegangen. Die Naturwissenschaft hat natürlich das Rennen erst mal gemacht, und wieso soll ich noch heute mein Gehirn abquälen mit der Frage: Was ist der Wille und wie funktioniert der? Aber es ist tatsächlich eine tiefe, ganz tiefe Frage. Das kann jeder in seiner eigenen Brust entscheiden: Ist er frei oder bin ich eigentlich ein Sklave eines übergeordneten Willens, der mich will und den ich gar nicht will? Das sind Abgründe, die jeder Einzelne mit sich selbst abmachen mussten. So, das nur dazu als Einleitung, ja.

GWK: Bzw. als Teilaspekt, nämlich der Kern ist natürlich der: Wie steht der, bei Schelling heißt es Partikularwille, zum Universalwillen, also dem Willen des Göttlichen – der Wille des Menschen zum göttlichen Willen? Und der Gedanke der Willensfreiheit ist ja, und das passte sehr gut in die Freiheitschrift [von Schelling], der Gedanke, frei zu sein, gegen den göttlichen Willen zu verstoßen, sich gegen den göttlichen Willen zu richten. Darin liegt die eigentliche Freiheit des freien, des sogenannten freien Willens. Damit wäre quasi aber auch immer der göttliche Wille im Raum, als Alternative sozusagen.

JK: Ja, vollkommen richtig. Und es kommt noch hinzu, dass die Willensmetaphysik und die idealistische Philosophie, das muss man auch mal philosophiegeschichtlich sagen, letztlich den Willen auch mit – man muss diesen Begriff nennen, obwohl er für die heutigen Menschen irgendwie befremdlich ist – das ist eine Setzung. Der Wille ist eine meta­physische Setzung. Also sagt ja auch Schelling: Die Freiheit, wenn Du die Freiheit meinst, ob ich das Blatt jetzt umwende oder nicht umwende, das soll Freiheit sein, sagt [fragt] Schelling? Das spielt überhaupt keine Rolle. Das interessiert auch gar keinen. Viel interessanter ist: Was steckt dahinter? Was ist die eigentliche Freiheit? Nicht dass ich tun kann, was ich will. Ich könnte jetzt aufstehen oder meine Kaffeetasse ergreifen und wie immer, das ist völlig uninteressant. Interessant ist nur, ob der Einzelne in seinem So-Sein frei ist. Pointe bei Schelling und auch bei Schopenhauer: Ich hätte ein Anderer sein können. Jetzt kommt eine Pointe rein, die verblüffend ist. Ja, Du bist der, der Du bist, aber damit bist Du schon festgelegt, weil der Willensakt als Akt der Selbstsetzung, der ist schon vorher passiert. Jetzt kannst Du nichts mehr machen, jetzt läuft das sozusagen in gewisser Weise ab. Anders kannst Du es nicht [mehr machen], da kannst Du nicht aussteigen. Also die tiefste, die tiefste Freiheit ist für Schelling, und in Teilen auch für Schopenhauer, das geht so ein bisschen ineinander über, bei Nietzsche ist es wieder anders – im Grunde genommen gibt es einen Ur-Willensakt, eine Ur-Setzung Deiner selbst, und das ist die Freiheit und nicht, dass du dann später irgendwas, dies machen kannst oder jenes machen kannst. Ein Abgrund, viele sagen: Es ist einfach unsinnig, was soll es sein, das ist doch … , das ist ja auch metaphysisch, nicht, also die Frage: Bist du da frei, oder bist du nicht frei? Und das ist ja eine Frage, die sich jeder wieder neu stellen muss, immer wieder: Bin ich frei, bin ich eigentlich schon gesetzt und kann gar nichts mehr machen? Also auch das ist ja die Karma-Frage, nicht, wenn ich dann in diesem spirituellen Sinn, auch im Sinne asiatischen Denkens, die Karma-Frage [stelle]: Bin ich da frei, oder bin ich da eigentlich nur in einem Fahrwasser des Determinismus?

GWK: Da ist ja die Lösung von Spinoza zu dem Thema, dass ich nur dann frei bin, wenn sozusagen mein Ich aufgeht oder sozusagen immer mehr sich verbindet in einer höheren Natur mit dem göttlichen Willen. Dann, in dem Moment, bin ich frei, und ansonsten bin ich von verschiedenen anderen Willen bedingt und von Impulsen und Umgebungen, Einflüssen bedingt. Das heißt, die eigentliche Freiheit ist erst da, wo der Geist … oder sozusagen in dem, was sie die Buddha-Natur nennen würden. Nur das ist die Freiheit.

JK: Ja, vollkommen richtig. Man muss nochmal ganz scharf sagen: Es ist auch die Freiheits­frage. Der Wille ist die Freiheitsfrage und die Ich-Frage. Und wenn man jetzt vom göttlichen Willen spricht, dann muss man sehen, siehe Eckart, aber nicht nur Eckart: Wie ist die Verbindung des göttlichen Willens mit dem menschlichen Willen? Gibt es da eine Verbin­dung? Die muss es geben. Aber wie sieht sie aus? Und da können wir uns auch noch drüber unterhalten, das sind abgründige Fragen. Wir müssen, liebe Zuschauer, hier wirklich in dieses [Thema] ein bisschen hineinsteigen, in diese Dinge, weil sonst kommt man dem Thema … , wird man dem Thema nicht wirklich gerecht. Das ist ein abgründiges Thema, nicht, viele würden es vielleicht abwehren und sagen: Das ist ja spekulativ, und das ist ja mystisch spekulativ, da kommen wir nicht weiter. Doch, man kommt da ein Stückchen weiter, aber reduktionistisch, im Sinne hier von Stanislav Lem, kommt man da nicht weiter.

Ganz kurz noch zu Lem. Er meint ja eigentlich, das Universum ist sinnlos, das hätte man ja viel besser machen können. Nun ist natürlich das auch eine Aussage, die immer mal wieder geäußert wurde, indem man eben sagt, das habe ich auch in einem meiner Bücher mal zitiert, in einer Diskussion zitiert aus dem Jahr 2001, dass irgendeiner in einer Gesprächsrunde gesagt hat: Was reden wir überhaupt vom Göttlichen? Diese Welt ist so schlecht gemacht, das hätte man viel besser machen können. Also diese vielen Gaskugeln und dann diese paar Planeten, die darum kreisen – das kann es nicht sein, das ist schlecht gemacht. Ja so ist es … , ich würde ja sagen, so ist es auch gar nicht. Aber der Gedanke …

GWK: … das Modell ist schlecht gemacht, nicht der Kosmos …

JK: … dass [der Kosmos] schlecht gemacht ist [führt zu falschem Modell] und [dazu,] dass das Göttliche so nicht auffindbar ist. Ich sage ja manchmal auch, aber es ist auch in den Büchern öfter geschrieben: Wenn das wirklich so stimmt, was die heutige Kosmologie annimmt, wenn die Physik absolut sein soll, sag ich mal so, jetzt vorsichtig, dann ist die Spiritualität tot. Wenn das stimmen sollte, ist die Spiritualität nicht zu retten. Das muss man ganz brutal deutlich sagen: Es kann nur so sein, dass das nicht stimmt. Und warum stimmt das nicht, das kann man begründen.

GWK: Und hier kommen wir an den eigentlichen Punkt, warum wir mit dem Ich, dem Willen überhaupt anfangen, also dem Willen, der Intentionalität und den Inhalten. Das können wir jetzt vielleicht mal auffächern, denn die erste Frage, die man sich stellen kann [ist ja]: Ist der Wille blind? Wenn wir die Wissenschaftsgeschichte anschauen, sehen wir als Allererstes, dass der Willensakt Gottes quasi ganz an den Anfang gesetzt wird. Es gab am Ursprung eine Ur-Setzung, in dem Fall des Urknalls, bei uns jetzt mittlerweile, früher dann einfach wie in dem deistischen Modell, dass quasi einmal die Schöpfung angestoßen worden war und ab dann läuft die deterministisch ab.

JK: … bei Leibniz auch …

GWK: … ja, das kann man sich ja dann vorstellen, bei Newton noch die Forces, dass quasi Willensakte herumschwirren von also göttlichen Willenskräften, kann man sagen in der Physik, aber in der eigentlichen Newtonschen Mechanik auch zugunsten einer letztendlich toten Trägheitsbewegung aufgegeben, das heißt die Frage …

JK: Aber Newton war immer noch so spirituell, das muss man dazu sagen, dass er tatsächlich, das hast Du ja angedeutet, die Kräfte waren für ihn metaphysische Kräfte und in diesem Sinne auch göttlich und frei. Also Newton war immer noch … , hat er immer noch einen letzten Rest von einem spirituellen Weltbild. Ist ja auch ganz stark beeinflusst von Jakob Böhme übrigens, zum Teil auch von Giordano Bruno, nicht, also über einen englischen Mystiker, Henry Moore, der das vermittelt hat. Also Newton ist da sehr interessant, weil er ambivalent ist, wie er ja auch bekanntlich viel mehr mystische Schriften verfasst hat als physikalische Schriften. Newton sah sich als Mystiker, als Eingeweihter, als Hermetiker, als den letzten großen Hermetiker. Gut, das nebenbei, aber es spielt schon eine Rolle.

GWK: Deswegen würde ich jetzt noch mal tiefer [darauf] eingehen. Also der Wille, wenn wir jetzt den in die Natur wieder zurücktragen, wo er rausgetragen worden ist, nicht, dass wenn sozusagen, wenn immer Absichtlichkeiten als anthropomorphe Projektionen weggedrückt [werden] und so weiter, tragen wir den Willen auf eine sozusagen erwachsene Ebene zurück. Wie würde das aussehen? Wir sagen erst mal: Grundfrage – ist der Wille tatsächlich [eine] Kraft mit Innen, ja, also die Kraft nicht nur in einer reinen Außenkraft, eine Kraft ohne Innen, sondern eine Kraft mit einem Innen? Und jetzt die Frage: Ist dieser Wille blind und leer oder bezieht er sich auf etwas? Wenn ja – worauf bezieht sich der Wille? Also sozusagen: Was will der Wille? Woher weiß der Wille, was er will? Ist er also in … , wodurch wird der Wille gestaltet, in die eine oder andere Form gestaltet, denn man kann sich tatsächlich die Frage stellen, wie bei Lamarck auch, und die verschiedenen Formen, wenn man jetzt zum Beispiel eine wunderbare Passage zu Beginn des Dr. Faustus liest mit den Schmetterlingen. Es gibt ganz viele erstaunliche Schmetterlinge, die erstaun­liche elaborierte Tarnsysteme entwickelt haben, also wirklich komplett haargenau ein Blatt nachstellen, mit den Äderchen darstellen, mit den Fressstellen darstellen, so dass sie ein ganz realistisches Blatt haben auf ihren Flügeln und so, und man kann ja in dem Moment fast mit größerem Recht einen Lamarck bemühen, der sagt ja: Der Schmetterling hat das gesehen und wollte so aussehen und weil er das so wollte, kamen dann Schmetterlinge, die so auch aussehen, die diese Form … , er hat sich selbst gestaltet damit, könnte man diesen Willens-Impuls anlegen [annehmen]. Es gäbe sogar Rechtfertigung in der Natur, also dieses Modell, das alles über den Trägheitsbewegungszufall [geht] und dann Absterben immer bei knappem Nahrungsangebot – dass das immer so abgelaufen sein muss, wird konterkariert durch diese erstaunlichen Gestaltungs- und Anpassungsleistungen zum Beispiel, wenn ein komplettes Aussehen übernommen wird, beispielsweise auch von einem Schmetterling, der so besonders bunt ist und aber eklig schmeckt, dann wird er nicht gefressen, fliegt besonders langsam, um das anzuzeigen, und ein anderer Schmetterling, der überhaupt nicht giftig ist selbst und also genießbar wäre, legt sich auch so eine bunte Zeichnung zu und so eine ähnliche Flugweise, tarnt sich sozusagen, fährt Trittbrett auf dieser bekannten Ekligkeit dieses anderen. Also wieso macht er das, hat er das gewollt, hat er das gesehen, hat er sich das abgeguckt? Wenn wir jetzt eine Intentionalität erstmal bemerken, einfach, wie kommen wir darauf, was bringt es uns, den Willen da einzuführen?

JK: Ja, das ist natürlich eine Grundfrage, da kann man fragen: Weiß der Pfau, dass er schön ist? Hat er ein Bewusstsein in irgendeiner Form von seiner unfassbaren, geradezu über­irdischen Schönheit, oder ist der vollkommen blind dafür? Das können wir nicht beant­worten, die Frage. Aber das ist natürlich eine Grundfrage, die man dann immer stellt auch, nehmen wir mal den Stier. Der Stier stößt und will stoßen und deswegen kriegt er die Hörner. Also, ja, das ist … , hört sich banal an, aber so ist es ja doch, das kann man doch sagen – oder es ist ganz anders, weil er letztlich das will, entwickeln sich dann diese Hörner, oder eben nicht. Da kommt man immer in diese, letztlich, diese Innenperspektive rein, die man letztlich sich nicht erforschen kann, weil letztlich sind wir bei einer Frage, die uns ja auch schon mal beschäftigt hat, nach der Form: Wie ist das überhaupt? Das wissen wir nicht. Letztlich ist auch das ein großes Mysterium. Wie kommt Form zustande? Auch Schönheit, wie kommt Schönheit zustande? Das ist auch … da ist auch ein innerer Impuls, der auch wie ein Willensimpuls sein mag oder wahrscheinlich auch ist. Aber wie weit dann der Träger dieses Impulses dann tatsächlich etwas weiß davon, können wir nicht beur­teilen. Das kann man letztlich auch für sich bestehen lassen. Man sollte da auch nichts Anthropomorphes hineinfantasieren, was man machen kann. Aber es ist, finde ich, nicht richtig, sondern man kann es auch als Mysterium stehen lassen.

Also wie entsteht Form überhaupt, wie entstehen überhaupt die Dinge? Sind sie denkbar ohne eine Innenperspektive, ohne einen Innen-Impuls? Nicht, die heutige Natur­wissenschaftlich sieht die Natur ja nur außen, nur außen. Was ich sehe, das ist eben das Außen, das kann ich berechnen, da kann ich Maschinen bauen, und da kann ich mir besonders intelligent vorkommen. Aber das Innen, die Innenperspektive, auch bei Menschen, die wird ja ausgeklammert. Das ist ja nun ein Drama unserer Zeit, wie wir ja alle wissen, bis hin zum Transhumanismus. Darüber haben wir auch schon gesprochen. Das ist letztlich eine Katastrophe, dass man die Innenperspektive praktisch ausklammert und damit auch den Willen ausklammert und damit auch die Weltseele ausklammert, nicht.

Die Frage ist ja wirklich: Warum hat eigentlich die Naturwissenschaft sowohl den Weltwillen eliminiert irgendwann und auch die Weltseele eliminiert? Warum? Weil es ein Störfeld ist, nicht. Wenn die Natur einen Eigenwillen hat sozusagen, sie könnte auch etwas Widerborstiges haben, aber einen Eigenwillen hat, dann ist es schlecht bestellt um die reduktionistische Naturwissenschaft, weil dann kommt sie immer in die Quere an der Stelle. Also das ist eine ganz entscheidende Frage.

Durch den Willen kann man die Lebendigkeit und die Innenperspektive der Dinge wiedergewinnen, könnte sie wiedergewinnen, könnte sie wiedergewinnen, nicht durch das Denken nur alleine, aber auch durch das Denken. Man kann Dinge auch durchdenken. Man kann dahin kommen, dass hier in der reduktionistischen Form etwas fehlt, etwas Entschei­dendes fehlt. Und das ist eben genau die Innenperspektive, und das ist eben genau auch das Ich und auch dann [ein] Stück weit Freiheit. Also, das ist einfach so, sagt ja auch Schelling immer wieder: Die Natur, alle Pflanzen, alle Tiere nähern sich der Freiheit an und damit dem Menschen. Ist ja auch wieder eine Evolutionslehre, die Schelling da, also eine nicht-darwinistische Evolutionslehre, die Schelling da propagiert. Übrigens auch Schopenhauer ist da ganz ähnlich wie Schelling.

GWK: Eine Gewahrwerdung des Ich aus der Natur. Es gibt also tatsächlich unterschiedliche Grade der Gewahrwerdung des Ich, ja, auch ein Tier hat ja eine Subjektivität, aber nicht dieselbe wie ein Mensch sie hat.

JK: Gewisse Grade der Subjektivität hat auf jeden Fall das Tier, anders natürlich das höher organisierte Tier als zum Beispiel eine Ameise, das ist klar, anders. Aber das ist auf jeden Fall ein ganz wichtiger Punkt, der Willensimpuls in der Natur, der immer mitspielt, und den kann man wieder entdecken, den kann man über die Willensmetaphysik neu erschließen, und die kann bis zu einem gewissen Grade, ich sag’s noch mal, auch über das Denken neu erschließen, wenn man wirklich denkt.

GWK: Wobei wir jetzt vielleicht auch uns anschauen können, wie Schopenhauer mit der Sache umgegangen ist, und dann auch Krause. Denn Schopenhauer hat ja den Willen tatsächlich, also den einheitlichen … auch die Polarität zum Beispiel … Was können wir noch über den Willen aussagen, wenn wir den Willen jetzt mal in Fragen aufteilen? Wir haben also einen gewissen Grad an Subjektivität, ein Innen, das auf etwas bezogen ist, auf sich selbst. Das hat ein Zentrum, es hat Inhalte, es blickt auf etwas, also es ist ein blickender Wille. Der Wille blickt auch, ja, und bewegt sich in seinem Bicken auf etwas hin. Und jetzt können wir natürlich noch weitere Fragen stellen. Hat der … hat der Wille an sich z. B. … ist der immer so gleichmäßig da, oder hat der eine rhythmische Energie, expandiert der und zieht sich wieder zusammen? Was beeinflusst den Willen? Was ist … was ist die Natur des Willens, denn das, was ja Schopenhauer versucht hatte, war, den Willen in die Naturkräfte nach unten reinzutragen, das auch, ähnlich wie es die Sexualität gibt, später auf der Ebene des höheren organischen Lebens, so gibt es eben diese Anziehungs- und Abstoßungs­bewegungen auf der Ebene des Subatomaren. Anziehung, Abstoßung zum Beispiel, diese Art von Bewegungen gibt es auf allen Ebenen, und was der Schopenhauer tat, ist, das in einen Zusammenhang zu setzen: Das ist alles das gleiche Grundprinzip, eben auf der [je] unterschiedlichen Seinsebene.

JK: Ja, so erklärt er auch die Gravitation, der Schopenhauer. Bei Schelling ist das sehr ähnlich, ja.

GWK: Und deswegen ist [folgt] die Frage nach den Eigenschaften dieses Weltenwillens vielleicht auch jetzt nach Schopenhauer und nach Krause.

JK: Ja, also wir möchten vielleicht noch kurz darauf hinweisen für die Zuschauer: Dieses Büchlein, „Der Baustoff der Welt“ von Helmut Krause, das ist die Ausgabe von 1991, die auch eine Kommentierung hat, und da ist auch ein Gespräch drin, was ich seinerzeit in den 70er Jahren mit Werner Heisenberg geführt habe, dass dies tatsächlich frei zugänglich ist als digitaler Text im Internet. Das heißt, dies können Sie, verehrte Zuschauer, Sie können das tatsächlich nachlesen. Sie müssen nur zwei, drei Mausklicks … , dann haben Sie das und können das aufschlagen und ohne dass Sie es in der Hand, physisch in der Hand haben, aber es ist digital da. Sie können … , Sie müssen nur bei jochenkirchhoff.de nachgucken, das ist die Homepage, und dann können Sie auch noch paar Klicks weiter[gehen], dann haben Sie dieses Buch, das Büchlein hier, und da haben Sie auch die Frage, nicht, von den bewohnten Gestirnen und der Ursache der Gravitation.

Und da taucht auch die Kontroverse zu Schopenhauer mit auf, dass also der göttliche Wille hier von Krause ganz klar anders betrachtet wird, als es Schopenhauer getan hat. Also sozusagen der göttliche Wille ist etwas Anderes als der menschliche Wille. Bei Eckart wäre das ja sozusagen …, würde das zusammenfallen, nicht, das ist noch wieder ein anderer Punkt ja. Aber dass auch eine Grundlebendigkeit [am Werke ist], auch die Anziehungskraft dann, als eine Grundstrahlung, eine Energiestrahlung, kann man sagen, ein Urfeld, ein primordial field oder so, also auch ein Urfeld, was aus den Gestirnkernen zerstrahlt, das haben wir ja früher in mehreren Videos auch ausführlich dargestellt. Also da ist ein Zusammenhang, der da besteht, und das ist eben nicht vollkommen getrennt, sondern der Mensch ist da eingebunden und hat auch einen Zugang. Welchen Zugang hat er? Na ja, er kann meditativ dem sich auch annähern, nicht, das ist ja auch … Krause selber ist ja über diese Sache gekommen, über eine Grundintuition nach langer Meditation, nicht, über die Verstrahlungsfelder der Gestirne, die tatsächlich dann auch einen Erklärungswert haben und eine Erklärungskraft haben. Und dann kommt man in eine neue Form des Innen der Dinge hinein. Es gibt den Innen-Blick, das Innen. Und das ist ja für den modernen Menschen wie ein Fremdkörper, nicht. Wieso soll der nach innen gucken? Der ist ja außen schon überfordert, ganz zu schweigen von seinem Innen.

Also dass er diesen Innenblick verlebendigt und dass er da begreift, dass er nur über den Innenblick überhaupt lebendiger, ein lebendiges Wesen sein kann. Er ist nur dann wirklich lebendig. Wenn er es ausgeklammert, ist es [er] eigentlich tot, eigentlich im Grunde tot. Und dann müssen wir gar nicht reden über Weltenwillen und über den Kosmos, sondern das ist einfach dann tot. Aber es ist ja nicht tot, sondern wir sind lebendig, und weil wir lebendig sind, und weil ich davon auch ausgehe, auch mit Krause und in gewisser Weise auch mit Schelling: Weil wir lebendig sind, können, müssen wir in einer lebendigen Welt leben. Weil: Lebendiges entsteht aus Lebendigem und nicht aus Totem.

Das sage ich ja immer wieder, auch wenn viele dann die Stirn runzeln, sage ich: Es hat noch niemals jemals auf dieser Erde jemand gesehen, dass aus Totem Leben entstanden ist, nie, [das] hat es noch nie gegeben, gibt’s auch gar nicht. Aus Leben entsteht Leben und nicht umgekehrt. Das Leben kann zum Tode führen, es führt zum Tode in gewisser Weise auch, aber es entsteht nicht aus Totem. Wir leben in einer lebendigen Welt, und nur deswegen reden wir über diese Dinge. Wenn wir die tote Welt der abstrakten Physik für absolut halten, dann müssen wir diese Dinge gar nicht besprechen, dann reden wir über Formeln. Kann man auch machen, ist ja auch ganz witzig. Die Dinge, sie haben auch einen Formelcharakter, die kann man dann aufschreiben, und [man] kann dann auch Objekte ins All schießen und kann das Fernrohr aufstellen und kann damit die Galaxien betrachten und kann sich selber [für] sehr hoch intelligent halten. Und man denkt in dem Gedanken, man wüsste irgendwas.

Dabei weiß man überhaupt gar nichts, weil das Innen vollkommen fehlt. Man sieht ja nur das Außen, und die Fernrohre vermitteln einem ja nur das Außen. Und, wie ich immer wieder sage, man wird ja auch angeblickt. Wir sind nicht nur die Blickenden, die gierig mit unseren Fernrohren in die kosmische Nacht blicken, sondern wir sind auch die Ange­blickten. Wir sind auch Angeblickte, und wir sind auch gemeint. Das Du-bist-nicht- gemeint-Universum ist es eben nicht, und in diesem Kontext bewegen wir uns ja mit diesen Fragen überhaupt.

Und wir versuchen uns ja, mit den Fragen auch wieder anzunähern an die lebendige Perspektive, die ist nicht dogmatisch, aber ein Denkhorizont einer lebendigen Ganzheits­perspektive. Die muss möglich sein, und die ist möglich. Das ist die einzige Möglichkeit, dem herrschenden Irrsinn halbwegs Paroli zu bieten, ja, [das] ist tatsächlich da anzuknüpfen und diese Kräfte sozusagen in sich zu verlebendigen und grundsätzlich sie zu verstärken, die schöpferischen Grundimpulse durch den eigenen Einsatz des eigenen Denkens und Wollens zu verstärken. Und das macht die Würde des Menschen aus. Sonst kann ich keine Menschenwürde entdecken, muss ich ehrlich sagen. [Wo] soll die sonst verankert sein? Ich sehe sie jedenfalls nicht.

GWK: Also können wir noch mal konkret werden, auf die Eigenschaften des Willens in der Naturphilosophie [eingehen]. Also, wir haben gesagt: Kraft mit Innen, Kraft, die verschie­dene Grade der Subjektivität aufweist und Kraft, die sich auf etwas bezieht, also etwas anblickt tatsächlich, ja, sie ist ja mit sich selbst verbunden und blickt auch gleichzeitig in die Welt hinaus. Es wird eine Perspektive des Eisens auf die Welt geben und auch eine Perspektive des Farns oder eine Perspektive … wie auch immer wir uns diese Perspektive vorstellen, jetzt nicht in diesem platten Sinne. Allein schon irgendeine Form von Kontext der eigenen Umgebung, ein Sein in der eigenen Umgebung ist da drin, ist da mit einbe­zogen.

JK: Unbedingt, ja.

GWK: Jetzt die Frage nach den Eigenschaften des Willens. Also wir sehen ja zum Beispiel, dass Schopenhauer nannte die Musik die direkte Kunstform, die den Willen zum Ausdruck bringen muss. Die Musik, wenn man näher in sie hineinblickt, ist auch ganzzahlig geordnet, sie hat Rhythmen, sie hat bestimmte Harmonien enthalten. Hat also der Wille Eigen­schaften, die ihm sozusagen … hat er eine Natur? Ist der Wille auf eine bestimmte Art und Weise vorstrukturiert?

JK: Ja, da würde ich eindeutig sagen: Ja, das ist er, der Wille, der Weltenwille, den Krause ja auch, interessant übrigens, das muss hier nochmal dazu erwähnt [werden], Raumenergie nennt. Das ist ja auch interessant, weil Raumenergie ist ja ein Begriff, der in bestimmten Kreisen ja auch seit Jahrzehnten gehandelt wird sozusagen. Was ist die Raumenergie? Auch Lageenergie bei Oswald Spengler, auch die Lageenergie und bei Spengler auch. Übrigens interessant, das ist da interessant, dass der Raum für ihn, der unendliche Raum, letztlich auch ein Willensraum ist. Ganz tolle Sachen da bei Oswald Spengler: Der Raum sozusagen als Willensraum, und da bringt er dann eigenartigerweise zusammen auch die Unendlich­keitsvorstellung Giordano Brunos und die Musik Beethovens. Da gibt es tolle Stellen bei Spengler, nicht, das ist wirklich hochinteressant. Diese Zusammenführung. Und ja auch, wenn man zum Beispiel Texte liest von Beethoven – der hat ja auch viel aufgeschrieben, auch in Briefen und so weiter, kommt es auch immer zum Ausdruck, dass er sozusagen so eine pantheistische Gottgläubigkeit entfaltet, nicht, auch letztlich eine All-Lebendigkeit [entwickelt und denkt]. Das ist bei Beethoven auf jeden Fall ganz stark.

GWK: Auch aufgrund seines intensiven Studiums der Upanishaden …

JK: Ja, der hat sich intensiv damit beschäftigt und hat intensiv die Bhagavad Gita studiert und andere Sachen. Also er kannte das und hat sich damit beschäftigt, und es hat ihn tief bewegt auch. Und er hat wirklich das Gefühl entwickelt über diese Qualitäten der Welt, und das finde ich sehr interessant, also diese Texte von Beethoven kann man eigentlich nur empfehlen, sind sehr interessante Texte, die er da verfasst hat oder exzerpiert auch. Er hat ja auch Exzerpte gemacht, man weiß es oft gar nicht genau. Was hat er da abgeschrieben? Man weiß es nicht ganz genau, man vermutet, es könnte aus der Bhagavad Gita sein, man weiß es nicht 100%ig. Aber jedenfalls hat er diese Texte auf jeden Fall so aufgeschrieben.

Und da ist eben auch dieser Zusammenhang, der ist vollkommen gegeben über die Musik, über seine Musik dann auch das Gefühl: In der Musik wird sozusagen der Weltgeist, um jetzt ein entsprechendes anderes Wort zu benutzen, der Weltgeist bewegt. Der Weltgeist ist wieder ein anderes Wort. Könnte [auch heißen] der Weltwille, Weltseele, Weltgeist.

Und Raumenergie – da ist der Raum drin, und da ist die Energie drin. Was ist denn die Energie? Das ist ja auch ein elendig abgeflachtes Wort heute. Alle Welt redet von Energie, das ist ja wirklich vollkommen inflationär. Kein Mensch weiß, was Energie ist, aber es wird ständig von Energie geredet. Raumenergie ist schon besser, man hat da einen kleinen Schritt … ist man weitergegangen. Raumenergie als Lageenergie. Die pure Lage von Körpern zueinander im sogenannten leeren Raum hat schon Energieform. Das ist sehr interessant.

GWK: Die Frage ist halt, was Energie letztendlich [ist], oder wie sich Energie äußert, und man kann sagen, das Thema, wie es sich äußert, wären Schwingungen zum Beispiel, dass Dinge, dass Dinge schwingen. Das heißt also zu sagen, um ein Zentrum herum schwingen und aus der geradlinigen, wie er sich das vorstellte, wie Krause sich das vorstellte, aus der geradlinigen Bewegung zweier verstrahlender … zwei Gestirne verstrahlen gegeneinander, die geradlinigen Feldlinien treffen sich und reflektieren zurück in verschiedenen Formen, die nach Winkel und nach Einstrahlungsintensität [sich] in verschiedenen Formen der Wellenbewegung bis hin zu einer Solitonwelle [manifestieren], also bis zu einer in sich selbst geschlossenen Welle, die dann Materie wieder wäre …

JK: Auch Licht dann, ja.

GWK: Auch Licht dann, also sozusagen, dass sich das wieder zurückbewegt. Das heißt also, [dass] dadurch Schwingungen entstehen, quasi Willen, da der Wille ja, wenn er alles also durchwirkt, ja kein einheitlicher Wille ist, sondern verschiedene Willen, sozusagen Willens­zentren ja gebildet sind, die gegeneinander wirken. Und dadurch entsteht etwas, die konkreten Einzelheiten, das ist ja vielfältig.

JK: Ganz genau, und da ist in gewisser Weise auch das Licht einbezogen, weil es auch eine Lichtmetaphysik ist. Das habe ich noch ein bisschen über … , sozusagen in meinem Buch „Räume, Dimensionen, Weltmodelle“, was da auf dem Tisch liegt, das kannst Du noch mal ins Publikum zeigen, dem Publikum zeigen, auch noch ein bisschen, noch weiter getrieben immer im Sinne von dem absoluten Licht also. Und gut, aber das ist noch ein anderer Punkt wieder.

Aber auch die Willensmetaphysik berührt sich mit der Lichtmetaphysik, denn Licht ist ja auch ein Mysterium, nicht, ein totales Mysterium. Also das macht man sich gar nicht klar, das machen sich die meisten Menschen überhaupt nicht klar. Sie nehmen das so wie selbstverständlich, morgens wird es eben hell, das ist schön und praktisch, da kann man was machen. Also diese ganz plumpe auch Abflachung, die der Mensch dann so hat. Es wird eben morgens hell, und ist doch ganz praktisch, dann sieht man was. Und alles wird so ganz platt ausgelegt. Aber es ist ein umwerfendes Mysterium, also ich sage das ja öfter in Videos, auch sonst: Für mich ist das Licht nach wie vor ein ungeheueres Etwas, eine Erscheinung, ein unglaubliches Phänomen. Wenn ich mal am Morgen die Sonne sehe, dann bin immer wieder neu angerührt und frage mich: Was ist das eigentlich, und wie stehe ich dazu? Das ist also immer wieder eine Verlebendigung, und natürlich wird die sehr schnell einge­schnürt, wenn ich, wenn ich drangsaliert werde von 1000 Dingen, die mir den Alltag zuhämmern oder die mich zwingen dies und jenes … , muss meinem Beruf nachgehen oder mein Geld verdienen und so weiter und so weiter.

Aber trotzdem ist es eine … , das will ich nur sagen, das spielt auch mit hinein, man ist da in einer Grundbetrachtung, die letztendlich auch den Einzelnen raushebt aus der Qual des Alltäglichen, auch aus der Farce des Alltäglichen. Ich glaube, bei Schopenhauer spielt das doch so eine große Rolle. Der Mensch in seiner Qual und Not – letztlich sind das alles nur erbärmliche Schauspieler. Aber wie kommt man da raus? Nicht unbedingt, wie Schopenhauer meint, man muss den Willen verneinen. Naja, das ist die Frage: Wieso den Willen verneinen? Also da muss man dann vielleicht auch noch einen Blick wieder noch mal auf die indische Philosophie werfen, da wo es ja auch in den Upanishaden heißt: der ewige Wille, die Ursache des daseinslosen Daseins, der ewige Wille. Und das ist ja in dem Sanskrit häufig, ist das Maya bei den Indern. Aber Maya hat, das darf ich mal kurz erwähnen, weil viele werden es nicht wissen, hat eine doppelte Bedeutung. Im Hinduismus ist es eher das schöpferische Prinzip, Maya als schöpferisches Grundprinzip. Im Buddhismus ist es eher das Täuschungsprinzip, das Prinzip der Täuschung: Du wirst reingelegt. Du denkst, Du kannst munter weiterleben, dabei lockt der Tod, der Tod. Du gehst in einen Garten hinein, hast aber übersehen, dass Du ganz anders rauskommst, nämlich tot, und insofern … das ist ja hier ganz anders, also hier … ich sage es nochmal: beim Hinduismus eher das schöpferische Prinzip, im Buddhismus eher das Täuschungsprinzip. Du wirst getäuscht. Du wirst gefoppt, die Dinge sind ganz anders, als Du annimmst.

Und das sagt ja auch Schopenhauer immer wieder, ob er damit nun Buddhist ist oder nicht, kann man mal auf sich beruhen lassen, aber er sagt ja auch: Du gehst in die Welt hinein, und Du bist jung und alles ist schick, und Du hast übersehen, dass es ganz anders weiterläuft. Das hast Du übersehen, das hast Du … in der Eile, in der Du jetzt zugestürmt bist auf die Erscheinungswelt, hast Du es vergessen, dass das auch so ist. Und das spielt auch eine große Rolle. Also die Maya ist beides. Und ich würde auch sagen, es ist beides: Es ist ein schöpferisches Prinzip, und gleichzeitig ist es auch ein Täuschungsprinzip …

GWK: Aber worüber täuscht die Maya?

JK: Es täuscht Dich über … Du wirst in der Einzelheit gehalten, Du bist aber im Universellen auch verankert. Die Einzelheit täuscht Dir vor, Du seist nur der Einzelne, Du fühlst Dich als Dich [Du] selber. Du bist doch der Einzelne. So. Aber Du bist eben nicht nur der Einzelne, sondern Du bist auch mehr als der Einzelne. Du bist eingehängt, Du bist eingebaut geradezu, und es gibt eben in diesem Sinne auch Reinkarnation, es gibt Wieder­verkörperung, und Du kommst wieder als ein Anderer und doch als der Gleiche. Und auch wieder nicht. Da bist Du auch wieder in einem neuen Mysterium, und das spielt auch eine Rolle. Und das spielt natürlich auch eine Rolle bei der ganzen, sagen wir mal, der Willensmetaphysik, die Frage … der Wille ist ja doch auch ganz entscheidend wichtig.

GWK: Also die Frage ist jetzt: Was folgt für unser Sein in der Welt, diesen Blick zu richten, aus einem willensmetaphysischen Impuls heraus in die Welt hinauszublicken? Was folgt für uns daraus?

JK: Das, ja, das kann man natürlich erst mal als Postulat hinstellen, oder man kann sagen, „Es sollte“. Das ist aber Blödsinn. Also Postulate sind eigentlich Blödsinn im Grunde genommen. Also jemandem ein Postulat vorzuhalten, bringt gar nichts. Genauso ihn in ein „Du sollst“ [zu bringen]. Ja, das kann manchmal sinnvoll sein, ist ja nicht zu leugnen, das ist auch manchmal sinnvoll, das Du-sollst. Aber letztendlich ist es ein Postulat, [das] Du-musst.

Was es bringt, ist: Indem Du Deine Weltwahrnehmung verlebendigst, indem Du Deine Weltwahrnehmung grundsätzlich verlebendigst. Du bist auch ein physisch-sinnliches Wesen, natürlich, mit allem, was dazu gehört. Aber Du gehst nicht darin auf, und das, worin Du nicht aufgehst, der Rest, der Rest, der letztlich da ist … den musst Du begreifen. Und den kannst Du auch begreifen, und das hat etwas mit Weisheit zu tun, auf jeden Fall.

Und da spielt die indische Philosophie eine Rolle, und da spielt eben auch ein wunderbarer Denker wie Meister Eckhart eine Rolle, auch wenn manche sagen: Mystiker im 14. Jahrhundert – das muss ich ja gar nicht lesen, ist ja alles von vorgestern. Aber der ist auch von vorgestern, aber er ist gleichzeitig, um mit Nietzsche zu reden, von übermorgen, nicht. Sagt ja Nietzsche: Die Deutschen, sagt er ja, sind von vorgestern und von übermorgen, und das ist ihre Tragik, weil, wenn Sie glauben, jetzt ist [es] das, heute, gibt’s nur Unheil. Das haben wir ja erlebt. Wenn die Deutschen denken: Jetzt ist es hier, jetzt muss es sein, dann geht es nur desaströs weiter. Ja, also das kann man da erst mal lernen.

Man kann sich beschäftigen, man kann ein Gefühl dafür entwickeln auf vielfältige Weise, für die Lebendigkeit der Dinge und für die Innenperspektive. Ob man das jetzt Willen nennen möchte – das kann man Willen nennen, ja, das kann man machen. Ich finde es ein schönes Wort, Willen. Ich bin gerne auch, sag ich mal ein bisschen flapsig hier, heiter, ich bin gerne Willensmetaphysiker.

GWK: Die Frage ist. Wer will? Wer will? Das Eisen zum Beispiel: Will es sich selbst?

JK: In gewisser Weise ist es immer auch ein Sich-selber-wollen. Das sagt ja auch Schelling,. Ich habe mir mal die Mühe gemacht bei Naturwissenschaftlern, auch ein bisschen rumzu-schnüffeln, kann man sagen. Wenn das Wort Weltwille auftaucht, das taucht nämlich manchmal auf bei Physikern: Was meinen die damit? Da ist oft gemeint der Wille zur Welt, weil sie wissen es nicht anders zu sagen. Also der Wille zur Welt und nicht der Wille der Welt. Die Welt als unendliche Bejahung ihrer selbst, sagt Schelling.

GWK: Aber die Frage ist: Ist der Willensakt eine einmalige Tat, oder ist der kontinuierlich? Das kann man ja sagen wie in der altindischen Vorstellung des Nada Brahm, dass ein kontinuierliche Gesang einstrahlt und die Welt aus diesem Gesang geboren wird. Und dieser Gesang ist eben immer da und dieses.., ja, in Form eines gestalteten Gesangs.

JK: Ja, in gewisser Weise ist der Gesang immer da. Es wird immer … es gibt immer Musik, ja, ohne Musik geht es gar nicht. Ja, es ist letztlich immer da. Obwohl das ist nicht ein Sinfonie­orchester, was nun in der Galaxis unauffällig spielt. So ist es nun auch wieder nicht. Aber es gibt eine Matrix sozusagen dieser Musik, eine Matrix, die auch mit dem Ordnungsprinzip des Kosmos zu tun hat. Und in diese Matrix mündet auch dann, was wir die große Musik nennen, und das kann man von Beethoven wieder lernen, der darüber auch geschrieben hat. Das finde ich auch sehr interessant und sehr wichtig. Die Musik spielt eine ganze entscheidende Rolle. Ohne Musik geht es gar nicht, weil die Musik ist auch ein Ordnungs­system. Wer die Musik verneint, der verneint die Ordnung, das Ordnungssystem. Ohne Musik kann es gar nicht gehen, das ist unmöglich. Also das ist auf jeden Fall ein ganz entscheidender Faktor.

Also die Innenperspektive kann man ja auch nicht Lehrbuch-ähnlich lernen. Das kann man nicht. Das kann man im Laufe eines langen Lebens, kann man das erschließen, und es kann aber auch wieder entgleiten. Ist ja nicht so, dass man es immer präsent hat. Es kann einem auch entgleiten, und das ist dann erst mal schlecht für den Einzelnen. Aber es kann doch passieren. Aber der Wille als solcher ist ja immer auch die Bejahung. Das heißt, in dem Moment, in dem Du Dich selber als Lebewesen bejahst und auch ergreifst, mittels Selbstergreifung, dann bist Du im Willensprinzip – Du willst das ja. Du willst Dich selbst als Du selbst und ergreifst Dich sozusagen als Du selbst.

Und das ist auch die Selbstermächtigung. Viele sagen das ja. Psychologen benutzen das Wort auch. Finde ich gar nicht so schlecht, eine Selbstermächtigung. Du kannst Dich selber ermächtigen. Du musst da nicht auf jemand anders warten, sondern Du machst es selber, am besten. Deswegen musst Du Dich ja nicht megalomanisch aufblähen und Dich für super wichtig halten, sondern einfach das ergreifen. Und das spielt wirklich eine Rolle.

Und immer, auch im ganzen Willenszusammenhang zu begreifen, ich sag’s nochmal: Indem Du Dich bejahst, bejahst Du auch das Ganze in gewisser Weise. Das ist wirklich so.

Wir haben ja mal, Du erinnerst dich vielleicht, in dem Nietzsche-Video haben wir [das] ja doch mal vor Jahren gesagt, im Sinne auch von Nietzsche. Nietzsche sagt doch einmal: Wenn du leidest, oder wenn Du, sagen wir mal, Aufschwünge hast, tiefe Einsichten in die Welt, und da sind viele Stationen des Leides davor gelagert – die gehören dazu. Du kannst nicht sagen: Das lasse ich mal weg, und das streiche ich einfach mal. Nein, diese Stationen des Leides und des Leidens gehören dazu. Nur das Ganze macht’s aus. Auch bei Nietzsche, auch in anderen Texten von Nietzsche. Dass Du praktisch in dem Moment, in dem Du das mitakzeptierst, und das meint er ja dann auch übersteigert mit der ewigen Wiederkunft – die Bejahung ist dann absolut, nicht, also die Bejahung ist dann absolut und nicht nur relativ, weil ich so … das passt mir nicht, das passt mir nicht, das lasse ich weg. Nein. Das Ganze!

Das ist also auch ein wesentlicher Punkt in dem Zusammenhang. Das hat auch mit dem Willensprinzip zu tun. Und den Willen kann man ohnehin, das muss ich noch mal sagen, nicht ausloten. Da kommst Du nie ans Ende. Du kannst so tief gehen, wie Du magst – es wird immer noch … , geht immer noch tiefer oder immer noch höher. Wie man, wie man es will. Du bist eingehängt zwischen Immer-tiefer und Immer-höher, und dazwischen bist Du und dieses Zwischen ist manchmal ganz schwierig, weil, wo bist du denn wirklich? Also dieses Zwischen ist zwischen Immer-tiefer, Immer-höher. Und da ist der Wille, spielt der Wille eine entscheidende Rolle. Auf jeden Fall.

Und da kann man viel lernen also auch von Meister Eckhart, auf den ich jetzt nicht zu sehr rekurieren möchte. Ist auch schwierig, das zu lesen. Warum muss ich das lesen? Aber es ist interessant, weil Eckart immer wieder Dich ermahnt, auch wenn er sagt: Wenn ich das will und im absoluten tiefsten Sinne will, dann geschieht es auch. Man kann natürlich sagen, viele Kritiker haben das auch: Das ist doch megalomanisch, das ist doch größen­wahnsinnig, was redet der denn da. Ist natürlich auch ketzerisch dann, so was, aber es ist natürlich auch interessant. Also die Bejahung des Willens gleichzeitig als ein Garant des spirituellen Werdens und so weiter und so weiter. Also das spielt eine große Rolle.

GWK: Gut, dann würde ich zum Abschluss vielleicht noch die Frage stellen: Wie sieht eine Kultivierung des Willens aus?

JK: Na ja, was ist … ja okay, also okay, dann können wir fragen: Was ist überhaupt Kultivierung?

Es gibt die Barbarei, die kennen wir, ja, es gibt die Barbarei, die kennen wir wirklich. Es gibt die Kultivierung. Ist die Kultivierung im Sinne … ist sie ein Dekor, eine Zurüstung, ein bestimmtes Dekor? Wie viel Wert hätte das dann, oder muss es noch tiefer gehen? Was ist die Kultivierung? Das ist die Frage. Ist die Kultivierung nur eines schönes Arrangement, was hübsch aussieht, oder ist es tiefer? Ich würde sagen, es ist tiefer, und die tiefe Kultur kann auch über die sogenannte äußere weit hinausgehen, nicht.

Also das … also die Kultivierung des Willens, was heißt das? Was hieße das? Das kann nur über die Ich-Bejahung gehen, nicht. Also wenn Du Dich selber verneinst, kannst Du im Grunde genommen nicht wirklich schöpferisch tätig sein. Es kann Phasen geben, in denen Du Dich selber verneinst und vielleicht auch verfluchst: Das haben ja die alten Juden, die Propheten, ja auch erschütternd gezeigt, dass auch die Verzweiflung, nicht, eine große Rolle spielt. Sie sind verzweifelt, weil sie nicht weiterkommen und halten sich für unwürdig und trotzdem haben sie das Ganze weiter gebracht, nicht, das ist dann eine ganz andere Perspektive. Da kann eben auch die Verzweiflung eine Rolle spielen, die ist ja nicht verboten. Du darfst nicht verzweifelt sein? Warum nicht? Es gibt eben Momente der Verzweiflung, die darf es geben, und die sind auch richtig, auf jeden Fall.

Also das finde ich in dem Zusammenhang ganz wichtig. Und was dies Buch betrifft, so kann ich Sie wirklich dazu auffordern, das einfach mal zu lesen, weil es ist einfach ein kleines Büchlein, etwas mehr als 100 Seiten, das hat man mal schnell gelesen oder einfach mal angeguckt und richtig gelesen. Und dann sind da viele interessante Dinge, die man erfahren kann, und dann kann man weiterdenken, finde ich, also. Es ist schön, dass es das gibt, dass man dieses Buch tatsächlich heute im Internet einfach aufschlagen kann. Das ist wieder der Vorteil der digitalen Welt, wo ich ja oft Kritiker bin. Aber in diesem Fall würde ich sagen, ist es doch schön, dass man das kann. Das kann man nämlich. Das empfehle ich, jochenkirchhoff.de, und dann kann man weiter forschen. Das ist ganz einfach, das kann man sich leicht merken, und dann guckt man mal ein bisschen rum, und da hat man es, ach da ist es ja. Ach ja, da kann ich das doch mal lesen, wenn der das gesagt hat. Vielleicht stimmt das auch wirklich. Also das ist schon sehr interessant.

GWK: Das nehmen wir als schönes Schlusswort und verlinken auch den direkten Link zu „Der Baustoff der Welt“ in der Videobeschreibung.

JK: Ja, kann man doch unbedingt machen.

Also wir sind in einem … in diesem Thema, das muss man einfach dem Zuschauer noch mal klar machen, in einem sehr schwierigen und auch abgründigen Thema, nicht. Das ist nicht einfach, man muss immer wieder, sozusagen, bestimmte Grundfragen stellen, und man ist auch immer wieder neu am Abgrund, das ist ja nicht einfach. Leben ist überhaupt nicht einfach, ist ja kein Spaziergang. Ich meine, das kann auch mal ein Spaziergang sein, ist doch wunderbar, so ein Spaziergang – aber es ist nicht nur ein Spaziergang. [Es] ist mehr als ein Spaziergang, insofern kann man da viel lernen.

Und da ist der Wille … ist einfach ein wunderbares Wort, das ist unausschöpfbar. Also ich habe noch keinen getroffen, der den Willen erschöpft hätte, auch alleine definitorisch, wüsste ich nicht. Der Wille ist unerschöpfbar, weil hinter dem Willen steckt ein anderer Wille, ja, und anders als bei Kafka der Türhüter, wo immer noch ein größerer dahinter steht. Wenn Du die erste durchschritten hast, die erste Tür, da ist einer, der nächste, der ist ganz furchtbar, der ist riesig, da kommst Du nicht durch. Wenn Du da durch kommst, ist einer, der ist noch größer, da kannst Du gar nichts mehr machen. Also jetzt mal andersrum gesprochen, ich will da nicht bei Kafka stehen bleiben, das ist wirklich nicht meine Absicht, das ist ja eher ein Albtraum, gut.

GWK: Mit diesen Anklängen wollen wir Sie heute für den Tag verlassen. Vielen Dank, liebe Zuschauer, vielen Dank Jochen Kirchhoff.

* * * * * * *

KI und Transhumanismus als Bedrohung des Lebendigen

Videogesprächs im Mai 2023
mit Jochen Kirchhoff (JK) und Gwendolin Walter-Kirchhoff (GWK)

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=jH7SFqPcyLc

Transkript als PDF:

GWK: Spätestens das Jahr 2023 kann als das große Coming-Out der KI bezeichnet werden. Zwar war das Thema bereits zuvor präsent, jedoch durchstößt es erst seit relativ Kurzem die mediale Decke und dringt verstärkt ins allgemeine Bewusstsein. Mit der Frage nach der KI schwingt im Hintergrund auch die Frage nach dem Transhumanismus mit.
Auffällig ist, dass in diesem Zusammenhang Fragen nach der Zukunft des Menschen überhaupt gestellt werden, nach seinem Gebrauchtwerden (Wer braucht hier wen? Wessen Bedarf ist hier gemeint?), seiner Minderwertigkeit (siehe die promethetische Scham bei Gunter Anders) und seines nicht näher definierten Endes. Die KI würde das Ende der Menschheit bringen und sei die Atombombe des 21. Jahrhunderts laut Rachel Johnson oder die Reduktion von Menschen zu „hackable animals“, wie es Yuval N. Harrari nennt.
Gleichzeitig und eigentlich paradoxerweise wird in diesem Zusammenhang von Evolution gesprochen, also einer gleichwie biologischen Entwicklung hin zu einer Überschreitung des Menschlichen ins Technische hinein, eben dem Transhumanismus, der sogenannten bio-digitalen Konvergenz. Dies wie gesagt derzeit medial noch implizit und ohne den Transumanismus direkt zu nennen, aber doch deutlich hörbar.
Warum nun sollte eine Verschmelzung des Menschen mit der KI und technischen Bauteilen eine Evolution darstellen mit der impliziten Unterstellung einer Höherentwicklung. Man könnte doch genauso gut von einer Pathogenese sprechen, also einer fortschreitenden Symptomentwicklung einer bestimmten psychischen, sogar psycho-physischen Erkrankung. Der bis zur Amputation eskalierte Drang [da]nach, nur ein Bein zu haben, das haben tatsächlich manche Menschen, der als psychische Störung bei manchen Menschen auftritt, wäre auch nicht als Evolution zu beschreiben. Viel eher wären Kategorien der Besessenheit durch einen dem eigenen Leib feindlichen Gedanken zu vermuten. Würde eine Deutung als Pathogenese nicht viel besser zu den eigenartigen Prognosen passen, die mit der KI verbunden werden? Dass sie also gleichzeitig eine Evolution sein soll, eine ganz große Hoffnung, aber auch das Ende der Menschheit und die Atombombe des 21. Jahrhunderts: Das ist ja, sag ich mal so, ein perverses Kombinat. Und damit wollen wir uns heute auch beschäftigen und insbesondere auch das Lebendige von diesem Transhumanistisch-Technischen nochmal klar unterscheiden. Lieber Jochen: Wie sind wir hier eigentlich gelandet? Was soll das alles?

JK: Ja, die Frage, wo wir hier gelandet sind, und wie wir hier gelandet sind, ist wirklich eine zentrale Frage. Mich selbst hat übrigens das Thema Transhumanismus erst relativ spät beschäftigt. Ich dachte zunächst: Na ja, das ist so eine abstrakt-theoretische Vorstellung, die habe ich gar nicht ernst genommen. Ich dachte: Was soll das? Das sieht man doch sofort, dass das hinten und vorne gar nicht stimmt. Und dann, zunehmend rückte mir das näher, und ich habe verstanden: Das ist wirklich eine ernsthafte Bedrohung! Das ist gar nicht witzig, und das ist auch nicht irgendwie nur peripher, sondern das ist zentral. Und ich war zu der These gekommen, dass es ein fundamentaler Angriff ist auf das Lebendige überhaupt. Nun ist das nichts Besonderes in dem Sinne. Auch die abstrakte Naturwissenschaft ist ja ein solcher Angriff, aber sie ist ein … hier haben wir einen fundamentalen Angriff gegen das Lebendige, was wir eigentlich sind, was wir brauchen. Wir leben auf einem lebendigen Planeten, nicht, und all diese Dinge. Und dann habe ich begonnen, mich damit zu beschäftigen, habe Literatur gelesen und da ist mir deutlich geworden, dass sie schon sehr weit sind, also das sie viel weiter sind, als ich gedacht habe. Und dann denken viele: Naja, das ist irgendwie noch gar nicht aktuell, und für viele Menschen ist es auch so. Es ist irgendwie abstrakt, und sie beschäftigen sich gar nicht damit. Und dann habe ich mich natürlich gefragt, grundsätzlich, auch für unser Video, weißt Du: Von wo aus reden wir oder fragen wir eigentlich? Das wollen wir ganz kurz nochmal andeuten.
Ich meine, wir sind ja in einer extrem zugespitzten Lage auf diesem Planeten. Alle Welt spricht von Rettung des Planeten oder Untergang des Planeten. Gegenseitig wirft man sich vor, man würde sozusagen dazu beitragen, dass man den Planeten zerstört, nicht, das ist ja so das Universalargument, mit dem so ganz locker hantiert wird und auch oberflächlich hantiert wird. Aber wir sind in einer extrem zugespitzten Lage und auch alles, was geistig geäußert wird, ist heute völlig verflacht ins Ideologische, und zwar ins Ideologische, was vollkommen gar keinen Widerspruch duldet. Nicht, es gibt ja kaum, das wissen wir ja, ist ja fast banal, zu sagen, es gibt ja kaum ernsthafte kontroverse Auseinandersetzung. Da gibt die eine Ideologie gegen die andere Ideologie, und man hört gar nicht mehr zu einander. Man macht den anderen runter, das ist ja bekannt, nicht, es gibt also … der berühmte Debattenraum ist so was von eng, dass er praktisch kaum vorhanden ist. Also eine ernsthafte Diskussion findet kaum statt. Und das ist schon mal desaströs. Also es ist eine Phase der ungeheuren Verwirrung. Der normale Mensch, der weiß doch gar nicht mehr, der sogenannte normale Mensch, der „Normalo“, weiß doch gar nicht mehr, was eigentlich gespielt wird. Das heißt, wir sind in einer vollkommen verworrenen Situation. Extrem schwierig! Dieser Planet rast um die Sonne, und die Menschen auf ihm sind blind irgendwie, vollkommen blind und von Ideologien besessen. Und wie kann man da eine Schneise schlagen, eine Schneise der Vernunft und der höheren Intelligenz? Und das alles fehlt, und das ist wichtig, dass man da noch mal anknüpft und überhaupt weiß, wenn was gemacht wird, also wenn zum Beispiel die Natur zerstört wird, die wird ja allenthalben, an allen Ecken und Enden zerstören. Da gibt’s die einen die sagen, na ja, die nehmen das so apathisch hin: Kann man eh nichts machen, das ist halt ja der Fortschritt und so weiter. Aber da gibt es andere kleine fanatische Gruppen, die sozusagen den Weltuntergang gleich vor der Tür sehen, apokalyptisch, und da ist jedes Mittel recht.

GWK: … da kann man sich auch direkt festkleben …

JK: … ja, man kann sich da festkleben, die berühmten Klima-Kleber und so. Man kann dann auch sozusagen gleich sagen: Okay, wenn Du das nicht akzeptierst, dann bist Du sowieso … dann, dann trägst Du dazu bei, dass der Planeten ruiniert wird.
Also all diese Fragen. Wir sind in einer so verwirrenden Situation, und ein klares Wort, auch ein klares geistig-philosophisches Wort fehlt eigentlich. Also ich habe mich umgetan in der Literatur, [das] gibt es kaum. Ganz wenig findet man da überhaupt, und es ist ja so, dass eben keiner hört ja dem andern zu. Wir wollen hoffen, dass jetzt viele zuhören und mit uns mitgehen mit unseren Gedankengängen, die wir hier vortragen wollen. Es ist wirklich der Versuch, eine Klärung zu schaffen und auch diesen fundamentalen Angriff gegen das Lebendige geistig erst einmal abzuwehren, damit man erstmal sieht, was läuft hier überhaupt auf uns zu? Das ist ja, betrifft ja uns alle. Das ist ja nicht so, dass es irgendwie nur einige betrifft. Das betrifft uns alle! Wir alle sind extrem gefährdet, und das wissen wir ja auch. Und da anzusetzen noch mal ist wichtig und da muss man grundlegende Dinge noch mal nennen und benennen und auch durchdenken, sonst kommt man keinen Millimeter weiter. Und das versuchen wir hier auch, das wollen wir in diesem Video auch versuchen. Und vielleicht gelingt es uns, da den einen oder anderen neuen Impuls zu setzen, der wirklich was Weiterführendes hat, nicht. Das wäre erst mal eine Grundvoraussetzung.

GWK: Also man gewinnt den Eindruck, vor allem bei diesen PR-Schlachten, dass es a) PR-Schlachten sind, das heißt, der Mensch zum Transhumanismus hin überwältigt werden soll. Da gibt es also eine Machtförmigkeit, die dem Menschen das gegen seinen Willen überstülpt. Natürlich auch die Frage, was ist die Provenienz des Transhumanismus. Da wollen wir vielleicht als Allererstes darüber sprechen: Wo kommt das Ganze her, seine Verbindung mit der Eugenik, seine Verbindung auch mit Ideen einer technischen verbesserten Herrenrasse oder auch nicht technisch verbesserten Herrenrasse, einer bis zur Unkenntlichkeit kontrollierten Drohne des glücklichen Sklaven, der dann in einer technischen Scheinwelt lebt und dort … es gibt ja viele dystopische Ideen auch von einem Umbau einer Gesellschaft, sage ich jetzt mal, einfach nur in der Literatur, wenn wir schauen – Orwell und Huxley und so weiter – die sich verstehen … die haben, das ist nicht transhumanistisch gemacht, sondern per Genetik und so weiter. Aber solche Ideen klingen auch an, werden unter anderem als Warnungen dann von einem Harari aufgegriffen, dass sich die Weltmenschheit spalten könnte in eine technische verbesserte Übermenschen-Rasse, und der Rest der sinkt ins ins Drohnentum hinab. Deswegen auch noch mal die grundsätzliche Frage: Wo kommt eigentlich dieser Transhumanismus her? Was ist das für ein Geist? Ist es nicht einfach nur Herrschaftstechnik?

JK: Ja, die Frage ist natürlich zentral: Woher kommt das überhaupt, der Transhumanismus? Das ist ja im Grunde genommen eine Vorstellung, die im engeren Sinne erst in den 1980er Jahre entstanden ist, aber an sich viel älter ist. Es ist ja im Grunde genommen die Vorstellung … dahinter steckt im Grunde die Vorstellung, es gibt eine Zielvorstellung im Menschen. Der Mensch hat irgendwie die Aufgabe, zu Höchstem zu gelangen, sich selbst zu transzendieren, sich selbst zu überschreiten. Da steckt auch ein bisschen immer auch dann, Nietzsche, der Übermensch und so weiter mit drin. Das heißt, es gibt eine ganz alte Vorstellung, dass der Mensch sich sozusagen selber perfektioniert, nicht, und das schwingt da mit. Der Mensch ist unzulänglich …

GWK: … Warum? …

JK: … in seiner Leiblichkeit, wird dann gesagt, ja, wir sind sterblich. Das müsste nicht sein. Das ist dann …

GWK: … wir sind manipulierbar ..

JK: … ja, wir sind manipulierbar sowieso, wir sind …

GWK: …wir irren uns …

JK: … wir irren uns bei jeder Gelegenheit, wo es möglich ist. Und wir sind natürlich auch unzulänglich. Der Mensch ist ja auch ein, dass kann man so sagen, ein bisschen apercuhaft, das unzulängliche Tier. Das also, wenn es denn so ist … der Mensch ist vollkommen unzulänglich, denn er ist verletzbar, er ist manipulierbar sowieso. Er ist eigentlich imperfekt, er ist nicht perfekt …

GWK: … und seine Imperfektion ist seine Verwundbarkeit, und seine Schwächen, die sollen überwunden werden …

JK: Richtig, seine Schwächen. Gibt es nicht die Möglichkeit, den Menschen auf eine höhere Ebene zu heben? Das ist ja eine uralte Vorstellung, die auch in der Politik immer eine große Rolle gespielt hat, auch im Marxismus z.B., nicht, berühmte Aussagen von Trotzki darüber, was der Mensch eigentlich sein müsste und so. Also es gibt immer die Vorstellung: Der Mensch ist nicht das, was er sein soll, und immer gibt es neue geistige Revolutionen, die groß angekündigt werden, dass der Mensch zu sich selbst kommt, wie er eigentlich ist. Der Mensch, der kleine unzulängliche Mensch, das ist irgendwie nichts Richtiges. Der Mensch muss richtig aufblühen, aufwachsen zu seiner eigentlichen Potenz. Und es ist natürlich naheliegend, dass man dann diese eigentliche Potenz und die eigentliche Größe dann auch technisch verortet.
Das ist früh gemacht worden, das war schon im 18. Jahrhundert, „L’homme machine“ von La Mettrie und anderen. Das geht ja auf das 18. Jahrhundert zurück, dass man dann schon gedacht hat, das könnte man technisch machen. Vielleicht kann man sogar diesen Menschen einfach neu bauen, nicht. So kam der Gedanke auf, so wie er gemacht ist, ist er irgendwie unzulänglich und je mehr auch irgendwelche göttlichen Faktoren in den Hintergrund treten, die kommt die Idee auf: Wir machen’s selber, nicht. Wir schaffen selber einen neuen Menschen. Es ist ja auch in vielen Revolutionen der Fall gewesen. Der berühmte neue Mensch, der ständig verkündet wurde, nicht, im Marxismus ja auch und so. Der neue Mensch, der eigentlich der eigentliche Mensch ist. Da liegt natürlich auch was Richtiges drin insofern, als natürlich der Mensch auch tatsächlich ein evolutives Potenzial in sich hat, sich weiterhin höher zu entwickeln, auch geistig. Es ist ja nicht so, dass es völliger Blödsinn für sich wäre. Aber es wird natürlich dann pervertiert. Und im 18. Jahrhundert kam der Gedanke auf: Das müsste man selber machen. Eigentlich schon vorher, zum Teil ja auch schon bei Paracelsus die Idee des Homunculus und so. Und im 18. Jahrhundert kommt die Vorstellung auf: Der Mensch müsste … man müsste eine Maschine bauen, die den Menschen eigentlich imitiert und gleichzeitig seine Unzulänglichkeiten überwindet. Also der künstliche Mensch. Und das ist ja auch viel ventiliert worden. Das ist ja ganz viel auch gemacht worden. Man hat es versucht, und es gibt ja Literatur, auch Beispiele davon, da kann man darüber reden. Zum Beispiel ja E.T.A. Hoffmann, nicht, „Der Sandmann“, die berühmte Erzählung. Da können wir gleich noch mal darauf eingehen, und dass da der Mensch auch perfektioniert wird. Also es ist im Grunde der Grundgedanke: Der Mensch, so wie er ist, ist nicht richtig. So, er muss anders sein und wir machen es, weil: Das Göttliche, darauf müssen wir nicht bauen. Das haben wir sozusagen abgelegt, und das ist ja auch eine eine letztlich atheistische Version.

GWK: … und natürlich auch verbunden mit anderen Ideen der Selbstüberwindung oder der Naturüberwindung. Nun kann ich mir dieses Anders-werden natürlich zweierlei vorstellen. Ich kann sagen: Okay, was stimmt denn nicht am Menschen? Er gehorcht nicht, macht nicht, was ich will. Ich meine, das merkt ja jeder mit sich selber. Die eigene Natur hat tatsächlich eine Eigenlebendigkeit, widersetzt sich auch dem einen oder anderen Vorhaben, was man hat und auch an Disziplinvorstellungen und verschiedenen anderen Dingen merkt man sich selbst, wird es nicht dasselbe. Und sobald man Menschen in der Menge hat, hat man auch mit Beknacktheiten zu tun, die sich dann auch eben so eigenlebendig widersetzen. Und das sind natürlich Probleme, die man angenehmerweise mit dem Roboter nicht hat. Da kann man von oben eine Eingabe reingeben und dann wird gehorcht. Da kommt dann auch das raus, was man angefragt hat, mehr oder weniger, oder doch zur eigenen Zufriedenheit. Also hier in dem Fall wäre es einfach eine reine Sache: Mein Problem mit dem Menschen ist, das er mir nicht gehorcht. Oder meine eigene Natur, dass sie mir nicht gehorcht. Und die Technik soll eben eine Art Mittel sein, mit der dieses Gehorchen sozusagen möglich gemacht wird. Das wäre die eine Möglichkeit. Das andere, zu sagen: Ja, mein Körper kann bestimmte Dinge nicht, ich kann bestimmte Dinge nicht, die ich aber gerne können würde. Und dann hilft die Technik als Prothese dazu, dass ich Dinge kann …

JK: … ganz genau, ja …

GWK: … die ich vorher nicht kann. Also insofern, da ist es sozusagen eine Selbstoptimierung. Und bei der anderen Seite kann man sagen, [es ist] quasi ein Herrschaftsinstrument auf der einen Seite, und die Selbstoptimierung …

JK: … richtig, das Wort „Selbstoptimierung“ taucht ja sogar in ganz banalen Schriften auf, die jeweils …, der also sozusagen immer, was weiß ich, Yoga macht jeden Tag oder der immer jeden Tag bestimmte Runden läuft und im Jogging der ist [auf] Selbstoptimierung [aus]. Nun muss man natürlich fragen, wenn es um Selbstoptimierung geht, das ist die Frage: Lässt sich der Mensch ganzheitlich selbstoptimieren, auch geistig-seelisch? Eigentlich kaum, denn er kann in Teilbereichen, [da] kann man natürlich extreme Leistung erbringen, nicht, verblüffende Leistung erbringen, das ist ja nicht zu leugnen. Aber was ist mit den anderen Feldern? Es geht, läuft ja nicht automatisch mit. Also die Selbstoptimierung ist ja, hat ja auch was Groteskes, nicht. Auf der einen Seite kann man es verstehen, wenn Menschen was machen und sich selber irgendwie auch auf eine andere Ebene bringen wollen. Das ist alles verständlich, aber es hat auch irgendwo was Lächerliches, weil es den Menschen ja auch wieder, auch wieder reduziert auf eine bestimmte Ebene, auf eine, auf eine bestimmte Fakultät. Aber das, was ich mich an dem Transhumanismus so kollosal [interessiert], das möchte ich noch mal sagen, weil es in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielt, möchte es jetzt hier nennen: Manche Protagonisten des Transhumanismus gehen von dem Herrschenden, von der herrschenden Kosmologie aus. Sie sind letztlich erstmal Gläubige der modernen Kosmologie, die ich ja aus vielen Gründen auch anzweifle. Und sie halten diese Kosmologie, auch die Zufallsevolution, für letztlich unzulänglich und sie kritisieren das auch. Sie kritisieren also die herrschende Kosmologie als chaotisch, und sie haben nun die Wahn-, kann man sagen, Wahnvorstellung, der transhumanistische Impuls müsste jetzt sozusagen diese Unzulänglichkeit des Kosmos überwinden und überall Leben und Intelligenz schaffen, also sozusagen das Weltall, das Universum fluten mit Geist, ja, mit technisch fabriziertem Geist. Das heißt also eine aberwitzige, eine kaum fassbare, sage ich mal, würde ich mal fast sagen, Idiotie, weil der Transhumanismus mit Recht sieht, dass die herrschende Kosmologie so in dieser Form eigentlich, sag ich mal, abstrus ist, dass sie so nicht stimmen kann. Aber die ziehen daraus die Schlussfolgerung: Wir machen’s selber, also sozusagen der Demiurgos hat das unzulänglich gemacht, wenn es den gibt, dann hat er es schlecht gemacht. Man muss es anders machen. Und deswegen ist auch damit ein wir-sind-die-Herren-des-Universum-Verständnis verbunden. Das ist, das wäre übrigens ein Begriff, Masters of the Universe, was auch bei den, bei den Bankern, das wissen viele vielleicht gar nicht mehr … Die Top-Banker haben sich selber bezeichnet als Master of the Universe. Also ich meine eine vollkommen irrwitzige …, aber der Mensch neigt sowieso in seiner, in seiner technischen … in seinem technischen Wahn sowieso zum Größenwahn. Das ist Megalomanie pur, das haben die Naturwissenschaftler … sind ja auch letztlich Kosmologen, sind ja auch letztlich megalomanisch angefacht. Sie klopfen ja eh dem Weltgeist auf die Schulter und so weiter, sind mit ihm auf Du-und-Du, ist ja alles klar. Alles klar, alles schick, sozusagen.
Also da ist eine, eine ganz merkwürdige … da kommt dann der Größenwahn des Menschen, der Perfektionierungswahn, auf eine ganz perverse Weise raus. Und das ist so unglaublich gefährlich, weil natürlich alle Fakultäten des Menschen, die da stören, würden alle rausfallen. Und das ist ja in der Naturwissenschaft sowieso der Fall gewesen: Emotionen, Schönheit, Farbe, Sinn im Leben. Deshalb, der geistig-seelische Sinn, der dem Leben ja innewohnt, davon kann man ausgehen, viele gehen ja gar nicht davon aus, aber ich gehe davon aus. Und das sozusagen, das wird ja alles weggewischt, denn was wird dann da eigentlich perfektioniert? Doch nur der Geist, und letztendlich ist es die Perversion, sage ich mal ein bisschen ungeschützt, eines berühmten Satzes von Novalis aus den „Fragmenten“: „Einst soll keine Natur mehr sein, in einen Geist soll sie übergehen.“ Ja also sie soll dann in Geist übergehen. Das macht … das würden die Transhumanisten sagen, ist genau das was wir doch machen. Das sagt der Novalis als gnostischer Romantiker auch, und in einer Geisterwelt soll sie allmählich übergehen. Wir machen das. Der Novalis redet nur davon – das machen wir! Und da kommt eine eigenartige perverse Verbindung rein: das nämlich solche Gedanken sich verbinden mit ganz alten gnostischen Gedanken auch. Der gnostische Gedanke ist ja der: Der Mensch ist abgestürzt in die Materie, und er müsste sich ja aus der dunklen Materie, die ihn einengt, ja, müsste er sich befreien, ins Freie gehen, in die, in die Unsterblichkeit und in die, in die Größe seiner eigentlichen Bedeutung.
Also es ist auch was Gnostisches, auch was Religiöses. Das ist eigentlich religiöser Wahn, das Ganze, das ist auch religiös fundiert, und gleichzeitig wird der Mensch kastriert, klein gemacht, weil der Rest spielt ja sowieso keine Rolle. Einige ganz tolle Typen, die werden immer, immer großartiger. Der Rest ist ja unwichtig, der kann ja absterben sozusagen, also spielt gar keine Rolle. Sind ja unnütze Esser, wird ja auch zum Teil gesagt, viel zu viele und so weiter …

GWK: … Computerspiele kann man ihm geben, und ihn ruhigstellen, wird auch gesagt …

JK: …ja, ja, man ist aber mit diesem Transhumanismus in so eine merkwürdige, absolut perverse Ecke gekommen. Das hätte man …, hätte ich mir nie vorstellen können. Ich kenne ja gut die Naturwissenschaft, die Kosmologie, die wir in Jahrzehnten ja auch …, dann haben wir sie auch hier in Videos oft behandelt – aber dass das so weit gehen würde, dass man selbstständig meint, man müsste technisch, mental und so weiter das alles umbauen, und das Universum mit seiner Super-Intelligenz fluten – das hätte ich nie für möglich gehalten, muss ich sagen. Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich, das kann nicht wahr sein. Das können nur Geisteskranke sein, die so was sagen, das gibt es doch gar nicht. Und doch habe ich immer mal wieder gelesen und habe gestaunt, ich glaube bei Kurzweil taucht das auch auf, bei Harari weiß ich nicht, kann aber auch sein. Der Mensch wird ja sowieso vergottet, ist ja klar, und der Gottwahn des Menschen – Dir wird noch mal bei deiner Gottähnlichkeit bange, heißt es im „Faust“, ja, sagt doch der Erdgeist zum Faust. Und also … man ist in einem … in einem irrsinnigen geistigen Bezirke gelandet, den muss man erstmal richtig klären: Worum geht es? Weil da verschiedene Dinge zusammenkommen.

GWK: Also wir haben jetzt zuerst einmal den gnostischen Ursprung der Weltüberwindung, also dass die Welt zu Geist wird. Das wäre jetzt ein Aspekt, den Du genannt hast. und der zweite Aspekt, der natürlich auch drin ist, der alchemistische Aspekt. Und jetzt zunächst einmal fangen wir bevor [wir] uns dem Cyborg nähern, erst mal an mit dem ersten Grundgedanken, der nicht-geschlechtlichen Erschaffung eines Menschenwesens, also eines Homunculus oder wie es dann zum Beispiel aus Leichenteilen zusammengesetzt beim Frankenstein entsteht und dann mit Elektrizität wiederbelebt wird, einer der damaligen Vorstellung von Lebensenergie, dass man dadurch dann ein Wesen schafft, in einer nicht-geschlechtlichen Zeugung, dass ja ein eigenartiger Gedanke ist: Wieso brauche ich nicht-geschlechtliche Zeugung? Man könnte jetzt feministisch sagen, da wir so gewisse Symptome erkennen ja an dem, in dem ganzen Zusammenhang. Die Frage: Es klappt mit den Frauen nicht, was ist da los? Das geht schon ein bisschen jetzt ins Pathologische. Warum brauchst Du das überhaupt? Ja? Das wäre dann die Frage. Weil das ist ja keine Frau, die so was macht, das sind Männer, die auf so eine Idee, einer nicht-geschlechtlichen Zeugung [kommen] … übrigens bis hin zur künstlichen Gebärmutter heute …

JK: …ja, ja, allerdings …

GWK: …und so weiter und ganz viel ganz viele Zeugungsvorgänge finden außerhalb des weiblichen Körpers [statt] mittlerweile bis hin zum Schneidern von Gen-Babys und so weiter, was also, das ist sehr viel, was gemacht werden will an der Stelle, und das also wie der Wunsch, die Gebärmutter und die Mutter an sich zu überwinden, die eigene Mutter, die … an der was nicht stimmt, die nicht genug ist …

JK: Ja, das Kreatürliche überhaupt zu überwinden. Das ist ja … ich meine, die spirituellen Geister wollen ja auch irgendwie das Kreatürliche überwinden, weil es ist so unzulänglich, es ist sterblich und so weiter. Und die wollen sozusagen das Kreatürliche schlechthin, auch den Mann-Frau-Gegensatz … kein Wunder, dass dann solche Gedanken aufkommen: Man kann sich sein Geschlecht selber wählen, nicht. Die Kulturalisten dieser Provenience sagen: Na ja, bitte, das kann ich doch selber entscheiden und so. All diese Fragen gehören ja damit zusammen. Spielt ja gar keine Rolle mehr, das Menschlich-Natürliche wird ausgelöscht nach dem Motto: Wir können das besser…

GWK: … genau …

JK: … wir machen das besser.

GWK: Dann würde ich gerne mal einsetzen tatsächlich um diese Idee der nicht-natürlichen Zeugung oder Erschaffung eines Menschen, was der erste Akt vielleicht ist überhaupt der eigenen Apotheose, der Selbstvergottung, und mit der Idee des Homonculus, wo das auftaucht. Das ist noch kein Cyborg, also noch kein technischer Mensch in dem Sinne, sondern etwas anderes. Und [ich wollte] dich dazu einfach mal befragen.

JK: Ja, wir haben den Homunculus. Den gibt es bei Paracelsus auch schon, aber natürlich am berühmtesten in Goethes „Faust“. Wir haben ja damals unser …, vor knapp drei Jahren glaube ich war’s, ne, haben wir, oder zwei Jahren, haben wir unser Video gemacht über Goethe, und da haben wir auch ausführlich über den Homunculus gesprochen bei Goethe. Das ist ja bei Goethe auch eine heitere Vorstellung, „ein chemisch Menschlein, niemals noch gesehen“, ja, war dann so eine … das möchte gerne entstehen. Wieso? Der ist doch da. Weil, er ist der Knabe, ein allerliebster Knabe heißt es dann, ja, daran ergötzt sich dann auch der Faust, staunt und Mephistopheles staunt auch, der hat ja irgendwie mitgearbeitet an der Sache. Das ist ja auch was Heiteres, letztlich auch fast gar nicht ernst zu nehmen, denn, was heißt denn das Entstehen im „Faust“? Die Anthroposophen haben gesagt: Na, da ist eigentlich der Weltenlauf gemeint. Er will entstehen, er will Mensch werden. Das auch gar nicht falsch, weil nachher, da zerspringt ja der Homunculus. Bei Goethe ist es ja so, dass diese Fiole, in der sich dieses kleine Menschlein, dieses niedliche kleine Menschlein, der ja ganz klug daher redet mit allen, die ihn angucken, der ist ein ganz schlaues Kerlchen, .. dass das praktisch … da wird eine … der wird sozusagen … der zerbricht dann, er zerschmettert sich selber in der Flut, ja, sozusagen. Er schlägt seine zarte Umhüllung, zerschlägt er in der Flut und wird jetzt … „und von vorn die Schöpfung anzufangen“, heißt es dann. Also geh noch mal ganz von vorne. Also das ist auch ein Evolutionsgedanke bei ihm. Bei Goethe ist das halb spielerisch, kann man sagen, und doch ernst, aber man kann es auch spirituell positiv deuten, wenn man das möchte. Es ist nicht nur das Desaströse, obwohl auch der Spott darüber auch schon vorkommt. Das habe ich auch, glaube ich, damals auch einmal gelesen die eine Stelle, wo ja auch darüber gespottet wird, wie früher, „wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitle Possen“ … „wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitle Possen. Es muss der Mensch mit seinen Gaben höheren Ursprung haben.“ Also unappetitlich da, die niederen Regionen, die sich da überhaupt aufzeigen.
Goethe, in seiner typischen Art, der zieht das auch in so eine Mittelwelt, in so eine geistig aber nicht ganz klar negativ konnotierte Welt. Ganz anders gibt’s natürlich andere Vorstellung davon, und da kann man kurz vielleicht auch auf Hoffmann eingehen?

GWK: … können wir auf Hoffmann eingehen, können wir machen oder nicht machen. Jetzt noch zu Paracelsus Ursprung.

JK: Ja, Paracelsus hat ja eigene Anleitung gegeben, wie man den Homunculus baut. Nun muss ich sagen, da habe ich immer ein bisschen gewisse Probleme, weil ich bin ein großer Verehrer von Paracelsus, ja, und wenn ich dann so höre, was er auch noch so geschrieben hat, dann neige ich dazu, das ist vielleicht nicht richtig, aber ich tu es trotzdem, da muss ich nicht so genau hingucken. Das ist eine idealistische Vorstellung. Ich schätze einen bestimmten Denker und so weiter oder auch einen Menschen überhaupt, und da erfahre ich Dinge, die er sonst noch so getrieben hat. Die finde ich nicht so schön, aber das spielt dann für mich keine Rolle, weil es …, das andere ist wichtiger. Insofern bin ich auch gar nicht so informiert, wie das, wie das der Paracelsus sich vorgestellt hat. Im Detail ist das wohl ziemlich merkwürdig.

GWK: Ja, okay, dann werden wir das Thema an der Stelle lassen und ein bisschen eingehen mal auf jetzt eine weitere Ebene, weil, da kommt noch mal dieses … überhaupt die Beziehung, die man hat zu diesem künstlichen Geschöpf natürlich raus. Jetzt hast Du dir E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ vorgenommen. Was ja auch besonders eindrucksvoll ist, sind die gesamten Dialoge der Kreatur mit Frankenstein, seinem Schöpfer, be Mary Shelly, hocheindrucksvoll in wundervollem Englisch. Übrigens, wer es aber im Original lesen mag, das ist ein Hochgenuss, das ist auf Shakespeare-Niveau, wie die beiden miteinander sprechen und diese Kreatur sich auch fragt, was das jetzt sollte, dass sie in die, auf diese Art und Weise in die Welt gebracht wird. Also auch diese ganze Fragen, die sich ja vielleicht auch das eine oder andere Kind dann stellt, wenn es dann mal irgendwann rausfindet, wie es überhaupt in die Welt kam jetzt durch verschiedenste Einwirkungen technisch-biologischer Natur. Also das, also das ist erstmal eine grundsätzliche Geschichte, die Perspektive auch des anderen: Was will eigentlich dieses Geschöpf dann, in dem Fall, im Falle des Homunculus bei Goethe, selber eigentlich auf eine natürliche Art und Weise einmal doch mal in die Welt kommen noch mal …

JK: Richtig, das möchte er eigentlich, das Kerlchen.

GWK: Genau, jetzt noch mal eine andere Form von Beziehung, mal von der anderen Seite aufrollen. Das ist sehr interessant von der Kreaturseite aus gegenüber dem Prometheus, mal von der anderen Seite aus, und was ist das eigentlich für eine Beziehung, die der Mensch hat zu sowas Künstlichem? Und da hattest Du, hatten wir uns überlegt, ein bisschen über den „Sandmann“ zu sprechen, wo nämlich genau eine solche Beziehung aufkommt zu der Puppe Olimpia …

JK: Richtig, man könnte … ich habe kürzlich … also schon als junger Mann, als 16-Jähriger, habe ich das in der Oper [gesehen], ist ja [eine] Oper von Jacques Offenbach. Manche sagen, ist ja eine Operette. Ja, es ist in gewisser Weise ein Operette, aber ist auch eine wirkliche Oper. „Les contes d’Hoffmann” , „Hoffmanns Erzählungen“, 1861 glaube ich, 1881 glaube ich, komponiert nach Hoffmann. Also andere Sachen von Hoffmann tauchen da auch auf. Und da taucht ja auch die Olimpia auf, Olimpia, also mit i, nicht Olympia, also Olimpia, eine Puppe. Das ist nun ein … auf der Bühne wird es immer eigenartig dargestellt, aber ich habe gestern nochmal, ich kenne die Erzählung eigentlich gut, der Sandmann, noch mal diese ganze Erzählung, das sind 40 Seiten, noch mal richtig durchgelesen. Ich sag ganz kurz noch mal, worum es geht. Es geht hier um einen gewissen Nathanael, einen jungen Mann, der ein bisschen überspannt, ist, sagen wir mal, der liest so okkultische Schriften, mystische Schriften, und seine Freundin Klara mag das nicht, weil dann verändert er sich so, er wird dann eigenartig. Das möchte sie nicht. Ach lass das, da, diese Sachen, ja? Also sie möchte das nicht, und er hat einen Bruder, der auch eigentlich dagegen ist und die streiten sich dann häufig, und es gibt da Unfriede. Und Klara ist unglücklich darüber, und … aber das ist alles noch irgendwie im Geistigen.
Aber dann plötzlich gibt es eine Szene, es kommt dieser kleine, dieser Nathanael, als Kind hat mitbekommen … ihm wird immer gedroht, sein Vater droht immer mit ihm abends: Du musst jetzt ins Bett, sonst kommt der Sandmann und macht mit dir furchtbare Dinge. Der hat’s auf deine Augen abgesehen, und der Kleine ist vollkommen entsetzt. Um Gotteswillen, was macht der mit mir und so. Und einmal … da kommt immer jemand. Irgendwie. Alchemistische Experimente macht er mit ihm, und das darf der Kleine nicht wissen. Und der Kleine schleicht sich aber einmal rein und sieht diesen Kerl da, diesen Coppelius, ja, der als Advokat beschrieben wird, und die machen irgendwas. Das weiß aber der Kleine nicht genau, was da geschieht. So. Nun kommt er … in seiner Wohnung passiert Folgendes: Es klingelt, und es kommt ein Typ nach oben, der sieht genauso aus wie dieser Coppelius, ist aber ein ein Italiener, Copolla, – Doppelgänger-Motiv – irgendwie, der Kleine ist geschockt, also Nathanael, junger Mann, ist geschockt. Der sieht, das ist doch der, den der Vater immer … der doch bei dem Vater war. Das ist doch der Gleiche. Nein, es ist ein völlig Anderer. Copolla sagt, er hätte … er verkauft Brillen. „Schöne Oken, schöne Oken“, „schöne Oken?“, und dann zeigt er ihm die Brillen, und er soll mal reingucken in die Brillen.
Nathanael will keine Brille. Und dann sagt der Copolla: Ich habe noch was Anderes, ich habe ein Perspektiv, ein kleines Fernrohr, da könnte man doch mal durchgucken. Das ist interessant. Das könnte er doch kaufen, drei Dukaten, ist nicht teuer. Da kauft er dieses kleine Perspektiv.
Und dann passiert ein Unglück im Nachbarhaus, dass da irgendwie ein Brand ausbricht … und so weiter. Ist ein bisschen kompliziert, und er guckt, er hat ja schon vorher mal festgestellt, da sitzt doch immer abends eine junge Frau ganz reglos am Tisch. Die sieht schön aus, aber sie macht gar nichts, sie ist verdammt starr. Und dann sagt er: Er könnte doch mal dieses Perspektiv auf diese … auf dieses Wesen richten. Plötzlich wird die ganz lebendig. Plötzlich lebt die, sieht wunderschön aus. Er fällt in Liebe, obwohl er eigentlich seine Geliebte hat, ja, seine Verlobte, er ist … fällt in Liebe und verliebt sich total und ist sozusagen hin und weg … So.
Dann verschwindet die wieder. Und dann hört er, dass da ein Ball gegeben wird. Das kommt ja auch bei „Hoffmanns Erzählungen“ vor, wo der … ein gewisser Spalanzani, ein Italiener, mit seinem Compagnon Copolla … dass die die Tochter des Spalanzani vorführen. Das ist die Puppe. Er führt seine Puppe als Tochter vor. Da ist so eine Tanzfestivität, und alle sind gespannt, und natürlich auch Nathanael. Er ist auch dabei. Der sitzt natürlich da mit seinem Perspektiv und bewundert dieses Wesen, was auch tanzen kann. Was ganz eigenartig sich bewegt. Bei „Hoffmanns Erzählungen“, in der Oper, ist es dann so, so eckig bewegt sich dann die Sängerin, die muss dann auch sehr eckig singen, weil die singt dann auch. Und sie macht noch Konversation wie so ein Wesen der KI. Die macht Konversation.

GWK: Wieso Roboter, wenn wir sagen Android?

JK: Ja, sie macht Konversation, sie kann ganz einfache Sätze sagen, aber bei bestimmten Sachen sagt sie immer: „Ach“. Dann sagt er: „Wunderbares Wesen“. „Ach“, sagt sie dann nur, und das entzückt den Mann, typisch Mann, in seiner Dämlichkeit, „ach“ findet er toll, ja. So. Und dann merkt er, dass aber in dieser Gesellschaft, um das noch kurz zu sagen, schon gespottet wird. Es kommt ein Getuschel, weil viele merken, dass es ein Roboter ist, aber er nicht. Das heißt, er hat das Perspektiv und sieht darin ein .. ein tatsächliches Wesen, dass er unbedingt gewinnen muss. Klara ist völlig vergessen. So. Jetzt geht … kommt der Punkt, dass also plötzlich dann, ein paar Tage später, also kurzum, alle … man lacht über ihn, verspottet ihn, aber es interessiert ihn gar nicht. Sie haben ja alle keine Ahnung, aber er weiß genau, das ist eine schöne Frau. Paar Tage später gibt es in dem Haus, wo er das beobachtet, eine Szene. Spalanzani und Copolla geraten in Streit miteinander, und er beobachtet den Streit. Dann sieht er zu seinem Entsetzen, dass es um die Puppe geht. Und einer zieht an den Beinen, der andere am Kopf. Das heißt, einer will dem Anderen die Puppe wegnehmen, weil sie meinen … sie beschuldigen sich oder bezichtigen sich gegenseitig, dem Anderen das zu stehlen. Also sie zusammen haben das gefertigt. So.
Und das sieht Nathanael. Er ist vollkommen geschockt. Jetzt begreift er, dass er eine Puppe sozusagen geliebt hat, eine Puppe, die plötzlich auseinandergenommen wird, auseinandergerissen wird. Und er ist vollkommen erledigt. Vollkommen erledigt, und danach dann aber fängt er sich wieder. Klara ist rührend zu ihm, und sie sagt: Na, Du musst doch immer diese Schriften, die Du dir immer anguckst … das ist doch furchtbar und so weiter.
Und dann gibt’s eine friedliche Situation. Also alle sind sie zufrieden, und man hat sich wieder auf dieser Ebene gefunden. Und dann gehen Sie spazieren, und so einVolksfest ist da zu sehen. Und dann gibt’s da so eine Anhöhe, von der von der aus man runterblicken kann. Und dann guckt der Natanael runter in die Menge und sieht plötzlich Copolla und wird wie wahnsinnig. Er fängt an, seine Braut zu beschimpfen, anzubrüllen, und ist nah dran, sie runterzustoßen von oben. Und der Copolla guckt nach oben und spottet zu seinen Umliegenden: Der kommt schon runter da, kommt der, kommt. Und dann stürzte er sich in den Tod.
So. Und das ist die Geschichte. Also eine tragische Geschichte von einer vollkom­men .. von einem Wahn …

GWK: Ja, aber auch interessant, dass also die Hinwendung auf diese … auf diesen Okkultismus rund um den Copolla mit einem plötzlich eintretenden auch intensiven Hass auf seine Klara plötzlich [einher]geht. Also, da ist sozusagen auch eine misogynes Element, was ja natürlich hier sehr deutlich, ja, was dabei rauskommt, weil die Frage natürlich auch überhaupt, die Überwindung der Natur: Ist da nicht immer … wer die Natur überwinden will,: Ist das nicht grundsätzlich nur vereinbar oder kommt das nicht immer im Kombinat mit Frauenfeindschaft?

JK: Ganz richtig. Es ist so, ganz richtig. Er hasst plötzlich Klara, weil sie ein menschliches Wesen ist. Er hasst natürlich auch … er weiß ja, er hat ja die Puppe gesehen, die zerrissen wurde. Das wusste er ja, er hat es ja gesehen, er wusste, dass er einem Wahn verfallen war. Aber als er den Copolla da unten sieht, plötzlich packt ihn das, so wie eine … dass er … er kann nichts dagegen tun. Er fängt an zu schreien und sie, sie ist entsetzt, dass ihr Natanael ihr Gewalt antut und fast da runterstürzt und …

GWK: Was wir mitbekommen: Hier gibt es einen Geist, mit dem er interagiert, der versteht … also der, sozusagen, der hat tatsächlich wie eine Art Nebel gegenüber dem Lebendigen. Interessanterweise ist Klara ja auch, jetzt mal symbolisch, also ich weiß nicht ob der E.T.A. Hoffmann das bewusst angespielt hat auf die Schrift über die Weltseele von Schelling, wo die Klara, da musste ich dran denken mit der Klara … Das heißt, etwas am Lebendigen wird nicht verstanden. Sonst, wenn ich es verstehen würde, müsste ich es ja nicht überwinden. Da müsste ich ja mir diesen Aufriss nicht geben, was die da machen. Und da wollte ich mit dir einfach mal eingehen auf dieses ganze Thema überhaupt, den Unterschied … oder das, was hier am Leben … anders gesagt, was das Lebendige ist, sondern was vom Lebendigen nicht verstanden wird und was das Lebendige ausmacht. Also sozusagen, dasjenige, was buchstäblich dort … ja, was der Wahn überschreibt wie bei bei E.T.A. Hoffmann im „Sandmann“ , diesen Teil.

JK: Genau. Man muss vielleicht sagen, wenn der Mensch heute vom Lebendigen spricht, dann meint er meistens eine sehr eingeschränkte Form. Das Lebendige, das hat ja sehr schön auch der Erwin Chargaff, über den wir ja auch mal, ne … den wir auch mal herangezogen haben für ein Video, gezeigt. Das [Lebendige] ist unvorstellbar komplex. Nun kann man einfach sagen: Was ist das Lebendige? Einfach, was nicht tot ist. Ganz einfach. Es gibt ja ganz viele Definitionen dessen, was eigentlich das Leben ausmacht.
Ich kann mich erinnern, dass ich mal einen Vortrag gehalten habe in Österreich. Da habe ich darüber gespottet, dass … über den Gedanken: das Leben ist einfach Stoffwechsel. Da war eine eine Biologin unter den Zuhörern, die hat sich dagegen empört: Das stimmt doch, ist doch richtig. Da habe ich gesagt: Wissen Sie, dass weiß ich … als ob ich das nicht auch wüsste, ja, aber [das] ist die simpelste Definition, einfach so wird sie heute auch gesehen von Biologen: einfach Stoffwechsel. So einfach. Wenn kein Stoffwechsel da ist, dann da ist es ist tot. Der Rest ist doch nicht wichtig, aber das Lebendige, was jeder normale lebendige Mensch doch ganz genau weiß, ist doch was vollkommen Anderes. Allein die, sagen wir mal, Menschen, die einander begegnen, die Du-Evidenz und die all diese ganzen Dinge, die … das Kreatürliche, das alles. Der Mensch ist etwas vollkommen Anderes, das sozusagen … man könnte diese Art von Lebendigkeit nie herstellen, auch wenn jetzt verschiedentlich behauptet wird, na ja, so weit wir noch nicht, aber so eine Puppe, die kann schon mal richtig lebendig werden, ja, uns vielleicht sogar auch bedrohen …

GWK: …ja sogenannte Killer-Roboter, oder dann übrigens auch, was es ja auch schon gibt, einen Sex-Roboter soll es auch schon geben, also ich meine, das wird buchstäblich … daran wird, an so was wird geforscht, ja?

JK: Ja, wir sind ja in einer Zeit heute in der das Lebendige eigentlich in totaler Bedrängnis sich befindet. Ich meine, wenn man davon ausgeht, dass der Planet auch lebendig ist. Selbst Kritiker der herrschenden Kosmologie würden das ja immer noch einräumen, okay, der Planet ist lebendig. Was bedeutet das, was bedeutet diese Lebendigkeit? Die wird ja überall eingeschränkt. Der Mensch wird ja allein … allein im heutigen normalen beruflichen Alltag wird ja der Mensch vollkommen reduziert auf irgendwelche absurden Einzelheiten. Es hat ja gar nichts zu tun mit der Ganzheitlichkeit des Menschen. Also der Mensch wird sowieso nur noch reduziert wahrgenommen und als ob da sozusagen gar nichts Wichtiges vorhanden ist. Und der Chargaff sagt ja sehr schön auch: Allein die Biologie ist nicht in der Lage zu definieren, was Leben ist. Das kann sie nicht. Und er hat mal dann in einem seiner Essays, hat er mal verschiedene Wörterbücher durchgeguckt, wie denn das überhaupt definiert wird. Es wird immer nur tautologisch argumentiert. Also es wird immer nur sozusagen nie substanziell hingestellt: Was ist eigentlich das Leben, was unterscheidet ein Leiche von einem lebendigen Organismus? Das weiß doch im Grunde jeder, ist doch was Elementares. Aber in der Biologie ist es … das zentrale Sujet der Biologie ist nicht definierbar. Und der Mensch weiß überhaupt nichts davon, er weiß eigentlich … es ist für mich immer wieder fantastisch: Auch der Mediziner, der jeden Knochen des Körpers, des toten Körpers auch benennen kann, weiß trotzdem nichts vom Lebendigen, weil das Lebendige entsteht ja erst, das Lebendige ist ja das immer Anwesende, das Grundsätzliche, das Nicht-Hintergehbare.

GWK: Nun behaupten ja also die Transhumanisten generell, und wenn man auch Texte liest zur biodigitalen Konvergenz, dass selbige, also die direkte Anwendung der technischen Verschmelzung mit dem … mit organischer Materie beweisen würde, dass der Vitalismus falsch ist. Es gibt keine Lebensenergie, es gibt nichts, was das … was das Leben auszeichnet gegenüber dem Technischen. Die Vorstellung, dass man, was ja mit dem Stoffwechsel geschieht, dass man die Vorgänge einer körperlichen Leiblichkeit in einzelne Funktionskreise unterteilen kann und selbige Funktionsweise dann nachstellt in einer technischen Simulation, ja, das ist ja letztendlich nichts Anderes, ist ja ein jedes künstliche Gelenk, jeder künstliche Organ-Kreislauf, der gebaut wird, dann wäre dieses Nachgebaute quasi gleich auf mit dem, was natürlich entstanden ist. Und da würde ich nochmal auf das eingehen, was Du in deiner „Erlösung der Natur“ geschrieben hast. Du hast ja hier relativ zu Anfang eine Liste gemacht von Punkten, was das Lebendige ist.

JK: Ja, habe ich den Versuch gemacht, ja.

GWK: Genau, und dass wir für einen Moment einfach mal anfangen zu unterscheiden, weil ja dieser Unterschied immer weiter verloren geht eben in dieser ja merkwürdigen Feindschaft gegenüber dem Vitalismus. Also das Lebendige wird an sich angegriffen durch diese auch transhumanistische Gedankenwelt, und was das Lebendige an sich ausmacht.

JK: Ganz kurz nochmal zum Vitalismus. Natürlich ist das diese berühmte Lebensenergie, Lebenskraft sagte man früher, wie man immer überhaupt, nur kurz eine Erinnerung daran, früher Energie und Kraft gar nicht getrennt hat, nicht, das war eigentlich das Gleiche. Und die Kraft ist immer eine Größe gewesen, forces, die die Kräfte … die ein Schwachpunkt in der herrschenden Physik waren. Bei Newton ist es ja anders, der hat ja doch die forces für göttliche Kräfte gehalten. Und also die .. die forces sind ja nicht sichtbar, die forces sind ja nicht sichtbar. Das sind Kräfte. Kräfte sieht man nicht, sie agieren im Raum, sind im Raum vorhanden. Also auf jeden Fall ist das die … und dann ist es verständlich, dass man angenommen hat, es gibt einen Lebenskraft. Gut, das haben viele gedacht. Hahnemann ist ein Beispiel, der Matador, kann man sagen, der Lebenskraft war. Seine ganze Homöopathie beruht eigentlich darauf, nicht. Das ist … auf der Lebenskraft oder Lebensenergie. Später wurde es einfach gestrichen. Das gibt’s nicht. Ja warum nicht? Weil es natürlich etwas impliziert, was man wissenschaftlich nicht genau fassen kann, nicht, man ist da in einem sozusagen, auch wenn man so will, spirituellen oder auch okkulten Raum und kommt da nicht weiter.
Also der Vitalismus war auch dann sehr verengt worden, das muss man doch auch dazu sagen, nicht, das war ja auch dann auch ein bisschen vereinseitigt und verengt. Aber man hat eigentlich, das Lebendige völlig gestrichen, weil man dachte, das brauche ich eigentlich gar nicht.

GWK: Man kann es zurückführen auf die physikalischen Grundkräfte. Im Prinzip spielt es ja auch … oder [man] hat auch unter anderem erwogen, dass eventuell Elektrizität selbige Kraft dann schon ist, nicht, also das ist ja dieses ganze Thema: Was macht den modernen Prometheus, wie sie es nennt, bei Frankenstein, das Wesen lebendig, aus den Leichenteilen zusammengesetzt. Es ist dann Elektrizität, da wird er mit der Elektrizität belebt.

JK: War im späten 18. Jahrhundert so ein bisschen modisch, das so zu denken. Das findet man auch bei einigen Sätzen von Beethoven, der gesagt hat: Ich bin elektrisch. Als Beispiel, ja, hat Bettina von Arnim überliefert, er hätte gesagt: Ich bin elektrisch. So, das ist so, das Elektrische als, sozusagen, als Stimulator des Ganzen …

GWK: … genau, letztendlich: also der erste Punkt in der Kritik oder der Ablehnung des Vitalismus ist: Es gibt keine vitalen Kräfte, sondern eigentlich nur tote physikalische Kräfte, und die sind einmal mit organischer Materie zusammengesetzt.

JK: Physik plus Chemie plus …

GWK: Genau, genau, und einmal einfach rein mit anorganischen Kräften zusammengesetzt und deswegen: Warum sollte ich nicht den eigenen Funktionskreislauf mit dem anderen quasi mischen können, also den organischen Funktionskreislauf und die organische Maschine mit der anorganischen Maschine, nicht? Also wenn ich … es fängt ja immer damit an, dass ich erst einmal überhaupt das, was ich sehe, bereits als Maschine definiere. Weil das ist ja das, was Du auch angedeutet hast mit dem L’homme machine. Auch Descartes mit der Kunstmaschine sah das so, sagte, das alles … alle Wesen sind letztendlich Kunstmaschinen, nicht, ein mechanistischer Gedanke. Also ich definiere alles als Maschine, und dann kann ich natürlich aus meiner Definition auch nicht mehr raus, denn die habe ich jetzt schon mal gesetzt.
Jetzt gibt es aber dennoch Dinge oder auch Zugänge, wenn ich jetzt einfach mich nicht nur auf diese Funktionskreisläufe beschränke und dort fixiere, was Du ja auch immer wieder groß kritisierst, auch was geschehen ist seit Galilei, was eine eigene Form von Blindheit erzeugt, wenn ich alles wegreduziere: Farbe, Gestalt, Figur und alle subjektiven Elemente, und ich z.B. dich jetzt nur auf Verhaltensweisen abklopfe, sehe ich ja den ganzen Menschen nicht.

JK: Jochen Kirchhoff siehst Du dann nicht, das ist klar …

GWK: Das ist auf jeden Fall eine unmittelbare … , also da merkt man, also wenn man das auf einen Menschen als Ganzen anwendet, merkt man, wie unmittelbar geisteskrank [es] ist, dass ich einen Menschen nicht einfach auf chemische Vorgänge reduzieren kann. Dann lerne ich nichts von ihm und lerne den auch nicht kennen. Also das ist einfach absurd. Dass das alles, was den Anderen ausmacht, ist weg, und ich blicke darauf nicht, sondern ich blicke auf auf einen … ich blicke auf was Anderes. Das ist jetzt tatsächlich eine Blickverschiebung, durch die etwas nicht wirklich aus der Existenz verschwindet, aber einfach nur aus dem Blick verschwindet. Und dieses, was da aus dem Blick verschwunden ist, das würde ich gerne mit dir noch in den Blick nehmen, bewusst, mit dem Lebendigen, denn Du hast ja natürlich einen ganz anderen Kraftbegriff in deiner Philosophie.
Also der Kraftbegriff leitet sich sowieso von einem strukturell lebendigen Ätherfeld ab, insofern gibt es diesen schroffen Gegensatz zwischen physikalischen Kräften und Lebenskräften gar nicht, denn …

JK: In gewisser Weise ist es so.

GWK: Genau, weil die Kraft an sich hat eine, ist eine, hat eine ganz andere Grundenergie, könnte man sagen. Das heißt einfach eine Grundqualität, allerdings würde ich trotzdem nochmal sagen: Was ist es genau, was dieses Maschinendenken, dieses Cyborgdenken, dieser ganze Hinblick auf den Menschen und dieses Nicht-definieren-können des Lebendigen oder diese Art der Definitionsversuche des Lebendigen nicht sehen und strukturell nicht in ihren Theorien fassen können und dazu noch mal eingehen auf die „Erlösung der Natur“.

JK: Na ja, das ist richtig. Es gibt im lebendigen Wesen, in jedem lebendigen Wesen immer einen Faktor, der nie erklärt werden kann. Also das hat viele Gründe, das habe ich ja in diesem, was Du da anführst, auch in diesem Buch ja gebracht. Ich habe ja den Versuch gemacht, das kann man ja auch kritisieren, aber ich finde es ganz legitim, in 26 Thesen von dem Menschen aus gesehen, von dem Ich-Wesen Mensch in seiner Komplexität aus, aus seiner eigenen Erfahrung heraus, zu definieren, was das Lebendige ist. Also sozusagen, wenn ich gucke … Beispiel: In der Mathematik ist die Bewegung einfach einen Punkt von A nach B verlagern, oder in der Physik kommt ein Punkt von A nach B. Da passiert eigentlich in dem Sinne gar nichts. Wenn aber ein Mensch durch einen bestimmten Raum schreitet von A nach B, und seien es nur wenige Meter oder 100 Meter, dann ist es ständig anders. Jeder Schritt hat eine andere Perspektive auf die Umwelt. Er hat Emotionen, er denkt an Dinge, er ist glücklich oder unglücklich, er fühlt sich leer … ganz anders. Das heißt, es ist was völlig Anderes. Das heißt, die Bewegung der Physik ist tot, die Mathematik ist auch tot in dieser Form, und der Mensch ist es aber nicht.
Und das ist dann … dadurch … hat es gewisse Unschärfen auch da drin, bestimmte Unschärfen, und von denen aus kann man aber auch verstehen. Ich habe es jedenfalls versucht in diesem einleitenden Kapitel, und ein Homöopath, der das auch gelesen hat, der sagt: Das ist besonders gut, gerade dieser Teil, weil ich phänomenologisch argumentiert habe, ganz klar phänomenologisch. Wie empfindet sich ein lebendiges Wesen? Da ist ja alles verschieden, vorne und hinten ist was ganz Anderes. Der Mensch fühlt hinten was völlig anders als vorne. Der Mensch fühlt den Raum vorne anders als den Raum hinten. Rechts und links fühlt er vollkommen anders, oben und unten, und so weiter. Das heißt, der ist in einer kolossalen Komplexität, die man niemals auch sozusagen restlos fixieren kann. Das ist das Lebendige … ist letztendlich, das schreibt auch Chargaff, ein absolutes Mysterium. Das hat noch nie ein Mensch in der Tiefe wirklich erschlossen. Und, noch kurz zu sagen: die Behauptung, dass Lebendiges aus Totem entstanden ist, ist eine pure Fiktion. Noch niemals ist aus Totem Lebendiges entstanden, hat es noch nie gegeben, hat noch nie einer gesehen, ist eine pure Behauptung. Leben entsteht aus Leben. Man kann Leben zerstören, das kann, das wird ja auch … geschieht ja auch. Aber Leben aus Totem ist noch nie gesehen worden, dass es jemals entstanden wäre, das ist pure Behauptung, ist nichts weiter als eine Ideologie, eine schlechte Ideologie.

GWK: Also Du schreibst hier zum Beispiel: „Das Eigenlebendige der menschlichen Selbstwahrnehmung und Weltwahrnehmung wurzelt im Selbstsein. Hinter allem und in allem, was wir erfahren und erleben können, spüren wir einen Kern, ein substanzielles Zentrum, das wir in der Tiefe sind. Wir sind dieser Kern, dieses Zentrum, dieses Innerste und Tiefste, in dem wir zugleich unsere letztwirkliche Identität, unseren Seinsort wissen, der nicht geräumt werden kann, ohne uns zu zerstören, strahlt durch alles hindurch. Eine seiner wirkmächtigsten Emanationen ist die Ichheit, das Ich-Bewusstsein, wobei das wachbewusste Ich nur einen, wahrscheinlich sehr schmalen Ausschnitt repräsentiert.
Zweitens. Dieses nicht reduzierbare Selbstsein, Strahlungszentrum und Primärquelle unseres In-der-Welt-Seins fühlen wir nicht als formlosen Nebel oder Lichtfleck oder unbestimmbare Substanz, sondern als Gestalt. Dieses Selbstsein als Gestaltsein geht in keiner Weise auf im Leib, in dem leiblichen Innen, dass wir in der Gegend unseres Körpers spüren, siehe das oben gebrachte Zitat von Hermann Schmitz, schon gar nicht in diesem Körper selbst, der sich als Objekt für andere und in gewisser Weise auch für den Einzelnen, der darin steckt, in der Außenwelt befindet.
Und drittens. Das Eigenlebendige als gestalthaftes Selbstsein ist unteilbar. Es ist eine Einheit und nicht reduzierbare Ganzheit.“
Also das sind mal drei Aspekte, die den ersten fundamentalen Charakter, sag ich mal, der menschlichen Eigenlebendigkeit ausmachen. Unteilbarkeit, Gestalthaftigkeit und Ichheit.

JK: Man würde natürlich … viele Rationalisten sagen: Na ja, Herr Kirchhoff, das ist nicht legitim, was sie machen. Sie gehen ja von der Lebendigkeit des Menschen aus und machen nur einen Analogieschluss. Das darf man nicht, das geht nicht.

GWK: Aber sie gehen … sie machen einen Analogieschluss von der Maschine oder vom Computer auf etwas anderes. Ist das dann legitim? Das ist ja sogar ein viel illegitimerer Analogieschluss.

JK: Ich meine, wir sind ja uns darüber einig, dass man ohne Analogien überhaupt nicht denken kann. Analogien muss man … man muss in Analogien denken. „Der Mensch ist eine Analogienquelle für das Weltall“, nochmal Novalis. Ja, da gibt’s ja noch … das gibt im Ganzen, glaube ich, 26 Punkte, und das ist der Versuch, von der menschlichen Innen-Erfahrung phänomenologisch einfach weiterzugehen. Das muss man auch, weil der Mensch letztendlich auch in der Erkenntnis, in seinem Streben nach Erkenntnis und so weiter ja doch von sich selber ausgehen muss, und der Andere … wenn das nicht so wäre, dann wäre man ja nur für einen Anderen immer ein Objekt oder umgekehrt, die anderen wären für einen selber nur Objekte.
Das ist ja nun .. geschieht ja häufig. Wer irgendwie politisch irgendwas radikal festgelegt, das wird eben so gemacht, dann sind ja die Einzelnen nicht als Menschen gefragt, die vielleicht Einwände hätten oder die vielleicht darunter leiden. Das spielt jagar keine Rolle, das macht man einfach ganz von oben herab, abstrakt, autoritär bis hin zu faschistisch, von oben herab.
Aber das Wesen des Lebendigen gehört doch … gehört doch dazu, dass man den Anderen als man selbst in gewisser Weise begreift: Man begreift, hier sind zwei Wesen, die einander berühren, die einander spüren auch. Und der Andere ist doch nicht nur das Objekt. Ich kann zwar sehen, so sehen die Füße aus, so sehen die Hände aus, oder gefällt mir der, oder nicht. Alles das kann man machen. Aber der Andere ist doch nicht das Objekt nur, und letztlich ist die Objekthaftigkeit der Dinge, die behauptet wird in der herrschenden Physik, für meine Begriffe einfach ein Wahn. Wir leben in keiner Es-welt, das wäre dann ES, wir leben in keiner Es-Welt, sondern wir leben einer lebendigen Welt, weil wir selber auch lebendig sind. Wir würden in der ES-Welt gar nicht entstanden sein. Sonst würden wir ja, sagen wir mal, auch aus dem Nichts herausgewirbelt sein, aus dem Nicht-sein gewirbelt sein in ein belebtes Nichts, was man ja dann wäre, notwendig. Und was hat es damit auf sich? Daher ja auch, und das muss man … vielleicht werden wir nachher noch drauf eingehen, im Transhumanismus der irrwitzige Gedanke: Man kann auch das Leiden, ja den Tod überwinden. Das ist einfach … das ist ja nicht richtig, dass das hier … hier wird gestorben, das geht nicht.
Ja wenn ich alleine, wenn ich irgendwie alleine sowas höre, denke ich mir, stelle ich mir so vor: um Gottes Willen, was diese, diese Wesen, die so reden und dann auch noch … die verschwinden gar nicht mehr, die sind immer da, und ist ja ein purer Albtraum, den übrigens sehr schön der von mir sehr geschätzte Jonathan Swift in seinen „Gullivers Reisen“ gebracht hat, wenn Menschen nicht sterben können. Wenn es immer … wenn die immer da sind …

GWK: Das nervt …

JK: Das nervt total. Also da zeigt er [Swift] dann, wie die dann vollkommen hässlich sind, und sie sind aber dann da. Ich bin hier, ja. Und das muss man also … die Verheißung der Tod-Überwindung. Ich bin ja nun älterer Herr und habe im Laufe meiner …. vieler Dinge, die ich gelesen habe, taucht immer mal wieder in der Medizin, auch in der Presse, immer wieder der Gedanke auf: Eigentlich müsste man ja 4, 5 hundert Jahre leben oder so oder überhaupt gar nicht mehr sterben. Und die Menschen sind so vordergründig, dass sie sich überhaupt gar nicht sozusagen vorstellen können … das ist so ein absurdes und vordergründiges Wahn-Gebilde, dass man eigentlich das gar nicht ernsthaft betrachten kann.
Aber das ist eine wesentliche Verheißung. Viele … O Gott, ja, ich lasse mich einfrieren, und dann, was weiß ich alles, dann bin ich ewig an Deck. Um Gottes willen, was macht er da ewig an Deck? Nur Unfug macht er…

GWK: Genau, die Sache ist die, quasi der Ursprung des Leidens oder das was Leiden und Schmerz [sind], was jetzt zum Menschen dazugehört oder zum Leben und zum Fühlen dazugehört, dass da Verlusterfahrungen sind und so weiter … der Grundgedanke bei den Transhumanisten ist derjenige, dass all das keine Bedeutung hat in sich sondern einfach ein reiner Negativfaktor sei und das gleiche eben auch zu den ganzen extra und sonstigen Gefühlen, die mich zum Beispiel vielleicht abbringen würden von meinen Vorhaben. Die Vorstellung, dass der Mensch, das ist auch wie Du weiter das beschreibst, in den Raum, in den seelisch gefühlten Raum eingehängt ist, aus dem er auch Kommunikation empfängt. Das bedeutet, ich schalte alle Kommunikation stumm, ich empfange gar nichts mehr außer die Signale von einer Verstandesfixierung, und damit gehen enorme … eine ganz große Bandbreite der menschlichen Kontaktfähigkeit nicht nur verloren, aber es gehen einfach irrsinnig viele Informationen verloren. Das wäre ein bisschen so, als würde man sagen: Das Problem mit der Welt ist, dass es mehr Kanäle gibt als RTL, und jetzt sozusagen machen wir RTL auf allen Kanälen. Das sozusagen, wir bauen den Menschen um, bauen alle Geräte um, dass nur noch RTL empfangen wird. Und dann würde man auch nach einer Weile vielleicht auch merken: OK, all das Andere ist auch noch da, aber hatte vielleicht einen Sinn. Da kamen ganz viele Informationen durch, die auch noch andere Impulse und andere Gestaltungen eigentlich mit sich bringen. Und das wird … diese Art, woher die Gestalten kommen, ihre Gestaltetheit, woher das alles kommt, ihre Form kommt, dass es vielleicht aus dem Raum kommen könnte, das es vielleicht also … all diese, all diese Ebenen werden gar nicht beachtet und eben ausgeblendet in dieser maschinellen Reduktion auf Funktionskreise. Der Funktionskreis kann nicht abbilden, woher die Form kommt …

JK: Richtig, ganz genau …

GWK: … kann nicht abbilden, woher die Gedanken kommen, und da kann er auch nicht abbilden, welche Bezüge meine Atmosphären und Gefühle in den Raum hinein haben. Und insofern reduziert der etwas oder missversteht etwas als Aussage oder sinnlos oder ihm nicht dienlich, weil es eben nicht in seinen Funktionskreis passt, sagen wir mal in seinen industriellen Fertigungskreis z.B., weil jetzt der andere ausschlafen will oder nicht wirklich arbeiten will und all diese Dinge nicht machen will, aber die trotzdem eine ganz großen Sinn haben für das Lebendige als Ganzes.

JK: Ganz richtig, da wird … all das wird eliminiert, das wird weggeschnitten, das ist sozusagen …. das braucht man nicht.

GWK: Genau, da ist erst mal die Gefühlsganzheit, die man meint, nicht zu brauchen, die aber sehr viel trägt, eventuell auch die ganze Form trägt. Und das zweite, was man nicht meint zu brauchen, ist tatsächlich die Leiderfahrung. Dass man nicht kriegt, was man will, zum Beispiel meint man nicht zu brauchen. Obwohl man sagen kann: Es ist nicht gut, wenn bestimmte Wünsche sich nicht erfüllen, ja, könnte man auch sagen, der eine oder andere Wunsch ist vielleicht auch ganz gut, wenn der mal sich nicht … also würdest Du bei näherem Bedenken dich vielleicht dann doch auch noch mal anders entscheiden, ja.

JK: Oft genug …

GWK: Und dass der Tod nicht sein muss, weil vielleicht werden wir jetzt … in der alten vedischen Kosmologie, der buddhistischen vielleicht, Du mal die Identifikation mit dieser einen Gestalt auch irgendwann auflösen möchtest, ja, dass also das sozusagen auch einen Sinn hat, dass ein Tod mit reinkommt, der diese spezielle leibliche Organisation auch wieder auflöst hin zu einer, zu einer ganz anderen Form der Überschreitung.
All diese Dinge finden da nicht statt. Es wird einfach gesagt, was in meinen Funktionskreis nicht passt, ist ein Fehler, ein Makel, ein Hindernis ein Wegzumachendes.

JK: Ja, vollkommen richtig. Es ist auch noch ein anderer Punkt, den dieser Thomas Fuchs hier in seinem Buch „Verteidigung des Menschen“ bei Suhrkamp, was mir empfohlen wurde von einem Journalisten, das ich nicht kannte – da habe ich mal ein bisschen drin geschmökert. Der bringt zum Beispiel auch das Argument: Der Mensch stellt sich vor, dass er seinen Tod überschreitet, technisch, auf dem Chip. Sie übertragen jetzt – ernsthaft – zum Chip wird. Das ist sozusagen … er macht sich nicht klar, dass damit auch der Rest verschwindet von dem, was das Menschliche ist. Also sozusagen, er denkt irgendwie zu kurz.

GWK: Er versteht nicht, dass er mit dem ganzen Leib, in dem er ist, überhaupt der Wahrnehmende ist, und derjenige, der er ist, weil das die Gesamtgestalt ja wahrnimmt …

JK: Richtig.

GWK: Was übrigens jeder, übrigens jeder weiß, der sich mal mit Körperarbeit beschäftigt hat, was es ausmacht, wenn in bestimmte Gewebe jemand sich mal reinmassiert und so weiter, kommen Tränen, kommen Gefühle hoch.

JK: Ganz richtig.

GWK: Das heißt, die Gesamtleiblichkeit der ganzen menschlichen Erfahrung, die ist sozusagen gar nicht zu haben. Umgekehrt, wer die Erfahrung mal haben möchte übrigens, leiblos zu sein, dem empfehle ich, mal Lachgas auszuprobieren, und dann hat man in etwa eine Vorstellung davon, was es bedeutet, ohne Leib ein Chip zu sein. Für einen Moment setzt komplett die Leibempfindung aus, und dann schwebt der Geist einfach so im Raum. Es ist ganz, ganz irritierend.

JK: Also okay, ich nehme das mal einfach jetzt so hin. Ja, auf jeden Fall hast Du vollkommen Recht, und wenn man alle diese Fakultäten der Menschen und das ganze ungeheure Geflecht des Leiblichen, was uns ja auch ausmacht, nicht, wenn das alles wegfällt, dann sind wir Geistwesen. Aber was ist denn dieser Geist? Ist doch letztlich ein vollkommen … was soll dieser Geist denn sein? Das ist eine Perversion eigentlich des spirituellen Gedankens einer eventuell körperlosen Existenz. Also wenn ich zum Beispiel vom Kosmischen Anthropos spreche, dann ist diese Vorstellung eines Cyborg eigentlich eine absolute Pervertierung dieses Gedankens. Aber ist immer noch eine … letztlich ein gnostischer Grund-Impuls, ein pervertierter gnostischer Grundimpuls dahinter, und das können viele nicht auseinanderhalten. Und es ist im Grunde … der Irrsinn, der da drin steckt, der wird nicht gesehen. Und es ist natürlich auch … es fügt sich ein in die gesamte Grundunlebendigkeit. Die Menschen sind lebendig, aber sie agieren eigentlich unlebendig, das heißt, sage ich mal so formelhaft: Überall regiert letztlich das Tote. Das Tote, das bringt das Lebendige in Bedrängnis. Überall ist das so, und das ist … wir sind ständig in … deswegen ist ja auch die Frage, was macht man dann, wenn man so bedrängt wird vom Toten und das wird man. Die Maschinenwelt ist ja auch in dieser übersteigerten Form eine absolute Bedrohung auch des Lebendigen, nicht. Also das ist ja auch nicht zu leugnen, und der hier, der Thomas Fuchs, den ich erwähnt habe, „Verteidigung des Menschen“, der macht das auch deutlich, dass der Mensch, der sich so etwas vorstellt, dass er eventuell Unsterblichkeit über einen Chip oder wie auch immer gewinnt, der macht sich nicht klar, dass er dann weg ist. Dann ist er ja gar nicht mehr der, denn die Identität geht dann auch verloren.
Genauso, wenn man diese fantastischen Vorstellungen, dass Du, wenn Du in der KI, in der künstlichen Intelligenz, ein bisschen normale irdische Intelligenz wäre auch nicht schlecht, aber jedenfalls die KI-Intelligenz … ja, was ist, was man … dass Du die anzapfen kannst – Du bist dann sozusagen, wie sozusagen im Mausklick, aber Du hast ja keine Daumen mehr, weil dann, wenn Du dann da auf dem Chip bist, hast Du auch keine Daumen mehr. Was bist Du dann noch? Wo ist die Identität?

GWK: Genau, da kommen wir jetzt ja [dahin], was wir gesehen haben als Merkmal des Lebendigen des Menschen, Gestalthaftigkeit, Ichheit …

JK: Die Gestalt, ja …

GWK: … und Unteilbarkeit. Diese Ichheit, in diese Vorstellung, man könnte sozusagen das Göttliche Selbst, ja also das Selbst oder die Ichheit des Menschen in seiner tiefsten Substanz ist etwas Göttliches, es ist etwas Transzendentes. Und diese Transzendenz, die hinter und in dem Ich wirkt und durch das Ich hindurch wirkt, die könne man … die könne man auf dem Chip lagern. Es ist also der Gedanke. Und das ist in sich unmöglich, das ist einfach vollkommen unmöglich, ja, deswegen ja auch übrigens mittlerweile auch mit Simulationen gearbeitet wird. Manche sagen ja auch, sie könnten ja auch das Gleiche machen, indem sie einfach quasi … die KI bildet dich nach als Persönlichkeit, und dann stellt er, fragt er, was ist das denn jetzt …

JK: Also das hat ja schon in … vor Jahrzehnten der berühmte Quantenphysiker Frank Tippler gezeigt. Das habe ich hier in meinem Buch „Was die Erde will“ auch gebracht. Der hat das ja alles schon vorweggenommen. Der, auch ein älterer Herr, ist so meine Generation, der lebt noch und ist noch ganz munter. Der hat das damals in die Welt gesetzt: „Physik der Unsterblichkeit“, war ein absoluter Bestseller über Monate hinweg, „Physics of Immortality“. Das heißt, die Physik beweist, dass Du unsterblich sein kannst, auch über die Simulation, ja, und das … der hat alles vorweggenommen eigentlich. Und nun könnte man sagen: Ist ja genial, ist ja fantastisch, dass der alles schon gewusst hat. Ja aber der war einer der Vordenker da in diesem Sinne. Aber tatsächlich – die Simulation, wie ja natürlich auch in der Physik ohne Simulation gar nichts mehr läuft, nicht.
Ein 14-Jähriger kann heute die Entwicklung von Galaxien am Computer berechen … ist [Ausdruck} vollkommener Geisteskrankheit, weil er weiß weder, was eine Galaxie ist, noch weiß er, wie diese Galaxien wirklich sind. Er weiß gar nichts, aber er kann … es wird vorgegeben … wenn Du ein paar Parameter hast, durch ein paar hübsche Parameter, die irgendwie stimmig sind, kannst Du den Rest erschließen. Und genauso da werden fantastische Evolutions-Szenarios einfach aus dem Hut gezaubert, nicht. Alles kannst Du … wie die Sonne sich entwickelt und wie die Erde sich weiterentwickelt, alles wird ja simuliert, und es haben ja auch diese, die Simulationen auch in der Corona-Krise ne [Rolle gespielt]. Ständig waren irgendwelche Modelle, die alle, Ferguson zum Beispiel vom Imperial College in England war ja einer der Matadore, der das Ganze ins Rollen gebracht hat. Alle … es war alles falsch, es stimmte nichts, also alles komplett falsch. Und trotzdem hat man mit diesen, mit diesen abstrakten Simulationen auch natürlich dann auch Politik gemacht. Das kann man machen. Da wird der Mensch natürlich sowieso so zum Objekt, weil was der Einzelne dagegen einwenden kann, ist vollkommen unwichtig, weil es muss … wird jetzt gemacht. Das müssen wir machen, ja, alternativlos. Und genauso ist ja auch dieses fantastische, irrwitzige Wort von der Alternativlosigkeit dann so immer im Raum gewesen, dass man auf gar keinen Fall da etwas sehen, da einwenden kann. Das ist auch religiös.
Wir leben sowieso, vielleicht banal, das ist ja eigentlich bekannt, im Grunde genommen in einer pseudoreligiösen Welt, in einer vollkommenen technoreligiösen Welt, weil alles irgendwie soll alternativlos sein. Das sind eigentlich religiöse Dogmen, die die Menschen einander um die Ohren hauen. Mit Empirie oder mit solider Wissenschaft oder mit klarem Denken hat das überhaupt gar nichts zu tun. Das ist nur noch … das ist einfach nur noch furchtbar.
Deswegen, es gibt gar keine Diskussionen mehr, haben wir anfänglich schon gesagt, ne. Die normale Diskussion, die gibt’s ja gar nicht.

GWK: Wie gesagt, das ist ein Überwältigungsvorgang auch. Das soll durchgesetzt werden gegen diesen Menschen.

JK: Richtig, ja …

GWK: … und gegen die Ichheit des Menschen auch selber. Das ist natürlich die Frage: Was steht hinter dem Transhumanismus? Wem dient das Ganze genau? Warum sagt der Elon Musk jetzt, die KI könnte die Menschheit beenden? Da hätte er total Angst vor, spezifiziert es aber nicht. Er sagt dann einfach nur so: Ja, da … also er deutet an, dass dann ein großes Manipulationspotenzial möglich werden könnte in Bezug auf zukünftige Wahlen …

JK: … nach dem Motto „Haltet den Dieb“ … Warren Buffet hat das ja auch kürzlich gesagt, der berühmte Milliardär Warren Buffet, hat doch gesagt: Na ja, das ist auch schon gefährlich. Das ist wie die Atombombe, das darf nicht sein. Aha, denkt man plötzlich, plötzlich werden der Alarmsignale auf Vorsicht und so [gestellt]. Also …

GWK: Oder Koketterie, kann man genauso …

JK: … vielleicht auch nur Koketterie, kann auch sein, nach dem Motto „Haltet den Dieb“, ja …

GWK: … also wer so große Zerstörungspotenziale in den Händen hält sich auch [, denkt]: Ich bin so mächtig, ich warne euch mal vor meiner Macht …

JK: Ja, natürlich, das spielt auch hinein …

GWK: Ich muss echt aufpassen mit meiner Macht …

JK: … ja, ja, ganz richtig, also man ist in einem … man muss da einfach wissen, man ist in einem Gelände, wo der klare Geist, auch die klare Vernunft, die klare normale Vernunft, der gesunde Menschenverstand, würde ich auch sagen, alles ausgeschaltet ist. Also man würde ja … auf bestimmte Dinge muss man ja gar nicht als tiefsinniger Philosoph, wenn man sich so empfindet auch, wie immer, kommt man mit ganz einfachen Grundüberlegungen: das ist, was gar nicht gehen kann. Also es gibt bestimmte Dinge, die kann der sogenannte gesunde Menschenverstand, kann die wirklich leisten. Man kann sehen, was nicht gehen kann, aber auch das wird ja ausgeklinkt. Und die Philosophie im Allgemeinen mit wenigen Ausnahmen hat ja auch völlig versagt an der Stelle, total versagt. Die hat ja nichts gebracht, nichts, da kam gar nichts und oder ganz wenig nur. Also die Intellektuellen überhaupt, wie ich ja gerne sage, haben eigentlich auf ganzer Front versagt mit wenigen Ausnahmen, was die da geboten haben, wie sie den Kotau gemacht haben vor all diesen Dingen, ist so was von peinlich. Das gibt es gar nicht. Also vertiefteres Denken ist ja vollkommen ausgeschaltet. Auch die bekannten Namen alle, die ich jetzt nicht erwähnen möchte, so viele bekannte Namen gibt es ja gar nicht, die haben auch alle total versagt. Also was sie da geliefert haben, ist einfach unter aller Kritik. Das ist überhaupt kein Denken. Also da wird nichts gedacht, da wird nichts hinterfragt, ernsthaft hinterfragt. Da werden vor allem die Prämissen gar nicht hinterfragt. Da wird alles nachgeplappert, und das ist ja so, dass viele Intellektuelle sowieso so eine Angst haben, das habe ich ja nun oft gesagt, erlaube ich mir nochmal zu sagen, so eine Angst haben, sich lächerlich zu machen, wenn sie dann es wagen, die herrschende Kosmologie oder das herrschende Denken überhaupt zu kritisieren, weil sie in die Ecke gedrängt werden und vielleicht als Schwätzer …

GWK: … Schwurbler …

JK: … oder als jemand, Schwurbler, ja, als ob sie sozusagen gar keine Ahnung hätten. Es wird ja immer gesagt: Der hat doch gar keine Ahnung, und wenn Du irgendwie kritisierst, das kann doch eigentlich, ist doch einfach ahnungslos. Kurzum, das ist ein trauriges Kapitel. Das gehört auch mit zu dem, was wir anfangs gesagt haben, dass … dass … es gibt keinen konturierten Geist oder wenige konturierte Geister überhaupt, die in der Lage sind, dann eine ernsthafte Kritik vorzubringen. Das ist alles merkwürdig, sage ich mal, also ganz … ja, also das ist …

GWK: Die Frage ist, von welcher, von welcher Basis aus sie diese Kritik … wenn tatsächlich die Basis ist, dass der Kosmos nicht belebt ist und eine große Himmelswüste sein soll und all diese Dinge und das Du-bist-nicht-gemeint-Universum darstellt, dann ist im Prinzip nicht unmittelbar einsichtig, was … ich kann aus so einer, aus seiner humanistischen Scheu heraus mich der vollen Machtentfaltung irgendwie entgegenstemmen. Aber gegründet ist die in … also der, sozusagen der reine Macht-Mensch könnte das einfach nur als Hemmung werten, ja, und dem sozusagen das so wegschmettern, denn es hat ja erstmal keine … es hat ja keine, keine reale Substanz sozusagen. Das ist einfach, ein Oh-bitte-nicht, ein Besser-nicht.

JK: Ganz richtig, ich würde auch sagen, …

GWK: I prefer not to …

JK: … richtig, wenn man also mich fragt: Na was, Du kritisierst das alles, kann man ja machen …

GWK: Und wenn die intellektuell dazu alles nichts sagen können, etwas, dass über das I-prefer-not-to und bestimmte Dingen hinausgeht. Ja, was sollen sie denn dann sagen? Denn letztendlich geht es ja darum, dass dieser … dass dieser Gedanke überhaupt, wie Welt und Kosmos wahrgenommen werden … dass da ja ein fundamentaler … es ist ja, es gibt ja eine Basis im Realen für die Kritik, die ist ja nicht nur eine Art …

JK: … Nein gar nicht …

GWK: … humanistischer Widerstand, sondern sie ist … also es gibt eine Basis im Realen. Und das ist dasjenige, was ein Philosoph oder ein Intellektueller auch herausarbeiten müsste und oft nicht kann.

JK: Richtig, es gibt natürlich eine Basis, selbstverständlich, das ist ja kein Fantasiegebilde, im Gegenteil – das, was da geliefert wurde, ist ein Fantasiegebilde. Also ich würde es ja ganz umdrehen und … was kann man machen? Also das ist ja auch die Frage: Wie kann man dagegen vorgehen? Noch ist das alles ja noch in den Kinderschuhen, zum Teil, aber es ist weiter, als wir denken. Es ist nicht nur in den Kinderschuhen. Denn, was da im Einzelnen passiert, was man auch gelesen hat oder was man lesen kann oder zur Kenntnis nehmen kann, ist grauenvoll genug.
Es ist also … ich würde sogar so sagen, ist ein fundamentaler, auf ganzer Front geführter Angriff gegen das Leben selbst. Es ist ein fundamentaler Angriff auf das Lebendige auf diesem Planeten und auf das Lebendige überhaupt. Und dagegen muss man mit allen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen, auch vorgehen. Und das kann man wahrscheinlich nur, indem man das … indem man sich für das Lebendige einsetzt. Aber das auch versteht, weil der, sozusagen, der Verteidiger des Lebendigen muss auch gute Waffen haben, um es zu verteidigen. So simpel ist es eben nicht, dass man es einfach aus den Angeln heben könnte. Manchmal ist der gesunde Menschenverstand ausreichend, aber bei der komplexeren Ding ist er es eben nicht, und die Menschen haben eine solche Angst, wie heute überhaupt ja die Leute, wissen wir ja alles, die Angst [haben] sich zu äußern. Es könnte ja falsch sein, oder ich könnte mich lächerlich machen, oder ein falscher Satz und Du bist den Job los und solche Sachen. Ist ja alles passiert. Also ist ja nicht witzig.
Insofern haben die Leute auch Angst und auch eben immer die Angst, dass sie plötzlich im Regen stehen, oder dass sie irgendwie grotesk wirken. Einer behauptet das Gegenteil, und dann bist Du einfach lächerlich. Dann …, wenn Du … da muss man schon sich gut wappnen, und da bin ich ja ganz gut bewaffnet seit mehr als einem halben Jahrhundert, und das mache ich auch weiter.
Aber da, von dieser Warte aus muss man immer wieder … also man muss, wenn man das kritisiert, muss man versuchen, wirklich starke Argumente zu finden, dass man denen nicht, dass man denen da nicht zuarbeitet, indem man schwache Punkte nennt, die dann alle widerlegbar sind. Natürlich sind Leute wie Harari oder Kuzweil und so, die sind überhaupt nicht ansprechbar. Die kannst Du nicht ansprechen. Die sind … wie es überhaupt viele da [gibt], die verweigern die Diskussion. Also da kannst Du gar nichts machen. Da würde sich keiner auf dem Podium mit Jochen Kirchhoff setzen, würden die nicht tun. Also das würden sie nicht tun, und das ist traurig eigentlich.

GWK: Allerdings wird deutlich, muss ich sagen, dass in dem, was Du oft sagst, dass … Du sprichst ja häufig in deinen kosmologischen Vorträgen von so einem kosmischen Faschismus, der fast angenommen wird mit den schwarzen Löchern. Was sich die Leute alles vorstellen. Und im Transhumanismus ist der Faschismus gleich unter der Decke. Das muss man einfach so klar benennen, dass wir hier nicht einfach nur das Lebendige verteidigen, weil wir das Lebendige verteidigen, sondern weil einem … also das faschistische Potenzial dieser Entwicklung stellt alles in den Schatten, was je existiert hat.

JK: Ja, ja ich sag das ja manchmal halb im Scherz, aber dann auch richtig, denn, wenn das wirklich so wäre, wie der Kosmos hier gesehen wird in der herrschenden Kosmologie, dann ist er nicht nur absurd … er ist auch … ein schwarzes Loch frisst das andere und so weiter und so weiter. Es ist purer … da ist der irdische Faschismus sozusagen Kleinkram dagegen, was da ständig geschehen soll. Alles absurd, nichts stimmt. Das habe ich alles versucht ganz klar zu widerlegen, zu entkräften, und von dort aus kann man es auch versuchen, weil das ist einfach nicht wahr. Es ist Lüge, es ist einfach schlicht Lüge. Es ist nicht wahr, und es ist auch nicht wirklich bewiesen.
Aber ich finde es wichtig, dass man, auch hier jetzt in unserem Video, man sich noch mal aufrafft und Worte findet, um da ein bisschen eine kleine Schneise nur zu schlagen. Das können wir ja nur in diesem Video jetzt hier, ne kleine Schneise zu schlagen, dass der eine oder andere vielleicht denkt: Na ja, lasst uns doch noch mal nachdenken, was da an Kritik vorgebracht wurde. Vielleicht ist es doch … kann man daraus was ziehen. Das will ich ja. Mehr als einen, das können wir auch nicht, mehr als einen Denkhorizont, wie ich das gerne nenne, aufbauen … kann man ja gar nicht in so einem Video. Das ist ja unmöglich. Du kannst einen Denkhorizont aufmachen, und da muss der Einzelne, der da zuschaut, für sich entscheiden: Ist für ihn das plausibel? Möchte er sich damit weiter beschäftigen oder schaltet er gleich ab? Also die Frage … das kann man einem dann ja nicht abnehmen. Ich kann ja nicht den zwingen, oder wir können ja keinen zwingen, eine bestimmte Denkrichtung einzuschlagen. Das ist ja sein guter freier Wille, kann es ja machen, er soll ja nicht autoritär [etwas] übergestülpt bekommen. Ich sage ja sogar manchmal ein bisschen, sagen wir mal vielleicht kokett: Ihr müsst auch nicht Jochen Kirchhoff folgen. Es ist auch gar nicht der Fall, das muss auch gar nicht sein, sondern selber denken, selber denken wär nicht schlecht . Hin und wieder mal wirklich selber denken. Ja?
Es gibt ein schönes Buch, gibt ein Buch, was den Titel hat, von Harald Welzer, okay, will ich jetzt nicht mich weiter groß äußern, das heißt „Selber denken“, ja. Und schon lange vor Corona und so weiter … also selber denken. Und das finde ich einfach wunderbar, wenn das gelingen würde, wenn man da an dieser Stelle einfach mal ganz einfache Fragen stellt, wie wir sie jetzt zum Teil auch hier gestellt haben. Und das kann man dann auch in die Öffentlichkeit bringen. Da muss keiner Angst haben, dass er sich lächerlich macht, wenn er sich wirklich damit beschäftigt. Da muss …, kann ich jeden ermuntern. Das …

GWK: … wäre ein kleiner Rückschlag des Lebendigen gegen die angemaßte Alternativlosigkeit der transhumanistischen Entwicklungsrichtung …

JK: … ja, außerdem ist ja auch das Ganze … die Lebendigkeit, darüber sind wir uns wohl einig, ist ja auch hoch interessant. Das ist ja auch eigentlich spannend, hoch interessant, nicht, und das Andere ist eigentlich langweilig, obwohl es auch wieder auf eine perverse Weise interessant ist, dass Menschen ernsthaft so denken. Ich bin immer wieder fassungslos, wie man so denken kann, weil diejenigen, die zum Beispiel auch ganz abstrakte Modelle aus dem Hut zaubern, sind ja letztlich auch leibliche Wesen, und das Basislager ihres eigen Leibes, das gehört immer mit dazu. Und das sind ja auch ganz normale Menschen, die gierig sind, die vielleicht durch Wald und Flur streifen und vielleicht auch mal gerne eine Platte auflegen oder auch vielleicht ihre Frau lieben oder eben nicht, wie auch immer. Auf jeden Fall, die sind ja auch lebendige Menschen. Das nenne ich ja oft genug die Schizophrenie. Das fällt völlig auseinander.
Gut, ich denke mal, wir haben doch schon ein bisschen was erschlossen und hoffen, dass wir, liebe Zuschauer, dass wir doch das eine oder andere hier angesprochen haben und Anregungen gegeben haben. Und die Frage, die Du kurz angesprochen hast, die können wir gelegentlich auch noch mal extra machen: die Frage der Form, der Gestalt. Wie kommt Gestalt zustande? Chargaff sagt, das ist das größte Rätsel der Biologie. Das ist die Frage der Gestalt, ja.

GWK: Vielen Dank, Jochen Kirchhoff und vielen Dank, liebe Zuschauer.

* * * * * * *

Die Ursache der Gravitation

Videogespräch mit Jochen Kirchhoff

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=lBu0Eo3zRl0

Transkript als PDF:

MW: Lieber Jochen, schön, dass wir uns heute wieder treffen konnten, um uns zu unterhalten, heute über die Ursachen der Gravitation. Wir hatten im letzten Video schon angefangen, über die Rotverschiebung der Spiralnebel zu sprechen und wollen das jetzt heute verbinden mit dem Thema der Gravitation. Und mich als Laien würde als allererstes interessieren, warum es überhaupt wichtig ist, über Gravitation zu sprechen. Das hat doch die Physik alles schon bewiesen. Wir wissen doch, was Gravitation ist. Warum überhaupt heute noch darüber sprechen?

JK: Gut, also die Physik weiß keineswegs, was Gravitation ist und schon gar nicht kennt sie den Ursprung und das Wesen der Gravitation, auch nicht die Ursache. Ich muss aber noch etwas vorab sagen, das entscheidend wichtig ist. Wenn ich von Gravitation spreche, was ja auch in dem Titel dieses Videos zum Ausdruck kommt, dann meine ich nicht die Massenanziehung, weil die Massenanziehung ist bereits eine bestimmte Interpretation, ist eine bestimmte These, die ja bekanntlich von Newton stammt, dass alle Massen, alle Körper aufeinander wechselseitig anziehende Wirkung ausüben. Das halte ich nicht einmal für eine Hypothese. Das ist das, was ich mehrfach auch als Fiktion bezeichne. Das kann nicht bewiesen werden, oder es ist auch nicht bewiesen worden, auch nicht durch den berühmten Cavendish-Drehwaagenversuch, auf den wir noch einsteigen werden.

Also, ich meine primär die Anziehungskraft der Himmelskörper. Also, ich meine mit Gravitation: Was zieht die Dinge an, was steckt dahinter? Was ist das eigentlich, was diese rätselhafte Form der Anziehung aller Körper Richtung Gestirnmittelpunkt ausmacht? Davon rede ich. Ich rede nicht von einer wie immer gearteten Massenanziehung. Und soweit ich weiß, ist in den alternativen Überlegungen zur Gravitation das niemals ernsthaft in Zweifel gezogen worden, mit einer einzige Ausnahme: von Helmut Friedrich Krause.

Die meisten, die irgendwelche alternativen Gravitationstheorien aufstellen oder darüber reden, man kann auch sagen fabulieren, gehen immer auch von der Massenanziehung aus. Das heißt: Jeder Körper zieht jeden anderen Körper an. Wir werden darüber noch sprechen, wie Newton überhaupt darauf kam, genau auf diesen eigenartigen Gedanken.

Das will ich vorab sagen: Wir reden über die Anziehungskraft, die die Himmelskörper auf die Körper auf ihrer Oberfläche ausüben. Darum geht es in dieser Frage der Gravitation. Und wie Newton darauf kam, darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Ich möchte aber nochmal vorab sagen, was ich auch schon früher gesagt habe, auch in unserem Urknall-Video, dass es mir in erster Linie gar nicht um eine andere oder neue Theorie geht, die man rein physikalisch behandeln könnte. Das wäre bereits eine enorme Verkürzung. Mir geht es grundsätzlich um die Frage der Kosmologie überhaupt. Und mir geht es auch um die Frage des Mensch-Kosmos Verhältnisses. Welche Funktion hat der Mensch im Kosmos? Wie steht der Mensch zum Kosmos? Wie stehen wir überhaupt zu dieser rätselhaften Welt, zu diesem Universum? Das ist die Schlüsselfrage. Wenn man diese Frage ausklammert und sich jetzt nur auf eine theoretische Ebene begibt, die man dann intellektuell durchbuchstabiert, dann ist das bereits eine enorme Verkürzung. Dann geht man, wie ich auch schon gesagt habe, in die Falle der Physik.

Ich habe ja auch schon damals gesagt in unserem Urknall-Video: Es gibt eigentlich in dem Sinne keine physikalische Kosmologie. Diese Fragen sind in der Tiefe philosophische Fragen. Das sind auch anthropologische Fragen, die haben immer auch eine physikalische Dimension. Es gibt physikalische Aspekte, aber es sind nicht primär physikalische Fragen. Das muss ich vorab sagen. Und um das nochmal ein bisschen auf den Punkt zu bringen, auch wenn vielleicht mancher jetzt denken könnte, das würde etwas vom Thema abführen, möchte ich noch mal die Frage vertiefen nach dem Mensch-Kosmos Verhältnis, von der ich eigentlich ausgehe hier. Ich habe in meinem Buch „Räume-Dimensionen-Weltmodelle – Impulse für eine andere Naturwissenschaft“, wo ich ja unter anderem auch diese Gravitationslehre, wie ich sie verstehe, darstelle, zwei Motti gebracht, und eines der Motti bezieht sich auf einen Ausspruch Einsteins, der auf die Frage, was sei die wichtigste Frage, die man im Leben stellen kann, geantwortet haben soll: Ist das Universum ein freundlicher Ort oder nicht? Eine ganz eigenartige Antwort. Ist das Universum ein freundlicher Ort oder nicht?

Und das führt uns noch einmal auf die Frage: Was ist das für ein Ort? Ich weiß nicht genau, was Einstein damit eigentlich gemeint haben will, mit dieser Frage. Was heißt hier „freundlicher Ort“? Aber es steckt doch etwas dahinter. Was ist dieses Universum überhaupt? Und das ist eine Grundsatzfrage. Das ist auch eine philosophische und erkenntnistheoretische Frage, auch eine existenzielle Frage. Und da will ich einen ganz kleinen Text mal vorlesen, der uns da ein bisschen reinführt und ein paar provokative Fragen, ehe wir dann einsteigen, genau in das, was wir hier ja auch machen wollen, in die Frage: Wie hat man gedacht über Gravitation, warum hat Newton das gedacht usw.

Ich habe vor ungefähr 17 Jahren ein Programmheft für die „Volksbühne“ (gemeint ist das Berliner Theater „Volksbühne“ am Rosa-Luxemburg-Platz) geschrieben, weitgehend geschrieben, beziehungsweise der damalige Regisseur hat Texte aus diesem Buch hier in das Programmheft genommen, und er hat mich auch gebeten, noch einen eigenen Text zu schreiben dazu. Also „Volksbühne“, noch 2000, im Frühjahr. Da heißt es bei mir, und das will ich kurz vorlesen, das ist ein bisschen provokativ:

„Wo sind wir? Also, was ist das für ein Ort? Oder die Frage nach der Wirklichkeit? Wo sind wir, wenn wir leben und atmen? Und wo sind wir, wenn wir solche Fragen stellen? Was ist das für ein Ort, das Universum, mit dem wir rätselhaft verfugt sind, das Gestirn unter unseren Füßen und die kosmische Umwelt, Mitwelt oder Inwelt, was früher Kosmos hieß, ein bergender, uns gänzlich durchströmender Ort, der uns kennt und meint, ja will, ist längst, wie wir wissen, unseren Hirnen verstrahlt. Das Projekt Weltseele ist wunderbar gescheitert. Was uns nun da draußen angrinst im Sinne der herrschenden Überzeugung, auch der Mainstream-Kosmologie, ist ein sinnleeres, monströses Spektakel, eine gigantisch öde Veranstaltung, der auch die Weltformel-Fetischisten, aller Paukenschläge ungeachtet, keinen höheren Sinn mehr abtrotzen können. Viele wenden sich ab und sind doch zugleich seltsam fasziniert. Wo sind wir? Was ist das für ein Ort? Ist die sogenannte moderne Kosmologie mit Urknall, schwarzen Löchern und strahlenden Höllen vielleicht nichts anderes als ein Spiegelbild unserer eigenen, durch und durch schizoiden und neurotischen Bewusstseinsverfassung? Wer glaubt den Kosmologen wirklich, wenn sie ihr medienwirksames Handwerk betreiben? Könnte hinter all dem Licht ein ganz anderer Kosmos stecken, der bislang übersehen wurde, weil er sich nur erschließen ließe mit einer Bewusstseinsform, die eben nicht die unsere ist? Ahnen nicht viele, sehr viele, dass sie betrogen werden? Dabei dürsten wir nach Wirklichkeit. Was sonst wäre irgendwann wert und von Belang als eben diese Wirklichkeit? Was wissen wir wirklich von der Wirklichkeit dieses umfassenden Ortes, den wir noch immer Kosmos nennen, obwohl wir ihn längst, wie es scheint, zum Tummelplatz unserer Projektionen gemacht haben? Wie intelligent sind unsere Deutungen der zu uns hereinflutenden Strahlungen aus den Tiefen des Alls? Und das berührt zentral das Problem des Menschen: Wo sind wir und wer sind wir? Wir verorten uns nach Maßgabe unseres Seins. Wir sehen das Universum so, wie wir sind. Wir haben dem Kosmos unsere kollektive Maske aufgesetzt und sind nun erstaunt darüber, dass diese Maske uns feindselig anfunkelt. Wer reißt uns die Maske ab, wer schockt uns hinein in die offene Weite der wirklichen Wirklichkeit?“
Also, einige provokative Sätze, die ich ja auch in verschiedenen Büchern, Vorträgen, immer wieder dargestellt habe. Die Frage, auch ob unsere Interpretationen der kosmischen Umwelt überhaupt intelligent sind. Ich habe immer wieder behauptet, sie nicht intelligent und wenn der Weltgeist intelligent wäre, hätte er diese Welt so nicht geschaffen. Sie sieht anders aus, sie muss anders interpretiert werden. Das vorab.

Also ich gehe davon aus, wir brauchen letztendlich eine andere neue Kosmologie. Und nur in dieser anderen und neuen Kosmologie, die eine neuartige Konstellierung der Mensch-Kosmos-Frage einschließt, ist es überhaupt sinnvoll, über die Frage zu reden. Nur in diesem Kontext ist es sinnvoll, das betone ich noch mal, obwohl ich es in meinen Vorlesungen und Büchern und es immer wieder gesagt habe. Aber das muss man einfach sagen, weil wir reden hier nicht ausschließlich über Physik, aber wir reden auch über Physik.

MW: Okay, also nach dieser sehr ausschweifenden Einführung, wo wir jetzt nochmal die Motivation klargestellt haben, warum und wie wir uns dem Thema nähern wollen, würde mich jetzt interessieren: Du hast in vielen deiner Vorlesungen immer eine wissenschaftshistorische Perspektive eingenommen, und da ist es, glaube ich, für die Zuschauer besonders interessant, wenn Du einmal paraphrasieren könntest, die Entwicklung der Theorien über die Gravitation, insbesondere dann hinsichtlich: Was waren die konstituierenden Blocksteine, die unser heutiges Bild vom Kosmos und speziell von der Schwerkraft gebildet haben.

JK: Ganz kurz zur Antike, da nur einige Sätze, aber das ist schon ein eigenes Thema. Das müssen wir nicht im Einzelnen behandeln. In der Antike, in dem Kugelkosmos der Antike, war die Schwerkraft in dem Sinne gar kein Thema. Der Mittelpunkt der Erde war gleichzeitig der Mittelpunkt des Universums. Und es gab sozusagen eine absolute Raumstruktur, und alle Körper streben zum Mittelpunkt des Universums. So sah das Aristoteles. So sahen das viele andere antike Denker auch. Durch Kopernikus, der ja sozusagen die Erde entkoppelte und in eine rasende Fahrt brachte, die man später ausgerechnet hat, 30 Kilometer pro Sekunde, wurde plötzlich die Frage der Anziehung der Erde ganz neu gestellt. Das war für Kopernikus selber noch kein Thema, obwohl es Andeutungen bei ihm auch schon gibt, dass man quasi die Erde auch als ein in gewisser Weise ruhendes Bezugssystem bezeichnen kann. Aber das hat er nicht konsequent durchgedacht.

Ich gebe jetzt noch mal stichwortartig einige Punkte bis zur Gegenwart und geh dann eingehender erst mal auf Newton ein, weil der eigentlich die Schlüsselfigur ist. Es gibt ja mittlerweile dutzende von Gravitationstheorien. Die alle abzuhandeln wäre unmöglich. Ich nenne nur mal neun entscheidende Stationen, die geschichtswirksam waren.

Kopernikus war enorm wirksam. Der Kopernikanismus war wirklich eine revolutionäre Wandlung. Das muss man einfach sagen, obwohl er erst wirklich dann durch Giordano Bruno in seine eigentliche Dimension gerückt ist.

Galilei ist derjenige, der sich schon mit der Schwerkraft beschäftigt, aber ausschließlich mit ihren formalen und. mathematisierbaren Aspekten. Es gibt eine lange Passage in einem seiner Bücher, wo er ausdrücklich sagt: Die Naturphilosophen haben immer gegrübelt, was nur die Ursache dieser Schwerkraft sei. Das interessiert ihn gar nicht. Aber er kann eine gleichförmig, eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung feststellen, und die kann man mathematisieren. Das hat er getan. Berühmt ja, in allen Physik-Lehrbüchern, also dass im Vakuum dann ein Körper gleich schnell fallen, also gleichmäßig beschleunigt sich in Richtung Erdmittelpunkt bewegen (muss/wird). Und das hat er mathematisiert. Aber in dem Sinne war für ihn das kein Thema.

Und der Erste, der eigentlich dann die Gravitation auch begriff als ein Feld, als ein radial symmetrisches Feld, obwohl es den Begriff so noch nicht gab, war Giordano Bruno, zum ersten Mal 1584 und dann noch in späteren Schriften 1591/92. Er ist der erste Mensch überhaupt, was viele nicht wissen, 100 Jahre vor Newton, der die Gravitation der Erde und aller Himmelskörper begreift als ein zentral symmetrisches Feld, als ein zentral symmetrisches Feld, wobei die radialen Wirkungen im Mittelpunkt der jeweiligen Gestirne zusammenschießen und von dort ausgehen und sozusagen eine zunehmende Intensivierung und Verdichtung erfahren. Darüber werden wir noch sprechen. Obwohl er das nicht in aller letzter Konsequenz weiter gedacht hat, aber es ist ein faszinierender Gedanke, denn er hat zur Folge, dass die Gestirne keine Schwere haben, dass sie keine Masse haben, dass all diese Begriffe auf das Gestirnganze nicht anzuwenden sind.

Und das ist eben der entscheidende Punkt auch und der Unterschied zu Newton, der nun wirklich geschichtswirksam war. Newton postuliert als erster Mensch die universelle Massenanziehung. Er behauptet: Alle Partikelchen (überall) ziehen alle anderen Partikelchen an, und zwar so, als ob die übrigen Partikelchen gar nicht da wären. Und die Gestirne sind ein Sonderfall. Die Gestirne als sie selber ziehen gar nicht an, sondern die Gestirne nur als Masse von Atomen. Und jedes einzelne, jedes Atom zieht das andere Atom an, als ob alle anderen nicht vorhanden wäre, was ein ganz entscheidender Punkt ist. Wichtig ist, dass Newton, ehe wir noch näher auf ihn eingehen, mit der Schwere gerungen hat. Das muss man einfach anerkennen. Wenige Denker haben so intensiv über die Schwere nachgedacht wie Newton. Newton hat sich wirklich abgequält damit, hat immer wieder darüber gegrübelt, was ist denn letztlich dieses Phänomen der Schwerkraft? Gibt es einen Äther? Das war ja auch schon damals gedacht worden. Oder gibt es, was ja auch die Konsequenz der Newtonschen Physik ist, gibt es eine instantane Wirkung durch den leeren Raum hinweg, sozusagen mit unendlicher Geschwindigkeit, was er eigentlich abgelehnt hat, was aber in der Newtonschen Mechanik dann eine starke Rolle spielte. Darauf gehe ich gleich noch ein.

Ein weiterer Denker, den ich erst vor vielen Jahren als einen Vordenker der Gravitationstheorie entdeckt habe, ist der berühmte Experimentalphysiker Faraday. Faraday war meines Wissens der erste Mensch, der, so weit ich das weiß, gesagt hat, dass Gravitation auch sozusagen Energieverbrauch ist. Das heißt, dass Gravitation eine Strahlung ist, ein Feld, die entsteht, wenn Materie zerfällt, wenn Materie umgewandelt wird und die Gravitation, meinte Faraday, muss gespeist werden aus Materiezerfall. Das war ein revolutionärer Gedanke. Er ist es bis heute in gewisser Weise.

Dann kommt die romantische Naturphilosophie, Schelling, der, ganz verkürzt, die These vertreten hat, Schwere ist das Streben der einzelnen Körper, der Vielheit zur Einheit. Also ganz vereinfacht gesagt, das Streben der Vielheit zur Einheit. Alle Dinge sind nur schwer gegenüber dem einen Absoluten.

Dann kommt natürlich Einstein, der letztendlich die universelle Massenanziehung überhaupt nicht aufgehoben hat und auch den Grundansatz der Newtonschen Physik überhaupt nicht aufgehoben hat, der aber den Kraftcharakter der Gravitation völlig aushebelt, der Gravitation eigentlich zur Sache der Geometrie macht. Trägheit ist gleich, wird gleichgesetzt, mit Gravitation. Und es gibt sozusagen geodätische Weltlinien, rein geometrisch gebaut. Es gibt gar keine Kraft mehr. Das heißt, Gravitation darf gar nicht mehr und kann gar nicht mehr als Kraft überhaupt interpretiert werden und danach kann gar nicht mehr gefragt werden.

Und dann gibt es die Vorstellung von Helmut Friedrich Krause, die er schon 1937 entwickelt hat und dann zum ersten Mal in seinem Buch „Baustoff der Welt“ 1970 veröffentlicht hat, dass Gravitation eine radiale Energieverstrahlung aus dem Gestirnkern ist, wo die Materie, durch ungeheuren Druck bedingt, zerfällt. Das heißt, es ist eine … eine Strahlung aus dem Gestirnkern durch Materiezerfall. Auch er geht davon aus, und wesentlich radikalisierter als das bei Bruno der Fall war, dass die gravitative Wirkung auch von der Gestirnoberfläche Richtung Erdmittelpunkt immer größer wird, was nach Newton nicht der Fall ist. Das ist das Gegenteil. Also darüber reden wir noch. Ich selbst habe versucht, da auch einige Schritte weiterzudenken, wenn ich das mit aller Bescheidenheit sagen darf.

Letztendlich gehe ich im Kern von der Überzeugung von Giordano Bruno und Helmut Krause aus, habe einige Aspekte, sagen wir mal, noch etwas versucht weiter auszudifferenzieren, gehe aber im Grundansatz davon aus.

Jetzt mal noch zurück. Da war ja auch die Frage zur Wissenschaftsgeschichte. Wie kam Newton darauf? Newton hat eine einfache Frage gehabt: Warum stürzt der Mond nicht auf die Erde? Man hatte eine ungefähre Vorstellung, wie weit der Mond entfernt ist. Warum stürzt der Mond nicht auf die Erde? Was hindert ihn daran, auf die Erde zu stürzen? Es müsste also eine Kraft geben, die diesen Absturz auf die Erde verhindert. Und er konnte dann plausibel machen, dass über die Entfernung Erde-Mond, dass das Anziehungsfeld der Erde eine radiale Struktur haben müsste und dass der Mond nicht auf die Erde stürzt, müsste das Ergebnis einer anderen Kraft sein, nämlich einer ihn quasi davon wegziehenden, einer Zentrifugalkraft, einer Kraft, die sozusagen eigentlich in eine andere Richtung will, sodass ein Körper im Wechselspiel aller anderen Körper, eben auch jetzt der Gestirne, zwei Komponenten aufweist. Einmal wird er angezogen und zieht selber an, und dann hat er eine Trägheitsbewegung, er möchte eigentlich davonfliegen. Wenn man sozusagen den Mond freiließe aus dem Gravitationsfeld der Erde, würde der sich mit ungefähr 1000 Meter pro Sekunde, also einem Kilometer pro Sekunde, geradlinig weiterbewegen. Und das nahm Newton an, dass der Körper eigentlich und alle Körper, und das ist eine verblüffende These eigentlich, dass ein Körper, der sich geradlinig gleichförmig bewegt und der ruht, dass das physikalisch das Gleiche ist. Also eine verblüffende These, also dass ein …, wir merken nichts von der Bewegung der Erde, wenn sie geradlinig gleichförmig abläuft. Das tut sie ja nicht, sie wird ja herumgebogen, sozusagen durch die …angeblich durch die Zentrifugalkraft. Aber im Prinzip ist das der Grundgedanke. So heißt es ja auch in einer der berühmtesten Formeln von Newton: Masse mal Beschleunigung, da f gleich m mal a, dass Kraft nur auftritt, wenn es eine Beschleunigung gibt, also langsamer oder schneller oder eine Richtungsänderung. Und das ist ein entscheidender Punkt.

Damit war eigentlich die Bewegungsursache in gewisser Weise eliminiert, und ich will jetzt nicht darauf eingehen, und nur kurz andeuten, dass die Newtonsche Physik selber noch eine andere ist, als sie dann später wurde. Das habe ich durch den bedeutenden Newton-Forscher Ed Delian gelernt, dass die eigentliche Newtonsche Physik noch eine andere ist, als sie dann in den Physik-Lehrbüchern steht.

Also Newton postuliert eine universelle Massenanziehung, weil er meint: Warum soll irgendein Körper davon eine Ausnahme machen? Wenn das zwischen Erde und Mond der Fall ist, meint er, müsste das eigentlich zwischen allen Körpern der Fall sein, die er als kleine Wirklichkeitskügelchen betrachtete, die sich wechselseitig anziehen. Und das ist aber sozusagen eine erstaunliche Behauptung, die ja etwas Verblüffendes hat, wo man ja eigentlich sagen kann, das kann ja nie und nimmer allen Ernstes bewiesen werden. Und da hat es natürlich auch, sagen wir mal, Einwände und Gegenargumente gegeben, obwohl die nicht gegriffen haben. Ich nenne nur mal ein Beispiel. Im späten 19. Jahrhundert hat es ja diese Überlegung gegeben, dass es, wenn Newton Recht haben sollte, letztlich es zu einer unendlichen Gravitation überall kommen müsste. Das heißt, das Ganze würde zusammenbrechen. Ich habe das in meinem Buch hier „Räume-Dimensionen-Weltmodelle“ mal folgendermaßen formuliert, ich lese mal kurz diesen kleinen Abschnitt vor:

„Wenn man die These von der universellen Massenanziehung weiterdenkt und ihre Auswirkungen auf das gesamte Universum betrachtet, kommt man zu absurden Resultaten. H. Seliger, ein Physiker, Hartmut Seliger hat 1895 ausgerechnet, dass die Gravitation bei gleichmäßiger Verteilung der Materie im Universum und der Unbegrenztheit des Weltalls in jedem Raumpunkt unendlich sein müsse. Seliger schloss auf einen Fehler, eine Ungenauigkeit im Gravitationsgesetz, konnte sich aber nicht durchsetzen mit seinen Vorschlägen, die Newtonschen Formeln zu modifizieren. 1897 stellte A. Pöppel, ein weiterer Physiker, den Begriff der negativen Masse heraus. Diese negativen Massen sollten für das nun unterstellte Verschwinden der Kraftlinien der Gravitation im Universum verantwortlich sein.“ Usw.

Also, es wurde deutlich … , es erinnert ja eigentlich an das Olbers’sche Paradoxon auf eine interessante Weise. Es hat da schon Überlegungen gegeben, das kann so eigentlich nicht stimmen. Heute ist ja die Newtonsche Gravitationstheorie in anderer Weise ein bisschen, sagen wir mal, ins Schwimmen gekommen durch die angeblichen Bewegungen an den Rand und Rändern der Galaxien, wo man dann dunkle Materie oder dunkle Energie postuliert und dass man also annehmen kann oder muss eigentlich, dass die Newton’sche Gravitationstheorie so gar nicht stimmen kann.

MW: Also jetzt noch mal als Nachfrage, die „Dunkle Materie“ dient dazu, das Olbers’sche Paradoxon zu lösen?

JK: Nein, die „Dunkle Materie“ ist einfach eine Fiktion, die erklären soll, warum in den Randbereichen der Galaxien die Himmelskörper sich anders bewegen, als sie es nach den Newtonschen Gesetzen tun müssten. Das setzt natürlich voraus, dass man überhaupt derartige Summierungen der Massewerte für realistisch hält. All diese Überlegungen halte ich gar nicht für realistisch. Man glaubt ja allen Ernstes, man summiert das. Wie macht man das? Das ist ja auch ein schwieriges Rechenexempel. Aber das kann man heute mit Computersimulationen machen. Aber man muss ganz viele Annahmen machen, die ich alle für falsch halte. Aber man kann diese Annahmen machen. Auf jeden Fall ist es ja …, man will etwas …, wenn man eine Gravitation erklärt, muss man nach der Newton’schen Überzeugung, nach einer Masse suchen, die sie auslöst. Das ist auch nach Einstein nicht anders.

Ganz anders ist es, wenn man andere Überlegungen, überhaupt, subtilere, feinere, ich würde mal sagen intelligentere Überlegungen zur Gravitation anstellt und für wahr hält. Dann kommt man auch zu anderen Ergebnissen. Auf jeden Fall, Newton hat diese universelle Massenanziehung postuliert, bewiesen worden ist sie nie. Sie kann eigentlich auch gar nicht bewiesen werden, aber sie spielt eine große Rolle.

Auch die sogenannte Gravitationskonstante, die man immer wieder glaubte zu messen, die aber letztendlich nur ein Proportionalitätsfaktor ist zu m1 mal m2 durch rQuadrat, also dass radial die Verstrahlung sinkt mit dem Quadrat der Entfernung, sie wird immer schwächer von der Kugeloberfläche aus. Und zwar gilt das für jedes winzigste Atom auch. Und die Frage war immer natürlich dann von den nachfolgenden [Physikern] gestellt worden: Heißt das, dass die gravitative Wirkung von Punkt A nach Punkt B instantan erfolgt? Unendlich schnell? Oder gibt es da eine Zeit, die abläuft? Ist die Gravitation unendlich schnell, oder braucht sie Zeit? Wenn sie unendlich schnell ist, das ist ja eine Ungeheuerlichkeit, dass eine Kraftwirkung unendlich schnell durch den Raum sich bewegt. Das ist die Konsequenz eigentlich der Newton’schen Physik, die er selber aber nicht gezogen hat. Aber man …, der Faktor t taucht nicht auf.

Also, das ist letztendlich eine Überzeugung, die auch eine …, tote Materie (voraussetzt). Man muss vielleicht noch dazu sagen, das habe ich auch in einer meiner Vorlesungen an der Humboldt-Universität über Newton als Magier und Rechenmeister gesagt: Newton war an sich ein tief religiöser Mensch, im Grunde auch spirituell. Der war auch Alchemist. Der war fest davon überzeugt, dass die Welt einen göttlichen Ursprung hat. Und er glaubte im Grunde auch, dass letztlich der göttliche Geist, der göttliche Wille hinter der Gravitation steckt. Er war tief religiös, war ganz tief davon überzeugt, aber das hat letztendlich in der Konsequenz doch dazu geführt, dass ein öder Mechanismus entstand, von dem viele Menschen allen Ernstes glauben, dass er Bewegung erklärt. Das hat er nie erklärt. Niemals ist Bewegung ernsthaft erklärt worden.

MW: Das ist jetzt aber aus dem Strang, der von Newton hergeht, jetzt in die Moderne überführt worden. Das ist jetzt das, was die modernen Kosmologen und Laien-Kosmologen glauben und denken. Ist das korrekt? Also könntest du jetzt einfach mal sagen, was der Mainstream, die Mainstream-Physik denkt, in was für einem Kosmos wir uns bewegen?

JK: Die Mainstream-Physik hat letztendlich den Grundgedanken der universellen Massenerziehung nicht aufgegeben, auch wenn es bestimmte Modifizierungen geben müsste, wenn die kosmologischen Beobachtungen stimmen und wenn ihre Interpretation stimmt. In was für einem Kosmos wir leben, na ja. Wichtig ist ja, und darauf kommen wir ja gleich noch, dass der Kosmos, das letztendlich alles aus energetischen oder materiellen Prozessen entsteht. Letztlich kein Physiker, und das hat auch Newton nicht getan, auch in seiner berühmten Kontroverse mit Leibniz nicht, hat er nicht ernsthaft angenommen, dass es etwas wie eine Weltseele gibt. Das es sozusagen ein geistiges Prinzip gibt, das den Raum durchwirkt und durchwaltet und alles auch bestimmt. Auch seine berühmte Kontroverse mit Leibniz war ja auch davon bestimmt: Was ist überhaupt die Gravitation? Newton sagt ja: Letztlich weiß ich es nicht. Ich weiß nicht, was es wirklich ist. Und Leibniz hat ihm ja dann den Vorwurf gemacht, er macht die Gravitation eigentlich zu einer qualitas occulta, zu einer okkulten Qualität. Und das ist sie bis heute geblieben. Also die Physik hat diese rätselhafte Anziehungskraft der Erde nicht wirklich erklärt. Was macht denn diese Gravitation so rätselhaft? Nicht, das muss man ja auch noch mal bedenken. Sie durchdringt alles, sie ist allgegenwärtig. Sie ist erst einmal nicht abschirmbar. Das ist doch eine Ungeheuerlichkeit. Wenn wir die Gravitation als Strahlung betrachten, als These, Hypothese, dann heißt das doch, dass diese Strahlung auch die dichtesten Materieschichten wie Schaum durchschlägt. Das heißt, die Materie kommt sozusagen aus dem Mittelpunkt der Erde heraus und die dicksten Materieschichten, die da aufgehäuft, aufgelagert sind, spielen da keine Rolle; sie durchschlägt sie spielend. Und das würde bedeuten, wenn es eine Strahlung ist und wenn der Gedanke von Faraday stimmt, dass es auch eine Umwandlung aus Materie und eine Zerstrahlung der Materie ist, das heißt ja doch, dass diese Strahlung keine Wellen haben kann. Sie muss wellenlos sein, oder sie hat eine unendlich große Wellenlänge, das heißt, sie ist eine Strahlung mit unvorstellbaren Eigenschaften.

Und das ist ja der entscheidende Gedanke, den Bruno in die Welt gesetzt hat, der dann auch von Krause weitergedacht worden ist, dass man jetzt weiterdenken muss. Was heißt das? Wir sitzen hier friedlich und freundlich und reden miteinander. Dieses Gestirn bewegt sich mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit durch die kosmische Nacht. Die Nacht, in der sich ja auch ein unvorstellbares Licht verbirgt, was nicht unmittelbar die Wahrnehmung tritt. Und aus dem Gestirnkern sozusagen, werden wir gehalten, als ob es alles ruhig wäre. Das Gestirn jagt, aber wir sind in Ruhe, weil die Gestirnmaterie sozusagen in dieses Feld wie eingebaut ist. Das Feld ist der eigentliche Bewegungsträger. Die Materie wird wie spielend mitgerissen, sozusagen. Sie könnte mit einem kleinen Finger voran gestoßen werden, weil die gravitativen Wirkungen sich im Gestirnkern wechselseitig aufheben. Also die Gravitation verstrahlt aus der Erde, aus dem Mittelpunkt der Erde und zieht die gesamte Materie in sich hinein und zieht sie in den Mittelpunkt. Das heißt, wir alle sind sozusagen mittelpunktsüchtige Wesen. Alle Wesen haben das tiefe Bestreben Richtung Erdmittelpunkt sich zu bewegen. Wenn man uns den Boden wegzieht, jagen wir Richtung Erdmittelpunkt, immer genau Richtung Erdmittelpunkt. Alle Materie möchte sich sozusagen in diese Urstrahlung auflösen.

Diese Urstrahlung ist sozusagen das Absolute und alle Materie strömt zurück ins Absolute. Da sind wir wieder bei Schelling. Die Vielheit des Einen, die Vielheit strömt oder strebt zum Einen. Und da ist man plötzlich an einer ganz anderen Dimension von dem, was überhaupt Physik bedeutet. Also, das ist mal der Grundgedanke, und da können wir ja noch sehen, was das für Konsequenzen hat und wie man das auch weiter denken kann.

Ich darf noch mal hier aus meinem Buch kurz zitieren. Da gibt es ja 15 Thesen zur Schwere, und da schreibe ich folgendes auch mit Blick auf Krause. Ich will das mal zitieren hier aus diesem Buch. Ich bitte den Zuhörer, Zuschauer, vielleicht, das mitzudenken. Wir haben auch einige Skizzen, die man dann auch noch einblenden kann vielleicht, … das versuchen mitzudenken. Ich muss einfach auch hier die Bitte aussprechen für den, der das hier sieht oder hört. Es ist praktisch nicht möglich, in knappster Form das sehr Komplexe dieser Argumentation rüberzubringen. Ich kann nur bestimmte Grundprinzipien rüberbringen. Man müsste sich schon intensiver damit selber dann beschäftigen. Also, das ist jetzt die Grundannahme, die von Giordano Bruno ausgeht, die Helmut Krause weitergedacht hat und ich versucht habe, auch auf meine Weise etwas weiterzutreiben, obwohl ich im Kern letztlich davon auch ausgehe. Also:

„Die gravitative Wirkung des Gestirnganzen erfolgt gemäß der Grundform des Feldes, und die ist radial, das heißt nach eins durch r Quadrat. Abnahme der Intensität mit dem Quadrat der Entfernung und auch Zunahme in Richtung Erdmittelpunkt, was Newton nicht annahm, was kein Physiker dieser Erde heute auch annimmt. Dieses Feld ist ein radiales Feld, und zwar buchstäblich, vollständig bis hinab zum Mittelpunkt des Gestirns. Die zunehmend dichtere Bündelung der Strahlung Richtung Gestirnmittelpunkt ist keine „als ob“-Verdichtung, sondern eine wirkliche Verdichtung des Radialfeldes, wie Hermann Friedrich Krause herausgearbeitet hat. Das widerspricht der seit Newton bis heute vorherrschenden Lehrmeinung. Zitat Newton: ,Die Schwere nimmt auf dem Weg von der Oberfläche des Planeten nach innen in möglichster Annäherung im Verhältnis der idealen Abstände vom Mittelpunkt ab, wird also schwächer.’ Diese Behauptung folgt aus der These von der gravitativen Wechselwirkung aller materiellen Teilchen miteinander, so dass die Anziehung der Erde sich ergibt aus der Summe aller in ihr zusammengeballten Korpuskel. Das Radialfeld als ein vollständig wirkliches Gestirnfeld, bedingt eine ihm entsprechende Zunahme der gravitativen Wirkung mit Annäherung an den Gestirnkern. Die Materie erfährt zunehmend größere Drücke. Die atomaren bzw. subatomaren Bewegungen beschleunigen sich proportional. Es ergeben sich Gewichte von vielen Trillionen Tonnen pro Kubikmillimeter. Die Materie verliert jede Ähnlichkeit mit den unserer Erfahrung zugehörigen Strukturen. In der Sprache der modernen Physik gefasst, die nur mit größten Einschränkungen hier sinnvoll ist, könnte man sagen, es kommt irgendwo zu einem Materiekollaps im Gestirnkern. Die Physiker haben ja ausgerechnet, dass wenn man die Erdmasse auf 4,4 Millimeter zusammendrückt, dann gäbe es einen Gravitationskollaps zweiter Art. Es kommt zu einem Materiekollaps im Gestirnkern. Wo genau dies geschieht, d.h. in welcher Tiefenstufe, ist nicht empirisch feststellbar. Dieser Materiekollaps führt nicht zu einem der fiktiven „Schwarzen Löcher“, sondern wenn überhaupt dieser Begriff sinnvoll ist, zu einer Art „Weißem Loch“, obwohl auch dieser Begriff ja in der Physik belegt ist mit fiktiven Schlussfolgerungen. Irgendwo in der Tiefe des Gestirns wird die zuhöchst verdichtete und beschleunigte Materie zerrissen und in die ihr zugrunde liegende Raumenergie zurückverwandelt. Die Materie zerstrahlt in Raumenergie, und zwar radial. Die radiale Raumenergie-Zerstrahlung durchströmt die Gestirnmaterie und ergießt sich in die Unendlichkeit des Weltraums. Sie ist letztlich unendlich. Hermann Friedrich Krause schreibt in seinem Buch ,Der Baustoff der Welt’, ich zitiere das: ,Alle Gestirne, aus einem Baustoff geschaffen, der Raumenergie, zerfallen, vom Kern des Gestirns ausgehend, auch wieder in Raumenergie, und zwar der reinsten absoluten Form. Damit ist dieser Vorgang zunächst nur in seinen Wirkungen spürbar, und die fundamentalste Wirkung ist die innerhalb der Lebenssphäre des Menschen feststellbare Anziehungskraft, Gravitation. Die Raumenergieverstrahlung aus dem Kern eines jeden Gestirns, bildet ein Energiestrahlenfeld von radialer Struktur, das heißt die Energien verstrahlen vom Gestirnmittelpunkt nach allen Seiten. Die Kernverstrahlung durchschlägt alle Materieschichten des Gestirns ungehemmt. Sie ist die Grundursache, und alle Vorgänge in der Welterscheinung stehen in voller Abhängigkeit zu ihr und vollziehen sich in ihrem Feld.’“ (hier Zitat Ende)
Also diese Strahlung ist letztlich das Urfeld, im Englischen würde man sagen „primordial field“, das Feld schlechthin, das heißt der Wurzelgrund der Materie, das heißt die Materie löst sich wieder in ihren Urstoff auf, kraft unvorstellbaren Drucks. Nun kann man sich fragen: Warum löst sich die Materie kraft des Drucks auf? Wenn man davon ausgeht, dass die Radialverstrahlung tatsächlich bis zum Gestirninnern immer stärker wird, dann muss es einen Punkt geben, von dem aus Materie zerrissen wird, und dann zerstreut, ohne dass man in der Lage wäre, diesen Punkt genau anzugeben. Das ist erst mal eine Grundannahme. Daraus ergeben sich schwindelerregende Konsequenzen. Man kann auf jeden Fall die Gesamtheit der hier ineinandergreifenden Phänomene relativ schlüssig, in der Grundrichtung auch überzeugend erklären, meine ich.

MW: Wäre dir das möglich, Beispiele …, beispielhaft einige solcher gravitatorischen Phänomene zu erklären, zu skizzieren, auch im Hinblick vielleicht, warum sie da eine bessere Antwort liefert als die Newton’sche Assenanziehung? Oder gibt es Probleme, die sich aus der Newton’schen Massenanziehung ergeben, die sich dadurch nicht erklären lassen, die sich vielleicht besser jetzt durch die Radialfeld-Hypothese erklären lassen?

JK: Ja, das muss ich vielleicht noch vorher ganz kurz sagen, sonst wird es nicht verständlich. Dieses primordiale Feld, „primordial field“, Urfeld, das Feld schlechthin, sozusagen die Strahlung schlechthin, die Urstrahlung, wird von allen Himmelskörpern ausgestrahlt. Und wenn man diese Verdichtung zum Gestirnmittelpunkt für Wahrheit hält, heißt das, dass sich alle Gestirne fest aufbauen. Es gibt nirgendwo Gasbälle, glühende Gasbälle. Das Licht entsteht durch die Wechselwirkung dieser Verstrahlung gegeneinander.

MW: Das ist jetzt der nächste Schritt.

JK: Das wäre der nächste Schritt. Aber das ist wichtig, weil unsere gesamte Erscheinungswelt, von der jeweiligen Gestirnoberfläche aus, ist vollständig von der Intensität des eigenen Feldes auch in Wechselwirkung mit den anderen Feldern abhängig.

MW: Und da können wir dann nachher vielleicht auch auf die bessere Erklärung der Rotverschiebung der Spektren eingehen.

JK: Also wir leben in einer Welt, die letztlich auch erdspezifisch ist. Von jedem Gestirn müsste sich in gewisser Weise auch eine andere kosmische Umwelt zeigen. Und das ist auch ein wichtiger Punkt. Gut, also, wichtig ist, dass in diesem, das muss ich auch noch sagen, sonst hängt das auch noch in der Luft, dass in dieser Wechselwirkung der Felder, die sich etwa im Licht zeigt, die gravitative Wirkung minimal abgeschwächt wird. Es geht um eine Gravitationsminderung. Das heißt, in der direkten Konfrontation der Strahlung zweier Gestirne, in der Äquatorialzone zum Beispiel, wird die Gravitation gemindert. Deswegen kommt es auch im extremen Falle der Sonne zu diesem Wulst am Äquator. Die Physiker meinen ja, also bekanntlich ist ein Körper am Äquator leichter als an den Polen.

MW: Hat man das schon gemessen?

JK: Das ist gemessen worden, ja. Also ein Körper, der an den Polen 192 Kilo wiegt, wiegt am Äquator nur 191 Kilo, also ungefähr diese Relation. Das ist gemessen worden, ja. Genauso kann man auch die Fallgeschwindigkeit [messen]. Sie wird größer, je mehr man nach Norden kommt. Das heißt, wenn man einen Stein oder einen Körper in Rom von einem Turm fallen lässt, bewegt er sich langsamer, als wenn man das zum Beispiel in Hamburg macht oder in Oslo.

MW: Und auch die Maler malen in unterschiedlichen Farbpaletten. Wenn sie in Rom malen, oder wenn sie in Oslo malen.

JK: Das Licht ist immer jeweils anders und auch die Lichtgeschwindigkeit. Darüber kann man noch reden. Also,erstmal erklärt sie die unendliche Geschwindigkeit der Gravitation, das große Rätsel der Instantanität. Es ist nicht so, dass im Raumpunkt A eine Wirkung auftaucht und im Raumpunkt B dann ausgeht und hier plötzlich auftaucht und dazwischen ist nichts. Nein, es ist ein Feld dazwischen. Das heißt, es bewegt sich etwas mit quasi unendlicher Geschwindigkeit, quasi insofern, als natürlich, auch das muss ich noch sagen, durch die Beeinflussung der anderen Himmelskörper natürlich auch die eigene Verstrahlung verändert wird, das heißt auch abgebremst wird sozusagen, gestaucht wird und auch die Geradlinigkeit verliert, also dass sie gekrümmt wird, dass Gestirne dann auch in einer anderen Position erscheinen, als in der sie wirklich wären, wenn man diese Geradlinigkeit annimmt.

MW: Das wäre jetzt ein Hinweis auf die Sonnenfinsternis-Expedition von Einstein.

JK: Also, man kann eigentlich alle Phänomene, die man anführen kann, hiermit recht gut erklären. Man kann dies zum Beispiel erklären mit der Fallgeschwindigkeit. Man kann die verschiedenen Messungen am Äquator und an den Polen damit erklären. Man kann erklären, warum diese Verstrahlung die Materie komplett durchschlägt. Man kann erklären, warum das Gestirn, warum wir nichts von dieser rasenden Bewegung merken. Das ist ja auch für viele irritierend, auch für den Alltagsmenschen und überhaupt irritierend. Der schaltet ja in gewisser Weise ab, wie es kommt, dass wir auf einem Himmelskörper leben, der mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit durch die kosmische Nacht jagt, und wir merken nichts davon.

Nach dieser Überzeugung ist es so, dass die Materie sozusagen ein Sekundärphänomen ist. Das Primärphänomen ist die Verstrahlung, in die sich alles auflöst. Und insofern können wir auch gar nichts merken. Die irdische Physik ist sozusagen abgeschottet gegen diese rasende Bewegung. Alle physikalischen Phänomene zeigen sich erst einmal so, als ob diese Erde ruhe. Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wir spüren diese Ruhe, und wir machen uns (das) ja im Normalfall auch gar nicht klar. Und es ist ja auch richtig, dass wir uns das nicht immer klar machen, warum das überhaupt möglich ist, dass wir uns in der Ruhe befinden und gleichzeitig in einer rasenden Geschwindigkeit.

MW: Und das liegt jetzt daran, weil das Feld selber sich durch das All bewegt.

JK: Noch vereinfacht gesagt: Ja, der Gestirnkörper ruht im Verhältnis zum eigenen Feld. Und da alle physikalischen Prozesse sich letztendlich in diesem rein energetischen Zusammenhang abspielen, in diesem Urfeld, in diesem primordialen Feld, ist die Materie sozusagen …, zieht hinterher. Sie muss sich dem anbequemen.

Das heißt, die Materie ist nicht selbst der Bewegungssträger. Wenn das der Fall wäre, wenn die Materie selber der Bewegungsträger wäre, dann würde es in der Tat gar nicht möglich sein, dann würde auch diese Ruhe gar nicht existieren können. Das heißt, diese Verstrahlung, das muss man auch noch dazu sagen, verbindet uns mit dem Unendlichen. Das ist auch eine Frage, die verschiedentlich gestellt wurde. Der berühmte Viktor Schauberger hat die mal gestellt: Warum hält sich die Materie, das Gestirn eigentlich schwebend im Raum? Oder auch die Frage: Warum steht die Sonne am Horizont? Warum steht der Mond … oder die Kinderfrage auch, von der Newton ausgegangen ist, und die Kinder können es immer noch fragen: Warum fällt der Mond eigentlich nicht herunter? Wieso steht der da, oder hängt er gar, oder schwebt er da? Alle diese Begriffe wären ja fragwürdig. Und da habe ich in meinem Buch eine Meditation gebracht, die ich mehrfach auch in der Öffentlichkeit vorgetragen habe und auch verschiedene Essays auch noch einmal dargestellt habe. Und viele Leser, Hörer haben mir bestätigt, dass sie enorm hilfreich ist. Und die will ich mal vorlesen, wie man nämlich das zusammenbringen kann, was ja den Menschen irritiert, schon mit der Sprache. Ja, was denn nun? Die Gestirne schweben oder treiben sie? Oder werden sie von unsichtbaren Kräften gehalten? Oder was ist eigentlich damit verbunden? Ich will mal diese Stelle vorlesen, eine Gaia-Meditation über Schweben und Schwere. (Es folgt ein Zitat aus „Räume, Dimensionen, Weltmodelle“, Drachenverlag-Ausgabe, S.144)

„Nehmen Sie eines der bekannten Fotos der Erde aus der Sicht der Astronauten, wenn möglich ein großformatiges. Es wird zunächst schwierig sein, die kollektive Vernutzung und Trivialisierung dieser Ikone zu vergessen, die alle feineren Wahrnehmungsschichten verschüttet hat. Aber es ist möglich. Versuchen Sie die sogenannte astronautische Perspektive, die eine solche des Außen und des Draufblickens ist, zu verschieben zugunsten einer sozusagen psychonautischen Perspektive, also eine solche des Innen, ohne jedoch das Äußere, das Abbild von Gaia, dabei auszublenden. Es geht zentral um eine Zusammenführung von Innen und Außen, von Wesen und Erscheinung, Idee und Gestalt im Sinne Goethes auch, also um ein anschauendes Denken oder denkendes Anschauen, das immer auch Meditation ist, wenn es in eine gewisse Tiefe reicht. Ganz offenbar schwebt die Erde. Sie hängt frei im Raum. Und das nun direkt wahrzunehmen, hat viele Astronauten verblüfft, irritiert, ja erschüttert. Wenigstens kurzzeitig, obwohl sie es ja theoretisch, abstrakt ,wussten’. Es ist wichtig, sich dieser Verblüffung, Irritation oder gar Erschütterung, und sei es nur für wenige Minuten, existenziell zu stellen, sich von ihr wirklich verwunden zu lassen. Denn es ist eine Verwundung, auch wenn es kaum je als solche gesehen oder gewertet wird.

Dieses Schweben der Erdkugel im leeren Raum widerlegt erst einmal den naiven, an die eigene Physiologie gebundenen Wirklichkeitssinn, der da sagt: Hier ist die Erde unter meinen Füßen, und diese Erde zieht mich an, mein Körper hat Gewicht und Festigkeit. Das Schweben der Erdkugel nimmt ihr sozusagen ihre Festigkeit, ihre Dichte, ja ihre Materialität, in gewisser Weise, eine Materialität, an der doch von der unmittelbaren Sinnlichkeit der Erdoberfläche aus nicht zu zweifeln ist. Die schwebende Erde wird zart wie durchscheinend, sie wird spiritualisiert, und zwar auf eine durchaus rätselhafte Weise. Dass dies so ist, macht ja gerade den Ikonencharakter der Gaia-Fotos aus. Gerade das wird ja gesucht durch alle Vernutzung und Trivialisierung hindurch. Im Prinzip ist es möglich, sich auch durch den Anblick der Sonnenscheibe oder der Mondscheibe derart verwunden zu lassen. Sonne und Mond wirken aus irdischer Perspektive stärker als runde Fläche bzw. Scheibe als die Erde aus der Sicht der Mondbesucher. Wir nehmen weder den Mond noch die Sonne als Kugel wahr, sondern nur als Fläche. Dem steht jedoch die Prägekraft der Gewöhnung entgegen. Es fehlt die – wohl notwendige – Verfremdung.“

Das weiß man ja, dass manche Dinge erst bei einer Sonnenfinsternis in die Wahrnehmung rücken. Erinnere mich an die letzte Sonnenfinsternis am 20. März letzten Jahres, eine partielle Sonnenfinsternis, 3/4 der Sonne war verdeckt hier in Berlin. Das war eine ganz eigenartige Atmosphäre.

Plötzlich, schlagartig, begreift man, dass man auf einem Gestirn lebt. Und das, man wird ganz anders angeweht, angefasst. Aber die Selbstverständlichkeit des täglichen Aufgehens der Sonne, als ob es so sein müsste, hat für die meisten das Ungeheure des Vorgangs verdeckt.

„Das Schweben der Erde im leeren Raum, der, also der Raum, völlig schwarz aussieht, macht die Erde also zu einem spirituellen Wesen oder kann die Erde in einem kurzen aufblitzenden Ahnen zu einem spirituellen Wesen machen. Dieses spirituelle Wesen, so fühlt oder ahnt oder weiß man gar, hat nichts zu tun mit allem, was die Erdenschwere für uns ausmacht und das Sein, wie die Bewegung der Körper auf der Erdoberfläche bestimmt. Und in einem nächsten, entscheidenden Schritt, wenn er dann zugelassen wird, kann gefolgert oder ahnend erfasst werden, dass auch die Bewegung des Gestirns primär mit dieser spirituellen Qualität zu tun hat, keineswegs also gleichgesetzt werden kann mit dem flachen Kieselstein, der, in einem bestimmten Winkel geworfen, die Wasseroberfläche entlang hüpft. Doch diese Schlussfolgerung widerspricht der durch Newton vorgenommenen Vereinheitlichung von irdischer und himmlischer Mechanik. Der ,Newtonianer’ im modernen Menschen verhindert, das an dieser wichtigen Stelle weiter geforscht wird. Wer die Antworten zu haben glaubt, ist in der Regel nicht geneigt, noch einmal neu und unbefangen zu fragen. Aber hier wäre durchaus zu fragen.“

Also Newton hatte auch diese These vertreten, der geworfene Stein ist nichts anderes als das sich bewegende Gestirn.

„Die als spirituelles Wesen erkannte Erde, der dann auch, und zwar notwendig Bewusstseinsqualitäten zugeordnet werden, bewirkt, dass die Körper auf ihrer Oberfläche schwer sind oder Schwere haben, aber sie selbst, sozusagen, ,weiß nichts davon’. Was immer auch eine Last von vielen Trillionen Tonnen in den Außenschichten der Erde aufgetürmt oder angelagert ist und nun Richtung Erdmittelpunkt drückt, das Ganze der Erdkugel wird davon, wie es scheint, gar nicht tangiert. Irgendwie verschwindet die Schwere, irgendwie und irgendwo löst sich alle Materialität, alle Grobstofflichkeit der Körper auf.

Wer den Gegensatz von Schwere der Erdschichten zum Erdmittelpunkt hin und Schweben des Erdganzen im Raum begreift, hat im Grunde den Schlüssel zur Gravitation. Dieser Gegensatz ist zugleich eine Art Paradoxon im Sinne des Zen. Er ist ein integraler Teil des Wurzelkoans der Physik.“

..wie ich auch die Gravitation manchmal nenne.

„Und eine nachdenkliche, meditative Betrachtung von Gaias astronautischer Sicht, wenn auch nur über ein Abbild vermittelt, ist durchaus geeignet, das mechanistische Denken über die Schwere auszuhebeln. (…) Wer nun mit Newton und mit Einstein ,weiß’, dass und wie sich der Gegensatz von Schwere und Schweben auflösen lässt, wird hier nicht mitgehen können oder wollen. Als ,Fragezeichen für solche, die Antwort haben’ hat Nietzsche einmal formelhaft ein wesentliches Anliegen seiner Texte umschrieben. Ein derartiges Fragezeichen liegt hier verborgen. Alle Antworten, die in der Mainstream-Physik darauf gegeben werden, es sind nur wenige, umgehen das Problem und lösen es nicht auf. Daher der Versuch dieser kleinen meditativen Reflexion. Was wird mit der Schwere, warum verschwinden die enormen Massen, die doch machtvoll und sozusagen ,plump’ in Richtung Erdmittelpunkt gezogen oder gepresst werden? Darauf gibt es nur eine auch logisch zufriedenstellende Antwort, die Giordano Bruno als Erster gedacht hat: Die Schwere verschwindet, weil alle Kraftvektoren Richtung Zentrum sich gegenseitig aufheben. Jeder Schwerkraftvektor bzw. jede Radiallinie des Schwerefeldes hat ihren, ihm oder ihr genau entgegengesetzten Widerpart. Die Schweregleichung der Erde wird nach Null hin aufgelöst. Bruno ahnte (dann von Krause weiterentwickelt), dass dieser Nullwert keine Negation, also kein Verschwinden im Sinne von Versickern oder von äußerster Verdünnung darstellt, die irgendwann die Nullgrenze erreicht, wie das im Sinne der Newton’schen Physik der Fall ist, sondern dass der Nullwert im Gestirnzentrum ein solcher der göttlichen Fülle ist, der äußersten Verdichtung, die das Göttliche berührt, ja ist.

Im ,göttlichen Nullpunkt’ verdichtet sich alles Materielle, um zugleich ins Unendliche zu zerstrahlen. (…)

Was also hält die Erde schwebend und hängend im Raum? Sozusagen der ,göttliche Nullpunkt’ im Erdenzentrum. Und über diesen Nullpunkt wird die Erde, wie jedes ihr analoge Gestirn, dem Raum fest und sicher verbunden. Was hält die Erde im Raum? Der Weltwille (wie Krause auch die Raumenergie nennt) durchdringt jede Materieschicht, abgeschirmt oder eingeschränkt nur durch sich selbst. Nur wenn Radialfeld auf Radialfeld stößt, das Radialfeld des einen auf das Radialfeld des anderen Gestirns, wird in dieser Wandlungszone, die dann entsteht, das subtile Wechselspiel der Tanz der Himmelskörper gegeneinander und miteinander geboren. Ein durch und durch schwereentrückter Tanz, ein Lied gleichsam der Felder (…).“


Die Physiker wollen ausgerechnet haben, dass die Masse der Erde 5,97 Trilliarden Tonnen beträgt. Das ist eine phantastische Größe, die gar nichts aussagt. Wenn sie etwas aussagt, dann dass das allenfalls eine Aussage sein könnte über den Verstrahlungswiderstand, den das Gestirn Erde den anderen Einstrahlungen entgegenbringt. Auch in der Newtonschen Physik wird ja das immer unterschieden zwischen der anziehenden Wirkung und der Möglichkeit, angezogen zu werden und dann auch der dort von außen angreifenden Trägheit. Das hängt natürlich immer auch mit der Dichte zusammen. Auch die Physiker meinen ja, die Erde ist dichter zusammengeballt, wenn man in die Tiefe geht. Sie haben da auch bestimmte Werte ausgerechnet. Und sie glauben auch zu wissen, wie dicht die Erde im Ganzen ist, nämlich 5,51 Gramm pro Kubikzentimeter.

Da kann ich eine kleine Anekdote erzählen: Ich war im Anfang der 90er Jahre auf einem Symposion des Goethe-Instituts in Bombay, wo auch Physiker waren, und wir hatten eine andere Performance, eine Kunstperformance gemeinsam angehört. Und hinter mir saßen zwei Physiker mit Taschenrechner, die irgendwas ausrechnen wollten, wussten aber nicht den Wert für die mittlere Dichte der Erde. Ich hörte dieses Gespräch und sagte: 5,51 Gramm pro Kubikzentimeter. Ich möchte aber bemerken, dass ich den Sinn und Wert dieser Größe anzweifle. Ich weiß noch, dass beide irritiert waren. Der Jochen Kirchhoff, der vor Ihnen sitzt, der in seinem Vortrag über die Philosophie der Musik gehalten hatte, der kennt den Wert, hat den gleich parat, aber bezweifelt den Wert gleich. Das war irritierend für die beiden Physiker. Einer ist sehr bekannt, ich will den Namen aus persönlichen Gründen, der Wahrung der Persönlichkeitsrechte jetzt nicht nennen. Auf jeden Fall: Das hat auch mit Dichte zu tun, weil die Anziehungskraft eines Körpers wird nach Newton auch von der Dichte bestimmt. So wird es auch ausgerechnet. Es wird ja behauptet, der Jupiter hat die und die Dichte, oder die Sonne hat die und die Dichte. Das wird geschlossen aufgrund der Bewegung und aufgrund der Newtons’chen Gesetze. Deswegen funktioniert das auch. Deswegen funktionieren auch die Sonden, die ins Sonnensystem geschickt werden, wo man ja fragen könnte, warum funktioniert dann alles so wunderbar, lieber Herr Kirchhoff, wenn das alles nicht richtig ist? Das ist ein ganz komplexes Wechselspiel von Realität, Fiktion und Schlussfolgerung, die nur manchmal nicht aufgegangen ist, etwa im Falle der Merkur-Bewegung. Der gehorcht gar nicht den Newton’schen Gesetzen und eben, wie man weiß, die Bewegung bei den Galaxien offenbar auch nicht. Und da kommt die Newton’sche Physik schon mal auch an ihre Grenzen.

Also, das zumal zu diesem Widerspruch von einer unvorstellbaren Ballung von Materie, die dann im Zentrum ja zunehmend sich verdichten kann, zu exotisch wird. Da gibt es also einen Materiekollaps, der alles in den Schatten stellt, was die Physiker sich vorstellen können. Und dann das, sozusagen das gleißende Verstrahlen.

Und was geschieht mit der Materie? Sie wird wie nichts durchstrahlt, und das Gestirn wirkt wie schwerelos und wird wirklich schwerelos durch den Raum getragen. Das heißt, die Schwere ist überhaupt keine Eigenschaft, die in irgendeiner Form kosmisch gesehen eine Rolle spielt. Die Felder spielen eine Rolle in ihrer Wirkung auf die Materie. Da allerdings spielt dann die Gravitation eine entscheidende Rolle. Die Gravitation ist in gewisser Weise, auch im Sinne von Helmut Friedrich Krause, auch in gewisser Weise von Giordano Bruno, eine Schwellenkraft. Deswegen ist sie so rätselhaft, die Gravitation, die uns jetzt hier hält auf der Erdoberfläche. (Sie) ist ein Tor, sozusagen, ein Tor in die metaphysische Welt dahinter, in Anführungszeichen, in den Urstoff, in die Urmaterie. Wir sind sozusagen ständig davon getragen.

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Das Verhältnis von Mensch und Tier

Vorlesungsreihe:

Mensch und Erde, Teil I
Grundlagen der integralen Tiefenökologie

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2001
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 37

Transkript als PDF:


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Ich habe Ihnen ja angekündigt, dass ich Pfingsten an einem Symposium teilnehmen würde zur Frage von Bewusstsein und Wirklichkeit und [habe] Ihnen auch im Vorfeld einige Dinge genannt und gesagt. Ich will hier kurz darüber etwas berichten, weil das auch für das Thema, das uns beschäftigt, wichtig ist. Es ging in diesem dreitägigen Symposion mit ungefähr 120, 125 Menschen zentral um die Frage: Was ist eigentlich Wirklichkeit, Realität, Wirklichkeit, Wahrnehmung? Natürlich die Frage, was ist Innen, was ist Außen, wie spiegelt sich das Außen im Innen, aber auch ganz praktische Fragen. Was machen eigentlich diese Gedanken? Wie setzen wir sie um? Wie sind wir in der Welt damit? Also nicht nur Kopfarbeit und Theorie, sondern auch tatsächlich praktische Umsetzungsmöglichkeiten. Und da gab es einige ganz interessante, man kann auch sagen spannende Aspekte. Vielleicht wird in der „Hagia Chora“, einer Geomantie-Zeitschrift, auch ein längerer Bericht darüber sein. Es waren auch noch andere Presseleute da. Vielleicht gibt es dann in der einen oder anderen Zeitschrift auch darüber Berichte.

Ich selbst war mit einem Einzelvortrag vertreten und mehreren Podien. Darüber will ich jetzt allerdings nicht berichten. Ich will noch einige Punkte mal nennen, die ich spannend fand, zum Beispiel, ich habe mal hier einige Punkte notiert, die Sie auch interessieren könnten. Mir war immer bekannt, das habe ich nie bezweifelt, und ich habe das nie wirklich, sagen wir mal, habe nie das Bedürfnis gehabt, das nun messtechnisch zu verifizieren. Ich habe nie bezweifelt, dass es eine gedanklich-geistige Fernwirkung gibt. Nach meiner langen Lebenserfahrung weiß ich einfach, dass es so ist. Viele andere Menschen wissen das auch, und es gibt natürlich auch viele Experimente darüber. Ein Feld übrigens, das auch Ervin Laszlo sehr intensiv beschäftigt während seiner Bücher. Er stellt Überlegungen dazu an, wie ist es möglich, dass ein intensives Denken an einen Anderen oder ein Heilungsimpuls zum Beispiel über eine große Entfernung hinweg wirksam werden kann.

Dort wurde ein Experiment vorgeführt, das wollten nun alle sehen. Die wissenschaftsgläubigen Menschen, und ein Stück weit ist das ja auch in den Wissenschaftkritikern immer noch drin, konnten an Monitoren genau verfolgen, was passiert, wie ein Proband, ein junger Mann Anfang 30, saß drinnen, und Maria Sagi, eine Heilerin und mit vielerlei anderen Fähigkeiten begabte Frau, war draußen, beide wurden verkabelt, und man konnte vor einem Monitor nun verfolgen, was mit den jeweiligen Gehirnströmen passiert, rechte Hemisphäre, linke Hemisphäre. Und das war nun spannend. Man konnte nämlich ganz genau sehen, also beide hatten keine Verbindung miteinander, man konnte ganz genau sehen, wie zunächst anfänglich vorhandene Hirnstrommuster sehr stark divergierten, kaum Zusammenhang aufwiesen. Und dann gab es eine allmähliche Angleichung, eine allmähliche Synchronisation, Grundmuster wurden immer ähnlicher, und es gab auch immer wieder die Situation, dass ein Impuls ausgesendet wurde von Maria Sagi, die vor der Tür des Tagungssaales war, im Flur und dass das mit einer kleinen Zeitverzögerung aufgegriffen wurde, also nicht instantan. Das ist natürlich auch interessant. Das ist also nicht gleichzeitig erfolgt, sondern sie hat einen bestimmten Impuls ausgelöst. Mit einer kleinen Zeitverzögerung konnte man das dann als ein sehr ähnliches Muster mit einer … also quasi synchron auf dem Monitor verfolgen.

Also ein auch den Skeptiker … also im Grunde ein Experiment, was nach allen wissenschaftlichen Kriterien hieb- und stichfest ist, vollkommen eindeutig, zweifelsfrei belegt, dass es möglich ist, über die Entfernung hinweg, ohne dass der Andere weiß, was der Eine tut und umgekehrt, Impulse auszusenden, die dann empfangen werden. Das ist sogar in den Diagrammen der rechten Hirnhälfte oder am Monitor ablesbar. Es war eine große Spannung im Raum, ich war nicht so gespannt wie manche Andere, weil ich das eigentlich wusste, was das Ergebnis ist und daher … aber für viele war es noch faszinierend, weil Schweigen in dem Raum, alle saßen da und starrten gebannt auf den Monitor, und siehe da. Es hätte ja auch sein können, dass das Experiment fehlschlägt, es ist ja nicht sicher, dass es dann so klappt. Da können ja Blockaden sein. Im Prinzip ist es möglich, aber es hätte in dem Moment nicht unbedingt klappen müssen. Das muss man ja auseinander halten. Also das fand ich interessant.

Dann fand ich weiterhin interessant den Vortrag eines Gehirnforschers, der sich intensiv über viele Jahre hinweg mit auch der Synchronisation von linker und rechter Gehirnhälfte beschäftigt, unter anderem auch immer wieder auch heilend bei bestimmten Unordnungs- oder chaotischen Zuständen im Gehirn Musik einsetzt. Er sagte, er habe über viele Jahre hinweg immer wieder nur eine Musik als besonders effektiv bewiesen, die tatsächlich in der Lage ist, auch aus dem Gleichgewicht geratene Nervenverbindungen im Gehirn überraschend schnell und nachhaltig wieder zusammenzuführen. Also eine Verbindung der Nervenbahnen, eine Art Regulierungsfunktion des Gehirns. Und das ist Mozart. Alle anderen Musiken liefern nicht diesen Effekt. Die haben das genau dann durchgetestet, auch mit Bach, brachte auch Effekte, die wieder in dieser Größenordnung blieben, aber die stärkste, … stärkste Relevanz hat hier die Mozart-Musik. Ich fand das interessant, weil ja dann die Frage ist, wie ist es dann mit anderer Musik? Am schlechtesten wegkommt Heavy Metal. Heavy Metal zerreißt die ohnehin im Chaos sich befindliche Ordnung noch mehr, hat also einen dissoziativen Charakter. Auch das wundert mich nicht, denn ich habe schon vor vielen Jahren, in den 80er Jahren die These vertreten in meinem Buch „Klang und Verwandlung“, die sogenannte klassische Musik, ganz speziell auch die Mozarts einen auch ökologischen, auch einen physiologischen, biologischen Aspekt tatsächlich ordnungsstiftend wirken kann und tatsächlich ein entscheidender Ordnungsfaktor ist. Es war auch mal wieder eine Bestätigung von Jemandem, der sich mit diesen Fragen, so wie ich gar nicht, gearbeitet hat. Günter Haffelder, ein relativ bekannter Gehirnforscher, der das mal vorgestellt hat. Und dann fand ich interessant, das war auch im Zusammenhang mit meinem Vortrag und meine Teilnahme an den Podien aufschlussreich, dass immer wieder natürlich eine Frage im Raum stand, die uns hier auch schon beschäftigt hat. Letztes Mal kam mir eine Frage von Ihnen ganz einfach vom Podium, ja was ist das eigentlich, Bewusstsein, Sie reden von Bewusstsein? Was ist das denn überhaupt? Also die Frage, was überhaupt Bewusstsein ist, wie man das verstehen kann und dieses rätselhafte, abgründige kaum gedanklich zu durchlichtende Verhältnis von Innen und Außen. Was ist denn nun innen und was ist außen? Und dann gab es dann so eine gewisse Polarisierung, sagen wir mal, der eher vereinfacht gesagt, phänomenologischen Fraktion, die also eher auf die lebensweltliche Ganzheit abzielt, auf das, was unmittelbar wahrgenommen und erlebt wird. Und sagen wir mal eher, vorsichtig gesagt, eine reduktionistisch-naturwissenschaftliche, die eher den kausalen Zusammenhang untersucht und versuchen wollte, zu zeigen, was sich dann widersprechen muss. Das sind ja zunächst einmal zwei verschiedene Facetten des Gleichen, aber keiner hat bis heute wirklich den Zusammenhang zeigen können. Es gibt ja das berühmte Wort von Schopenhauer, was ich auch einmal zitiert habe auf einem Podium, einer Diskussionsrunde: „Die Welt ist im Kopf, aber der Kopf ist in der Welt.“

Das ist ein Zirkel der Wirklichkeit. Ein sehr hoher, den man erstmal nutzen kann, denn: Wie soll das sein? … Was heißt das? Dann wird das abgründig und die Frage wurde immer wieder in dem Zusammenhang gestellt. Und das war deutlich, das hatte ich auch schon verschiedentlich anklingen lassen, dass man im Grunde eine logisch einwandfreie Definition dessen, was Wirklichkeit ist, nicht geben kann. Das ist logisch nicht möglich. Also wer das möchte definitionstark und intellektuell stark zugleich, der wird daran scheitern, weil es geht nicht. Man kommt aus bestimmten Zusammenschlüssen nicht raus. Sie müssen immer Dinge voraussetzen, sie kommen immer in einen Zirkel hinein. Sie müssen nämlich immer das voraussetzen, was sie bestimmen wollen, nämlich die Wirklichkeit. Das ist genauso wie mit dem Bewusstsein. Sie können Bewusstsein nicht wirklich bestimmen: Das ist Bewusstsein, weil die Frage bereits und das gesamte Feld ist das Fluidum, die Einbettung aller derjenigen, die [in] diesem Prozess beteiligt sind, ja selber bewusstseinsförmig ist oder sind. Insofern haben wir keinen Standpunkt, einen sozusagen freien, souveränen Von-außen-Standpunkt, der es uns ermöglicht, nun hier auf diese Ebene zu schauen, zu sagen: Das ist Bewusstsein. Das könnte man nur, das wurde auch auf dem Symposion sehr deutlich in den Gesprächen, das könnte man nur etwas von einem zum supramentalen, von einem sehr hohen anderen Bewusstsein heraus, dann könnte man quasi von oben in Anführungszeichen herab, das muss ja nicht räumlich verstanden werden, herabblicken, auch metaphorisch gemeint, auf einen anderen Bewusstseinszustand. Das ginge dann, wenn man die Prämisse setzt, natürlich, dass ein solcher supramentaler Zustand möglich ist, das ist eine gut begründete Hypothese, glaube ich, zu der ich auf dem Symposion beigetragen habe. Aber die Frage beschäftigt uns natürlich im Zusammenhang mit der Erde ständig, und wenn ich das letzte Mal Ihnen einige Aspekte vorgetragen habe der organologischen Konzepte der Erde, ein ganz kleines Segment ja nur, das kann man ja endlos weiterführen, kann ich mühelos zwei, drei [Semester] nur dieses Thema behandeln, die verschiedenen Aspekte zeigen, dann kommt man immer wieder auf die Frage Innen-Außen: Wenn die Erde ein Organismus ist, das habe ich hier versucht darzustellen, dann hat sie auch einen Leib. Was ich erläutert habe, muss ich nicht noch mal machen. Und was heißt es denn, wenn die Erde einen Leib hat? Wie müsste man diesen Leib verstehen? Wie könnte man ihn verstehen? Und wie könnte man in Kommunikation treten mit diesem Leib der Erde, nicht mit dem physischen-sinnlichen Körper und auch nicht mit dem, was physikalisch messbar ist. Das kann man daneben flankierend machen. Aber das hilft einem nichts im Umgang mit dem Körper, mit dem Leib der Erde.

Hinweis: Der weitere Teil der Vorlesung wurde wegen der für eine Transkription unzureichenden Audioqualität nicht weiter bearbeitet.

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Vom anderen Hören. Musik und Meditation

Vortrag

Urania Berlin
04.04.1995
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 50

Transkript als PDF:


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Ich möchte Ihnen heute einen kleinen Einblick geben in ein spannendes und interessantes und faszinierendes Gebiet, nämlich die Frage, was Musik und Meditation miteinander zu tun haben, aus welchen Quellen beide gespeist sind, und wie man das auch praktisch umsetzen kann. Und je nach Zeit nachher wäre es gut, ich will es jedenfalls versuchen, wenn wir einige praktische Übungen machen. Auch wenn es hier kein leergeräumter Saal ist und wir hier hier keinen Musik-Workshop veranstalten können, so mag doch vielleicht die eine oder andere Übung auch in dieser Form sinnvoll sein.

Worum geht es eigentlich? Ich habe zwei Zitate ausgesucht als Motto, die bereits ins Zentrum der Thematik führen. Der buddhistische Gelehrte und Meditationsmeister Lama Anagarika Govinda hat 1977 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Schöpferische Medita­tion und multidimensionales Bewusstsein“, eines nach meinem Dafürhalten besten Bücher überhaupt über Meditation. Und da schreibt er Folgendes, ich darf das mal zitieren: „Die westliche Kultur fand ihre tiefste und vollkommenste Ausdrucksform in der Musik. Die Kultur Indiens dagegen in der nach innen gerichteten Meditation, Dhyana, Sanskrit-Wort für Versenkung, Meditation. In diesen beiden Bereichen müssen wir daher nach Parallelen und Berührungspunkten Ausschau halten. Nur hier sind Vergleichsmöglichkeiten zu erwar­ten. Für diese Hypothese spricht, dass die abendländische Musik eine Art Raum-Empfin­dung hervorruft, die sich von der des sichtbaren Raumes so weitgehend unterscheidet, dass sie der Raum-Erfahrung in den tiefsten Versenkungszuständen vergleichbar wird. Es handelt sich um eine Raum-Erfahrung, die unter den Bedingungen der Dreidimensionalität unmöglich ist, da sie eine Ordnung höherer Art zugehört.“

Hier ist also bereits eine ganz wesentliche Aussage gemacht, die ich mir zu eigen machen möchte, dass nämlich Musik etwas zu tun hat mit Raum-Bewusstsein. Also Lama Anagarika Govinda sagt ja, in der tiefsten Meditation wird der Raum in einer bestimmten Weise erfahren, nicht als dreidimensionaler Anschauungsraum, wie wir den Raum hier vor uns und auch in uns ausgespannt finden, sondern auf eine merkwürdige Weise anders dimensioniert, in einer anderen, tieferen Schicht, und da, meint Govinda, gibt es einen Zusammenhang. Also was sozusagen die abendländische Musik an Raum-Bewusstsein in den Klang transponiert hat, das findet man auch in der Meditationskultur Indiens. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen.

Das zweite Zitat stammt von einem Schamanismus-Forscher aus dem Buch „Traumzeit und innerer Raum“, Holger Kalweit, und der sagt etwas, was auch ins Zentrum unserer Thematik führt. Ich darf das mal vorlesen: „Die gewaltigste Idee, die der menschliche Geist seit seiner Evolution zur Kulturfähigkeit zum Leitmotiv seiner Werke und Handlungen machte und die wohl von keinem Gedanken, keiner Spekulation und Theorie in allen verflossenen Epochen übertroffen werden konnte, ist der Glaube, das Wissen, ja die Erfahrung, dass unsere physische Sinneswelt eine Welt der Schatten, der Illusion und der Täuschung ist, und dass unser Körper, jenes dreidimensionale Werkzeug, einem Etwas als Hülle und Wohnung dient, das weit größer und allumfassender als er die Matrix des wirklichen Lebens bildet.“ Also Matrix hier im Sinne von Quelle und Ursache. Also Kalweit behauptet, dass es vielleicht die wichtigste Erkenntnis überhaupt ist und gleichzeitig die gewaltigste Idee, dass unsere Sinneswelt, im indisch-buddhistischen Sinne Maya ist, dass hinter der Sinneswelt eine andere Wirklichkeit, vielleicht die eigent­liche Wirklichkeit hindurchscheint. Und das ist die … auch hier die Berührungsstelle mit der Musik. Auch darüber will ich Einiges sagen, dass ja in ganz vielen Philosophien und Mythologien der Musik, dem Klang eine geradezu weltschöpferische Funktion zugespro­chen wird. Also der Klang sozusagen wird als ein Untergrund, als spiritueller Untergrund der Welt gesehen. Wenn das so ist, also nehmen wir an, die Hypothese stimmt, dann hat man ja schon einen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Musik.

Ich will das in fünf Schritten machen. Und zwar will ich zunächst einiges sagen über die Rolle des Hörens überhaupt in unserer Kultur, besser die Nicht-Rolle, denn wir sind ja eine vom Primat des Auges erst einmal bestimmte Kultur. Dann will ich die Frage stellen, was überhaupt Meditation ist. Auch das ist überhaupt nicht selbstverständlich, es gibt die unterschiedlichsten Ansätze dazu. Ich will versuchen zu zeigen, was nach meinem Ver­ständnis Meditation ist und wie Meditation mit einem spirituellen Weltverständnis zusam­menhängt und will dann die Brücke schlagen zur Musik und zu einem möglichen spirituellen Weltverständnis und die Frage stellen und ein bisschen wohl auch beant­worten, was die abendländische Hochmusik, wie man sie ja nennen kann seit der Renaissance, zu tun hat mit einer spirituellen Weltbetrachtung und schließlich dann in einem praktischen Ansatz Möglichkeiten vorstellen, wie man damit umgehen kann. Da werden dann erst die Musik-Beispiele kommen, also relativ am Ende, und wir werden mal sehen beziehungsweise hören, wie wir damit zurande kommen können, mit diesen prak­tischen Übungen.

Zunächst wissen wir alle, dass die abendländische Kultur eine vom Primat des Sehens bestimmte Kultur ist. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass die Beglaubi­gung von Wahrheit und Wirklichkeit erst einmal das Gesehene, das Visuelle ist. Also „hast du es selber gesehen“, hat eine höhere ontologische Wertigkeit, als „hast du es gehört oder hast du davon gehört“? Die Sinneswelt ist primär eine als visuell erfahrene Welt, und das hat die … ist die eigentliche Wirklichkeit in erster Instanz. Und das ist auch das, was man als den naiven Realismus bezeichnet und der ganz tief in uns allen steckt, man soll sich da keinen Illusionen hingeben. Was wir sehen, was wir vor uns haben, was wir visuell wahrnehmen, hat auch tatsächlich erst einmal einen ganz hohen Wirklichkeitsgrad.

Eine andere Sache ist es natürlich bei irgendwelchen Halluzinationen oder visio­nären Eingebungen, Schauungen, sind ja auch visuelle Dinge, von mir aus auch in extremen Zuständen hervorgerufen durch psychoaktive Substanzen. Da ist es insofern anders, als diese Schauungen und Bilder ja nicht unbedingt intersubjektiv sind, sie sind nicht vermit­telbar, weil ein Anderer, der nicht in diesem Zustand ist, diese Bilder ja nicht wahrnimmt. Aber normalerweise ist also die Wirklichkeit erstmal eine visuelle Wirklichkeit. Und es ist auch … das unterscheidet die abendländische Kultur von jeder anderen dieser Erde, denn in keiner anderen Kultur spielt das Auge, spielt das Visuelle eine so zentrale Rolle. Können Sie also in jeder anderen Kultur dieser Welt schauen, immer ist das Visuelle eine Fakultät neben anderen Fakultäten und hat nicht diesen Ausschließlichkeitscharakter. Das ist das Eine.

Gleichzeitig hat sich seit der Renaissance eine zweite Strömung im Abendland manifestiert, die man bezeichnen kann als den Impuls, etwas überspitzt gesagt, zur Weltaufhebung durch Abstraktion. Durch die Erkenntnis des Kopernikus und durch den ganzen Koperni­kanismus in den nachfolgenden Jahrhunderten war ja deutlich geworden, dass die Sinnes­welt eigentlich täuscht. Denn die Wirklichkeit, die kosmische Wirklichkeit, etwa die der Bewegung des Planeten Erde, ist ja genau entgegengesetzt dem, was das Auge wahrnimmt. Insofern täuscht uns das Auge. Die eigentliche Bewegung ist ja hier in diesem Fall die Drehung der Erde oder die Bewegung der Erde um die Sonne und also genau das Gegenteil dessen, was der Augenschein wahrnimmt. Und aus dem Durchschauen dieser Täuschung, hat sich die gesamte abendländische Naturwissenschaft entwickelt bis in die Gegenwart hinein. Und man kann etwas überspitzt sagen, dass Naturwissenschaft immer darauf abzielt, die Welt mittels Abstraktion aufzuheben. Also unsere ganzen Bilder von virtueller Realität und Computerisierung und so weiter sind letztlich alles Versuche, denke ich, sozusagen den ontologischen Status des Menschen in eine andere Dimension hinein­zuheben, in die totale Abstraktion, die unzulängliche Bio-Hardware zu ersetzen durch eine andere. Und das ist also ein gegenläufiges Moment. Und nun ist es merkwürdig, dass diese selbe Kultur, die das Visuelle betont wie keine andere, die eine Abstraktionsleistung reali­siert hat, wie auch keine andere Kultur der bekannten Menschheitsgeschichte, dass also diese selbe Kultur gleichzeitig eine hochdifferenzierte, in ihrer Weise singuläre Hoch-Musik hervorgebracht hat, die in gewisser Weise, mit einigen Einschränkungen, eine Art Gegen­modell darstellt. Und das ist jetzt letztendlich das, was hier zentral ist.

Wie ist das möglich und wie können wir uns dieser musikalischen Dimension unserer eigenen Kultur in einer Weise nähern, die vielleicht angetan ist, auch ein bisschen die ökologische Krise, unter der wir alle leiden, in ein neues Gesichtsfeld zu rücken? Dann die Metaphorik, wie Sie es schon hören, ins Gesichtsfeld rücken, ist vor allen Dingen durch das Auge bestimmt. Es ist eigentlich keine höhere Metaphorik und ein Großteil der sprach­lichen Metaphorik ist generell vom Visuellen bestimmt. Wie kommen wir ins Hören rein? Wenn wir über Musik reden, ist es ja nicht Musik. Wenn wir über Meditation reden, ist es ja nicht Meditation und es ist die große Schwierigkeit ja überhaupt eines derartigen Vortrags, ich rede mittels der Sprache über etwas, was ja jenseits der Sprache ist. Ich rede über Meditation, ich rede über Musik, und beides ist ja nicht Sprache, nicht Sprache in diesem engeren Sinne. Und das ist eine grundsätzliche Schwierigkeit, mit der man immer wieder konfrontiert ist. Nun, was ist überhaupt … das wissen sie im Grunde alle, was ich hier einleitend gesagt habe, man muss es nur noch einmal in die Erinnerung rufen.

Was ist Meditation? Wie hängt Meditation und Spiritualität zusammen? Meditation, könnte man auf, eine Kurzformel gebracht, sagen, ist der Versuch, die Welt von innen wahrzunehmen. Der Versuch, die Welt von innen wahrzunehmen. Der Versuch, zu einer gesteigerten Innenwahrnehmung der Dinge neben oder außerhalb der äußeren Wahr­nehmung zu gelangen. Nun gibt es eine Fülle von ganz unterschiedlichen Meditations­formen und Meditationsarten in aller Welt, jeweils mit ganz unterschiedlichen Ansätzen. Und es ist vielleicht sinnvoll, sich mal einige dieser Ansätze anzugucken und zu sehen, was hier Meditation meint und inwiefern wir überhaupt eine Möglichkeit haben, die Meditation mit Musik zu verbinden. Das ist ja überhaupt nicht selbstverständlich. Meditation ist ja traditionell Stille und Schweigen, nicht Reden und eigentlich auch nicht Musikhören. Musikhören ist eine zunächst einmal eine ganz andere Form von Aufmerksamkeit, von hörender Wachheit, die gemeinhin nicht als Meditation gilt.

Die vielleicht bekannteste asiatische Meditationstradition ist die des Zen, und ich will mal einige Sätze nur vorlesen von einem bedeutenden Zenmeister, Deshimaru Roshi, aus diesem Jahrhundert, der lange in Frankreich gelehrt und gelebt hat. Wie definiert er Meditation? Und wir wollen gucken, ob wir das nachher verwenden können. Er sagt: „Zen im Sinne von Zazen, das heißt Sitzen, kann weder in Begriffe gezwängt noch durch den Verstand wiedergegeben werden. Man muss es vielmehr ausüben.“ Also darüber reden bringt nichts. „Zen ist ganz wesentlich eine Erfahrung. Die Intelligenz wird dabei nicht unterbewertet, nur, man strebt nach einer höheren Dimension des Bewusstseins, die nicht in einer einseitigen Sicht der Wesen und Dinge stecken bleibt. Das Subjekt ist im Objekt und das Subjekt enthält das Objekt. Es handelt sich darum, durch die Übung“, also die Zazen-Übung, die Praxis des meditativen Sitzens, „das Überschreiten aller Gegensätze, das heißt aller Formen des Denkens zu erreichen.“ Damit ist schon ein ganz wesentlicher Punkt angesprochen in dieser Richtung, dieser eher asiatischen Richtung, ist also Meditation ein Überschreiten von Denken überhaupt und damit auch von jeglichem in Gegensätzen sich vollziehenden Geist. „Der philosophische Aspekt des Zen-Buddhismus hat daher nichts von einem rigiden Gedankensystem. Es ist vielmehr die Weitergabe von Gedanken, geschmiedet durch die tausendjährige und doch jeden Tag immer wieder neue Erfahrung der Erweckung. ,Hier und jetzt‘ ist der Schlüsselbegriff überhaupt. Das Wichtigste ist die Gegenwart. Die meisten unter uns haben die Neigung, ängstlich an die Vergangenheit oder Zukunft zu denken, anstatt ihre volle Aufmerksamkeit ihren augenblicklichen Handlungen, Worten und Gedanken zu widmen. Man muss in jeder Bewegung vollständig gegenwärtig sein, sich hier und jetzt konzentrieren. Das ist es, was Zen uns zu lehren hat.

Ebenso zentral ist der Ausdruck ,einfach nur sitzen‘ – shikantaza., uninteressiert, ohne Ziel und Gewinnstreben. Meister Dogen, der im 13. Jahrhundert Zen Japan einführte, hat gesagt, Zen zu ergründen bedeutet, uns selbst zu ergründen und uns selbst zu ergründen bedeutet, uns selbst zu vergessen und uns selbst zu vergessen bedeutet, die Buddha-Natur, unsere ursprüngliche Natur zu finden.“ Und so weiter.

Die Zen-Meditation arbeitet auch mit Musik, nicht eigentlich mit Musik, zu der meditiert wird. Wenn Musik in der Zen-Meditation eingesetzt wird, ganz bestimmte Klänge in ganz bestimmten Phasen der Meditation, dann haben sie eher den Charakter eines Aufmerksamkeits-Anstoßes. Es wird nicht eigentlich über Musik meditiert, ja, das wäre vom Zen aus geradezu ein Irrweg. Das muss man ganz klar sagen, das weiß ich aus meiner vieljährigen Zen-Erfahrung – für den Zen-Buddhisten ist das Meditieren über Musik, ob das nun aus der CD, also von einer Kassette oder Musik live ist, egal, ein Irrweg, weil Hören heißt, sich in gewisser Weise an die Sinnenwelt, an die Ästhetik, an das Schöne, an das Wunderbare der Sinnenwelt verlieren. Und es geht ja gerade im Zen erst einmal um die Transzendierung hin zur Buddha-Natur: Hier und jetzt ganz präsent sein. Das ist also die Zen-Meditation, die eigentlich keine Musik-Meditation ist.

Nun ist Meditation sowieso grundsätzlich nicht zu trennen von bestimmten spirituellen Grundüberzeugungen. Man kann Meditation nicht einfach so betreiben, wie man eine beliebige andere Körperübung betreibt, wie man das auch mit Yoga im Grunde nicht machen kann. Und jede meditative Überzeugung steht in einem ganz bestimmten Weltbild-Zusammenhang. Und das ist wichtig, dass man sich das noch mal vor Augen führt. Also jede Meditation hat ein bestimmtes spirituelles Weltverständnis als Hintergrund.

Nun wird oft gesagt: Meditation, das heißt, die Dualität hinter sich lassen, das Werten, das Ja und Nein, einfach nur präsent sein. Und diese Präsenz, diese Total-Präsenz im Hier und Jetzt bedeutet die Aufgabe der eigenen Egoität, der eigenen Ego- und Ratio-Fixiertheit, bedeutet in diesem Sinne Hingabe, also Hingabe an ein Anderes, was als größer und existenzieller als das eigene Ego erachtet wird. [Das] bedeutet also, das Bewusstsein in eine tiefere Schicht hineinbringen, nicht im Sinne einer rationalen, willensmäßigen Fixierung, sondern im Sinne des Geschehenlassens. Das ist hier nicht erzwingbar. Sicher­lich, von Buddha wird berichtet, er habe sich hingesetzt unter den Bodhi-Baum, nachdem alle seine vorherigen Bemühungen gescheitert sind und einfach meditiert, gesessen. Das ist ja der Ursprung des Zazen. Irgendwann ist es dann passiert, der Durchbruch, was immer nun diese Erleuchtung wirklich war. Auf jeden Fall, Meditation hat mit Hingabe zu tun, ist in dem Sinne keine Konzentration im engeren Sinne. Konzentration ist ja in gewisser Weise eine Fokussierung auf einen Gegenstand, eine rationale Zusammenziehung, und das ist eigentlich Meditation in dem Sinne nicht.

Nun, vielleicht ist die extremste Form der Hingabe, die jedem Menschen irgendwann abverlangt wird, das Sterben. Und die tibetischen Buddhisten haben, finde ich mit einigem Recht, immer wieder betont, dass Meditation im Tiefsten eine Art Einüben ist des Sterbeprozesses, dem jeder irgendwann ausgesetzt ist. Insofern wäre in diesem Sinne Meditation Sterben üben, sich auf diese letzte Verwandlung, diese letzte Hingabe wirklich einlassen und die energetischen Verfestigungen zunehmend abzubauen, also in einen reinen Energiezustand hineinzugelangen. Das wäre die höchste Form des Meditativen, die überhaupt denkbar ist.

Nun gibt es viele Mittel, die man heranziehen kann, die in allen Traditionen auch verwendet werden. Zum Beispiel gibt es die Möglichkeit, den Körper in eine bestimmte Position zu bringen. Also im Yoga nennt man das Asana, in eine ganz bestimmte Position. Es gibt ja unendlich viele Positionen. Die Grundposition, bekannt von der Meditation des Buddha, eine bestimmte Asana; damit zusammenhängt eine bestimmte Mudra, eine bestimmte Handhaltung, die den Körper in gewisser Weise zentriert. Der meditierende Buddha ist ja das Urbild des meditierenden Menschen überhaupt, so ist ja das Meditieren auch als ein äußerstes Schweigen, nicht als ein Hören, als ein Lauschen [zu betrachten]. Und es bedeutet also, den Körper in ganz bestimmter Weise quasi präparieren für diese Erfahrung, weil er im Normalzustand gar keine Möglichkeit dazu hat. Es ist ja nicht, dass die Haltung, das Sitzen, in der Form das Wesentliche sei. Sie ist ein Hilfsmittel, um den Geist, der immer unruhig ist, der ständig zugange ist, wie jeder ja weiß, wenn man in sich hineinlauscht, der ständig redende und sich widersprechende und ständig innerlich in Aktion befindliche Geist, um diesen Geist wirklich zur Ruhe zu bringen.

Ein weiteres Mittel, was für die Musik wichtig ist, ist der Atem. Musik selber ist ja in ihrer elementarsten Form immer auch vom Atem beseelt, hat immer mit Atem zu tun, ist ja überhaupt erst einmal sehr körperlich. Man kann mittels des Atems in bestimmte tiefere Bewusstseinszustände hineinkommen, und zwar in zweifacher Hinsicht, sowohl durch eine extreme Verlangsamung der Atmung, indem man extrem langsam einatmet und extrem langsam ausatmet. Oder z.B. die Pausen zwischen Einatmen und Ausatmen immer mehr verlängert. Das kann man ja in einer Weise machen, dass im Normalbewusstsein kaum vorstellbar ist, dass man überhaupt auf diese Weise atmen kann. Man kann aber auch das Gegenteilige machen. Man kann extrem schnell atmen, man kann hyperventilieren. Man kann also dieses orgiastische, schnelle, stoßartige Atmen, hat auch übrigens in Verbindung mit der Musik vor allen Dingen in Vorderasien eine ganz wesentliche Rolle, spielt eine ganz wesentliche Rolle. Sie kennen vielleicht, wenn nicht, dann will ich es kurz erwähnen, denn das sogenannte Zikr der Sufis, der islamischen Mystiker. Das ist ja ein ganz schnelles, ruck­artiges, auf Dauer stimmbandschädigendes Hyperventilieren bei gleichzeitigem Singen bzw. einige singen, andere atmen. Und das Ganze ist eine Ekstase-Zustand, ein trance-ähnlicher Zustand, der darauf abzielt, den Teilnehmern in einen ganz bestimmten Zustand hineinzubringen, indem das Ego dann auch aufgehoben wird. Wer das mal versucht hat, kann bestätigen oder wird das aus Erfahrung wissen, wie ungeheuer effektiv das ist, das ist also genau das Gegenteil. Einmal eine extreme Langsam-Atmung, eine extreme Schnell-Atmung. Jeder Mediziner weiß, was Hyperventilation bedeutet, das hat ja auch seine bedenklichen Seiten. Man kann so extrem hyperventilieren, über eine oder zwei Stunden und dann wird tatsächlich das Bewusstsein vollkommen verändert. Auch die Körperwahr­nehmung wird eine ganz andere. Oder man kann den normalen Atem, der sowieso fließt, einfach ruhig beobachten, man forciert weder eine Beschleunigung noch eine Verlang­samung. Man beobachtet einfach den Atem, wie er fließt und kann sogar zählen. Das ist durchaus gang und gäbe. Selbst Buddha hat es vorgeschlagen, zähle die Atemzüge von eins bis zehn und dann wieder von vorne. Der Atem geht rein und der Atem geht raus, das so eine Art Fluss zustande kommt, ein rhythmisches Schwingen in dieser Meditation. Das spielt alles in die Musik hinein, denn diese Elemente gibt es genauso in der Musik, beides.

Nun gibt es auch die Möglichkeit, und da kommt die Sprache ins Feld, das Bewusst­sein zu fokussieren mit bestimmten Begriffen, mit sogenannten Mantras. Das sind Wörter oder auch Sätze, die in ganz bestimmter Weise in hämmernder Form ständig wiederholt werden, zigtausende von Mal, immer wieder werden diese Mantras wiederholt, und sie dienen dazu oder sollen dazu dienen, das Bewusstsein in einen ganz speziellen Zustand zu versetzen. Und da kommt bereits zum ersten Mal jetzt die musikalische Dimension ins Spiel. Denn man geht in allen Traditionen, die sich dieser Mantras bedienen, nämlich davon aus, dass das Wort oder die Wörter, die Sätze, die gesungen werden oder die gesprochen werden oder auch nur innerlich leise gesprochen werden, Schwingung repräsentieren und dass diese Schwingung in gewisser Weise Korrespondenzen hat mit der Schwingung im Kosmos. Das heißt also, dass jedes Wort, jeder Begriff eine bestimmte Schwingungs- oder Klangsignatur hat, die man auf diese Weise abrufen kann. Also, dass das berühmte Mantra OM oder AUM ist ja ein bekanntes Beispiel dafür, in der Annahme also, dass dieser Laut als eine Art Ur-Laut, als ein Ur-Ton allem zugrunde liegt, wird es in dieser ständigen Wieder­holung dem Bewusstsein ermöglicht, tatsächlich in diese Ursprungsschicht dann auch reinzukommen. Das ist also die Frage des Mantrams. Da kommt also die Sprache ins Spiel, die Schwingung und auch die Musik, die damit zusammenhängt. Und häufig werden ja diese Mantras auch gesungen.

Nun ist gerade der moderne Mensch, der moderne stellt häufig die Frage und das wird ja immer wieder in diesem Zusammenhang gesagt: Wie ist es mit dem Verhältnis von Meditation und Therapie? Ist Meditation eine Therapie? Nein, sie ist es nicht. Das muss man gleich vorab sagen. Meditation ist keine Therapie und ersetzt auch in keiner Weise die Therapie. Man kann auch durch Meditation seine Neurosen nach wie vor beibehalten. Man kann sie auch pflegen, man muss sie in keiner Weise überwinden. Also Therapie ist letztlich eine andere Geschichte. Ist Meditation eigentlich Trance? Schwierig zu sagen, ja und nein. In gewisser Weise kann man Meditation als Trance bezeichnen. Man kann ja in einen ganz bestimmten trance-ähnlichen Zustand hineingeraten, ja auch beim Musikhören, der nicht unbedingt Meditation sein muss. Es gibt ein berühmtes Wort von Richard Wagner, der ja viel wusste von diesen Dingen (…) an Mathilde Wesendonck, in dem er schreibt, dass seine Musik wie ein feiner Saft bis ins Mark hineingeht und da alles auflöst, was irgend zu tun hat mit Individualität, mit Ego, mit Selbst, sozusagen die Musik als ein Mittel, die Egoität aufzulösen. Und begeisterte Wagnerianer wissen ja auch davon zu berichten, dass dies tatsächlich bei bestimmten Passagen etwa von „Tristan und Isolde“ passiert, so eine Art Auflösung, eine Art Verflüssigung der eigenen Egoität. Und da ist ein ganz interessanter Zusammenhang mit dem asiatischen Denken gegeben. Es ist kein Zufall, dass Wagner gerade in Asien eine ungeheure Popularität genießt, mehr als jeder andere Komponist.

Nun ist Spiritualität ja traditionell, das muss ich noch als Letztes jetzt sagen zur Meditation, traditionell eine eher asketisch-patriarchale Spiritualität, auch das ist ja bekannt. Die meisten spirituellen Traditionen haben einen asketischen Charakter, sind patriarchal, sind durch Männer ganz wesentlich mitgeprägt, auch der Buddhismus. Und das ist natürlich für den modernen Menschen ein grundsätzliches Problem, ein Problem, was nicht aufgehört hat, Menschen, Frauen vor allen Dingen, zu beunruhigen. Wo bleibt die Frau in diesen Systemen? Es gibt eigentlich ganz wenige Systeme erst einmal, die der Frau die gleiche Seinswertigkeit zugestehen. Eines davon ist das sogenannte tantrische System. Das gibt es im Hinduismus und im Buddhismus auch. Das kann man eng verbinden mit Musik. „Tantra“ heißt so viel wie „Gewebe“ und ist also die Überzeugung von der Allverbun­denheit, gerade auch des Männlichen und des Weiblichen.

All diese Dinge schwingen also mit in der Meditation. Es geht also um die Aufgabe der Egoität. Es geht um die Überwindung der Dualität. Es geht zugleich um eine ungeheure Aufmerksamkeit auf den Moment, auf das Hier und Jetzt, auch eine Aufmerksamkeit auf den Atem. Und es geht um einen ganz bestimmten Bewusstseinszustand, in dem die Welt quasi von innen betrachtet wird. Und dieser Bewusstseinszustand ist sehr schwer zu erreichen, und er ist auch sehr schwer aufrechtzuerhalten. Also Meditieren ist ja nicht einfach, wie es häufig gesagt wird, Entspannung. Entspannung, sich fallen lassen, loslassen, ist natürlich ein wichtiges Element, aber es geht hier um eine gesteigerte Form der Auf­merksamkeit, letztlich auch um eine bestimmte Form von Integration, von Ganzheitlichkeit des Körpers, des Emotionalen, des Mentalen in irgendeiner Form ja auch und des Supramentalen bzw. des Spirituellen. Alles das schwingt zusammen, und ich meine, dass das auch in wirklich bedeutender Musik der Fall ist. Diese Elemente schwingen zusammen, und auch bedeutende Musik enthält eine Integration dieser Elemente. Und da ist für meine Begriffe der entscheidende Zusammenhang zur Meditation.

Und da spielt auch die Raumwahrnehmung hinein, von der Lama Govinda gespro­chen hat. Er hatte ja gesagt, wenn ich noch mal daran erinnern darf, dass es nicht um eine dreidimensionale Raum-Anschauung geht, sondern um eine innere Raum-Wahrnehmung durch Musik. Wir können ja nachher mal in einigen Übungen versuchen, ob wir da ein bisschen hineinkommen können. Also eine innere Raumwahrnehmung durch Musik, wie es genauso die Möglichkeit gibt, eine quasi innere Zeitwahrnehmung durch Musikhören zu erleben, weil Musik ja auch gestaltlebendige, schwingende, pulsierende Gestalt in der Zeit ist. In gewisser Weise, wie ich das gerne öfter sage, die Zeit selbst zum Klingen bringt. Das kann man in ganz wenigen, vielleicht erlesenen und seltenen Momenten auch spüren, dass Musik den Zeitfluss selber zur Anschauung bringt bzw. zum Hören bringt. Also es ist vielleicht auch dann die tiefste Dimension, dass also gerade Raum und Zeit hier in ihrer Eigentlichkeit deutlich werden.

Nun, dass Klang und dass Musik mit der Tiefenstruktur der Welt zusammenhängen, ist einer der ältesten Gedanken, den Sie in praktisch allen Kulturen dieser Erde finden. Ich gebe mal ein Beispiel aus der indischen Kultur. Da ist eine … hat man eine Klang­kosmogonie, eine Weltentstehungslehre aus dem Klang entwickelt, die in ihrer Weise singulär ist. Ich darf mal einige Passagen hier vorlesen, ich habe das hier in meinem Musik-Buch zitiert über die altindische Klangkosmogonie. Da heißt es folgendermaßen: „Die erste Epoche der Schöpfung ist die Zeit der reinen bildlosen Namen-Schöpfung. Der Mythos nennt sie die Ur-Nacht. Sie ist eine ausschließlich akustische Periode und kennt noch keinen Raum. Sie besteht nur in der Zeit und ist eine Klangwelt. Die wirkenden Gewalten in ihr sind die Götter, selbst reine Klangexistenzen, deren Leib Musiklobgesang ist. Der Einbruch des Lichtes führt von der dunklen, rein akustischen Zeit zur Licht-Ton-Welt der zweiten Schöpfungsperiode, in der die tönende Existenz sich langsam in eine konkrete körperliche verwandelt und die klangliche Ursubstanz der Welt nach und nach verdeckt wird, also in den Hintergrund tritt. Der Schleier der Maya, die Täuschung über das wahre Wesen des Seienden breitet sich aus. Die dritte Schöpfungsperiode ist die helle Welt, in der die Dinge endgültig klare Gestalten annehmen. Der Mythos nennt sie den Tag. Mit dem vollen Einbruch des Lichts werden aus den reinen Zeitproportionen nun sichtbare und greifbare Proportionen des Raumes. Wenn auch die akustische Ursubstanz durch diesen Vorgang, insbesondere bei den stummen Objekten stark überdeckt wird, so lebt sie dennoch in jedem Geschöpf hörbar oder unhörbar als metaphysischer Kern weiter.“ Zitat Hans Schavernoch.

Also, die Grundüberzeugung wird hier ausgedrückt, dass die letzte Schicht der Kosmogonie, der Welt-Entstehung, eine klangliche ist. Auch da wäre einmal mehr Wagner heranzuziehen, der ja im Vorspiel zu „Rheingold“ den Versuch gemacht hat, aus einem Es-dur-Akkord quasi eine Weltschöpfung, eine Art Kosmogonie zu entwickeln. Also ein ganz tiefer, immer wieder formulierter Gedanke.

Der Dirigent Bruno Walter gehört zu denjenigen Dirigenten des 20. Jahrhunderts, die sich zu diesen Fragen immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen geäußert haben. Ich darf auch da noch mal kurz einige Sätze vorlesen von Bruno Walter, er ist fraglos einer der ganz großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Er schreibt über die pythagoräische Idee der sogenannten Sphärenharmonie, Zitat Bruno Walter: „Niemals habe ich diese einem hohen Geist gewordene Offenbarung nur als das phantasievolle Erzeugnis erhabener Imagination aufgefasst. Ich glaube daran, dass dem großen Menschheitslehrer, also Pythagoras, sich Urtiefen der Natur im Klang eröffneten, dass er, wenn auch nicht mit dem physischen Ohr, die Harmonie der Sphären wirklich vernahm. Der Gedanke einer zwar für das sinnliche Gehör nicht wahrnehmbaren, aber im Kosmos tönenden und waltenden Urmusik, wie sie Pythagoras und Goethes Geistesohren erklang, ist mir mehr und mehr überzeugend geworden, denn aus solch hohem Ursprung begann ich, das Werden und das Wesen unserer Kunst und ihre elementare Macht über des Menschen Seele allmählich tiefer zu begreifen. Als Geschöpf der Natur, den Einwirkungen der kosmischen Vorgänge auf alles Irdische unterworfen, musste der Mensch von früher Menschenkindheit an unter dem Einfluss jener Musik des Universums stehen. Sein Organismus schwang in ihren klingenden Vibrationen mit und empfing ihre rhythmischen Impulse. Aus jenen vom inneren Wesen der Welt kündenden sphärischen Vorgängen und von ihrer Auswirkung auf des Menschen Entwicklung stammt wohl seine musikalische Grundanlage, die dann von einem dafür geeigneten Reifestadium seiner Sinneswachheit und geistigen Bewusstheit an zur musikalischen Äußerung in lebendigem Klang aufblühen konnte.“ Und so weiter.

Also auch hier die Vorstellung, die ja zunächst wie eine mythologische Figur wirkt, in gewisser Weise kann man ja auch sagen: wie eine reine Fiktion, dass es so etwas geben könnte wie eine Klangstruktur des Kosmos, die sich in der Musik in einer bestimmten Form der Musik zu manifestieren vermag. Das findet man also in fast allen spirituellen Kulturen und ganz vielen Mythologien, auch in ganz vielen übrigens spirituellen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Da taucht das immer wieder als ein ganz wesentliches Merkmal auf.

Nun, wir wollen den Versuch machen nachher, uns durch das Hören einiger Stücke der sogenannten klassischen Musik, ich meine jetzt mal der abendländischen westlichen Musik, also dieser Musik uns meditativ zu nähern. Es erscheint angezeigt, noch einmal zu versuchen zu zeigen, welche Eigenschaften diese Musik auszeichnen und was daran geeig­net ist, meditativ angegangen zu werden. Ich sage nochmal, es ist ja in keiner Weise eine Selbstverständlichkeit, es gibt ein ästhetisch-intellektuelles Herangehen an Musik von Kennern, von Musikwissenschaftlern oder auch von Menschen, die bestimmte Instrumente spielen. Es gibt das reine emotionale Hören, die Begeisterung, das Sich-aufwühlen-Lassen durch die Emotionen eines Musikdramas zum Beispiel. Es gibt das rein intellektuelle, kennerhafte, genießerische Hören. Aber es gibt doch in relativ geringem Grade ein in dem Sinne meditatives Hören. Ja, von der professionellen Form der Musikausübung wird diese Art von meditativem Musikhören eher abschätzig betrachtet als eine bestimmte Form eines, sagen wir mal, dilettantischen Herangehens an Musik, was allerdings, wie ich meine, ungerechtfertigt ist.

Also was kennzeichnet diese Musik? Ich denke, die elementare Ebene, die oft nicht genug berücksichtigt wird, ist die körperliche Ebene. Jede bedeutende Musik, übrigens weltweit, hat immer zu tun mit körperlich-rhythmischen Vorgängen. Sie ist immer gewon­nen aus dem Tanzen, aus dem Schreiten, aus dem Atmen und auch aus dem Pulsschlag. Ich meine, das berühmte Verhältnis etwa eins zu vier, dass ein zentrales Verhältnis überhaupt in der Musik ist, ist ja abgeleitet aus dem Verhältnis von Pulsschlag und Atemschlag. Im Normalfall ist es ungefähr 1 zu 4. Also Musik atmet, sie schwingt in einem umfassenden Sinne, sie ist extrem körperlich und auch ganz differenzierte, hoch differenzierte Musik ist häufig abgeleitet aus tänzerischen Vorgängen und deswegen ist es zum Beispiel ein erster Schritt, eine erste Möglichkeit, dass man Musik tänzerisch angeht, indem man etwa nach Musik tanzt, nach der gemeinhin nicht getanzt wird, zum Beispiel nach einem Streichquar­tettsatz oder einem Satz eines Klavierkonzerts von Mozart oder Ähnlichem. Man kann danach tatsächlich tanzen. Wer das das zum ersten Mal tut, Verwirrung auslöst, Irritation. Wozu? Was soll das? Das ist doch furchtbar. Wieso soll ich denn nach der Musik in diesem Sinne tanzen? Aber es ist eine Möglichkeit also in diese Schicht reinzukommen über einen elementaren Vorgang des Körperlichen, nämlich der Bewegung. Normalerweise sitzt man im Konzertsaal ruhig und soll dies auch. Wer allzu viel rumzappelt auf seinem Sitz, der erregt Aufsehen. Man sitzt ruhig und soll auch ruhig sitzen. Und das Klatschen nach einer musikalischen Darbietung, was ja oft ganz hektisch und sofort einsetzt, wie automatisch, ist ja nach meinem Empfinden nur der Versuch, diesen Bewegungsdrang, der so lange ange­staut war, jetzt Luft zu verschaffen. Jetzt muss also auch Bewegung ins Spiel kommen. Ich habe oft in verschiedenen Zusammenhängen gesagt und auch geschrieben, dass ich nicht glaube, dass dieses Klatschen ein sehr sinnvoller Vorgang ist. Der amerikanische Psycho­therapeut John Diamond, auch ein bedeutender Musikologe, hat nachgewiesen oder glaubt zumindest nachgewiesen zu haben, dass Klatschen das Energieniveau im Körper wieder abbaut. Das heißt durch die Musik, große bedeutende Musik, es wird ein bestimmtes Energieniveau erzeugt, und das Klatschen mindert wieder das, was eigentlich geschehen ist. Das heißt, der Vorgang der Anreicherung und der Steigerung, der Potenzierung wird wieder rückgängig gemacht durch das Klatschen.

Der zweite Punkt ist, dass Musik immer rhythmisch und melodisch harmonisch strukturierter Zeitfluss ist. Musik ist immer Klanggestalt in der Zeit, ich habe es ja vorhin schon gesagt, und diese Klanggestalt in der Zeit vollzieht sich in der abendländischen Musik, das muss man sagen, das ist anders in der indischen Musik, in Form ganz bestimm­ter Spannungsbögen und im Wechselspiel von Konsonanz und Dissonanz, von Expansion, Höhepunkt und Rücklauf. Celibidache, einer der großen Dirigenten unserer Zeit, hat sich zu diesen Phänomenen immer wieder geäußert, dass Musik in gewisser Weise in einem großen Bogen Zeit einerseits zum Klingen bringt, andererseits zur Aufhebung bringt. Und in den größten Interpretationen der Musik kann es geschehen, ganz selten kann es geschehen, dass Zeit in gewisser Weise sich selbst aufhebt, dass also Anfang und Ende sich quasi wie in einem Mandala, wie in einer Spiralbewegung begegnen und einander aufhe­ben. Dann entsteht ein ganz eigenartiger Zustand, dass die Musik auf der einen Seite ein vorwärts drängendes Moment hat, gerade die abendländische Musik, die ja Themen entwickelt, erstes Thema, zweites Thema, es wird variiert, aber dass in gewisser Weise auch dieses vorwärts drängende Moment rückgebunden wird durch einen Spannungs­bogen, der wieder in den Anfang zurückläuft, was ich etwa in der jetzt im engeren Sinne klassischen Musik des 18. Jahrhunderts daran zeigt, dass der Anfang und das Ende den gleichen Grundton haben, die sogenannte Tonika. Das ist ja bei Mozart fast durchgängig der Fall. Ein Stück fängt tatsächlich in einem Grundton der Tonart an und mündet wieder in diesen Ton. Schon bei Beethoven ist es ja anders. Das ist ja nicht mehr der Grundton, aber zumindest der musikalische Grundimpuls.

Die dritte Schicht, die auch meditativ zu erschließen ist, ist das, was Beethoven mal genannt hat als „elektrischen Boden der Musik“, er hat mal gesagt: Die Musik hat einen elektrischen Boden. Das ist ein Begriff, den Beethoven in der damaligen Zeit geprägt hat, beeinflusst von der romantischen Naturphilosophie. Man würde vielleicht heute andere Begriffe wählen, vielleicht in der New-Age-Szene würde man das als Feinstofflichkeit bezeichnen, die Anthroposophen würden es vielleicht ätherisch oder astralisch nennen, wie immer, auf jeden Fall geht es um einen bestimmten Zustand, der um den Körper herum und den Körper durchdringend wahrnehmbar ist, der nicht eigentlich physisch ist. Auch das ist erfahrbar in der Musik. Dass die Musik also tatsächlich eine merkwürdige Zone im Körper aktiviert, die nicht eigentlich physisch ist. Feinstofflichkeit einmal hier in Anführ­ungszeichen gesehen, und da mag es sogar einen Zusammenhang geben, ich habe das in verschiedenen Musik-Seminaren auch ausprobiert, da mag es sogar auch einen Zusam­menhang geben mit den Energiezentren, von denen die asiatische Spiritualität berichtet, also den sogenannten Chakras. Mag sein. Wir wissen ja nicht, ob es die nun wirklich gibt, ob sie wirklich existieren. Auf jeden Fall, es mögen Hilfsmittel sein, es sind Hilfsmittel, die Energiezentren, die Bewusstseinszentren wahrzunehmen. Auch da gibt es Zusammenhänge mit der Musik.

Und dann ist Musik ja immer, und das ist ja zunächst die Schicht, die die meisten Menschen unmittelbar anrührt, emotional. Musik kommt nur dann an, kommt nur dann rüber, wenn sie seelische Prozesse, emotionale Prozesse verdeutlicht, und das kann die abendländische Musik vor allen Dingen durch die Konsonanz-Dissonanz-Spannung und durch die Dur-Moll-Spannung. Das gibt es ja in der Form in keiner nicht-europäischen Musik. Also die Eigenart, dass man die Terz, also die dritte Stufe vom Grundton aus und von der Dominante und von der Subdominante aus um einen Halbton-Schritt erniedrigt, hat sofort zur Folge, dass das gesamte Klangbild sich vollkommen verändert und eine kleine Schwingungsänderung, ein kleiner Wechsel von Dur nach Moll kann emotional ungeheure Auswirkungen erlangen, und es ist eigenartig, dass zum Beispiel in der sakralen Musik in Europa, in der das ganze Dur-Moll-System zunächst abgelehnt wurde und die Terz gerade­zu als das gefährliche Intervall bezeichnet wurde und nur in der Populärmusik eine Rolle spielt, nicht in der sakralen Musik. Sie konnte sich erst später in der sakralen Musik durchsetzen.

Dann ist Musik, vorhin schon angedeutet, eine Integration. Sie integriert die vier Elemente oder Wesensglieder oder Fakultäten des Menschen, nämlich seine Physis, seinen Körper, seine ganze Gefühlssphäre, seine Emotion, seinen mentalen Geist, Rationalität und das Spirituelle mehr oder weniger stark.

Natürlich gibt es Musik, die mehr oder weniger nur Körper-Power ist. Es gibt Musik, die ist so emotional, dass alle anderen Elemente in den Hintergrund treten. Oder es gibt rein konstruktiv-rationale Musik, wo man eigentlich nur mit höchst angespanntem Intellekt hört, wo eigentlich gar keine Emotionen aufkommen. Und die für meine Begriffe intensivste Musik ist diese Musik, in der diese vier Wesenglieder oder Elemente, nämlich die Physis, das Emotionale, das Rationale und das Spirituelle zur Einheit gelangen. Diese Einheit bedeutet keine Einerleiheit, sondern es kann durchaus auch eine konfliktreiche, eine spannungsreiche Einheit bedeuten. Und Musik, gerade die langsamen Sätze können in gewisser Weise sich selbst in die Stille hinein aufheben. Das können Sie bei besonders extremen Beispielen sehen, etwa bei späten Beethoven-Streichquartetten, dass also eigent­lich in gewisser Weise die Stille selber klingt und dann die Musik in die Stille zurückge­bunden wird und in gewisser Weise auch in die Stille zurückläuft, als ob die Stille das eigentliche Ziel überhaupt der Musik sei, als ob es das höchste Ziel der Musik sei, sich ins Schweigen wieder aufzulösen. Und insofern wäre dann, es gibt eine Stelle bei Thomas Mann im Faustus-Roman, wo er das sagt, dass vielleicht die Musik ihr höchstes Ziel darin hat, weil sie die geistigste aller Künste ist, ins Schweigen zu münden, das heißt, sich selbst aufzuheben, sich selbst überflüssig zu machen. Dann wäre ja die Musik nur ein Hilfsmittel, um das meditative Schweigen zu erlangen. Dann wäre sie sozusagen nur eine Stufe, dann wäre das Musik-Meditieren eine Stufe zur eigentlichen Meditation.

Und die letzte Schicht, die immer auch in der Musik eine Rolle spielt, die aber meditativ am schwierigsten anzugehen ist .., ist das, was Thomas Mann auch mal den Zahlenzauber der Musik genannt hat. Musik hat ja immer mit Zahlen zu tun. In der Musik wird gezählt. Das ist aber kein mathematisch-abstraktes, funktionales Zählen, aber es ist ein sozusagen ein mystisches Zählen, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, und die gesamte Struktur der Musik, etwa der abendländischen Musik, ist auf ganz bestimmten Zahlen aufgebaut. Der Fünf, der Sieben, der Zwölf im Quintenzirkel und in der Oktav-Schichtung und so weiter. Hier spielen ständig ganz bestimmte Zahlen-Ordnungen eine Rolle, und es gibt viele Überlegungen, Spekulationen philosophischer und mystischer Art darüber, was diese Zahlen-Ordnung in der Musik eigentlich bedeuten und was sie zu tun haben könnten, etwa mit der Mathematik. Da gibt es ja auch gerade in letzter Zeit im Zusammenhang mit der sogenannten Chaos-Mathematik eine ganze Reihe interessanter Überlegungen darüber, wie Musik mathematisch, in diesem anderen Sinne mathematisch, vielleicht zu fassen sein könnte. Das ist meditativ am schwierigsten wirklich anzugehen, also diese Schicht.

Bevor wir jetzt zu einigen Übungen und Musik-Beispielen kommen, noch ein paar letzte Bemerkungen. Wenn wir uns mit der Musik als einem Klanggebilde konfrontieren, dann ist es sinnvoll, dass man diese Musik zunächst einmal versuchsweise, auch wenn das vielleicht nicht ohne Weiteres zunächst gelingt, als ein eigenes Klangwesen quasi, eine eigene Klanggestalt begreift, als einen eigenen Klang-Organismus, und dann hört, wie weit dieser Klang-Organismus, diese Gestalt, diese Gestaltganzheit mit dem eigenen Klang-Orga­nismus, mit der eigenen Klanggestalt resoniert. Was passiert in dieser Begegnung? Also wenn man wirklich mit ganzer Wachheit und Offenheit hört, dann kann man feststellen, was mit einem selber passiert, wo was resoniert, wo sind tote Zonen, wo kommt es nicht an, wo ist es lebendig? Ist es vielleicht die Herzöffnung, ist es das Herzchakra? Oder habe ich das Bedürfnis, elementar zu tanzen oder sogar Aggressivität zu entfalten? Was passiert eigentlich? Oder denke ich mit mit der Musik? Höre ich sozusagen quasi intellektuell mit der Musik mit? Und Musik-Meditation ist in diesem Sinne, auch wenn das vielleicht ein etwas übertriebener oder überzogener Ausdruck ist, ein Mitgestalten. Es ist nicht einfach ein passives Sich-überfluten-Lassen. Es ist der Versuch, quasi den Ursprungsprozess der Musik mitzugestalten, also im Hören auf eine ganzheitliche Weise mitzugehen und nicht abzuschweifen von dem jeweils gehörten Ton. Da gibt es ein ganz schönes Wort von Celibidache, der sich mit diesen Dingen ja intensiv beschäftigt hat. Der hat mal gesagt: Wenn es dazu kommt, dass Sie sich wirklich einmal vom Denken befreien und dem Ton, dieser mysteriösen, dämonischen Erscheinung unmittelbar folgen können, folgen, nicht nur etwas nachgehen, sondern niemals sich von der Erscheinung trennen, das heißt im Hören tatsächlich immer im Moment dessen, was erklingt, zu sein. Was also eine ganz große Aufmerksamkeit erfordert und wahrscheinlich nur geht, wenn auch eine gewisse Inspi­ration, eine gewisse Emotionalität vorliegt. Denn wenn die Musik nicht wirklich den Menschen elementar ergreift, dann hat er Schwierigkeiten, sich überhaupt auf diese Ebene einzulassen. Also im Grunde dann, der unmittelbarste Vorrang ist es, eine Musik zu nehmen, zu der man einen emotionalen, spontanen Zugang gewinnen kann. Nur dann hat man überhaupt eine Chance, dass man in diese Schicht hineinkommen kann.

Nun gibt es zu dieser Art von Musik-Meditation Hilfsmittel, Übungen. Ich habe in meinem Buch am Ende des Buches 25 dieser Übungen zusammengestellt, zum Teil ganz einfache Übungen, die man machen kann, mit denen man quasi arbeiten kann, die einem helfen können, in diese Musik reinzukommen, wenn man es denn überhaupt möchte, das ist klar, wenn man nicht von vornherein Musik nur begreift als ein ästhetisch-intellek­tuelles Vergnügen, was es ja auch ist, oder als eine rein emotionale Aufwühlung oder schlicht und ergreifend als ein Hintergrundgeschehen, was eben einfach mitläuft zum Frühstück, etwa Klassik SFB3, Klassik Plus, ist ja auch nicht schlecht, aber das ist ein anderes .., sozusagen eine ganz andere Ebene, die da ins Spiel kommt.

Ich denke, dass wir jetzt einmal ein bisschen in die nach dem langen Theoretischen, ein bisschen versuchen, sag ich mal, in aller Vorsicht, in die praktische Ebene reinzu­kommen. Und wir wollen es mal ein bisschen angehen, obwohl wir hier keinen freien Raum haben, und wir kommen also jetzt in den eher praktisch orientierten Teil hinein. Und ich möchte jetzt einen langsamen Satz, den Teil eines langsamen Satzes einspielen lassen, die sechste Sinfonie von Bruckner, langsamer Satz, und einfach mal darum bitten, dass Sie, wenn es möglich ist, wenn Sie mir mal einen Moment die Leitung überlassen, wenn Sie es nicht machen wollen, dann ist es auch nicht weiter schlimm, wenn Sie sich vielleicht gerade in Ihren Sessel setzen, möglichst die Wirbelsäule gerade gerichtet, nicht hängen, weil der Brustkorb dann zusammengedrückt wird, sondern gerade sitzen und ohne Krampf und die Schultern möglichst entspannt lassen und die Hände wie Sie wollen. Sie müssen nicht die traditionelle oder klassische Handhaltung verwenden der ineinander gelegten Hände wie auf den Buddhastatuen. Das ist eine Hilfe, das muss aber nicht sein. Einfach mal gerade sitzen, Schultern entspannt und zunächst mal nichts weiter machen als ganz zu hören – total listening. Einfach gucken, was passiert eigentlich, wenn was passiert. Ich weiß, dass das schwierig ist in so einem Vortrag ganz plötzlich auf Knopfdruck. Knopfdruck heißt, ja nun hör mal ganzheitlich. Das ist natürlich nicht möglich, weil das bedarf es eines bestimm­ten Seminar-Zusammenhangs, das weiß ich, das wissen Sie auch. Das können wir hier nicht realisieren, das ist unmöglich. Insofern hat es einen Versuchscharakter. Also wir versuchen mal einfach in diese Musik reinzugehen, einfach zuhören und mit der Musik als erste elementarste Übung einfach mitgehen, nicht abschweifen, mit der Musik mitgehen, ganz wach, ganz bewusst, ganz präsent und nicht darüber räsonieren oder intellektualisieren.


Können wir vielleicht mal den Bruckner hören, den langsamen Satz?

(…) Ich gebe Ihnen einen kleinen .., sozusagen kleines Experiment, was Sie zu Hause selber probieren können. Versuchen Sie mal diese Musik zum Beispiel oder eine andere Musik, die Ihnen emotional etwas bedeutet, so zu hören wie jetzt, sitzend, und dann dieselbe Musik, einmal, indem Sie sich vollkommen flach auf den Boden legen, ganz platt und plan auf den Boden legen, die linke Hand auf die Brust, die rechte Hand unterhalb des Bauchnabels und möglichst nur ruhig atmen und so bewegungslos wie nur irgend möglich zu liegen. Und Sie werden feststellen, dass die Musik plötzlich, wenn sie eine gewisse Lautstärke hat, das kann man dann vielleicht in der Wohnung nicht immer realisieren, da muss man einen Kopfhörer dann vielleicht nehmen, dass Sie dann eine ganz andere Schwingung dieser Musik hören. Die bekommt dann eine ganz andere Form von Körperlichkeit und gleich­zeitig hören Sie ganz andere Sachen, die Sie vorher nicht gehört haben. Eine andere Mög­lichkeit zum Beispiel ist, dass Sie dieselbe Musik einfach in der Bewegung mitvollziehen, also einfach diese melodischen Figuren, ganz wie es ihnen kommt, mitvollziehen, nachvoll­ziehen. Auch dann kann man eine ganz andere Form von Wahrnehmung entwickeln, und man lernt plötzlich in dieser Musik, in jeder Musik, Schichten kennen, von denen man vorher überhaupt nichts gewusst hat. Das ist verblüffend, weil normalerweise das Hören ja das sitzende Hören ist, es sei denn, man liegt dann auch mal auf der Couch oder sonst etwas. Aber das normale Hören ist das sitzende Hören, es sei denn, man ist Musiker und praktiziert also Musik. Aber es ist also wichtig, dass man sich ein kleines, sagen wir mal, Ritual zurechtbastelt für diese Art hören, das kann ein kleiner Verfremdungseffekt sein, was weiß ich, ein Räucherstäbchen oder oder auch eine bestimmte Beleuchtung, wie immer. Man kann das in einer bestimmten Weise verfremden, um aus der Alltäglichkeit rauszukommen. Das ist wichtig, um einen gewissen Bruch zur Alltäglichkeit herzustellen. Und dann einfach gucken, was passiert mit mir. Das sind die elementarsten Übungen erst einmal für den Anfang. Das können Sie mit einem Bruckner machen, das können Sie mit Beethoven, mit Mozart machen, mit Mahler, im Grunde mit jedem bedeutenden, im Grunde mit jedem beliebigen Komponisten überhaupt. Bloß manche Komponisten sind weniger geeignet in diesem Zusammenhang. Wir können hier nicht tänzerische Dinge praktizieren. Wir können bestimmte Bewegungsvorgänge hier nicht miteinander üben, die ganz elemen­tar eigentlich Vorstufen wären. Und liegen können wir hier jetzt auch nicht, aber wir müssen es also halt mal im Sitzen probieren ,und wir gehen jetzt noch mal in eine voll­kommen andere Musik rein. Von einem zeitgenössischen Komponisten, der in Berlin lebt, ein Este, Arvo Pärt, der ein kurzes Stück geschrieben zum Gedenken an den Tod von Benjamin Britten, den er sehr schätzte, den bedeutenden englischen Komponisten, der 1976 verstorben ist, ein Cantus in memoriam von Benjamin Britten. Ein kurzes Stück, das können wir ganz hören. Es dauert nur fünf Minuten, und Arvo Pärt ist als Este ein extrem spiritueller, ein extrem religiöser Mensch, der ganz bewusst auch die spirituelle Dimension in die Musik einbezieht, auch moderne serielle Musik komponiert hat, aber zunehmend mehr die Musik zurückführt in gewisser Weise auf ihren Ursprungsgrund und sich zuneh­mend getrennt hat von der seriellen Avantgarde-Musik, obwohl er das auch kann und lange Jahre auch gemacht hat. Wir hören also jetzt mal, ein Stück von Arvo Pärt, „Cantus in memoriam Benjamin Britten“, und ich darf Sie bitten wieder, dass Sie möglichst mit gerader Wirbelsäule sitzen, Schultern entspannt und vielleicht im Atem ein ganz klein bisschen beim Ausatmen einen leisen Druck auf den Unterbauch ausüben und eine ganz kleine Pause machen. Das hat einen großen Effekt für den Körper, wer das mal getestet hat, also Ausatmen, ganz kleinen Druck auf den Unterbauch und dass der Atem von alleine dann wieder hochsteigen kann. Wenn Sie das nicht schaffen, ist nicht schlimm. Es soll nun wahrlich kein Krampf daraus gemacht werden, zumal jetzt in diesem Zusammenhang. Also wir versuchen es einfach mal in die Musik quasi reinzuatmen und uns davon durchdringen zu lassen in diesen Atemprozess. Also Arvo Pärt, „In memoriam Benjamin Britten“.

(…) Sie können derartige Hörerlebnisse zum Beispiel, indem sie so einen Satz, wie eben gehört, aufnehmen, intensivieren, indem Sie vorher vor dieser langen, langsamen Phase eine sehr vehemente, sehr schnelle Phase tanzen. Also man kann das so organisieren, wenn man dann die Zeit sich nehmen will, überhaupt zu so etwas, wenn man das nicht für völlig verrückt hält. Und wenn man das überhaupt möchte, dann kann man eine sehr vehemente, schnelle Musik, zum Beispiel ein Mozart, den Schlusssatz aus der Jupiter-Sinfonie etwa, eine wunderbare Tanzmusik, eine sehr vehemente Weise tanzen und dann ein Stück danach, was auch Bewegung enthält, aber eine etwas langsamere Bewegung. Und dann in diese Art von Musik reingehen – und dann im Liegen. Auch das ist jetzt theoretisch leicht dahingesagt. Das ist einfach eine Frage der Erfahrung. Das kann man in der Gruppe machen, das kann man zusammen machen. Elementar schnelle Bewegung, eine ruhige Bewegung und in der Schlussphase einfach liegen und dann eine Weile schweigen und dann gucken, wie da was mit dem Körper auf diese Weise passiert. Auch da kann man sich kleine Rituale schaffen und sich Musik zusammenstellen und versuchen, den Alltag ein Stück weit erst einmal draußen zu lassen, wenn man das möchte. Schön ist das zu zweit oder zu dritt. Man kann es aber genauso gut auch alleine machen.

Hinweis: Der weitere Teil des Vortrags wurde wegen der für eine Transkription unzureichenden Audioqualität nicht weiter bearbeitet. Das gilt auch für die sich dem Vortrag anschließende Diskussion.

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Schopenhauer als Mystiker

Vortrag

Urania Berlin
28.11.2001
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 52

Transkript als PDF:


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Guten Tag, meine Damen und Herren, ich bin am Montag Nachmittag angerufen worden, ob ich in der Lage sei, hier einzuspringen mit diesem Thema. Ich habe gleich, nach einem gewissen Zögern, ja gesagt. Das Zögern lag aber nicht am Thema, sondern daran, dass ich heute Abend noch einen anderen Vortrag habe. Um 19 Uhr in der Lessing-Hochschule über das Phänomen der Zeit, im Rahmen einer Vortragsreihe. Und deswegen habe ich gezögert. Und der [Veranstalter] sagte: Doch, Sie können das doch, Sie machen das doch. Insofern habe ich gesagt: Gut, ich mache das.

Ganz kurz zu mir selber. Ich bin Philosoph und Autor vieler Bücher und bin auch an der Humboldt-Universität, im Moment pausiere ich ein Semester. Ich habe mich mit Schopenhauer sehr intensiv über viele Jahre hinweg immer wieder neu beschäftigt. Und auch diese Frage, die hier ja das zentrale Thema ist, die Frage nach dem Mystiker Schopenhauer, Schopenhauer und die Mystik, Schopenhauer und die Spiritualität und die Beziehung zur asiatischen Philosophie, gerade diese Facetten haben mich immer sehr intensiv beschäftigt. Und ich darf vielleicht auf eines dieser Bücher von mir hinweisen, wo auch Schopenhauer eine gewisse Rolle spielt. Das ist eines meiner letzten Bücher, „Räume, Dimensionen, Weltmodelle – Impulse für eine andere Naturwissenschaft“, vor zwei Jahren bei Diederichs in München erschienen, und da gibt es ein Kapitel, das heißt „Durch Verrat in die Festung. Vvom Menschen als Schlüssel der Welt“. Und hier kommt auch Schopenhauer vor. Vor allen Dingen seine Leib-Philosophie und seine Erkenntnislehre. Da ist mir Schopenhauer kolossal wichtig, da ist er ungeheuer aktuell, aktueller als man zunächst vermuten könnte. Gut.

Und Sie wissen, dass morgen in der Philharmonie eine konzertante Aufführung von Richard Wagners „Parsifal“ stattfindet. Und Sie wissen alle, dass Richard Wagner sich sehr intensiv mit Schopenhauer beschäftigt hat, von ihm auch stark beeinflusst war, unter anderem in „Tristan und Isolde“, aber auch im „Parsifal“. Ich lese mal als Einstieg einen Brief vor, eine Briefstelle von Richard Wagner an seinen Freund Franz Liszt über Richard Wagner. Warum gerade dieser Text? Das werden Sie gleich bemerken. „Lieber Franz“, Dezember 1885, „ich komme immer mehr dahinter, dass du eigentlich ein großer Philosoph bist. Wie ein rechter Fahans [unsicher] komme ich mir dagegen vor. Neben dem langsamen Vorrücken meiner Musik habe ich mich jetzt ausschließlich mit einem Menschen beschäftigt, der mir, wenn auch nur literarisch, wie ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit gekommen ist. Es ist Arthur Schopenhauer, der größte Philosoph seit Kant, dessen Gedanken er, wie er sich ausdrückt, vollständig erst zu Ende gedacht hat. Die deutschen Professoren haben ihn wohlweislich 40 Jahre lang ignoriert. Neulich wurde er zur Schmach Deutschlands von einem englischen Kritiker entdeckt.“ Das wissen Sie, Schopenhauer war lange Zeit vollkommen unbekannt, kein Mensch interessierte sich für Schopenhauer. Er wurde erst um diese Zeit herum bekannt und hat noch als alter Mann seinen Weltruhm erlebt. Nicht so Nietzsche, der hat seinen Weltruhm nicht mehr erlebt. „Was sind vor allem alle Hegels usw. für Scharlatane? Sein, Schopenhauers, Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernst, aber einzig erlösend. Mir kommen [kommt er] natürlich nicht neu, und niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er [ihn] nicht bereits lebte. Aber zu dieser Klarheit erweckt hat ihn mir erst dieser Philosoph. Wenn ich auf die Stürme meines Herzens, den furchtbaren Krampf, mit dem es sich wider Willen an die Lebenshoffnung anklammerte, zurückdenke, ja, wenn Sie noch jetzt oft zum Orkan anschwellen, so habe ich dagegen doch nun ein Quietiv [ein von Schopenhauer geprägtes Kunstwort, sinngemäß: Beruhigungsmittel] gefunden, das mir endlich in wachen Nächten einzig zu Schlaf verhilft. Es ist die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod. Völlige Bewusstlosigkeit gänzlich ist nicht sein Verschwinden aller Träume einzigste endliche Erlösung“. Zitat Ende.

Interessant ist die Art und Weise, wie Wagner in diesem Brief an Liszt Schopenhauer charakterisiert. Für ihn ist er primär ein Denker der Erlösung. Was Wagner an Schopenhauer interessiert, ist eben dies, die Verneinung des Lebenswillens, die Erlösung, das erlösende Nicht-Sein, das Nicht-mehr-geboren-werden, siehe auch Kundry in dem Musikdrama „Parsifal“.

Nun haben diese beiden großartigen Menschen, der Denker und der Musiker, diese erstaunliche Gemeinsamkeit: Beide sind, wenn man das so nennen möchte, geradezu Erlösungsbesessene. Peter Wapnewski, bekannt als Wagner-Kenner, hat mal gesagt: Richard Wagner denkt und gestaltet eigentlich nur einen einzigen Gedanken ‒ den der Erlösung. Er ist wie besessen von dem Gedanken der Erlösung. Das können Sie in gesamten Werk Richard Wagners verfolgen, vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“. Es geht immer um die eine Frage der Erlösung, es geht um die Erlösung. Bei Schopenhauer ist es ganz ähnlich. Es geht eigentlich bei ihm zentral um diesen Gedanken der Erlösung, der Erlösung von allem Leid, vom Wechsel und Wandel der Erscheinungen.

Nun, Schopenhauer, ein Mystiker, hat Frau Nusch [wahrscheinlich die ursprünglich für den Vortrag Verantwortliche] formuliert, ja nicht als Frage. Ich würde eher sagen, fragen wir: Ist Schopenhauer ein Mystiker? Gut, ich übernehme jetzt mal Ihre Formulierung, Schopenhauer als Mystiker.

Was ist Mystik? Eine begrifflich vollkommen einwandfreie und uns alle überzeugende Definition dessen, was Mystik ist, wird sich nicht finden lassen. Darüber sind wir uns, glaube ich, einig. Man kann ganz vorläufig sagen, Mystik ist eigentlich keine Theorie, es ist kein theoretisches Konzept. Mystik ist eigentlich nicht Denken, Mystik ist nicht logisch, Mystik ist nicht diskursiv, sondern Mystik ist zunächst einmal ein Bewusstseinszustand, ist eine Haltung. Es ist eine seelisch-geistige Haltung, ein bestimmter Bewusstseinszustand. Welcher Art ist dieser Bewusstseinszustand? Auch das kann man sehr schwer in wenige Formeln pressen, denn es gibt sehr viele, ganz verschiedene Arten und Formen, Ebenen der Mystik. Im weitesten Sinne gesehen kann man sagen: Mystik ist ein Bewusstseinszustand, in dem oder innerhalb dessen das konventionelle Schema von Raum, Zeit, Kausalität, Materie und Selbst einschließlich Subjekt-Objekt-Trennung überschritten wird. Also der mystische Zustand ist, wie man sagen könnte, ein anderer, höherer Bewusstseinszustand, der auf eine Art Vereinigung des bis dahin Getrennten abzielt. Daher die berühmte Formel „unio mystica“. Eine mystische Vereinigung. Der Mystiker fühlt sich nicht getrennt von der Welt, er fühlt sich nicht als ein separates Selbst hier und die Welt als ein Objekt da draußen, sondern er fühlt sich in der Tiefe mit diesem Weltganzen eins.

Mystisch, eine mystische Erfahrung ist in diesem Sinne eine Einheitserfahrung. Das ist wichtig, und das spielt natürlich bei Schopenhauer eine ganz zentrale Rolle. Das weiß jeder, der auch nur oberflächlich Schopenhauer gelesen hat, dass bei diesem Denker der Gedanke der Einheit der Welt zentral ist. Diese Welt ist zwar aufgespalten in unzählige Einzelheiten. Sie ist aber in der Tiefe, in ihrem eigentlichen Grund, in ihrem Urgrund, eins, wie auch in der altindischen Philosophie der „Upanishaden“. Das also gleich mal vorab, ein Bezug von Mystik und Schopenhauer.

Sie kennen die alle, die schöne Stelle in „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, da singt Isolde ekstatisch, entrückt, liebestrunken: „Selbst dann bin ich die Welt“. Das ist die mystische Formel. Ich bin selbst die Welt, „selbst dann bin ich die Welt“ und am Ende des „Tristan“ ertrinken, versinken, unbewusst höchste Lust und dann für alle Wagnerianer das reinste Entzücken. Die Schauer laufen die Wirbelsäule rauf und runter. Das Orchesterfinale dieser Oper, dieses Musikdramas ‒ gut.

Ich will Ihnen versuchen, die mystische Komponente bei Schopenhauer in dem Zusammenhang der Gesamtphilosophie Schopenhauers zu zeigen. Das muss man auch, man kann nicht die mystische Komponente, auch seine Lehre vom Mitgefühl, vom Mitleid, engl.: compassion, herauslösen. Da würde man Schopenhauer unrecht tun. Das würde er mit argen Verwünschungen und wüsten Beschimpfungen bedacht haben. Er hat immer ganz großen Wert darauf gelegt, dass er auch rational nachvollziehbar denkt und allein die formelhafte Zuschreibung, er sei ein Mystiker, hätte Schopenhauer, das kann ich mit Sicherheit sagen, ganz scharf abgelehnt. Er hätte diese Zuschreibung abgelehnt, er hat immer gesagt, er ist kein Mystiker. Er stoppt mit dem Denken an der Stelle, wo die mystische Erfahrung beginnt. Bis dahin denkt er, und danach überantwortet er das Denken einem höheren und anderen Bewusstseinszustand, sagt aber ganz bescheiden: Hier gehe ich nicht weiter. Das tut aber der Mystiker. Der Mystiker geht ja an der Stelle weiter. Schopenhauer soll als 17-Jähriger gesagt haben, und das ist ein Leitmotiv seiner Existenz, ich habe es nicht wörtlich im Kopf, aber ungefähr, ich habe die Stelle auch nicht mehr gefunden: Das Leben ist eine missliche Sache. Ich werde es hinbringen, über dasselbe nachzudenken. Also wenn es schon, wenn ich schon da bin und das Leben so leidvoll und traurig ist, so misslich, dann will ich wenigstens das Beste daraus machen. Ich denke über das Leben nach. Er hat mal diese zentrale Frage auch in seinem Hauptwerk „Welt als Wille und Vorstellung“ so formuliert: Woher überhaupt der große Misston, der diese Welt durchtränkt? Das ist eine Leitfrage: Woher überhaupt der große Misston, der diese Welt durchdringt? Schopenhauer geht davon aus, mit dieser Welt liegt irgendetwas fundamental im Argen. Und zwar in der Grundstruktur meint er, sozusagen in dem fundamentalen Bauwerk dieser Welt liegt ein dunkles Rätsel, das immer auch Leid produziert, und das hat er natürlich gemeinsam mit Buddha, auf den er sich auch unermüdlich beruft, wie Sie wissen. Also, woher überhaupt der große Misston, der diese Welt durchtränkt?

In der „Welt als Wille und Vorstellung“ gibt es folgende Passage, ich lese sie mal vor, damit sie auch ein bisschen mal in die wunderbare Sprache reinkommen, denn Schopenhauer ist ein glanzvoller Stilist, einer der großartigsten Stilisten der deutschen Sprache. Man hat ähnlich wie bei Nietzsche immer Mühe als Schreibender und Vortragender, dass die eigenen Aussagen nicht allzu sehr sprachlich, stilistisch, unterhalb dessen, was man da zitiert, abfallen. Man gibt sich Mühe, dass das nicht ganz so schlimm ist, der Kontrast. Schopenhauer: „Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt, das heißt diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinausführt, ist gerade die“ ‒ jetzt ganz wichtig ‒ „welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt fragt.“ Dazu nachher mehr, „nach dem Was der Welt fragt. Das heißt, welche die Dinge nicht nach irgendeiner Relation, nicht als werdend und vergehend, kurz nicht nach einer der vier Gestalten des Satzes vom Grunde betrachtet, sondern umgekehrt gerade das, was nach Aussonderung dieser ganzen jenem Satz nachgehenden Betrachtungsart noch übrig bleibt“, also Raum, Zeit, kausale Verknüpfung der Dinge, Substanz und so weiter. „Das in allen Relationen erscheinende Selbst, aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben zum Gegenstand hat. Von solcher Erkenntnis geht wie die Kunst, so auch die Philosophie aus. Ja, wie wir in diesem Buch finden werden, auch diejenige Stimmung des Gemüts, welche allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt.“ Wieder der Begriff der Erlösung. Seine Philosophie, sagt er, großes Wort, führe allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt. Der Heilige im Sinne Schopenhauers ist nicht im religiös engen Sinne der Heilige. Der Heilige von im Sinne Schopenhauers ist immer der Entsagende. Der Heilige ist der die Welt überwunden hat. Der Heilige war ihm häufig oder manchmal auch synonym mit: der mystische Mensch, der die Welt als Ganzes hinter sich gelassen hat.

Ich will Ihnen zunächst einmal die zentralen Komponenten der Schopenhauerschen Philosophie präsentieren mit Schwerpunktsetzung auf dem Erlösungsgedanken, auf dem mystischen Gedanken, Ihnen auch die erkenntnismäßige Komponente zeigen und dann in einige zentrale Textstellen reingehen, um dann die Brücke zu schlagen zum indischen Denken. Das ist ja für Schopenhauer wichtig, das hat ihn auch stark beeinflusst. Ohne die „Upanishaden“ wäre er nicht zu seiner Philosophie gekommen. Er hat immer gesagt, es gibt drei entscheidende Quellen seiner Philosophie.

Erstens: die Philosophie Kants, zweitens: die Ideenlehre Platons und drittens: die Alleinheitslehre vom Brahm, vom Brahman, Atman, der „Upanishaden“ oder „Veden“, der altindischen Religion und Philosophie. Erst später hatte er sich dann auch mehr mit dem Buddhismus beschäftigt. Zunächst kaum. Der frühe Schopenhauer hat sich relativ wenig mit dem Buddhismus beschäftigt. Das kommt daher, weil viele der zentralen Texte des Buddhismus damals noch gar nicht publiziert waren. Die kannte er gar nicht. Die sind erst viel später veröffentlicht worden.

Ich stelle Ihnen mal die zentralen Komponenten der Philosophie Schopenhauers vor und versuche dann die genannten Akzente zu setzen. Es sind elf zentrale Punkte, die sich mir im Laufe einer mehr als 30-jährigen Beschäftigung mit Schopenhauer so dargestellt haben.

Erstens: Schopenhauer ist vielleicht der konsequenteste Denker auch, der dem Rätsel des Leidens, der Vergänglichkeit, des Furchtbaren, des Entsetzlichen in der Welt, der Angst und des Grauens nicht ausgewichen ist. Schopenhauer hat sich wirklich radikal konfrontiert mit dem Furchtbaren dieser Welt. Er ist ein Denker des Furchtbaren, ein Denker auch des Grauens, wenn man so will, wenn man das moralisch-religiös auch nennen will: ein Denker des Bösen. Er denkt das mit, und damit denkt er auch immer mit den leidenden Menschen. Ja, er denkt ihn nicht nur mit, sondern er setzt ihn in den Mittelpunkt, und das trennt ihn radikal von Hegel. Sie kennen vielleicht die berühmte Formulierung von Hegel in der Geschichtsphilosophie, fast wörtlich zitiert, Hegel: „Mit Blut und Krieg muss man fertig sein, wenn man an die Weltgeschichte geht. Hier kommt es auf den Begriff an.“ hat Hegel immer wieder gesagt. Das Leiden des Einzelnen, darüber geht die Geschichte hinweg. Der Marsch der Begriffe in der Geschichte, die unbarmherzige Logik der Dinge geht über das Leiden des Einzelnen hinweg. Der Einzelne ist zufällig, er ist unwichtig, er zählt überhaupt nichts. Da setzt Schopenhauer einen vollkommen anderen Akzent. Der leidende Mensch, der Einzelne ist für ihn real und zentral.

Zweiter Punkt: Daraus folgt bei Schopenhauer eine Lehre, die man als eine Allverbundenheitslehre bezeichnen kann. Schopenhauer denkt, die Welt als allverbunden, woraus eine bestimmte Ethik folgt. Er hat nicht zufällig zwei Schriften zur Ethik abgefasst und versucht der Ethik ‒ bei ihm nicht scharf getrennt von Moral übrigens – ein Fundament zu geben. Man kann, wenn man das als Begriff annehmen möchte, sagen, Schopenhauer predigt, in Anführungszeichen, eine Mitleids- und Verzichts-Ethik. Er predigt sie. Kritiker haben immer wieder gesagt: Er lebt sie gar nicht. Er war gierig auf jede positive Rezension in Zeitungen, hat das Leben genossen, hat sich’s gut gehen lassen, hat keineswegs dies gelebt. Ist das ein Einwand? Darüber können wir noch diskutieren. Der bedeutende Biograph Schopenhauers, Rüdiger Safranski, jetzt ja als Nietzsche-Biograph bekannt, hat am Schluss seines Schopenhauer-Buches, Ende der achtziger Jahre geschrieben: Schopenhauer wurde nicht der Buddha von Frankfurt. Und dann Safranski sinngemäß: Und das ist auch gut so, dass er nicht in diesen Wahn verfallen ist, nun auch noch seine eigene Lehre leben zu müssen.

Gut, kann man ja mal auf sich beruhen lassen, ist das richtig? Sollte nicht einer, der so redet, dann auch das leben? Er hat es nicht getan. In diesem Zusammenhang wichtig gehört für Schopenhauer, dass auch die Tiere als lebendige Wesen einbezogen sind. Auch die Tiere sind für ihn Manifestationen des einen universalen Weltenwillens. Auch die Tiere sind schutzbedürftig, müssen geschützt werden. Er hat radikal gegen die Vivisektion gekämpft, wie ja auch dann zum Teil Richard Wagner, hat radikal die Lehre des Descartes bekämpft, dass die Tiere nur Automaten sind. Nicht, Sie kennen die berühmte Lehre von Descartes, der sagt: Diese Tiere, wenn sie denn Schmerz zu empfinden scheinen, dann täuscht uns das, denn in Wirklichkeit sind Tiere nur komplizierte Automaten. Selbst der große, bedeutende Spinoza, selbst er, neigt noch ein wenig dieser Annahme zu, Tiere als Sachen [zu sehen]. Das ist ja noch auch im Recht so, Tiere sind Sachen. Das hat Schopenhauer ganz scharf abgelehnt. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass daraus eine Art ökologische Ethik folgt, mit Abstrichen, da muss man sehr vorsichtig sein. Man soll jetzt nicht Schopenhauer gewaltsam aktualisieren und sagen, na gut, der Schopenhauer, der ist schon ein sozusagen ein Vorläufer der Grünen, wie sie mal waren, die gibt es ja nicht mehr, die Grünen früher, was sie mal getragen hat. Das hieße zu weit gegangen sein. Das kann man mit Schopenhauer nicht machen. Also ein grüner Vordenker war er sicherlich nicht. Wichtig ist das eher für ihn, Mitleid, Mitgefühl, manchmal verwendet er auch das englische Wort „compassion“ zentral ist, ja der Weg, die Einheit der Welt zu verstehen. Mitleid, sagt Schopenhauer wörtlich, ist ein moralisches Urphänomen. Urphänomen, ein Begriff von Goethe, den er in gewisser Weise von Platon übernommen hat, nicht den Begriff, aber die Vorstellung. Also Mitleid ist ein moralisches Urphänomen: Das heißt, wenn ich einen Anderen leiden sehe, dann gibt es nach Schopenhauer eine spontane Identifikation, in diesem Moment, in dem der Andere leidet, wenn ich sein Leid sehe, bin ich der Andere. Das ist seine These. Im Mitgefühl identifiziere ich mich unbewusst mit dem Anderen. Ich bin dieser Andere, in diesem Moment. Da sind wir nicht voneinander getrennt.

Dritter Punkt: Schopenhauer liefert eine hochintelligente, nicht immer ganz einfach zu verstehende Erkenntnistheorie, Erkenntnislehre, die man bezeichnen könnte, er benutzt ähnliche Formulierungen, als eine immanente Metaphysik. Man unterscheidet ja Immanenz und Transzendenz. Transzendent ist das, was die Welt übersteigt, was grundsätzlich der Erfahrung nicht zugänglich ist, und verbindet das häufig genug mit einem spekulativen metaphysischen Denken, das ja Kant bekanntlich in der „Kritik der reinen Vernunft“ scharf zurückgewiesen hatte. Schopenhauer meint, man kann die Welt immanent begreifen aber zugleich metaphysisch. Dazu nachher mehr, denn der Grund der Welt ist nach Schopenhauer der Lebenswille, und der ist ein metaphysisches Prinzip, jenseits von Raum, Zeit, Kausalität, Substanz, Vielheit und so weiter.

Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass Schopenhauer der erste Denker der abendländischen Geistesgeschichte ist, der das Wesen des Menschen vom Leib aus denkt, nicht vom Geist aus. Bis dato hatten alle Denker die Essenz des Menschen immer in seine geistig-seelische Facette gelegt, in das Geistig-Seelische. Schopenhauer ist der Erste, mit Vorläufern natürlich, zum Teil findet man das auch bei Schelling, der klar sagt, der Mensch ist primär eine Konstellation des Willens zum Leben, eine Gestalt des Willens zum Leben und erst sekundär ein denkendes Wesen, ein denkendes, ein vorstellendes Wesen. Das führt, um das gleich noch mal plakativ zu sagen, weil es wichtig ist, auf diese beiden schwierigen Begriffe, die Schopenhauer als Titel benutzt für sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“.

Was ist gemeint? Vorstellung für Schopenhauer ist nicht Imagination, freie Phantasie, sondern Vorstellung ist für Schopenhauer alles, was für ein Subjekt Objekt ist. Alles, was in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjekts ist, die Außenwelt, die Objektwelt, die Materie. Das ist für Schopenhauer Vorstellung, das hat er übernommen von Kant. Und Wille, das ist ja zentral auch für die mystische und Mitleids-Problematik, Wille ist für Schopenhauer das, was allem Sein von innen zugrunde liegt. Vorstellung, plakativ, ist immer das Außen. Wille ist immer das Innen. Wir sind nach Schopenhauer Gestalt gewordener Wille, Lebenswille. Der Leib ist Willensform, da ja auch unser Leid als gehemmtes Wollen, wie Schopenhauer sagt, und der Geist, der Intellekt, ist für ihn nur ein Werkzeug, ein Instrument des Willens. Das war radikal neu, das weist natürlich voraus auf die ganze Tiefenpsychologie, das ist klar. Freud hat das auch immer wieder eingestanden, dass er ohne Schopenhauer, mit Abstrichen auch ohne Nietzsche, nicht zu seinen Einsichten gekommen wäre. Das ist natürlich, das weist voraus auf die Tiefenpsychologie.

Vierter Punkt: Schopenhauer denkt den Menschen vom Leib aus. Er sieht den Leib, um jetzt ganz bewusst nicht „Körper“ zu sagen, da Körper zu sehr wie außen wirkt, er sieht den Leib des Menschen als den einzigen Weg zur Erkenntnis der Welt. Das ist ein zentraler Punkt. Schopenhauer sagt: Wir können die Welt, die uns da außen gegenüber ist, nur auf eine einzige Weise erkennen, über unser Selbstbewusstsein, über uns selber, weil wir nur durch unsere Leiblichkeit gleichzeitig innen und außen sind ‒ ein genial einfacher Gedanke.

Jeder Einzelne hat seinen eigenen Leib, ja von wie von außen, wenn sie ihre eigenen Hände betrachten, das ist wie ein Ding in der Objektwelt außen. Gleichzeitig aber sind sie ja drin, sie sind in der Hand, Sie sind diese Hand. Und da haben Sie als Beispiel in der eigenen Leiblichkeit, sagt Schopenhauer ‒ genial einfach, schlecht zu widerlegen, kaum zu widerlegen – sagt Schopenhauer, da haben wir die Einheit von Subjekt und Objekt. Nur hier. Und jetzt können wir von dieser unmittelbaren Erfahrung, auch der Erfahrung des Leidens aus rückschließen auf die Welt als Ganzes, in Analogieschlüssen, in Analogieschlüssen. Denken ist immer Analogie. Man kann sagen, das ist ja nicht legitim, das darf man nicht, das sollte man nicht. Das ist nicht richtig. Letztlich kann der Mensch mehr oder weniger nur in Analogien, also Ähnlichkeiten denken. Schopenhauer hat das ganz konsequent gemacht. Es gibt ein Wort von ihm, dass man auch bei Novalis findet. Ich weiß nicht, ob er es gelesen hat in den „Fragmenten“: Die Welt ist ein Makro-Anthropos, ein großer Mensch. Die Welt als Makro-Anthropos, findet sich in den „Fragmenten“ des Novalis. Solche Gedanken finden Sie auch in der asiatischen Philosophie, etwa im Tantrismus.

Fünftens: Schopenhauer war der erste Denker mit Vorläufern bei den Romantikern, Friedrich Schlegel zum Beispiel, der konsequent, wie man das nennen könnte, das Tor nach Asien aufgemacht hat. Er war der erste, der die asiatische Philosophie, die indische Philosophie, die indische Spiritualität, die indische Mystik vollkommen ernstgenommen hat, ihr sozusagen die philosophische Würde zugesprochen hat und sie voll gültig in das eigene Denken integriert hat. Das war neu. Das hat es so vorher nicht gegeben. Und das war auch folgenreich, denn ohne Schopenhauer hätte es die ungeheure Renaissance des Buddhismus, des asiatischen Denkens in Europa so nicht gegeben. Schopenhauer war ungeheuer einflussreich. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es ohne die Weichenstellung Schopenhauers, auch das, was im 20. Jahrhundert dann sich entwickelt hat, als Orientierung Richtung Asien so gar nicht gegeben hätte. Also er war wirklich da ein Pionier. Das muss man ganz eindeutig sagen. Er lässt übrigens, das ist wichtig für unseren Kontext, die Möglichkeit der Reinkarnation offen. Es ist ja immer die Frage der Anhänger der Reinkarnationslehre: Ja, glaubt der Schopenhauer an Wiedergeburt oder nicht? In gewisser Weise ja, aber er lässt das offen. Das wird uns noch beschäftigen in anderem Zusammenhang.

Sechster Punkt: Er bietet ein radikal realistisches Bild des Menschen. Was oft als sein Pessimismus bezeichnet wird, ist ein Bild des Menschen, wie er leider, vielleicht nicht ausschließlich, aber auch ist, der Mensch als ein gieriges Wesen, als ein eitles Wesen, als ein Wesen, was krallt, als ein Wesen, das in der eigenen Leiblichkeit sich festklammert, das verstrickt ist in Fleisch und Blut. Das hatten Philosophen ja oft eher geringschätzig behandelt; das nimmt er vollkommen ernst und sagt gut, was ich sage, sagt Buddha auch, sagt auch Meister Eckhart.

Siebenter Punkt: Schopenhauers Philosophie ist ein genialer Versuch, das Rätsel der Freiheit zu lösen. Kurzformel, wichtig hier, Freiheit als Willensfreiheit verstanden, schwieriges Problem der Philosophie, nur am Rande erwähnt, löst Schopenhauer damit, dass er sagt: Wenn ich sage, ich kann tun, was ich will, dann ist das richtig, aber ich kann nicht hinter den eigenen Willen zurück. Wenn Sie Kinder fragen, warum machst du das? Dann sagt das Kind: Na, weil ich es will. Und dann die Frage der Erwachsenen, ganz unzulänglich: Warum willst du das? Weil ich will. Kein Mensch kann etwas Anderes sagen, Sie kommen mit dem Willen an eine Grenze, weil dann müssen Sie immer wieder nur sagen, ja, es gibt einen Willen hinter dem Willen, und hinter diesem Willen wieder einen Willen. Schopenhauer hat gezeigt, dass man da nicht rauskommt. [Möglicherweise achter Punkt]Das hat viele Bewunderungen ausgelöst und hat sein Renommee als Philosoph im 20. Jahrhundert mitbegründet. Es gibt viele, das wissen Sie vielleicht nicht, glühende Bewunderer von Schopenhauer im 20. Jahrhundert. Das war Einstein, das ist zum Beispiel heute Rudolf Augstein, der immer mal wieder, wenn Sie seine Betrachtungen lesen, durchblicken lässt, dass er Schopenhauer kolossal bewundert, gerade wegen dieser Lösung oder wegen dieses Aspektes der Freiheitsfrage.

[Neunter Punkt]Dann ist Schopenhauer ein glänzender Essayist und Stilist, der auf Nietzsche vorausweist. Er ist nie langweilig. Sie können Schopenhauer überall aufschlagen, wann immer Sie wollen, er ist nie langweilig, immer interessant.

Zehnter Punkt: Er liefert eine großartige Metaphysik der Musik. Das ist nicht unser Thema heute Abend. Und schließlich [elfter Punkt], auch interessant: Er war einer der ersten Philosophen, der den Versuch gemacht hat, sogenannte paranormale Phänomene auch philosophisch zu erklären.

Gut, nun zu diesem Willen bei Schopenhauer. Was ist dieser Wille? Zitat: „Der Wille“ – Schopenhauer „Welt als Wille und Vorstellung“ – „welcher rein an sich betrachtet erkenntnislos und nur blinder, unaufhaltsamer Drang ist.“ Also Wille, nicht ein bewusster Wille, ich will jetzt diesen Raum verlassen, oder ich will jetzt zu Fuß gehen oder in die U-Bahn einsteigen, sondern Wille als ein unbewusster Wille, als ein blinder Wille. Jeder von uns hier, nach Schopenhauer, ist dieser Wille selbst. Das ist das letzte Datum im Sinne Schopenhauers, nicht der Tag gemeint, auf das er zurückkommen kann. Also „der Wille nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen wie auch im vegetativen Teil unseres eigenen Lebens erscheinen sehen, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen.“ Plötzlich durch die Welt sieht sich der Wille wie von außen. Er ist aber drinnen. So entsteht für den Menschen eine eigenartige Paradoxie. Er sieht nach Schopenhauer die Welt außen, sich selber hat er ja innen, er hat aber einen geheimen Zugang der Welt, zur Welt, weil alles Außen genauso wie bei ihm selber im Innersten, ebenfalls Wille ist. Die Welt ist nach Schopenhauer im Grunde eine Einheit. Hinter aller Vielheit steht die Einheit. Frage aller Einheitslehren: Wie kommt die Einheit zur Vielheit? Darauf sagt Schopenhauer: Das ist der Taschenspielertrick der Natur, den wir nie ergründen werden.

Nicht, Sie wissen, dass alle Einheitslehren dieser Welt, religiöse, spirituelle, immer dieses eine Problem hatten: Ja wie kommt denn nun eigentlich dieses Eine zu dem Vielen? Was ist da passiert? Also „entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen und von dem was es sei, das er will, dass es nämlich nichts anderes sei als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht.Da der Wille, das Ding an sich“, sagt er mit [oder] nach Kant, „der innere Gehalt, die Erscheinung aber nur der Spiegel des Willens, so wird diese den Willen so unzertrennlich begleiten wie den Körper sein Schatten. Und wenn Wille da ist, wird auch Leben Welt, Dasein. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiss. Und solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Dasein nicht besorgt sein, auch nicht beim Anblick des Todes.“ Jetzt kommt der entscheidende Punkt, der mit jeder Erlösungsvorstellung zusammenhängt: Wie hältst du es mit dem Tod? Wie denkst du denn den Tod? Und Schopenhauer denkt den Tod. Übrigens denkt fast jeder Philosoph den Tod in irgendeiner Form. Von Platon stammt die berühmte Formulierung: Philosophieren heißt Sterben lernen. Der berühmte Satz Schopenhauers, von Platon: Philosophieren heißt Sterben lernen, den Tod begreifen. „Wohl sehen wir das Individuum, den Einzelnen, entstehen und vergehen, aber das Individuum ist nur Erscheinung, ist nur da für die im Satz vom Grunde, dem principio individuaciones“, also dem Prinzip der Vereinzelung, „befangene Erkenntnis. Für diese freilich, also für diese separate Erkenntnis des Prinzips der Vereinzelung, „für diese freilich, empfängt es sein Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zurück. Aber wir wollen ja eben das Leben philosophisch, das heißt seinen Ideen nach betrachten, und da werden wir finden, dass weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, noch das Subjekt des Erkennens, der Zuschauer aller Erscheinungen, von Geburt“, jetzt ganz wichtig, „von Geburt und Tod irgend berührt werden.“ Das heißt, das eigentliche Wesen der Welt wird von Geburt und Tod überhaupt nicht tangiert. Das betrifft immer nur die Erscheinung, nicht aber die Essenz, nicht das Wesen. „Geburt und Tod gehören eben zur Erscheinung des Willens als zum Leben, und es ist diesem wesentlich, sich in Individuen darzustellen, welche entstehen und vergehen als flüchtige, in der Form der Zeit auftretende Erscheinungen desjenigen, was an sich keine Zeit kennt.“ Also dieser Wille kennt keine Zeit, nach Schopenhauer, er kennt auch keinen Raum, er kennt keine Substanz, er kennt keine Kausalität. Und die Frage, was denn dieser Wille jenseits all dessen sei, hat Schopenhauer immer sehr zurückhaltend beantwortet, er hat immer gesagt, dass das grundsätzlich sich jeder Erkenntnis entzieht, und das ist wichtig für die mystische Komponente, Schopenhauer als Mystiker.

Sie können aus der Philosophie Schopenhauers natürlich mystische, spirituelle, von mir aus auch transpersonale Schlussfolgerungen ziehen, das ist vollkommen legitim. Aber Schopenhauer selber stoppt immer an dieser Stelle. Er sagt, er treibt das Denken nur bis zu der Stelle, jenseits derer dann die Kontemplation, heute würde man vielleicht sagen: die Meditation, die mystische Innenschau, beginnen müsste oder sollte. Innerhalb der Welt ist das Eine, jenseits der Welt ist ein Etwas, das sich dem Denken radikal verweigert. „Darum stoßen wir auch mit unserem Intellekt“, schreibt Schopenhauer, „diesem bloßen Willenswerkzeug, überall an unauflösbare Probleme wie an die Mauer unseres Kerkers.“ Er sagt, jede Seinsfrage, etwa: Ist die Welt endlich oder unendlich? Hat die Welt einen Anfang oder hat die Welt keinen Anfang? Wie geht es dort weiter? Was ist dort? Was ist hier? Was ist der Tod in der Tiefe? Darauf, meint Schopenhauer, kann das Denken keine Antwort geben, das sei für das Denken nicht lösbar. Es stößt an die Grenze, noch mal wörtlich, „wie an die Mauer unseres Kerkers“ ‒ sehr interessant, eine ungeheure Einschränkung des Denkens. Schopenhauer war in diesem Sinne ein ganz bescheidener Denker, wenn man es so nennen möchte. Er sagt, unser Denken kann nur sozusagen den Kerker, den wir als Leib sind, ausleuchten. Wir können aber mit dem Denken nicht den Kerker verlassen. Verstehen Sie, das ist ein entscheidender Punkt. Der Mystiker aber erhebt ja in gewisser Weise den Anspruch, dass er diesen Kerker verlässt. Der Mystiker denkt nicht so wie der Philosoph, das heißt nicht, dass er nun gar nicht denkt. Er denkt nicht so wie der Philosoph, er hat eine andere Zugangsweise zur Welt. Er denkt nicht, er schaut. Der Mystiker ist ein Mann oder eine Frau der Schauungen. „Überdies aber lässt sich als wahrscheinlich annehmen, dass von allem jenem Nachgefragten“ jetzt wichtig, „nicht bloß für uns keine Erkenntnis möglich sei.“ Er sagt, nicht nur weil wir das nicht können als Menschen oder wir Philosophen sind nicht schlau genug, sondern überhaupt keiner, also nie und nirgends. „Dass nämlich jene Verhältnisse nicht bloß relativ, sondern absolut unerforschlich seien. Dass nicht nur niemand sie wisse, sondern dass sie an sich selbst nicht wissbar seien, indem sie in die Form der Erkenntnis überhaupt nicht eingehen.“ Ganz wichtig für die mystische Komponente. Das heißt, was dieser Wille, dieses Innerste der Welt für sich selber und in sich selber, um das mal mit Hegel zu sagen, Schopenhauer würde einen Wutanfall bekommen, was also dieser Wille sei, entzieht sich dem Denken, weil wir denken nur innerhalb der Welt der Erscheinungen. Wir denken im Raum. Wir denken in der Zeit. Wir denken in der Kausalität. Wir denken in der Substanz. Wir denken in der Materie. Wir denken Ich und Du, Subjekt, Objekt. Das alles sind Formen der Erkenntnis, aber Formen der Erkenntnis nur innerhalb der Erscheinungswelt. Und Schopenhauer macht da einen enormen Schritt. Den kann man auch kritisch als eine Art Salto mortale des Denkens bezeichnen. Es ist aber faszinierend. Er verbindet die Kantische Vorstellung der Welt der Erscheinungen ‒ das hat vorher kein Mensch gemacht ‒ mit dem indischen Begriff der Maya. Sie können den indischen Begriff der Maya, schwer zu übersetzen: Schein, Täuschung, Zauberstück, Gaukelstück oder Ähnliches. Besonders in den „Upanishaden“, die Welt als große Phantasmagorie, umhüllt vom Schleier der Maya. Das sagt auch Schopenhauer. Schopenhauer benutzt immer wieder diese Metapher, dieses Bild vom Schleier der Maya. Dieser Schleier der Maya ist für Schopenhauer, und das ist erstaunlich, dass er diese Verbindung herstellt, mehr oder weniger das Gleiche, was Kant als „Welt der Erscheinung“ bezeichnet. Kant hatte ja gesagt, ganz vereinfacht, ganze Bibliotheken sind darüber geschrieben worden, Kurzform: Die Welt, wie sie wirklich ist, erkennen wir nicht, grundsätzlich nicht. Wir sehen nur das, was uns erscheint. Wir leben in der Welt der Erscheinungen. Die Welt, wie sie eigentlich ist, Kant sagt dazu, Ding an sich, darüber wissen wir überhaupt nichts. Darüber können wir gar nichts wissen, solange wir Menschen sind, sagt er einschränkend. Solange wir Menschen sind, also er schließt nicht aus, darüber ist viel gespottet worden: Schafft er sich da diese Hintertür? Er schließt nicht aus, dass es Wesen gibt, die mehr sind als wir, und die könnten das. Aber wir als Menschen, behauptet Kant, können das nicht.

Und das hat bei Schopenhauer auch eine ganz starke moralische Mitleidskomponente und auch eine mystische Komponente. Zitat: „Will man wissen, was die Menschen moralisch betrachtet im Ganzen und Allgemeinen wert sind, so betrachte man ihr Schicksal im Ganzen und Allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod.“ Schopenhauer sagt immer wieder: Wenn du deine Bedürfnisse befriedigt hast, wunderbar! Dann stellt sich Langeweile ein. Dann findest du es langweilig. Das Leben pendelt zwischen Schmerz und Langeweile, sagt er immer. Das heißt, du hast gar nichts davon, wenn du deine Bedürfnisse befriedigt hast. Das erinnert ja ein bisschen an, vielleicht kennen Sie das, die buddhistische Lehre von der Götterexistenz, nicht. Buddha und viele große Buddhisten haben ja gesagt, es ist gar nicht gut, wenn du Gott bist, weil du leidest dann nicht, das Leben dauert so lange, weil du begreifst dann nichts. Du lernst ja gar nichts. Du lernst ja nur, wenn es dir schlecht geht, wenn du leidest. Dann begreifst du plötzlich, diese Welt ist vollkommen anders, als du gedacht hast. Du bist auf die Welt zu marschiert, alles ist wunderbar, das Leben ist herrlich, und plötzlich gibt es Schicksalsschläge, es gibt Leid und Tod, da stirbt der, da stirbt der. Es wird geschossen, gestochen und gemordet. Die Welt ist offenbar ganz anders, als man es gedacht hat. Und dann das große Aufwachen. Was ist denn nun eigentlich diese Welt? Jedenfalls kein Spaziergang. Schopenhauer: „Die ewige Gerechtigkeit waltet. Wären sie nicht“, die Menschen, „im Ganzen genommen nichtswürdig, so würde ihr Schicksal im Ganzen genommen nicht so traurig sein.“

Moralische Konsequenz, Leiden hat auch mit Schuld zu tun. Das ist ja, sagte Schopenhauer immer wieder, die Welt hat eine moralische Bedeutung. Das zu leugnen ist also pervers. Sie kennen ja das Wort vielleicht von dem „ruchlosen Optimismus“. Optimistisch zu sein, sagt Schopenhauer, in dieser Welt des Leidens und des Werdens und Vergehens ist einfach roh, ist dumm. Vor allen Dingen blind, pervers. Das ist die Perversität des Denkens. Darüber spottet noch Nietzsche, der frühere Bewunderer und dann Gegner Schopenhauers.

Also die Menschen leiden, weil sie eigentlich so nichtswürdig sind. In diesem Sinne können wir sagen, die Welt selber ist das Weltgericht. Hochinteressant, Sie kennen das vielleicht von Schiller, nicht. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“, heißt es in einem Gedicht von Schiller. Das greift er hier auf. Die Welt ist das Weltgericht. „Könnte man allen Jammer der Welt in eine Waagschale legen und alle Schuld der Welt in die andere, so würde gewiss die Zunge einstehen.“ Also Schuld und Jammer der Welt halten sich die Waage. Ja, die Welt hat eine moralische Bedeutung. Es wird gelitten, weil diese Welt eine Welt der Schuld ist. Ja, was ist denn diese Schuld? Darauf gibt Schopenhauer nun eine, kann man sagen, verblüffend einfache Antwort. Er sagt: Die Schuld ist, dass du so wie du bist, überhaupt da bist. Dein Sein als Leib, wie es sich gefügt hat für dich, ist bereits die Verfehlung. Was soll denn das heißen, er leugnet die Entwicklungsmöglichkeiten der Existenz? Nein, tut er nicht. Aber er sagt immer wieder, das muss man einfach hinnehmen. Wir reden hier über Schopenhauer und versuchen ihn ja zu kommentieren, ob wir das nun richtig finden oder nicht, er sagt es: Das Nichtsein ist dem Sein vorzuziehen. Sie kennen Sophokles, den großen griechischen Tragöden, der sagt: Das Beste ist nie geboren zu werden, wenn du es aber bist, dass ist das Zweitbeste, dann geh so schnell es geht dahin zurück, woher du kamst. „Freilich aber stellt sich die Erkenntnis, so wie sie ist, dem Willen zu seinem Dienst entsprossen, dem Individuum als solchem wird die Welt nicht so dar, wie sich dem Forscher zuletzt enthüllt als die Objektivität des einen und alleinigen Willens zum Leben, der er selbst ist, sondern den Blick des rohen Individuums trübt“– wie die Inder sagen ‒ „der Schleier der Maya.“ Ihm zeigt sich statt des Dinges an sich nur die Erscheinung in Zeit und Raum dem principio individuaciones, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Damit meint er Kausalität. „Und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntnis sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches eines ist, sondern dessen Erscheinungen als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt.“ Kurzformel ‒ wie in der indischen „Upanishaden“ ‒ die Einzelheit ist Täuschung. Wir fühlen uns als getrennt, wir hier im Raum, in Wirklichkeit sind wir gar nicht getrennt. Wir sind vielleicht die Spitze des Eisbergs. Viele Eisberge, wenn das überhaupt ein gutes Bild ist, vielleicht ist das Bild ganz schlecht. Aber jedenfalls, sie verstehen die Richtung dieses Bildes. „Da scheint ihm, dem Einzelnen, die Wollust als eines und die Qual als ein ganz anderes. Dieser Mensch als Peiniger und Mörder, jener als Dulder und Opfer, das Böse als eines und das Übel als ein anderes. Er sieht den einen in Freuden, Überfluss und Wollusten leben und zugleich vor dessen Türe, den anderen durch Mangel und Kälte qualvoll sterben. Dann fragt er: Wo bleibt die Vergeltung? Und er selbst im heftigen Willensdrang, der seinen Ursprung und sein Wesen ist“ ‒ so auch Buddha ‒ das ist der Drang zum Leben, die Lebensgier ist der Motor des Ganzen. Also, „und er selbst im heftigen Willensdrang, ergreift die Wollüste und Genüsse des Lebens hält sie umklammert fest und weiß nicht, dass er durch eben dieses, diesen Akt seines Willens alle die Schmerzen und Qualen des Lebens, vor deren Anblick er schaudert, ergreift und fest an sich drückt.“

Nicht, das ist ja auch ganz der klassische Buddhismus: Indem du etwas willst, dein Begehren in den Mittelpunkt der Existenz stellst, bejahst du damit auch alles Leid. Du begehrst und du leidest, du leidest und du begehrst. Das ist das Gleiche. „Er sieht das Übel, er sieht das Böse in der Welt, aber weit entfernt zu erkennen, dass beide nur verschiedene Seiten der Erscheinung des einen Willens zum Leben sind, hält er sie für verschieden, ja ganz entgegengesetzt und sucht oft durch das Böse, Bewachung [nicht sicher] des fremden Leidens, dem Übel, dem Leiden des eigenen Individuums zu entgehen, befangen im principio individuaciones, getäuscht durch den Schleier der Maya.“ Und jetzt eine wunderbare Formulierung, die muss ich Ihnen noch vorlesen, weil sie einfach herrlich ist:„Denn wie auf dem tobenden Meere, das nach allen Seiten unbegrenzt heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend, so sitzt mitten in einer Welt voll Qualen ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationes oder die Weise, wie das Individuum die Dinge erkennt als Erscheinung. Die unbegrenzte Welt voll Leiden über alle unendlicher Vergangenheit und unendlicher Zukunft ist ihm fremd, ja ist ihm ein Märchen. Seine verschwindende Person, seine ausdehnungslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn, und dies zu erhalten, tut er alles, solange nicht eine bessere Erkenntnis ihm die Augen öffnet.“

Also der Egoismus des Menschen, diese Fokussierung auf sich selbst, auf das allein Wichtige, der Rest der Welt ist so wie eine Sage, wie ein Märchen, fast unwirklich, das deutet Schopenhauer ganz einfach: Weil jeder Einzelne in sich selber das Ganze ist. Er hat es in sich, in dem eigenen Lebenswillen ist er das Ganze, bejaht er auch das Ganze. „Bis dahin ist ihm ein Märchen seine verschwindene Person, seine aussichtslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn, und dies zu halten, tut er alles. Bis dahin lebt bloß in der innersten Tiefe seines Bewusstseins die ganz dunkle Ahnung, dass ihm jenes alles doch wohl eigentlich nicht so fremd ist, sondern einen Zusammenhang mit ihm hat, vor welchem das principium individuaciones ihn nicht schützen kann.“

Also, Schopenhauer sagt: Jeder Einzelne von uns hat aber das Ahnen in sich, dass diese Trennung letztlich eine Täuschung ist. Und da kommt das Mitgefühl ins Spiel, das sagte ich ja schon, indem wir den leidenden Anderen mitfühlend betrachten, wird die Schranke eingerissen, niedergerissen, die uns von den anderen, die uns von der Welt trennt. Und das ist, wenn man so will, auch eine mystische Komponente. Denn, ich sagte es ja, im mystischen Bewusstsein wird die separate Selbstheit ja gleichsam porös oder sie weitet sich, sie weitet sich in die Welt hinein. Sie sind dann nicht mehr nur das Individuum X oder Y. „Selbst dann bin ich die Welt“, heißt es ja bei Wagner in „Tristan und Isolde“, Sie sind dann das Ganze, und zwar, das ist ja wichtig für die mystische Erfahrung, das habe ich ja angedeutet, nicht theoretisch-abstrakt, philosophisch-denkerisch, sondern wirklich. Also Mystik ist keine Theorie.

Gleichwohl muss man sagen, und das macht auch das Denken Schopenhauers so spannend, denkt er mystische Zustände. Hat er sie selbst erlebt? Ich kenne die Biographie Schopenhauers ganz gut, ich weiß es nicht. Es gibt Zustände bei ihm offensichtlich, die in die Grenze mystischer Erfahrungen reichen. Aber mir ist nicht deutlich geworden in seiner Biografie, dass er in diesem eigentlichen Sinne, wie ich das angedeutet habe, mystische oder auch nur transpersonale Entgrenzungserfahrungen in jener Tiefe gehabt hätte, die ihn wirklich als einen Mystiker auszeichnen würde. Das kann man so nicht sagen. Insofern [ist] Schopenhauer kein Mystiker im eigentlichen Sinne, aber ein Denker, der die mystische Welterfahrung einbezieht, ein Denker, der die mystische Welterfahrung fundiert, der für diese mystische Welterfahrung eine Bresche schlägt, wenn man das so nennen will, ja sie für entscheidend, ja für einzig entscheidend hält. Denn worauf läuft denn diese ganze Philosophie Schopenhauers letztlich zu? Sie läuft zu auf die Erlösung, das hatte ich ja einleitend gesagt.

Kritiker haben immer wieder gesagt, so der erste große Kritiker, frühere Bewunderer Nietzsche: Das ist doch reinster Nihilismus. Denn was behauptet der Schopenhauer da, wenn er sagt, diese ganze Welt in Raum und Zeit und Kausalität, wenn sie weg ist, dann bleibt ein unbekanntes Etwas übrig als das eigentliche Sein? Darauf sagt Nietzsche: Da bleibt gar nichts übrig, das ist schließlich das Nichts, Schopenhauer ist ein Nihilist. Das letzte Wort in dem großartigen Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ heißt tatsächlich „nichts“. Sinngemäß: Wenn wir uns einmal vorstellen, was diese ganze Welt in Raum, Zeit und Kausalität eigentlich und in der Tiefe ist, jenseits dieser Erkenntnisformen, dann müssten wir sagen, Sie ist nichts. Sie ist nicht da, es gibt sie gar nicht. Ja, was ist denn das? Ist das nicht doch Nihilismus? Jetzt wird’s schwierig. Was heißt hier Nihilismus? Bei aller Verehrung für Nietzsche. Schopenhauer sagt natürlich unermüdlich, dieses sogenannte Nichts ist in gewisser Weise ein höherer Seinszustand, den er aber nicht mehr denkt, an dessen Schwelle er haltmacht. In diesem Sinne also, geht er nicht den Weg des Mystikers, und das ist auch ehrlich, das muss man auch sagen, das ist nicht einfach Schwäche und Unzulänglichkeit bei Schopenhauer. Ich finde das auch ehrlich, er ist da zurückhaltend. Er sagt: Diesen Weg kann ich nicht gehen, ich bin kein Heiliger. Ich bin nicht der, der den mystischen Pfad gehen möchte. Aber ich zeige die Wege bis zu dieser Grenze. Und wer die Grenze überschreiten möchte, der muss dann auch das Denken aufgeben. Das haben Sie ja gehört, das hat er ja ausdrücklich gesagt: Erkenntnis ist nur möglich im Rahmen von Raum, Zeit, Kausalität und der Welt, wie wir sie kennen. Jenseits dieser Welt gibt es keine Erkenntnis, sondern nur noch, wenn überhaupt, mystische Schauung.

Wir haben noch ein bißchen Zeit, 20 Minuten, wir müssen um fünf raus, ist mir extra auf die Seele gelegt worden. Ich könnte mühelos noch 20 Minuten oder auch zwei Stunden weiterreden, aber das geht halt jetzt nicht. Ich möchte Sie doch ermuntern, noch vielleicht ein bißchen zu fragen. Deswegen breche ich mal an der Stelle ab.

Ich denke, dass ich den Bogen gespannt habe, die Frage noch mal plakativ beantwortet: Schopenhauer ist im engeren Sinne kein Mystiker. Das hätte er auch selbst abgelehnt. Er ist ein Philosoph, der das Denken bis zu einer Grenze vortreibt, jenseits derer mystische Erfahrung beginnen müsste und auch beginnt. Insofern ist das kompatibel mit jedweder mystischen Welterfahrung, auch sehr verwandt, nicht deckungsgleich, sehr verwandt mit dem Buddhismus. Dass … viele sagen, Schopenhauer ist eigentlich Buddhist. Mit Abstrichen, das wäre ein Thema für sich, ist Schopenhauer eigentlich Buddhist? Schwer zu sagen. Er hat jedenfalls eine ganz starke Polneigung, Magnetpolneigung, Richtung Asien. Letzte Bemerkung: Er sagt einmal: Die „Upanishaden“ sind das tiefste Buch der gesamten Menschheit. Es gibt nichts Tieferes als die „Upanishaden“. Alles andere ist dagegen zweitrangig. Ein großes Wort, von einem abendländischen Philosophen ausgesprochen.

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Mensch und Kosmos – Verlust & Eschatologie einer Verbindung

Vortrag

Urania Berlin
18.12.1995
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 49

Transkript als PDF:

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Meine Damen und Herren, nun auch mal in diesem Saal, Sie kennen das noch nicht in diesem Saal. Ich war bisher immer in dem anderen. Ich freue mich, dass einige trotz dieser Glätte noch hierher gefunden haben, was für mich auch ein Problem war, als Radfahrer an die U-Bahn heran zu fahren. Ich musste mein Rad dann stehen lassen. Es war doch ein bisschen kritisch.

Ich will Ihnen heute Abend etwas erzählen über die Frage „Mensch und Kosmos“, die innere und die äußere Welt und will einleitend drei Zitate bringen, von denen ich meine, dass sie das Thema, um das es geht, beleuchten.

Das erste Zitat stammt von einem der bedeutenden englischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts, von David Herbert Lawrence, besser bekannt als D. H. Lawrence vielleicht, der 1930 kurz vor seinem Tode ein Essay veröffentlicht hat, den die wenigsten kennen. Die anderen Bücher und Romane sind ja bekannt. Dieser Essay ist fast überhaupt nicht bekannt. Er heißt „Apocalypse“, „Apokalypse“. Es ist eine Interpretation der Johannes-Apokalypse mit folgender Kernthese, das muss ich vorab kurz sagen: Die Johannes-Apokalypse, meint D. H. Lawrence, ist im Kern ein kosmologischer Text, ein Text über den Kosmos, über das Mensch-Kosmos-Verhältnis, der auf vielfältige Weise schon im Judentum überarbeitet worden sei und dann schließlich auch im Christentum eine Überarbeitung erfahren hat. D. H. Lawrence schreibt in diesem Buch, wo es also um das Thema geht, was uns heute Abend beschäftigen soll, 1930 ist der Essay veröffentlicht worden:

„Zwischen unserem Blut und der Sonne besteht eine ewige, lebendige Beziehung. Ewige, lebendige Beziehung besteht zwischen unseren Nerven und dem Mond. Lösen wir uns aus der harmonischen Verbindung mit Sonne und Mond, dann wandeln sich beide in böse Drachen der Zerstörung und erheben sich gegen uns. Die Sonne ist eine große Quelle der Lebenskraft des Blutes. Aus ihr strömt Kraft in uns. Wenn wir aber uns der Sonne widersetzen und sagen, sie ist weiter nichts als eine Gaskugel, dann wandelt sich diese strömende Lebenskraft des Sonnenlichts in uns in eine feine, zersetzende Kraft und vernichtet uns. Und das gilt auch vom Mond, den Planeten und großen Sternen. Sie sind entweder unsere Schöpfer oder Vernichter. Entrinnen können wir ihnen nicht. Wir und der Kosmos sind eins. Der Kosmos ist ein großer, lebendiger Körper und wir sind immer noch seine Teile. Die Sonne ist ein großes Herz, dessen Klopfen bis in unsere kleinsten Adern dringt. Der Mond ist ein großes, glühendes Nervenzentrum, von dem aus wir immer und ewig uns bewegen. Wer kennt die Macht, die der Saturn über uns hat oder die Venus? Das ist eine lebenskräftige Macht, die all die Zeit herrlich durch uns rauscht. Verleugnen wir Aldebaran, dann durchbohrt er uns mit zahllosen Dolchstößen. Wir haben den Kosmos verloren. Die Sonne stärkt uns nicht mehr und auch nicht der Mond. In mystischer Sprache: Der Mond ist für uns schwarz und die Sonne wie ein härenes Tuch. Jetzt müssen wir den Kosmos wiedergewinnen, und das geschieht nicht durch irgendwelchen Trick. Die vielen Beziehungen zu ihm, die in uns erstorben sind, müssen wieder lebendig werden. 2000 Jahre hat es gedauert, sie zu töten. Wie lange mag es dauern, bis sie wieder lebendig sind? Höre ich heute Menschen über ihre Einsamkeit klagen, dann weiß ich, was los ist. Sie haben den Kosmos verloren. Uns fehlt nichts Menschliches oder Persönliches, uns fehlt das kosmische Leben, die Sonne in uns und der Mond in uns.“ Und so weiter.

Das ganze Buch ist eine vehemente Klage über diesen Verlust. Zentrale These: der alte, lebendige, organische, ganzheitliche Kosmos ist verloren gegangen, hat sich aufgelöst zugunsten eines mechanistischen, letztlich toten Kosmos, in dem der Mensch keinen Platz hat, in dem der Mensch keinen Raum hat. Das als erste Aussage von David Herbert Lawrence.

Das zweite Zitat stammt aus einer Zeit vor ungefähr 200 Jahren und geht zurück auf den romantischen Naturphilosophen und Dichter Novalis, Friedrich von Hardenberg. Und dieses Zitat berührt bereits auch eine Nahtstelle der Innen-Außen-Thematik. Novalis schreibt unter einem Fragment, das er „Kosmologie“ nennt: „Es ist einerlei, ob ich das Weltall in mich oder mich ins Weltall setze. Spinoza setzte alles heraus, Fichte alles hinein. So mit der Freiheit: Ist Freiheit im Ganzen, so ist auch Freiheit in mir.“

Ob das nun einerlei ist, wie Novalis sagt, ob wir das Weltall in uns oder uns in das Weltall setzen, sei dahingestellt. Auf jeden Fall sind hier zwei Ansätze formuliert. Der eine Ansatz geht von der Innenwelt aus, vom Primat der Innenwelt, das Universum ist auch in uns. Der andere geht vom Primat der Außenwelt aus, das Universum ist primär draußen, da draußen, und wir sind letztendlich Fremdlinge.

Das letzte Zitat stammt von einem zeitgenössischen Philosophen, von dem Amerikaner Jakob Needleman. Jacob Needleman hat ein interessantes Buch veröffentlicht, vor zwei Jahren mit dem Titel „Vom Sinn des Kosmos“. Und hier schreibt er, ich zitiere, 1993 erschienen: „Ein Universum, das nur von unvorstellbarer Größe ist, schließt den Menschen aus und zermalmt ihn. Aber ein Universum als Manifestation eines großen Bewusstseins und einer großen Ordnung weist dem Menschen einen Platz und verlangt daher nach ihm. Nur ein bewusstes Universum ist für das menschliche Leben im Ganzen von Bedeutung.“ Also eine sehr aufschlussreiche und in ihrer Form ja auch radikale Aussage. Also ein Universum, das nur groß ist, unermesslich groß, ob nun unendlich oder nahezu unendlich, zermalmt den Menschen, raubt ihm im Grunde genommen seine humane Würde. Das also als Vorabbemerkung, drei Zitate.

Nun, es geht in diesem Thema „Mensch und Kosmos“, die innere und die äußere Welt, eigentlich um zwei Fragen, von denen ich vermute bzw. die These aufstelle, dass sie im Kern eine Frage sind. Ich meine, wir alle sind bis zu einem gewissen Grade ja ständig, tagtäglich und nächtlich Pendler zwischen zwei fundamental verschiedenen Welten. Wir sind alle in irgendeiner Form Weltenwanderer. Kurz gesagt lebt jeder von uns in seiner eigenen Innenwelt und in einer Außenwelt, die wir alle gemeinsam haben. Das kann man am deutlichsten vielleicht im Traum sehen. Man erlebt eine bizarre, fremdartige Szenerie im Traum, die eine ungeheure Wirklichkeit hat, wacht dann auf und ist in einer vollkommen anderen Welt, die sich nicht wesentlich verändert hat, jedenfalls im Normalfall nicht verändert hat. Das Eigenartige der Außenwelt ist, dass sie stabil ist. Was immer wir an Veränderungen wahrnehmen, diese stabile Außenwelt hat bestimmte fassbare und beschreibbare Gesetze. Sie hat eine gewisse Verlässlichkeit. Jeder von uns geht mehr oder weniger davon aus, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht, dass die Nacht zum Tage wird, dass die Erde sich weiterdreht. Es ist extrem unwahrscheinlich, obwohl theoretisch möglich, dass morgen alles anders ist. Das heißt also, dass sich über Nacht die Naturgesetze so radikal geändert haben, dass wir keinerlei Verlässlichkeit mehr haben, was den morgigen Tag betrifft. Aber im Normalfall gehen wir von der Konstanz, von der Stabilität der sogenannten Naturgesetze aus. Die Innenwelt hat ja einen vollkommen anderen Charakter. Jeder Einzelne lebt in einer fluktuierenden, geisterhaften, sich ständig verändernden Innenwelt. Und die Frage hat Menschen seit je beschäftigt, mindestens seit drei- bis viertausend Jahren beschäftigt: Was hat eigentlich das Eine mit dem Anderen zu tun? Was hat diese Innenwelt, diese fluktuierende, sich ständig bewegliche, geisterhafte Welt in uns zu tun mit einer Außenwelt, die doch offenbar ganz festen, ehernen, unwandelbaren Gesetzen folgt?

Diese Gegenüberstellung von Außenwelt und Innenwelt war menschheitsgeschichtlich in dieser Form so nicht von jeher gegeben. Sie ist erst in einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte in die Erscheinung getreten, wenn wir heute, sie, jeder von ihnen und auch ich uns als für sich seiende Subjekte empfinden und gleichzeitig die Außenwelt als eine Welt da draußen sehen, dann mag uns das als eine absolute Selbstverständlichkeit erscheinen. Sie haben gar nicht das Gefühl, dass das in irgendeiner Form überhaupt diskussionswürdig sei. Tatsache ist aber bewusstseinsgeschichtlich, dass dieses für-sich-seiende Subjekt und eine Außenwelt da draußen als etwas Anderes ein Resultat einer Bewusstseinsgeschichte ist undkeineswegsimmer so war.

Der Mensch hat sich in früheren Phasen der Geschichte mit der Außenwelt viel enger verbunden gefühlt, hat Außenwelt und Innenwelt in diesem Sinne, wie ich das angedeutet habe, noch gar nicht getrennt. Es ist in keiner Weise eine Selbstver­ständlichkeit, und die Frage bleibt, ob dies eine notwendige bewusstseinsgeschichtliche Entwicklung ist, oder ob wir im Speziellen, ja der Mensch des mentalen Selbst, der abendländisch-westliche Mensch im weitesten Sinne, nicht sozusagen in die Falle einer Schizophrenie hineingeraten sind, die uns heute auch diese Krisensituation eingetragen und eingebracht hat, an der wir alle leiden. Das einfach als Frage erst mal in den Raum gestellt. Das moderne Subjekt ist einsam, isoliert, fremd in der Welt. Gucken Sie sich die ganze moderne Literatur an, die kündet ja von nichts anderem als von der Fremdheit des Einzelnen in einem letztlich monströsen, geradezu unmenschlichen, inhumanen Kosmos.

Nun meine ich, dass die Frage von Innen und Außen zugleich verzahnt ist mit der Frage von Mensch und Kosmos, obwohl das ja auf den ersten Blick keineswegs selbstverständlich ist. Warum soll denn der Mensch innen sein und der Kosmos außen? Es könnte ja auch umgekehrt sein, der Mensch als Körper ist außen, der Kosmos als Innen-Kosmos ist innen. Aber hier ist die Problematik im Grunde genommen eine ganz ähnliche. Auch das kann man menschheitsgeschichtlich zeigen. Ich werde nachher Einiges dazu sagen, dass der Mensch den Kosmos, das Firmament, das Universum dort in einer ganz engen Verbindung immer zu sich und mit sich selber gesehen hat und in keiner Weise die Außenwelt des Kosmos so betrachtet hat, wie wir das heute im Normalfall tun. Ich sage es mal etwas überspitzt: nämlich als bloße Kulisse. Meine These hier zu Beginn ist: Der moderne Mensch betrachtet erst einmal die kosmische Außenwelt als gigantische Kulisse, die ihm im Grunde genommen in der Tiefe, sozusagen ontologisch, überhaupt nichts angeht. Dass es viele Gegenbewegungen gibt, unter anderem die Astrologie, ist eine ganz andere Frage, berührt aber erst einmal nicht den Kern des Dilemmas. Und wir sprechen ja auch, wenn wir an diese Schizophrenie denken, zwei oder drei vollkommen verschiedene Sprachen.

Wenn wir von der Außenwelt reden, im Normalfall, bedienen wir uns einer Sprache, die man als Es-Sprache bezeichnen kann. Wir reden von Dingen, von Gegenständen, von Sachen, die in irgendeiner Form gesetzlich ablaufen, es ist eine Es-Sprache. Wenn wir von uns selber reden, benutzen wir eine völlig andere Sprache. Wenn wir von uns als Ich reden oder wenn wir von uns als Du reden, oder wenn wir von uns als Wir reden. Auch das ist ja eine Entwicklung gewesen, dass sich das vollständig abgetrennt hat. Die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge, der Sachen, der Gegenstände, die Betrachtung des Wir im Sinne der Moral, auch der Spiritualität und die Frage auch des Ich, unter anderem das Problem oder die Frage der Kunst ‒ das ist alles bei uns vollkommen auseinander gefallen und steht nun in einer vollkommen schizophrenen Form vor uns.

Nun bleibt die Frage, die uns ja auch jetzt beschäftigen soll, wenn wir diese Spaltungen, diesen Abgrund uns vergegenwärtigen, gibt es vielleicht doch Hinweise darauf, dass Innenwelt und Außenwelt, dass Mensch und Kosmos sich im Letzten dann doch auf eine Einheitswirklichkeit zurückführen lassen? Denn wenn das nicht so ist, wenn es diese Einheitswirklichkeit nicht gibt, dann würden wir vollständig auseinanderfallen in ganz verschiedene Fragmente unserer Existenz, in bewusstseinspartikuläre Instanzen, wir hätten überhaupt keine Möglichkeit im Grunde genommen, uns mit der Welt in ein sinnvolles, in ein seelisch vernünftiges Verhältnis hineinzubegeben.

Also meine These ist: es gibt eine Einheitswirklichkeit. Die Welt ist im tiefsten Innern eine Einheit. Diese Trennung, die wir bewusstseinsgeschichtlich vor uns haben, ist das Ergebnis einer ganz bestimmten Entwicklung, die vielleicht notwendig war, vielleicht aber auch nicht. Das kann man zunächst mal auf sich beruhen lassen. Auf jeden Fall, hier wäre etwas und hier ist etwas zusammenzufügen. Also zweite These wäre hier, es gibt diese Einheitswirklichkeit.

Nun, ich habe gesagt, dass der Kosmos für den modernen Menschen mehr oder weniger eine Kulisse darstellt, dass der Kosmos für den modernen Menschen eigentlich überhaupt keine Rolle spielt. Ich muss nun ein bisschen die Begriffe klären. Der Begriff „Kosmos“, das ist vielleicht wichtig hier zu sagen, entstammt einer Zeit, als das abendländische Denken zum ersten Mal versucht hat, Natur und Kosmos als Ganzheit zu denken, entstammt nämlich der vorsokratischen Philosophie, geht zurück auf den vorsokratischen Philosophen Anaximandros und heißt ursprünglich, und das ist für die griechische, altgriechische Geistigkeit zentral: Schönheit, Schmuck, Schönheit, Ordnung. Kosmos heißt Schmuck, Schönheit und Ordnung. Damit war im griechischen Weltver­ständnis gemeint, dass der gesamte Kosmos harmonisch, man kann auch sagen: harmonikal geordnet und gegliedert ist, dass er göttlich durchwaltet, göttlich durchwirkt ist, dass alle Dinge miteinander im Zusammenhang standen, dass der Mensch also eingeordnet war, integriert in einen kosmischen Gesamtzusammenhang. Der Gegenbegriff war Chaos. Das hat nun erst mal nichts zu tun mit dem, was wir heute als Chaostheorie kennen. Chaos war in der Theogonie, in der Entstehungsgeschichte der Götter des alten Hesiod der Urgrund der Welt, der formlose Urgrund der Welt, sozusagen die Nacht des Nichtseins. Aus der Nacht des Nichtseins, im Sinne des Chaos, erwuchs dann die Götterwelt, erwuchs die Menschenwelt und erwuchs der Kosmos. Aber auf dem Untergrunde dieser kosmischen Ordnung west immer auch das Chaos, die Existenz ist gefährdet. Sie ist immer gefährdet, dass sie umkippen kann in den chaotischen Urzustand.

Kosmische Ordnung war in der griechischen Philosophie immer auch Zahlen­ordnung, denken Sie an die Lehre von der Sphären-Harmonie des Pythagoras. Und man kann zeigen, dass es auch immer einen dionysischen, sozusagen chaotischen Untergrund gegeben hat, den man niederhalten wollte und auch mit Erfolg niedergehalten hat. Das hat dann eine große Diskussion, das nebenbei gesagt, auch in der feministischen Forschung gegeben an ähnlich gelagerten Forschungen, dass man sagte, dass der Kosmos, der griechische Kosmos der harmonikalen Ordnung, im Grunde ein patriarchaler Kosmos war, der also die weiblichen dionysischen Ur-Schichten unterdrückt und niedergehalten hat.

Nun will ich ein Zitat mal bringen, was das ganz schön beleuchtet, was ich vorhin angedeutet habe, dass der Kosmos für uns, wie ich das genannt habe, eine Kulisse ist. Ich beziehe mich hier auf ein Buch eines amerikanischen Anthropologen mit dem Titel „Der Mensch, die Nacht und die Sterne“. Der Anthropologe heißt Richard Grossinger, der schreibt in diesem Buch, 1988 erschienen: „Verglichen mit der fortdauernden und Ehrfurcht gebietenden Szenerie des Nachthimmels ist unser Leben so kurz und zerbrech­lich, und wir haben so wenig Verbindung zu unserem inneren Himmel, dass wir dort unsere Aufmerksamkeit nicht lange verweilen lassen. Man wendet sich von den Sternen ab, macht sich etwas zu essen, ruft einen Bekannten an. Was uns der Himmel lehrt, könnte uns elektrisieren und aufwühlen.

Wir könnten wie neugeboren sein, aber wir sind nicht gelehrig. Stattdessen erleben wir eine Art kosmischer Einsamkeit und schieben die Sterne beiseite, um unser Leben zu leben. Doch ist diese kosmische Einsamkeit das Ergebnis unserer gegenwärtigen unend­lichen Einschätzung der Sterne und Milchstraße als gefühllose Objekte? Oder ist es umgekehrt? Sind wir selbst ein Symptom dieser kosmischen Einsamkeit, die wir selbst in einer Gesellschaft spüren, die ihre spirituelle und ökologische Orientierung verloren und den Menschen auf seinem Lebensweg schon weiter nichts mehr mitzugeben hat als Sprüche wie den folgenden: Du läufst nur einmal herum, also greife nach allen Genüssen und so weiter. Niemand würde so einen Spruch wirklich ernst nehmen, und doch verhalten wir uns alle ein wenig in dieser Weise. Wir zahlen einen schrecklichen Preis dafür. Die Alternative bestünde darin, unsere eigene kosmische Dimension auszudrücken, aber wir haben vergessen, wie und es wird fast nirgends mehr gelehrt.“

Also Grossinger vermutet, dass es möglich wäre, unsere innerste kosmische Dimension wiederzubeleben, aber keiner weiß eigentlich wie. Wie soll das funktionieren? Wo könnte man überhaupt ansetzen?

Nun ist der griechische Kosmos bereits ein relativ später Kosmos. Diese harmo­nikale Ordnung, zahlenmäßig, klanglich figuriert; der ältere, der archaische Kosmos hatte noch eine ganz andere Qualität und war noch von ganz anderer Struktur. Kosmos war für die Alten, ich sage das mal jetzt ganz pauschal, für die Alten, auch in der vormythischen Welt, ständige Präsenz, eine flammende, unerbittliche Dauerpräsenz, eine flammende, unerbittliche Dauerpräsenz, die gleichzeitig etwas mit Schrecken und Angst zu tun hat. Der Kosmos ist immer anwesend, er durchdringt uns immer, er ist unsere Herkunft und unser Ziel. Wenn Sie die gesamten Fixsternmythen, die gesamten kosmischen und kosmolo­gischen Mythen der Menschheitsgeschichte sich anschauen, dann werden Sie immer wieder auf ähnliche Grundmotive stoßen. Der Mensch stammt aus den Gestirnen, und er wird in irgendeiner Form wieder in die Gestirne eingehen. Also sehr häufig findet man in den alten Kosmologien die Vorstellung vom nächtlichen Firmament als eine Art astrale Region der Toten. Das können Sie also weltweit beobachten. Es ist zum Teil der Mond, dann sind es andere Gestirne, die das Totenreich darstellen, oder dieses Totenreich wird dargestellt durch ganz spezielle Sternbilder. Auf jeden Fall, der Kosmos ist gleichzeitig die Sphäre und das Reich der Toten und damit der Ewigkeit.

Ich gebe mal ein Beispiel aus der ägyptischen Mythologie, auf das ich kürzlich erst gestoßen bin in einem Buch, was im letzten Jahr erschienen ist, über die Pyramiden. Da heißt es über den ägyptischen Sternenmythos bezogen auf das Sternbild Orion und auf das Gestirn Sirius, das ist ja das bekannteste Sternbild überhaupt, der Orion, ich zitiere mal Bauval/Gilbert in ihrem Buch über das Rätsel des Orion („Das Geheimnis des Orion“, 1994): „Aus den altägyptischen Bestattungstexten und den Pyramidentexten geht eindeutig hervor, dass Orion die Seele des Osiris war und man die Himmelsregion, in der sich dieses helle Sternbild befand, als idealen Aufenthaltsort für die Seelen der Könige ansah, nachdem diese die Phasen des Todes und der Wiedergeburt durchlebt hatten. Randall Clarke, ein Ägyptologe, schreibt dazu: ,Der Aufgang Orions am südlichen Himmel nach einer Periode der Unsichtbarkeit ist ein Zeichen. Osiris ist in eine lebendige Seele verwandelt worden.‘ Das Hauptziel der Bestattungsriten bestand darin, den Verstorbenen in diese zweite Osiris-Form zu überführen, damit sich der tote König nach den gebotenen Vorkehrungen durch seinen Nachfolger als neuer Osiris mit der Seele des eigentlichen Osiris vereinigen konnte. Der erste Schritt in diesem astralen Transfigurationsritual bestand in der Umwandlung des Leichnams in einen Osiris, d. h. in die Mumienform. Indem man den toten König, oder besser seine Mumie Osiris Unas, Osiris Pepi und so weiter nannte, bereitete man ihn darauf vor, eine Seele, das heißt ein Stern in der Orion-Region des Himmels zu werden. Dies geht aus den Pyramiden-Texten deutlich hervor.“

Man kann also an ganz vielen Beispielen zeigen, das haben Ägyptologen auch nachgewiesen, dass die Himmelsregion des Orion als Totenreich gedacht war. Bestimmte Präparationen, bestimmte Manipulationen auch mit der Mumie dienten dazu, den toten Pharao mit seinem Ursprung wieder in Verbindung zu setzen und dieser Ursprung war zugleich sein Telos, sein Ziel. Und Herrschaft, das können sie in alten Kulturen immer wieder auch beobachten, legitimiert sich immer durch den unmittelbaren Bezug zum Himmel. Der Herrscher kommt von oben, er wird legitimiert von oben, er leitet seine Ahnenkette von oben ab, häufig genug wird er selber als ein Sachwalter dieser himmlischen Region auf Erden dargestellt. Nun hat man, das wissen Sie, diese Dinge natürlich vielfältig interpretiert, auch so gedeutet, Däniken ist ja nur ein Beispiel dafür, dass die Götter vom Himmel letztlich Astronauten waren. Sie kennen diese These und dass das deswegen seine, sozusagen seine relativ einfache Erklärung findet, dass das nun weltweit überall auftaucht, ganz einfach: Die Götter kamen einfach aus dem Firmament, sie kamen aus den Tiefen des Kosmos. Und deswegen werden sie in allen Mythen als die von oben Herabgestiegenen auch so gewertet und gesehen. Das können sie auch in der gesamten Science-Fiction-Literatur ja beobachten, dass das also eine ganz zentrale Denkfigur ist. In der Literatur dieser Art spielt der Fixstern Sirius eine ganz zentrale Rolle. Das ist also auch heute noch in der einschlägigen Literatur ein [vom] Mysterium umwitterter Stern. Und immer wieder wird angedeutet, auch in der sogenannten Channel-Literatur, dass sozusagen aus der Region des Sirius Impulse hier auf die Erde kommen und dass Sirianer sozusagen mit der Erde ein großes Experiment vorhaben. Das gibt auch ganz verschiedene Persönlichkeiten heute, für die der Kontakt dazu ganz im alten Sinne eine Selbstverständlichkeit ist. Vielleicht wissen sie, dass einer der berühmtesten zeit­genössischen Komponisten, Karlheinz Stockhausen, seit Jahren unermüdlich von sich gibt in der Öffentlichkeit, dass er all seine wesentlichen Impulse aus dem Gestirn Sirius hätte, von den Sirius-Bewohnern hätte. Für die Bewohner des Sirius ist die Musik die höchste Form der Schwingungen und Musik deshalb dort auch am vollkommensten entwickelt. Also, viel belacht in der Szene und auch in der gängigen Presse, aber Stockhausen ist vollkommen davon überzeugt, dass er seine entscheidenden Impulse dem Gestirn Sirius oder dem Sirius-System, wie immer, verdankt, also im Grunde ganz altes Gedankengut.

Nun, der Begriff „Kosmologie“, auch der muss kurz erläutert werden, weil er schon gefallen ist. Kosmologie ist die Lehre vom Kosmos und damit aber auch die Lehre vom Ganzen, vom Universum überhaupt. Und man muss sagen, dass jede Kultur der Menschheitsgeschichte, nicht nur die sogenannten Hochkulturen, ihre ganz eigene Kosmologie hatte. Ich spreche da in diesem Zusammenhang öfter von der „inneren Kosmologie“. Jede Kultur hat ein Grundverständnis vom Ganzen. Und diese sogenannte innere Kosmologie, letztlich also eine kollektive, eine kollektiv psychische Projektion, wenn man das psychologisch nennen will, bestimmt dann auch, was man draußen findet. Ich würde behaupten oder vermuten, es gibt dafür gute Indizien, dass das im Prinzip heute noch genauso ist. Sie kennen vielleicht ein berühmtes Wort von Einstein, was er 1927 dem damals sehr jungen Physiker Heisenberg gegenüber geäußert haben soll: Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann. Das ist ja für das Alltagsverständnis absurd, ich sehe, was ich sehe, wieso brauche ich eine Theorie? Erst die Theorie en­scheidet darüber, was ich beobachten kann.

Ich würde also behaupten, dass es im Prinzip in der Grundanlage heute noch genauso ist. Auch wir alle haben eine unausgesprochene, häufig ganz unartikulierte innere Kosmologie, und wir finden draußen das, was im Letzten auch in uns selber ist. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass bestimmte zeitgenössisch populäre Figuren der Kosmologie wie der big bang oder die Schwarzen Löcher im Letzten Projektionen kollektiv psychischer Energien sind, denn sie lassen sich nicht eindeutig und zweifelsfrei aus dem objektiv gegebenen Befunden ableiten. Es gibt ja auch Alternativ-Kosmologien, man kann die Dinge anders interpretieren. Dass sie kollektiv mehrheitlich in einer bestimmten Weise interpretiert werden, hängt mit dieser sogenannten inneren Kosmologie zusammen. Also jede Kultur hat ihre eigene innere Kosmologie, und der Kulturphilosoph Oswald Spengler, der diesen Dingen auch auf der Spur war, hat in seinem berühmten „Untergang des Abendlandes“ 1919 diese Dinge zurückgeführt auf die Raumfrage.

Jede Kultur hat eine eigene Vorstellung vom Raum. Was ist der Raum? Wenn man zum Beispiel die arabische Kultur [nimmt, die] würde den Raum als eine magische Höhle begreifen, sozusagen als einen magischen Mutterschoß, während die abendländische Kultur den Raum als letztlich unbegrenzt denkt und ihn im Letzten auch mit der Gottheit identifiziert. Also jede Kultur hat ihre ganz eigene Raumkonzeption. Und diese Raum­konzeption ist letztlich vorgelagert allem, was man dann später findet und misst. Das also vorab nochmal die These auf den Punkt gebracht: Auch bei uns ist es nicht anders. Auch unsere innere Kosmologie, die ja in vielen Facetten eine geradezu monströsen Charakter trägt, geht letztlich zurück auf innerpsychische, kollektivpsychische Projektion.

Projektion, ein Begriff aus der Psychologie, liegt ja immer dann vor, wenn wir in ein unbekanntes Etwas, in ein X, in eine dunkle Stelle unser eigenes Inneres hineintragen, hineinprojizieren. Insofern ist die moderne Kosmologie ein Spiegelbild unserer eigenen Seelenbefindlichkeit, ein Spiegelbild unserer eigenen Geistesbefindlichkeit und insofern auch schwer erst einmal aus den Angeln zu heben, denn wenn wir das könnten, müssten wir und könnten wir Andere sein. Wir sind so, wie wir sind. Deswegen haben wir die Kosmologie, die wir haben. Der naive Betrachter würde ja schnell sagen: Ja, was ist denn daran kollektivpsychisch, projektiv, wenn es doch Befunde sind, messbare Befunde, das kann man doch nachprüfen, das kann man doch messen, hier gibt es doch Kausalzusam­menhänge, die sich beweisen lassen.

Nun behauptet D. H. Lawrence in diesem Essay „Apokalypse“, dass der Kosmos verloren gegangen sei. Welchen Kosmos meint er? Er meint, wenn man seinen Text genauer liest, nicht primär den Kosmos der Griechen. Er meint nicht den harmonischen oder harmonikalen Kosmos der Sphärenharmonie. Er meint einen viel weiter zurück­liegenderen Kosmos, einen archaischen Kosmos. Er meint letztlich den Kosmos der flammenden Dauerpräsenz, der flammenden, bedrohenden und den Einzelnen ständig aufs Äußerste herausfordernden Präsenz einer Götterwelt. Und Lawrence, sie wissen, dass er ein Skandal-Autor in seiner Zeit war, der im viktorianischen England ja mit seinen Thesen über die Befreiung des Eros also sich unmöglich gemacht hat. Besonders berühmt ist ja sein Buch „Lady Chatterley’s Lover“. Und er glaubte, dass man diesem alten Kosmos über den Eros nahekommen kann. Das war seine Grundthese, die zieht sich durch sein ganzes Werk. Das erinnert ganz an Wilhelm Reich ein paar Jahrzehnte später. Er meint also, wenn wir ganz tief in die erotische Erfahrung reingehen, dann erfahren wir eine Entgrenzung, eine innere Entgrenzung und Weitung, die uns dann in die Dimension der Weite draußen im Kosmos wieder zurückführt, und wir können dann auch die seelische Dimension, die lebendige Dimension des Kosmos draußen erfahren und für uns wieder verlebendigen. Wir können also die tote Gaskugel wieder zu einem lebendigen Erfahrungsphänomen machen. Nun behauptet Lawrence, um noch mal kurz bei ihm zu bleiben, 1930, dass dieser Verlust des Kosmos drei Stufen durchlaufen hätte. Und das ist interessant, wenn man das mal koppelt an heutige, sagen wir mal weit gefasst, New-Age-Vorstellungen, wie denn der alte Kosmos einer sinnvollen Einheit der Welt verlorengeht. Er behauptet, die erste Stufe habe sich bereits im klassischen Griechenland abgezeichnet und sei verbunden mit der Person des Sokrates. Das hat er von seinem Gewährsmann Nietzsche, der den Sokrates als eine Schlüsselfigur sah. Sokrates oder den Sokratismus sieht er als Symptom der griechischen Aufklärung, als eine Gegenbewegung gegen den großen, mächtigen, flammenden Kosmos. Es gibt ein Zitat bei ihm, in dem Buch da schreibt er „Mit dem Erscheinen des Sokrates und des Geistes, im Sinne von Intellekt, starb der Kosmos.“ Hinzu kommt der Gedanke der Erlösung, das heißt Lawrence verdächtigt, das findet man dann bis in die Gegenwart hinein bei anderen Autoren, zum Beispiel bei Peter Sloterdijk, Lawrence verdächtigt den Erlösungsgedanken, für die Zerstörung des alten Kosmos verantwortlich zu sein, und zwar in diesem Sinne, dass der Erlösungshungrige oder Erlösungsbedürftige tief durchdrungen ist von der Annahme: Er in seiner Eigentlichkeit ist etwas vollkommen anderes als diese Welt. Ich bin nicht von dieser Welt. Ich lebe zwar in dieser Welt, aber ich bin nicht von dieser Welt. Und im Moment, in dem ich so denke, fühle und empfinde, nehme ich mich quasi auch aus der Welt raus. Es ist in gewisser Weise eine Art A-Kosmismus. Und alle Erlösungsvorstellungen gehen ja zunächst einmal davon aus, dass der Mensch sich vollständig herauskatapultiert aus diesem ganzen Zusammenhang, übrigens auch im Buddhismus, die Vorstellung: erst einmal raus aus der Welt, jedenfalls im Ur-Buddhismus ist es so, im späteren Mahayana-Buddhismus ist es anders.

Damit eng zusammen gehört der Gedanke, den man dann in der Gnosis findet, dass die Gnosis, aber auch in Teilen des Christentums, dass der Kosmos, das Universum als Ganzes eschatologisch gesehen der Transformation anheim gegeben wird. Der Kosmos wird verschwinden, soll und muss auch verschwinden, der ganze Kosmos, soll und muss sich auflösen, denn das Ende der Dinge ist nah. Das ist die Johannes-Apokalypse, ja einer der Schlüsseltexte dieser Art von Eschatologie bis in die Gegenwart hinein und darauf bezieht sich ja Lawrence als einen dieser Schlüsseltexte. Die Grundannahme: Der Mensch, die Erlösung steht kurz bevor, der Kosmos als Ganzes löst sich auf, es bleibt das neue Jerusalem der befreiten und erlösten Menschen. Das ist ja früh kritisiert worden, bereits auch schon von den neuplatonischen Philosophen, zum Beispiel von Plotin. Das war ja einer der Hauptkritikpunkte der neuplatonischen Philosophen an den Gnostikern und auch an Teilen des Christentums, dass sie den sinnlichen Kosmos, den Kosmos in seiner Einheit, der immer auch Physik und Metaphysik zusammen war, zerstören. Das muss ich noch ergänzen zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Der Kosmos der Alten, insbesondere dann auch der Kosmos der harmonikalen Ordnung der Griechen ist immer Physik und Metaphysik zusammen. Es ist auch Physik, wie auch der altgriechische Physis-Begriff, Naturbegriff immer ein ganz anderer war. Es ist immer Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit. Der Mensch geht also nicht etwa auf in der reinen Sinnlichkeit. Das wäre ein ganz großes Missverständnis, sondern der Kosmos ist immer durchdrungen und durchwaltet von einer Art Metakosmos, wenn man das so nennen will. Das wäre die zweite Zerstörung des Kosmos nach Lawrence.

Nun gibt es nach Lawrence eine dritte Zerstörung. Das ist also die neuzeitliche abstrakte Naturwissenschaft und Technik gewesen, behauptet er. Das hat also dem Kosmos, den letzten Resten, die noch da waren, den Garaus gemacht, die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik.

Nun kann man zeigen, das nur ganz kurz gesagt, dass … als das Christentum, ich will das nur ein ganz knapper Form sagen, überhaupt gezwungen war, die antike Kosmologie zu übernehmen, hat man sich dann im Mittelalter, Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, auf die Kosmologie des Aristoteles bezogen, die ein Zwei-Kugel-Universum vorsah bzw. imaginiert [hat], [das] wissen Sie, die eine Kugel ist im Zentrum des Kosmos, das ist die Erde, es gibt eine zweite Kugel, die in sehr großem Abstand um diese Erde herum gelagert ist. Dazwischen sind die sogenannten Sphären, durchsichtige Hohlkugeln, an denen die Planeten, an denen die Gestirne befestigt sind. Auch Sonne und Mond galten ja bekanntlich in der antiken Kosmologie als Planeten. Es gab sieben Planeten, also Merkur, Venus, dann Mars, also der Mond, dieser Mond war die erste Sphäre, dann die Sonne und Mars und Jupiter und Saturn. Neptun wurde erst wesentlich später entdeckt, erst 1781 durch Herschel.

Der Mensch war in diesem Bild, entgegen einer weitverbreiteten Auffassung, nicht etwa im Zentrum, in einem, sozusagen, in einem Zentrum hoher humaner Würde, er war ganz unten. Die eigentliche göttliche Sphäre war oben. Das haben wir heute noch in den ganzen Vorstellungen von oben, unten, diesseits und jenseits, das ist noch genau diese Denkfigur, der Kosmos, der … im Mittelpunkt der Welt ist der Teufel. So ist es dann bei Dante, in der „Divina Commedia“, also in der in der Mitte des Universum ist der Teufel, ist die Hölle, der Mensch ist in einer gewissen Entfernung von der Hölle, aber weit entfernt von den himmlischen Sphären, er ist zwischengelagert sozusagen, und seine Orientierung geht nach oben, die ist also ganz vertikal gerichtet. Und was danach war, jenseits dieser Schale bzw. die Frage darnach, galt als Scheinfrage. Das muss man sich in aller Deutlichkeit vor Augen führen, auch wenn man heute, wie ich jetzt hier gelesen habe, als ich hier vorbei zur Urania ging, morgen Abend wird ein Vortrag sein, ob der Kosmos unendlich oder endlich ist, begrenzt oder nicht begrenzt ‒ diese Fragen hat man ja schon vor zweiein­-halbtausend Jahren diskutiert, und man hat immer wieder ähnliche Grundargumente angeführt. Schon Aristoteles hat ja gesagt, wenn ich danach frage, was denn jenseits dieser Hohlkugel ist, dann stelle ich eine sinnlose Frage, weil jenseits dieser Hohlkugel ist kein Raum, keine Zeit, sondern der unbewegte Beweger, die Gottheit, das Göttliche. Die Frage danach ist eine sinnlose Frage. Also hat diese Hohlkugel im Grunde nur eine innere Wölbung, sie hat überhaupt keine äußere Wölbung, was sich ja für den naiven Realismus als absurd ausnimmt. Schon ganz früh hat man ja dagegen Einwände erhoben.

Zum Beispiel der römische Dichter Lukrez hat das berühmte Beispiel gebracht oder die berühmte These aufgestellt, wenn ich am Rande des Kosmos stehe und schieße den Pfeil ins Leere, was passiert? Verschwindet der Pfeil, oder bewegt er sich weiter? Wenn er sich weiter bewegt, ist auch jenseits dieser Grenze noch Raum, da ist letztendlich der Raum nicht begrenzbar. Aristoteles meinte aber, das ist unmöglich. Aber die Frage blieb ja bis heute. Das können Sie in der gesamten modernen Kosmologie, auch in dem sogenannten Big-Bang-Universum verfolgen. Es ist genau die gleiche Grundkonstellierung der Frage. Wenn das Weltall sich ausdehnt, gar der Raum sich ausdehnt, wohin dehnt er sich aus? Dehnt er sich in den Raum hinein aus, dann ist der Raum schon vorher da. Dann kann ja der Raum selber sich nicht ausdehnen. Wenn der Raum selber sich ausdehnt, dann ist ja ein vollkommen anderes Moment gegeben, das heißt dann, wohin dehnt der Raum sich aus? Offenbar in einen Nicht-Raum. Auf jeden Fall, diese Fragen sind noch die alten, brennenden, spannenden Fragen wie eh und je. Und die Frage bleibt natürlich, was hat der Mensch überhaupt damit zu tun? Das ist ja unser Thema: Mensch und Kosmos.

Man kann ja fragen, wie der Kosmos ist. Ob das nun [den] Big Bang gibt oder nicht, oder ob der Kosmos endlich ist oder unendlich. Was hat das mit uns zu tun? Das ist ja die entscheidende Frage: Was haben wir mit dem Kosmos, mit dem Universum da draußen überhaupt zu tun? Gibt es da irgendwie einen Zusammenhang, oder sind wir letztlich ameisenhafte, winzigste Wesen, die letztlich in diesem monströsen Kosmos überhaupt keine Funktion haben?

Nun hat das früh zu großem Pessimismen geführt, berühmtes Beispiel, ja zum Nihilismus sogar, berühmtes Beispiel ist Jean Paul, 1798, vor knapp zweihundert Jahren seine Schrift „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“. Wenn der Kosmos also, wenn diese ungeheuren Räume der Leere sich nicht füllen lassen, sind wir verloren. In der Aufklärungsphilosophie wurden die Räume ja noch gefüllt mit belebten Wesen. Man glaubte an die Allgegenwart der Vernunft. Alle Himmelskörper sind bewohnt. Auch Voltaire, [das] wissen Sie vielleicht, spekulierte darüber, ob vielleicht die Sirianer, von denen war ja bereits die Rede, die Sirius-Bewohner, vielleicht intelligenter sind als wir. Er vermutete, das seien sie, vielleicht stimmt es auch, wer weiß. Auf jeden Fall war das eine heiß diskutierte Frage. Und die Frage war ja immer auch: Wie ist es überhaupt möglich, dass wir eine Außenwelt, dass wir einen Kosmos überhaupt verstehen können und dass wir bis zu einem gewissen Grade überhaupt Naturwissenschaft betreiben können? Das muss ja irgendwie auch etwas mit Geist zu tun haben. Denn wenn der Kosmos nur ein Außen ist und der Geist nur das Innen, dann ist es vollkommen rätselhaft, was dieses Innen mit dem Außen zu tun hat. Wenn es außen Gesetze gibt, die ich erkennen und beschreiben kann, dann muss das auch beides miteinander zu tun haben, berühmte Antwort Kants „Kritik der reinen Vernunft“: Wir selber schaffen die Gesetze der Natur, das heißt, wir projizieren, er hat das Wort nicht verwendet, aber wir projizieren letztlich in ein vollkommen rätselhaftes, unbekanntes Etwas unsere Anschauung.

Das haben Sie noch bis heute hinein im sogenannten Konstruktivismus. Sie wissen es vielleicht, es ist eine der bekanntesten erkenntnistheoretischen Positionen heute, Konstruktivismus, wir konstruieren ständig Wirklichkeit. Wir wissen überhaupt nicht, was Wirklichkeit ist. Universum, groß geschrieben, Kosmos groß geschrieben, Wirklich­keitswelt groß geschrieben, ist das große X. Wir erfahren Universen, Kosmoswelt, klein geschrieben, das heißt unsere Welt, unser Universum. Das heißt, wir projizieren ständig, und wir können auch gar nicht anders. Wir sind ständig letztlich unseren eigenen Projektionen verfallen.

Nun hat es da immer Gegenbewegungen gegeben. Man hat sich ja niemals vollständig damit arrangiert und hat das niemals vollständig akzeptiert. Schon im 19. Jahrhundert können Sie beobachten, dass in der, sagen wir mal, esoterischen Bewegung ganz früh Gegenbewegungen da waren. Die früheste Bewegung, die auch heute noch sehr einflussreich ist über Umwege, ist die Theosophie. Nicht, also im späten 19. Jahrhundert, als das mechanistische Universum seine größten Triumphe feierte, ist die berühmte „Secret Doctrin“, Geheimlehre von Madame Blavatsky, ein Gegenversuch gewesen, den Kosmos spirituell zu fundieren und eine spirituelle oder esoterische Kosmologie zu formulieren. Diese Art von esoterischer Kosmologie der Madame Blavatsky hat dann bis in weiteste Strömungen des 20. Jahrhundert hinein die spirituelle Szene mitbestimmt, nicht nur die Anthroposophie, auch viele andere Strömungen, das war immer ein Gegenmodell, ein inneres Gegenmodell gegen den monströsen, sinnlosen Kosmos da draußen. Und man hat große Probleme gehabt, immer das Eine mit dem Anderen zu verbinden. Und wir haben ja heute, seit zwanzig Jahren vielleicht, den Versuch sehr vieler Forscher, Denker, Naturwissenschaftler, aber auch einiger Philosophen, diese verlorenen Enden wieder zusammenzuführen, also den verlorenen Kosmos der Alten, den verlorenen Kosmos einer sinngefügten Ordnung zusammenzufügen mit den „Errungenschaften“, in Anführungs­zeichen erst einmal gesagt, der neuzeitlichen Naturwissenschaft.

Es geht ja nicht darum zu sagen, wir verzichten grundsätzlich und ohne alles Wenn und Aber auf all das, was die naturwissenschaftliche Forschung herausbekommen und herausgefiltert hat, [das] wäre ja eine mögliche Perspektive. Man kann ja sagen, das alles ist so furchtbar gewesen, der ganze Ansatz hat so in ein monströses Vakuum geführt, in Nihilismus, also verzichten wir auf das Ganze. Das wäre, wenn man es genau nimmt, im Grunde genommen der Schritt in die Regression, das wäre ein Weg oder ein Schritt zurück. Auch das ist natürlich ein verständliches Bedürfnis. Es gibt also sehr viele heute, denen die gesamte, sagen wir mal nachkopernikanische Kosmologie eigentlich ein Unding ist, ein Etwas, mit dem sie nichts anfangen können und auch nichts anfangen wollen und die in gewisser Weise zurück wollen in eine „Heimeligkeit“, mal in Anführungszeichen jetzt gesagt, einer geozentrischen, einer eher zentrierten Welt.

Nun ist das bis zu einem gewissen Punkt auch verständlich. Ich meine, unsere Sinneserfahrung, auch die Grunderfahrung des naiven Realismus, spürt und merkt und empfindet ja nichts erst einmal von der kosmischen Wirklichkeit. Wenn wir hier sitzen in diesem Raum, dann wissen wir ja nicht, dass wir auf einer Steinkugel mit 30 Kilometer pro Sekunde dahinjagen, die ungefähr 12784 [12713 km Poldurchmessser – 12756 km Äquatordurchmesser] Kilometer groß ist, dass wir.., dass das ganze System sich bewegt, dass wir in einem gewaltigen, wie immer beschaffenen Universum uns befinden. Unsere Sinnlichkeit zeigt uns ja erst einmal eine ruhende, eine für sich seiende, letztlich Vertrauen erweckende Erde. Wenn in letzter Zeit, im Zuge der Vorstellung über mögliche Kometen­einschläge, siehe das berühmte Spektakel letzten Sommer auf dem Jupiter, nun Gedanken auftauchen, es könnte demnächst ein Komet, ein Meteor hier einschlagen, dann wird plötzlich schlagartig erhellt, das ist gar nicht so stabil, so für alle Zeiten, so auf alle Ewigkeit festgelegt, wie man das annahm.

Sie wissen vielleicht, dass ja hier, [Alexander] Tollmann hat ja hier auch in der Urania gesprochen, der Geologe Tollmann aus Wien, der die These vertreten hat, er war nicht der erste, aber er hat sie sehr plausibel gemacht, dass vor 8000 Jahren ein Meteor hier eingeschlagen ist und die gewaltige Flutwelle verursacht hat. Der Komet sei in sieben Teile zersprungen, er sei in vielen Teilen der Erde eingeschlagen, hat Tausende von Dokumenten untersucht und hat plausibel gemacht, dass es so ein Vorfall mit aller großer Wahrscheinlichkeit gegeben hat. Wenn es so eine kosmische Katastrophe gegeben hat, dann ist die Frage, kann die Katastrophe wieder eintreten und wenn ja, wann? Statistisch gesehen, sagen einige Astrophysiker, passiert das nur alle 20.000 Jahre. Bloß die Frage ist ja natürlich, wo befinden wir uns in diesen 20.000 Jahren? Wir können uns ja gerade am Ende befinden. Auch Kernkraftwerke sollen ja auch nur alle 15- bis 20.000 Jahre große Unfälle erleben, im Sinne der Super-GAUs, und trotzdem passiert es.

Also das gibt plötzlich ein Element der Unsicherheit, der Boden könnte wankend werden, natürlich kann man sagen, das passiert nicht, das kann gar nicht passieren, es ist unmöglich, dass so etwas passiert, morgen nicht und übermorgen auch nicht. Ich sehe zwar im Fernseher von meinem Sessel aus, dass da ein Komet einschlägt auf dem Jupiter, aber das ist weit weg. Ich bin hier, und es wird aller Wahrscheinlichkeit [nach] nicht passieren. Da gibt es viele Überlegungen, dass das doch öfter passiert ist, als wir denken und dass es durchaus auch in nächster Zeit passieren könnte. Ich will das vollkommen auf sich beruhen lassen. Ich bin kein Anhänger der Impakt-Theorie. Es ist jedenfalls eine Plausibilität, dass es vielleicht auch tatsächlich passieren könnte, wenn wir überhaupt noch diese Phase erleben können und uns nicht vorher ökologisch oder sonstwie den Garaus selbst fabriziert haben, wofür eigentlich alles spricht.

Nun, die Grundfrage dieses Abends und die Grundpfeiler des ganzen Themas ist ja: Wenn uns da wirklich etwas verloren gegangen ist, was ich ja ganz knapp jetzt mal gesagt habe, mit der flammenden Allgegenwart eines Kosmos, der auch unsere Heimat ist, unser Ursprung und unser Ziel, siehe die astrale Region im Orion oder auch die harmonikale Struktur des Kosmos ‒ was können wir denn tun heute? Was kann denn eigentlich der Mensch im ausgehenden 20. Jahrhundert tun? Wie kann er sich denn überhaupt stellen dazu? Wie soll er sich denn verhalten, wenn er vielleicht ganz tief innen spürt oder ahnt, dass diese ihm von der Öffentlichkeit, auch übrigens ja von den Massenmedien, servierte Kosmologie vielleicht in der Tiefe ihn gar nicht berührt und auch gar nicht berühren kann? Was soll er tun? Und das ist ja das Thema sehr vieler Bücher und Ansätze in den letzten Jahren. Und ich selber habe ja auch in verschiedenen Veröffentlichungen und Büchern mich dazu geäußert. Und ich finde es auch eines der spannendsten Themen überhaupt, sich klarzumachen, was für Ansätze, was für Möglichkeiten gibt es hier überhaupt? Ich will mal versuchen [darzustellen], was für Möglichkeiten gibt es überhaupt, hier irgendetwas wiederzugewinnen? Also was können wir tun, um die alte, lebendige Kosmologie wiederzubeleben?

Ich meine, der alte Kosmos existiert ja nach wie vor in uns allen. Er ist ja, um es mal so zu formulieren, auch unsere Sternenseite, die Nacht- und Sternenseite, mit der wir ständig verbunden sind. Das Tagesgestirn der Sonne überstrahlt ja immer nur mit seiner gleißenden Helligkeit die Sterne, die ja immer da sind. Sie wissen, dass es ja auch in einem Brunnen bestimmter Tiefe zu einem bestimmten Sonnenstand ja auch möglich ist, am hellichten Tage die Sternbilder gespiegelt zu sehen. Das heißt, die Sternbilder sind immer da. Sie sind immer da, wie der Kosmos immer da ist, die flammende Gegenwart ist immer da. Sind das nun einfach glühende Gaskugeln? Sind das beseelte, belebte Gestirne? Oder sind das einfach nur Lichtpunkte, was ja für die meisten der Fall ist? Die Gestirne sind einfach Lichtpunkte, wie immer sie nun da oben befestigt sein mögen. Was mag die Kosmologie dazu sagen, was die will?

Nun will ich versuchen, mal ein paar Ansätze zu zeigen, wie das eigentlich gedacht wird in den letzten Jahren und was sich da bewegt auf diesem Felde. Folgende Facetten beobachte ich, und ich bin ja zum Teil auch an diesem Diskurs beteiligt seit 20 Jahren. Einen Punkt habe ich schon genannt, das ist die schlichte Regression, sehr verbreitet. Das können sie auch in hochintelligenter Form zum Teil verfolgen. Es ist keineswegs, dass Regression hier so von oben herab von mir gemeint ist. Es gibt immer hochintelligente Formen der Regression. Ich erinnere mich daran, dass ich vor drei Jahren oder zweieinhalb Jahren in der Humboldt-Universität im Audimax eine Podiumsdiskussion hatte mit Rudolf Bahro und einem Biologieprofessor, wo es um die Frage Kosmologie ‒ Ökologie ging. Und da hat dieser Biologieprofessor damals gesagt, ja, der ganze Kopernikanismus und die ganze Phase nach Kopernikus ist doch für die Ökologie-Frage vollkommen uninteressant. Sie ist nicht nur uninteressant, sie ist eigentlich eher hinderlich. Das heißt, viel besser wäre es, wir würden den Kosmos wie eh und je begreifen als die bergende Erdmutter inmitten dieses lebendigen Kosmos. Dass das ein Wandelstern ist mit dieser ungeheuren Geschwindigkeit, ist also eine Erkenntnisstufe, die uns nur ruiniert. Ich habe das dann im Disput und in der Öffentlichkeit also dagegen gesprochen und meinte also, man könnte sehr wohl eine andere und neue Sichtweise des Kopernikanismus finden. Man müsste nicht zurück. Aber dieses Zurück ist, ich sage es nochmal, verständlich.

Die zweite Möglichkeit, die ungeheuer verbreitet ist, ist ja ist die Astrologie. Ich meine die Astrologie, das muss man einfach mal klar sagen, war ja ursprünglich verbunden, ganz eng verzahnt mit einem all-lebendigen, mit einem animistisch verstandenen Universum, wo es ein Kommen und Gehen gab astraler Energien, astraler Wesenheiten, der Götter und abgeschiedener Seelen und sich inkarnieren wollender Seelen, als ein ständiges fluktuierendes gewaltiges organisches Ganzes. Die moderne Astrologie ist einfach Psychologie. Ich habe kürzlich eine polemische Bemerkung gefunden von Jemandem, der sagte, eigentlich könnte die Astrologie auf die Gestirne ganz verzichten, weil sie braucht im Grunde genommen die Gestirne gar nicht. Sie hat auch gar kein Alternativmodell zur mechanistischen Kosmologie. Sie übernimmt ja letztendlich, auch computerisiert, übernimmt letztendlich genau dieses mechanistische Universum, passt sich dann immer den jeweiligen Strömungen in der Naturwissenschaft neu an, hat aber kein eigenes, fundiertes und wirklich aus der Tiefe, aus einem eigenen Sein, aus einer eigenen, lebendigen, authentischen Ontologie gespeistes Gegenbild. Das mag im Einzelnen anders aussehen, also einzelne Individuen mögen in der Tiefe da durchaus ein anderes Bild in sich tragen. Aber das, was erst einmal rüberkommt, ist eng gebunden an das mechanistische Denken, bedient sich aber ganz alter Formen und Bilder, die nun neu psychologisiert werden. Es ist ja letztlich ein Element, ein System, ein sehr subtiles und hochinteressantes System der Psychologie. Die meisten astrologischen Bücher sind also eigentlich psychologische Bücher.

Nun, den Weg des Eros habe ich bereits genannt. Nun kann man fragen, das ist ja auch alt, nun kann man fragen, wie bringt uns der Eros den Kosmos nahe? Ich meine, die Literatur ist voll davon, auch die Musik, denken Sie an Richard Wagner, den Schluss von „Tristan und Isolde“. Da ist ja auch so eine kosmische Vereinigung dargestellt, in der Musik sinnfällig gemacht. Und denken Sie an die gesamte Bio-Energetik von Wilhelm Reich und seiner Lehre von der Orgon-Energie, die im biologischen Organismus genauso drin ist wie in den Galaxien. Das ist natürlich eine schwierige Sicht, eine schwierige, problematische Sicht: Kann man einfach sagen, weil es viel diskutiert wird, kann man sagen, da sozusagen die Galaxien auch von Eros-Energien in Gang gehalten werden, ist es letztendlich das Gleiche, da und dort. Dann hätte man ja auch die alte Einheit wiedergefunden. Die glaubte ja auch Wilhelm Reich wiedergefunden zu haben. Über die Orgon-Energie glaubte er tatsächlich, er habe sozusagen diese alte Spaltung überwunden. Über die Orgon-Energie können wir nun eine neue Brücke finden zwischen Kosmos und Erfahrungswelt.

Nun, was gibt es noch für Ansätze? Es gibt Versuche auch seit 20, 25 Jahren, diesen alten Dimensionen des Kosmos mittels bestimmter nur durch eine bestimmte Schulung zu erlangender Erfahrungen nahe zu kommen, sogenannte transpersonale Erfahrungen. Es gibt ja die Möglichkeit, in Grenzsituationen, Dinge, Elemente oder Facetten der Wirklichkeit zu erfahren, die dem normalen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Man hat dafür einen Begriff geprägt, der ein gewisser modischer Begriff ist, ich liebe ihn eigentlich nicht so sehr, obwohl er eine gewisse Teilberechtigung hat, der Begriff „kosmisches Bewusstsein“. Der Begriff ist geprägt worden von einem kanadischen Psychiater im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er meinte damit visionäre, grenzüberschreitende Erfahrung. Er meinte, ganz bestimmte Persönlichkeiten in der Geschichte, Dante, Moses, Buddha, Jakob Böhme und andere hätten diese Erfahrung gehabt. Das zieht sich ja durch die gesamte spirituelle Kosmologie bis in die Gegenwart: die Vorstellung von einem kosmischen Bewusstsein, dass man also auf diese Weise in einer transpersonalen Erfahrung wieder in die alte Dimension des Kosmos in irgendeiner Form hineinkommen kann. Die Dimension ja auch der Weite und der Bewusstseinssstrahlung und der sinngefügten Ordnung, also sozusagen sich befreien kann und diese Stufe transzendieren kann. Man wäre dann wieder in einem sinnvoll gefügten, ganzheitlichen Zusammenhang. Das hat ja auch der Psychiater und Bewusstseinsforscher Stanislav Grof in seinen Büchern und Praktiken immer wieder zu zeigen versucht, dass wir mittels dieser Erfahrungen, die man in der Meditation finden kann, mit bestimmten Formen des Atmens und Anderem tatsächlich in der Lage sein könnten, in eine Tiefendimension der kosmischen Erfahrung wieder neu hinein zu kommen. Auch die Bewusstseinsforschung, die sich beschäftigt mit den Grenzerfahrungen der sogenannten Nahtodeserfahrungen, geht hier in eine ähnliche Richtung. Da ist ja mittlerweile die Literatur kaum noch überschaubar zu dem Thema, aber es ist ja immer wieder die gleiche Grundrichtung, dass der Mensch an der Grenze seiner irdischen Existenz plötzlich, schockartig in eine Erfahrungsdimension hinein gerät, die ihm sein Bewusstsein ins Kosmische hinein für einen Moment weitet, für einen Moment, sei es für Minuten, sei es für zehn Minuten, eine Viertelstunde vielleicht sogar für Stunden oder auch nur für Sekunden. Auf jeden Fall, in einem kurzen Moment kann diese Verpanzerung des Bewusstseins aufgebrochen werden.

Wir alle haben hier erstmal im Normalfall ein absolut zugepanzertes Bewusstsein. Wir laufen auf diesem Planeten rum, sind beschäftigt mit tausend Dingen, die uns tagtäglich und ständig irgendwie den Tag, die Zeit des Tages in Beschlag nehmen, und das um uns herum vielleicht, was diese Erfahrung andeuten könnte, sozusagen eine brausende, eine unermessliche, vieldimensionale, ständig durch uns hindurch wirkende Bewusstseins­strahlung wirkt, ist ja normalerweise vollkommen unbekannt, ja wird geradezu als eine vielleicht poetische oder sonstige Fantasie bezeichnet. Man kann aber erst einmal, auch sei es nur als Arbeitshypothese, davon ausgehen, die herrschende Kosmologie umdrehen oder auf den Kopf stellen und sagen: Wir sind sinnvoll in diesen Kosmos eingefügt, wir haben einen Sinn, wir haben eine Funktion, wir müssen bloß rauskriegen welche. Das ist natürlich die entscheidende Frage. Und diese Bewusstseinsforschung behauptet ja nicht, nun wüsste man, was der Sinn der menschlichen Existenz im Kosmos sei. Es sind ja Signale nur, es sind ja nur Öffnungen, sind ja in keiner Weise, irgendwie klare, verifizierbare und schon gar nicht irgendwie naturwissenschaftlich belegbare Aussagen: Das ist der Mensch, so verhält es sich mit seinem Verhältnis zum Kosmos.

Ich meine, in der herrschenden Kosmologie und Evolutionsbiologie ist es ja vollkommen einfach: Der Mensch ist ein höheres Tier, hat sich entwickelt, er ist ein Seitenzweig einer im Grunde bewusstseinsblinden Evolution. Wo ist eigentlich das Problem? Dann haben natürlich einige Kosmologen, schlau kann man sagen, das sogenannte anthropische Prinzip eingeführt, haben gesagt, na ja, das ist zwar so, aber im Grunde genommen zielt die ganze kosmische Evolution auf die menschliche Intelligenz. Anthropos ist der Mensch, anthropisch ist also die Entwicklung zum Menschen. Es gibt also dann doch ein Telos, doch ein Ziel, nämlich die menschliche Intelligenz.

Nun ist diese Art von menschlicher Intelligenz vielleicht nicht so hoch zu veranschlagen. Im Zuge dieser uns allen bekannten Krisenhaftigkeit auf diesem Planeten hat man ja wirklich gute Gründe, an dieser Intelligenz zu zweifeln. Dieser blöde Witz, der mir kürzlich untergekommen ist, wenn ich das kurz mal sagen darf, in irgendeinem Buch: Unterhalten sich zwei Planeten, und dieser so schlecht aussehende Planet sagt zu dem anderen: Wieso siehst du so furchtbar aus? Ja, ich kann es auch nicht ändern, ich habe Homo sapiens. Darauf sagt der andere: Na ja, mach dir nichts draus, es dauert ja nicht mehr lange, es geht vorbei.

Nun, für uns mag dieses Kurze sehr lang sein, und dieser Witz hat ja so eine, eigentlich so eine frostige, zynische Form, dass wir alle darüber lachen oder sagen wir mal, einige darüber lachen, ist natürlich schon ein Zeichen für unsere Situation. Wir verstehen den Witz sofort, auf irgendeiner Ebene verstehen wir den Witz, wir lachen, es ist eigentlich ein zynisches Lachen über uns selber. Im Grunde müsste uns das Lachen im Halse stecken bleiben. Wenn es wirklich so ist, ist es doch furchtbar. Was ist denn dann mit unserer Intelligenz hier auf diesem Planeten, wenn wir sozusagen so locker darüber lachen können, dass wir hier in Kürze verschwinden werden?

Also es gibt Ansätze auf diesem Gebiet, ich sage es noch mal, transpersonale Erfahrungen zu machen und diese vielleicht rückzukoppeln an bestimmte kosmologische Vorstellungen. Es gibt verschiedene Bücher in der Richtung. Ich kann Ihnen hier nicht die ganze Literatur nennen. Eines von diesen Büchern ist vor zwei Jahren im Insel Verlag erschienen, „Am Fluss des Heraklit – neue kosmologische Perspektiven“, verschiedene Autoren äußern sich hier. Ich habe hier auch einen Essay drin mit dem Titel „Grenzüberschreitung ins kosmische Sein“. Und hier ist auch der Versuch gemacht worden nun, mehr oder weniger erfolgreich, die neuere Kosmologie mit diesen Erfahrungen zusammenzukoppeln, ob da vielleicht doch sich eine Brücke finden lässt?

Nun kann man das auch von der Gesamtbewusstseinsentwicklung aus betrachten, wie das der von mir hochgeschätzte Ken Wilber macht. Das heißt also, dass unsere mentale Stufe im Moment in der pathologischen Form sich diesen Kosmos sozusagen kreiert, diese Projektionen schafft, dass wir aber im Durchgang durch ein möglicherweise transmentales Stadium dann auch sozusagen von selbst zu einer anderen Kosmologie kommen. Wir können natürlich nicht durch einen Willensakt einfach eine andere Kosmologie aus dem Hut zaubern. Das ist nicht möglich, genauso wenig, wie wir zum Beispiel eine jetzt grundsätzlich andere Physik oder eine grundsätzlich andere Biologie oder Chemie einfach so schaffen können. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil hier ja eine große Zahl von Generationen unermüdlich an diesem einen Werk gearbeitet haben. An Gegenelementen mangelt es ja, und die sind sehr zersplittert und in keiner Weise zusammenhängend, das heißt, man müsste erst einmal eine ganz grundlegende Arbeit leisten, das können Einzelne in keiner Weise. Man kann nur vermuten, dass im Zuge eines Bewusstseinssprungs eventuell dann die Möglichkeit sich herstellt, tatsächlich auch uns plötzlich in einem anderen Kosmos vorzufinden, als wir immer gedacht haben. Das ist meine These und auch meine Vermutung. Ich vermute, obwohl ich es nicht beweisen kann, dass wir ganz tief innen ganz genau wissen, ganz genau wissen, dass wir in einem völlig anderen Kosmos leben. Genauso wie ich oft sage und bin davon tief durchdrungen, dass jeder Einzelne ganz genau weiß, dass er seinen Tod überlebt, ganz, ganz in der Tiefe weiß es jeder in der einen oder anderen Form. Die Angst letztendlich vorm Tod ist nicht die Angst zu verschwinden, das ist im traumlosen Tiefschlaf ja jede Nacht der Fall, sondern ist dass da in irgendeiner Form eine Konfrontation passiert, eine Konfrontation, die den Einzelnen gnadenlos mit sich selber konfrontiert, wie das auch in diesen Nahtodeserfahrungen, Grenzerfahrungen ganz häufig und in einer großen Zahl dargestellt wird und berichtet wird. Und es bleibt letztendlich die Frage, und das kann nur eine offene Frage sein: Ist es möglich, oder wird es noch möglich sein, im ausgehenden Jahrtausend sozusagen, diese kosmische, die spirituelle, die tiefe Dimension unserer Existenz eigentlich ins Bewusstsein hinein zu führen, uns tatsächlich damit zu verbinden? Oder wird das nicht mehr gehen? Wird das nur über vielleicht schockartige Erfahrungen schubhaft passieren? Aber auch das ist unsicher. Das Bedürfnis jedenfalls ist gewaltig.

Also, ich habe nun wahrlich in diesen letzten zwanzig Jahren so viele Gespräche geführt mit den verschiedensten Leuten, mit Mathematikern, Physikern, Biologen und Philosophen und unzählige Vorträge gehalten und viele Diskussionen geführt. Ich weiß wirklich, dass das Bedürfnis gewaltig ist. Ganz tief innen hat Jeder ein elementares Bedürfnis, seine eigene Position im kosmischen Gesamtzusammenhang zu verstehen, weil er ganz tief innen spürt, dass ihm die menschliche Würde geraubt wird, wenn er die kosmische Dimension einfach so ausklammert. Und wenn er die einfach so abgibt, gewissermaßen an die dafür zuständigen sogenannten Fachleute, etwa Astronomen oder Astrophysiker oder wie das neuerdings heißt, Kosmologen. Also das glaube ich ganz tief innen. Und ich glaube, wenn das so stimmt, meine These, dass die innere Kosmologie auch die äußere Kosmologie tatsächlich trägt, ja vielleicht sogar identisch mit ihr ist, dann könnte es nur aus den Tiefen dieser inneren Kosmologie selber kommen. Das kann wahrscheinlich nicht von Einzelnen geleistet werden. Es müsste ein Bewusstseinssprung sein, der in irgendeiner Form kollektiven Charakter hat. Das bedeutet nicht, dass Einzelne nichts beitragen können. Aber Einzelne mit einem Willensakt können auf gar keinen Fall hier irgendetwas verändern. Dass das Bedürfnis so groß ist, können sie doch an allen Fronten sehen, das ungeheure Interesse etwa an Science Fiction, an Science Fiction-Filmen, das ungeheure Interesse an der Ufologie, die ganze Diskussion um UFOs, dieses leidenschaftliche Interesse der Menschen, mit der sie über diese Fragen zu diskutieren.

Das sind doch alles nur Symptome oder Signale dafür, hier ist ein elementares Interesse, man will das irgendwie wissen: Sind wir allein im Kosmos? Sind wir es nicht? Und das geht Jeden irgendwie an, und da sollte man sich nicht, meine ich abschließend, bevor wir vielleicht ins Gespräch kommen, da von sogenannten Fachleuten die Meinung vorprägen lassen und sich sagen lassen, was möglich oder was nicht möglich ist oder sein kann. Weil diese Fragen sind extrem komplex und schwierig, und ein wirklich fundiertes Wissen besitzt darüber keiner. Auch wenn Evolutionsbiologen manchmal dann forsch, nassforsch verkünden, das ist eigentlich ziemlich klar, dass die Evolution nur ein einziges Mal diesem Universum zum Menschen geführt hat, nämlich auf der Erde, so ist das eine dogmatische Behauptung ex cathedra, die durch nichts belegt ist. Und auch wenn einer, was weiß ich, sonstige Meriten sich erworben hat oder gar den Nobelpreis: Es ist kein Grund für Irgendjemanden dieser Art solche Dinge zu sagen, weil es kann nicht gewusst werden. Das eine ist eine dogmatische Aussage, genauso, wenn ich die Gegenaussage so dogmatisch einfach in den Raum stelle. Beides ist erst einmal eine vollkommen offene Geschichte, und ich finde, dass wir da ein riesiges Stück Bewusstseinsarbeit leisten können und auch leisten müssen. Und meine These ist seit Langem, dass das auch was zu tun hat mit der Ökologie-Frage. Also letzte Bemerkung, der Philosoph Hans Jonas hat kurz vor seinem Tod 1992 mal, denke ich, mit Recht gesagt, dass die Ökologie-Frage nur sinnvoll anzugehen ist, wenn man sie mit der oder an die Kosmologie-Frage koppelt. Die Mensch-Kosmos-Frage ist letztlich auch eine ökologische Frage und umgekehrt. Man kann die Mensch-Kosmos-Frage nicht vollständig lösen von der ökologischen Frage, was übrigens meistens passiert. Meistens ist sie ja gar kein Thema. Die Mensch-Kosmos-Frage ist das eine Paar Schuhe, und die Ökologie-Frage ist das andere Paar Schuhe. Ich meine aber, dass beide Paar Schuhe ganz eng miteinander zusammenhängen und ganz viel miteinander zu tun haben.

So, ich habe ein bisschen überzogen. Wir wollen ja auch noch ins Gespräch kommen. Wenn Sie das wollen, dann können wir es vielleicht gleich anschließen.

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Tierethik und ökologische Ethik

Vorlesungsreihe:

Mensch und Erde, Teil I
Grundlagen der integralen Tiefenökologie

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale Sommersemester 2001
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 38

Transkript als PDF:


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„Tier-Selbst und Tier-Sein, zweiter Teil, zum Eigenrecht der Tiere, Tierethik und ökologische Ethik“. Der „Spiegel“ zitiert Peter Sloterdijk mit folgenden Worten: „Erst unter dem Druck der grausamen Bilder von torkelnden, verbrannten, zu Abfall reduzierten Kühen, regt sich eine neue Sensibilisierung. Man versteht wieder, dass ganz dicht unter der normalisierten Oberfläche das Grauen und die Infamie weiterhin präsent sind.“ Das mag als ein Motto für diese Vorlesung gelten.

Ehe ich im engeren Sinne auf die Frage Tier-Sein, Tier-Selbst und auch die Frage einer möglichen ökologischen Ethik oder Tierethik, eines Rechtes der Tiere eingehe, möchte ich einige Sätze sagen zu einem Brief, den ich bekommen habe. Ich weiß nicht, wer ihn geschrieben hat. Ich kann den Namen keinem Einzelnen zuordnen, aber der Brief enthält einige Punkte, die interessant sind, und ich will ganz kurz darauf eingehen. Vielleicht hat der Eine oder Andere auch diese Fragen gehabt, und es mag interessant oder wichtig sein, sie noch mal hier im Plenum zu erörtern. Ich will zwei Punkte herausgreifen. Da war die Frage aufgeworfen worden in dem Brief, ob ich der Auffassung wäre, dass durch die Entdeckung des Quastenflossers die Evolutionslehre im neo-darwinistischen Sinne entkräftet oder gar widerlegt worden sei. Nein, dieser Auffassung bin ich nicht, und das wäre auch naiv. An einem derartigen Fund oder an auch vielen derartigen Funden nun so weitreichende Schlüsse anzuschließen, als ob nun eine in sich konsistente Theorie über die Evolution der Lebewesen damit entkräftet worden sei. Was ich nur sagen wollte, war, dass dieses Moment des Auffindens eines Tieres, das viele Millionen Jahre ausgestorben sein sollte, es gibt viele ähnliche Beispiele, zumindest eine gewisse Verwunderung auslösen könnte, dass diese theoretischen Konstrukte auch anzweifelbar sind, vorsichtig gesagt, dass sie nicht so fest sind, wie es häufig hingestellt wird. Die Evolutionslehre als Ganze ist im Lauf von Jahrhunderten, Jahrzehnten so ausdifferenziert worden, dass man mit einzelnen Elementen, etwa so einem Auffinden eines ausgestorbenen Tieres, das nicht aus den Angeln heben kann. Übrigens gibt es wie in vielen Fällen dieser Art Zirkelschlüsse. Karl Popper hat es sehr schön gezeigt gerade am Beispiel des Darwinismus. [Das] kann man übrigens auch an anderen theoretischen Konstruktionen zeigen, sind natürlich Zirkelschlüsse drin, die sich einander bestätigen. Häufig genug wird das vorausgesetzt, was bewiesen werden soll. Also das ist ein riesiges Feld, das wollte ich nicht. Ich wollte nichts weiter als einen gewissen Akzent setzen in eine andere Richtung, sozusagen das Bewusstsein schärfen für derartige Überlegungen. Und das könnte vielleicht bei dem Einen oder Anderen auch gelungen sein.

Eine Entkräftung würde eine sehr weitgehende, differenzierte Argumentation erfordern, wie sie auch Hans-Joachim Zillmer in seinen Büchern nicht geleistet hat, obwohl er den Anspruch erhebt. Er liefert eine Fülle von hochinteressanten Gesichtspunkten, aber sein eigener Anspruch ist wesentlich weiter, und den hat er in dieser Form nicht eingelöst. Der zweite Punkt, der uns jetzt schon auf das Thema der Tiere führt, betrifft nochmal diese Vorstellung, die uns ja grundsätzlich beschäftigt in diesem Semester, die Frage nach der Erde als Ganzem, als Ganzheit, ob man sagen kann, dass dieses Gestirn, dieser Planet Erde, ein Organismus sei im Sinne der Gaia-Theorie, die sich ergibt in der eher starken und der eher schwachen Form. In dem Brief kommt übrigens ein Missverständnis vor, da wird gesagt, die Vorstellung der Erde als Bios-Wesen sei die eher schwache Form der Gaia-Theorie, dagegen sei die eher starke Form die geistbehaftete Erde. Das ist nicht so. Die Vorstellung der Erde als einem Bios-Wesen ist die starke Form der Gaia-Hypothese. Die schwache Form der Gaia-Hypothese besteht darin zu sagen, die Erde ist ein Quasi-Lebewesen, sie ist ein hochkomplexes, systemisch gebautes, hochorganisiertes Etwas, aber im eigentlichen Sinne kein Organismus, sie scheint ein Organismus zu sein, sie hat gewisse Eigenschaften eines Organismus, aber sie ist nicht wirklich ein Organismus. Die Vorstellung, dass die Erde als Ganzes wirklich ein Lebewesen sei, ist die starke Form der Gaia-Hypothese. Und jetzt kam die Frage in dem Brief oder der Hinweis in dem Brief, wenn das so wäre, dann müsste man ja alle oder die meisten Eigenheiten des Organisch-Lebendigen nun auch auf dieses Erdganze übertragen können, zum Beispiel das Moment der Reproduktion. Und das sei im Falle der Erde nun ganz offensichtlich eine Unmöglichkeit. Das mag so sein. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Gründen weit über das hinaus, was ich dargestellt habe, die darauf schließen lassen, dass man gute Gründe hat also, die Erde im Gesamten als Organismus zu betrachten.

Auf dem Kongress, den ich erwähnt habe, im Schwarzwald über die Wirklichkeit, gab es auch einen großen Büchertisch, und da wurde auch ein Buch verkauft, was ich erworben habe, aber erst partiell lesen konnte, war ein umfangreiches Buch, die Zeit war knapp, ist ja erst etwas mehr als eine Woche her, von einem anthroposophischen Naturwissenschaftler, ich weiß nicht, ob Biologe oder Geologe, Guenther Wachsmuth, „Erde und Mensch“, das auch dieses Thema hat, das uns ja in dieser Vorlesungsreihe beschäftigt. Und Wachsmuth stellt eine Fülle von hochinteressanten Gesichtspunkten dar, immer mit einer bestimmten anthroposophischen Sprache, die ist nicht die meine, aber sie ist hinzunehmen, man kann mit ihr arbeiten, ich muss mich nicht sozusagen wortreich davon abgrenzen. Er stellt dar, in diesem Buch, dass wir von der Vorstellung des Rhythmus aus, von der Vorstellung der Pulsation aus, die Erde neu verstehen und begreifen können als pulsierendes, atmendes, kosmisches Lebewesen. Und da gibt er eine Fülle von faszinierenden Belegen, etwa Luftdruckschwankungen, Luftbewegungen, Wirbelbewegungen in der Atmosphäre, hochinteressant. Vieles kann ich nicht nachprüfen, ob das Material so stimmt oder nicht stimmt, [das] entzieht sich im engeren Sinne meiner Kenntnis, aber es ist hochinteressant. Ich gebe Ihnen mal nur eine kurze Passage aus dem Buch, und das mögen sie dann eventuell in das Literaturverzeichnis aufnehmen, das gehörte eigentlich dann zu dieser Reihe, Guenther Wachsmuth, „Erde und Mensch“. Das ist eine Ausgabe von 1980, der Text selber ist wahrscheinlich viel älter. Die letzte Fassung ist aus den frühen 60er Jahren, der Hauptteil ist schon aus den 40er Jahren.

„Vor allem muss die organische Anschauung nun von der Atmosphäre auch auf den Organismus der Erde als Ganzheit erweitert werden.“ Das ist ein entscheidender Gesichtspunkt bei ihm, die atmosphärische Pulsation. Sie können das auch in der Lehre Wilhelm Reichs etwa, Pulsation [,sehen]. Sie kennen das von Hermann Schmitz, die Pulsation von Kontraktion und Expansion, von Weitung und Engung ist ja eine Grundbedingung lebendiger Prozesse. „Wir sehen also wiederum das Ringen zweier Anschauungen deutlich vor uns. Das im letzten Jahrhundert“ ‒ 19. Jahrhundert ‒ „dominierend gewordene Erdbild der Menschheit, das in der Erde einen der zahllosen unselbständigen, alle Energien und Lebensimpulse von außen erhaltenden, nach rein physikalischen und mechanischen Gesetzen von außen dirigierten Weltkörper sah, dessen Zerfall, Schrumpfung und Zusammenbruch wir beiwohnen und andererseits das Bild Keplers, Goethes und mancher seitheriger Denker und Forscher, dass in der Erde auch ein nach Eigengesetzen sich selbst entwickelndes Lebewesen sieht.“ Eine Grundhypothese, zu der ich auch zuneige, wie Sie wissen, ich habe das ja mehrfach auch angedeutet. „Gewiss war dieses Bild der Erde bei Goethe zunächst nur in seinen ersten Anfängen angedeutet, aber aus systematischer Beobachtung bestimmter Naturprozesse insoweit sie damals zugänglich waren und sicherer Intuition, stellte er bereits jene oben erwähnte These auf, deren Grundgedanken wir im Folgenden aus der heutigen Kenntnis der Tatsachen konsequent ergänzen und fortführen wollen. Es wird sich dann zeigen“ ‒ und das ist der Inhalt dieses Buches ‒ „dass gerade viele der schwierigsten Probleme der heutigen Geophysik, Meteorologie und Biologie sich nur dann sowohl in ihrer Ganzheit und Wechselbeziehung als auch im Ablauf der einzelnen Phänomene erklären lassen, wenn“ ‒ jetzt kursiv gedruckt ‒ „wenn wir die Erde als einen Organismus betrachten, der ein Eigenleben mit weitgehend selbständigen Gestaltungstendenzen, Rhythmen und Lebensprozessen besitzt. Wir stellen darum zunächst aus dem Wesen eines jeden Organismus heraus die folgenden weiteren Thesen auf, die aus den Phänomenen zu belegen sind.“ Es [geht um die Thesen], die die er in diesem umfangreichen Buch nun belegt oder zu belegen versucht, die partiell durchaus in einen Einklang zu bringen sind mit meiner eigenen Naturphilosophie. „Die Erde empfängt nicht nur Energien und Einflüsse von außen, ihr Wirken ist nicht nur durch exogene Kräfte erhalten und bestimmt, sondern sie ist als lebender Organismus auch selbst ein Agens mit eigenen endogenen Impulsen, Energiequellen und Aktionszentren, mit einer nach Eigengesetzlichkeit gestalteten Organisation. Sie ist eine weitgehend in sich geschlossene Einheit und Ganzheit mit einem stark ausgebildeten selektiven Reaktionsvermögen gegenüber der andersartigen Umwelt. Sie besitzt eine organisch regierte Grundstruktur.“ Da kann man vielleicht denken an das, was ich Ihnen ja in Grundzügen vorgestellt habe, Sie erinnern sich an die Gitterstruktur, das Gitternetzwerk auf der Erdoberfläche. „Diese Struktur und Gliederung weist nach außen und innen lebendig reagierende, schützende Hüllen sowie eigene Energie-Reservoire und bestimmte im Gesamtsystem angeordnete Organe auf, welche den Lebensprozess in Gang halten. Die Erde besitzt eine eigene Kräfte-Organisation, einen Kraftleib oder Bindekräfteleib, der die materielle physische Körperlichkeit durchdringt und der außer in den bisher besonders beachteten physikalisch deutbaren Vorgängen auch in dynamischen und vitalen Prozessen erkennbar ist, wie sie der Ganzheit lebender Organismen eigen ist. Sie besitzt Eigendynamik und Eigenrhythmik.“ Und so weiter.

Das zeigt er, Einiges konnte ich schon lesen, etwa an der Atmosphäre. Ich finde das hochspannend, dass eine bestimmte Pulsation durchschlägt in der Atmosphäre. Das wird hier im Einzelnen begründet und zurückgeführt auf ein gesamtorganisches Phänomen, etwa der tagesperiodische Rhythmus im Kräftefeld der Erde. Also wen das interessiert, ist ein hochinteressantes Buch mit einer Fülle von Materialien zu dieser Frage. Und was mich besonders interessiert hat dabei, letzte Bemerkung dazu, ist der Zusammenhang mit meiner eigenen Vorstellung von der Licht-Schwere-Polarität, die ich ja in diesem Saal mehrfach schon dargestellt habe, also die eigenartige Pulsation der Erde, die die Ursache sein mag für Wachen- und Schlaf-Vorgänge höherer Lebewesen. Denn Sie wissen ja, dass es ein weithin ungeklärtes, physikalisch und auch medizinisch ungeklärtes Phänomen ist, warum höher organisierte Lebewesen oberhalb der Ebene der Fische überhaupt schlafen. [Das] ist nicht geklärt. Und hier gibt es eine Erklärungsmöglichkeit, einen Ansatz, das taucht übrigens auch bei Wachsmuth auf, wie man das verständlich machen kann. Auf jeden Fall eine interessante Ergänzung zu unserem Gesamtthema hier. Ich werde auch noch in der nächsten Vorlesung im Zusammenhang mit der Geomantie auf das Buch etwas eingehen, bis dahin habe ich schon mehr gelesen, bislang hat die Zeit so noch nicht ausgereicht.

Nun will ich heute sprechen über die Frage Tier-Selbst und Tier-Sein im Besonderen in Zusammenhang mit einer ökologischen Ethik. Ich darf noch einmal daran erinnern, dass ich Ihnen ja einen grundlegenden Ansatz vorgestellt habe, der auf der einen Seite auf Descartes zurückgeht und einen ebenso grundlegenden Ansatz, der von Schopenhauer herkommt und von ihm formuliert worden ist. Kurzformel: Tiere sind, was ihren Wesenskern anlangt, von den Menschen unüberbrückbar getrennt, das ist die These von Descartes. Tiere sind keine wirklich menschenähnliche, menschengleichrangige Lebewesen, sie sind ontologisch unüberbrückbar getrennt. Sie sind, extremste Zuspitzung, im Grunde genommen höhere Automaten. Descartes begründet das ja sehr scholastisch, minutiös, warum das so sein müsste. Ich habe Ihnen ja eine Passage vorgelesen. Auf der anderen Seite die Position von Schopenhauer, der meinte, Tiere und Mensch sind in ihrem Wesenskern, in ihrer ontologischen Grundstruktur identisch. Der Mensch ist nichts grundsätzlich Anderes als das Tier, obwohl er nicht im Tier-Sein aufgeht. Was ihn vom Tier trennt, ist eher ein Sekundärphänomen, eine Sekundäreigenschaft, nämlich, wie Schopenhauer das nennt, der Intellekt, der ein Werkzeug ist des Willens, der sowohl im Tier als auch im Menschen das eigentlich Zentrale und Dominierende sei. Also Grundthese, Mensch und Tier sind nicht voneinander unterschieden, sie sind wesensidentisch. Nur, der Mensch hat eine zusätzliche Fakultät, die Schopenhauer Intellekt nennt. Nicht nur auf die schmale Form von Intellekt im heutigen Sinne gebracht. Beide sind also identisch.

Nun hat das natürlich gravierende Auswirkungen für die Frage einer möglichen ökologischen Ethik grundsätzlich. Ich will mal, um Ihnen das an einigen Texten ganz anderer Autoren zu zeigen, einige Zitate bringen, die uns in dieses Thema einführen, das ja von einer, glaube ich, zentralen Bedeutung ist. Letztlich geht es um die Frage, zugespitzt: Hat der Mensch das Recht, das Tier zu töten, wenn es ihm gutdünkt? Aus welchen Gründen auch immer. Es geht letztlich um die Frage des Tötens.

Nun ist das Töten eine abgründige Konstante der menschlichen Wesenheit. Und ich habe schon angedeutet, dass es Untersuchungen gibt von Psychoanalytikern, die darauf hinweisen, dass möglicherweise der Mensch über den Tötungsakt ein Stück Bewusstsein gewinnt. Und was so scheinbar ein brutaler Akt der Zerstörung ist, ist für denjenigen, der es ausführt, ein Schub, ein Bewusstseinsschub, eine radikale These, etwa vertreten von dem Psychoanalytiker Wolfgang Dietrich in seinem Buch „Töten ‒ Gewalt aus der Seele“. Das ganze Buch ist der Versuch, das Töten als Movens des Bewusstseinsprozesses zu interpretieren, also eine radikale These, die radikalste überhaupt in dieser Form, die ich je gelesen habe.

Hören wir einige Zitate. Ich beginne mal mit Elias Canetti. Elias Canetti, ein hochrangiger Schriftsteller, 1905 bis 1994, hat sich sehr intensiv in vielen seiner Bücher zur Frage des Tier-Seins, des Tier-Selbstes und des Mensch-Tier-Verhältnisses geäußert, in einem häufig recht scharfen, scharfzüngigen, zynischen Sinne. Ich darf mal einige Passagen vorlesen, die das verdeutlichen und die auch die Frage der ökologischen Ethik in einem grellen Licht zeigt. Elias Canetti aus diesem Sammelband „Brüder, Bestien, Automaten“ von Manuela Linnemann herausgegeben, ich habe das hier auf der Literaturliste. Canetti schreibt 1972 in dem Text „Die Provinz des Menschen“:

„Es schmerzt mich, dass es nie zu einer Erhebung der Tiere gegen uns kommen wird. Der geduldigen Tiere, der Kühe, der Schafe, alles Viehs, das in unsere Hand gegeben ist und ihr nicht entgehen kann. Ich stelle mir vor, wie die Rebellion in einem Schlachthaus ausbricht und von da sich über eine ganze Stadt ergießt, wie Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Greise erbarmungslos zu Tode getrampelt werden, wie die Tiere, Straßen und Fahrzeuge überrennen, Tore und Türen einbrechen, in ihrer Wut sich bis in die höchsten Stockwerke der Häuser hinauf ergießen, wie die Waggons in der Untergrund[bahn] von tausenden von wildgewordenen Ochsen zerquetscht werden und Schafe mit plötzlich scharfen Zähnen uns zerreißen. Ich wäre schon erleichtert über einen einzigen Stier, der diese Helden, die Stierkämpfer, jämmerlich in die Flucht schlägt und eine ganze blutgierige Arena dazu. Aber ein Ausbruch der minderen sanften Opfer, der Schafe, Kühe, wäre mir lieber. Ich mag es nicht wahrhaben, dass das nie geschehen kann, dass wir vor ihnen, gerade ihnen allen, nie zittern werden. Die neuen, die eigentlichen Entdeckungen an Tieren, sind nur darum möglich, weil uns unser Hochmut als Gottes-Oberste gründlich vergangen ist. Es stellt sich heraus, dass wir eher die Gottes-Untersten, nämlich Gottes Henker in seiner Welt sind.“

Aus dem Text „Das Geheimherz der Uhr“, 1987: „Das Wort ,Tier , alle Unzulänglichkeit des Menschen in diesem einen Wort. Ich bin zu den Tieren gegangen und bin an ihnen wieder erwacht. Es macht nichts, dass sie ebenso gern essen wie wir, denn sie reden nicht darüber. Ich glaube, es wird das Letzte, das Allerletzte in meinem Leben sein, das mir noch Eindruck macht: Tiere. Ich habe nur über sie gestaunt. Ich habe sie nie erfasst. Ich habe gewusst, das bin ich. Und doch war es jedes Mal etwas Anderes.“

Also hier kommt ja diese, von mir ja letztes Mal schon angedeutete Rätselhaftigkeit im Tier zum Ausdruck, die jeden Menschen anweht, anrührt, der sich die Offenheit bewahrt, da genau hinzuschauen. Das Tier, das einerseits wie man selber ist, fast ist man es selber, und doch ist es anderer Art, auf eine schwer greifbare Weise. Ich habe das versucht ja schon ein bisschen einzukreisen, dass das Tier, diese unmittelbare, nicht reflektierte gestalthafte Lebendigkeit hat und keine Reserven, keine Freiheit, sich gegebenenfalls anders zu verhalten. Also keine Freiheit über Distanz und über eine Ichhaftigkeit, sondern gesteuert von lebendigen Grundimpulsen, die man ganz unzulänglich mit dem Wort Instinkt bezeichnet. Ein Wort, das eher unsere Unwissenheit zeigt, als wirklich Erklärungs- oder Erkenntniswert hat. Also, „ich habe sie nie erfasst. Ich habe gewusst, das bin ich. Und doch war es jedes Mal etwas ganz Anderes. Wer die Angst der graziösesten Tiere fühlen könnte. Kein Tier habe ich im Arm. Ein ganzes Leben habe ich mit qualvollem Erbarmen an Tiere gedacht. Aber kein Tier habe ich umarmt.“ [Jetzt] eine Gesprächspartnerin: „Ich habe einmal den Dorfschlächter den Hals einer Gans aufschlitzen sehen und wie [er] das Blut auslaufen ließ. Ich wollte schreien, aber sein fröhlicher Blick schnürte mir die Kehle zu. [Sie] betrachtete seine Kehle und fuhr fort: Diesen Schrei fühle ich hier immer noch. Als ich als Kind ein primitives Porträt meines Lehrers zeichnete, versuchte ich mich von diesem Schrei zu befreien. Aber umsonst. Als ich den Ochsenkadaver malte, war es noch immer dieser Schrei, den ich loswerden wollte. Aber ich habe es noch immer nicht geschafft. Wohl gibt es Tiere, die Menschen durch ihren Stumpfsinn ähneln. Aber nie wird man es los, dass der Stumpfsinn von Tieren es nicht wirklich ist und jedenfalls unschuldiger ist als der unsere.“ Und jetzt, eigenartig formuliert. „Das Unerlangbare an Tieren: wie sie einen sehen.“

Das ist ja ein Gedanke, der einen immer wieder neu nachdenklich stimmen kann, in den verschiedensten Zusammenhängen, gerade im Zusammenhang mit höher organisierten Tieren, mit höheren Tieren: Wie sehen sie den Menschen? Was sehen sie in ihm? Was können sie in ihm sehen? Es gibt hier eine schöne Stelle von Nietzsche, die wird hier auch zitiert, in dem Band von Manuela Linnemann aus der „Fröhlichen Wissenschaft“, 1881/82, Kritik der Tiere: „Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.“ Wir wissen es nicht. Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, dass die Tiere den Menschen auch als Tier betrachten und vielleicht auf eine nicht greifbare, nicht bestimmbare, schon gar nicht klar zu reflektierende Weise den Menschen als ein fremdes, als ein fernes, vielleicht sogar als ein Wesen betrachten, das eine Entwicklungsstufe ihrer selbst ist. Diese These habe ich in meinem Buch „Was die Erde will“ aufgestellt, das mit einem großem Fragezeichen. Sollte das möglich sein, dass das Tier, das höhere Tier, wenn es den Menschen betrachtet, in seiner Tiefe ein Ahnen davon hat, dass dieses Wesen eine Entwicklungsmöglichkeit seiner selbst sein könnte? Auch das können wir nicht sagen, wir wissen es nicht. Alle Spekulationen darüber, wie das Bewusstsein der Tiere wirklich beschaffen ist, sind eben dies: Spekulationen. Wir können letztlich über das Bewusstsein, über die Innenperspektive des Tier-Seins keine wirklich objektivierbare Aussage machen. Alle Verhaltensforschung ist ja nur ein Versuch, über bestimmte Formen des Verhaltens, der Reaktion, bestimmte Formen des Außen, das Innen in irgendeiner Form zu erreichen, sich dem Innen zu nähern. Das ist äußerst schwierig, fast unmöglich, aber es wird immer wieder mit einigem Recht auch versucht.

Also grundsätzlich muss man sagen, was die Innenperspektive des Bewusstseins der Tiere betrifft, sind wir wohl schon davon durch eine Art Barriere getrennt. Die mag aber nicht unüberwindbar sein. Jedenfalls ist sie im normalen Bewusstseinszustand eine nicht überwindbare, durch die mehrfach genannte Ichhaftigkeit des Menschen. Da liegt der entscheidende Unterschied, dass über die Ichhaftigkeit des Menschen auch ein Moment der Freiheit ins Spiel kommt. Und diese Freiheit unterscheidet sich radikal, grundlegend von der Nicht-Freiheit, von der Gebundenheit des Tiers in der gestalthaften Lebendigkeit. Mark Twain, ein bedeutender Schriftsteller, Amerikaner, 19. Jahrhundert, schreibt in einem Buch „Briefe von der Erde“, 1863, Folgendes mit ähnlichem, sagen wir mal, Impetus wie Elias Canetti: „Der Mensch ist das religiöse Tier. Er ist das einzige religiöse Tier, das es gibt.“ Das erinnert an eine Stelle, die Goethe mal zitiert in einem seiner naturphilosophischen Aphorismen, rezitierte einen Franzosen mit dem folgenden Wort: „tout les animaux sont résonable, l’homme seul est réligieux“ ‒ alle Tiere sind vernünftig, nur der Mensch ist religiös. „Der Mensch ist das religiöse Tier, er ist das einzige religiöse Tier, das es gibt. Er ist das einzige Tier, welches die eine und allein selig machende Religion hat, mehrere davon. Er ist das einzige Tier, das seinen Nächsten wie sich selber liebt und wenn dessen Theologie nicht stimmt, ihm die Kehle aufschneidet. Aus dem Erdball hat er einen Friedhof gemacht im ehrlichen Bestreben, seinen Nächsten, seines nächsten Pfad zu Glück und Seligkeit zu ebnen. Das war zu Cäsars, zu Mohammeds und zu Zeiten der Inquisition der Fall. Es war vor wenigen Jahrhunderten in Frankreich der Fall und zu Marys Zeit in England, und es war so, seit er das Licht der Welt erblickte. Der Mensch ist das vernünftige Tier. So lautet sein Einspruch. Ich dächte, das ist eine offene Frage. Meine Experimente ergeben, dass er das unvernünftige Tier ist. Man überdenke seine Geschichte, wie oben skizziert. Für mich steht es fest, dass er, was immer er sonst sein mag, kein vernünftiges Tier ist. Seine Akte sind die eines manisch Irren. Ich finde, der stärkste Einwand gegen seine Intelligenz ist die Tatsache, dass er sich angesichts dieser seiner Akte selber als die Krone der Schöpfung bezeichnet, während er doch aufgrund seines eigenen Niveaus ihren Hintern darstellt. In Wahrheit ist der Mensch unheilbar töricht. Einfache Dinge, die andere Tiere ohne Weiteres lernen, ist er nicht fähig zu lernen. Unter meinen Experimenten befand sich das Folgende.“ Nun noch Mark Twain: „In einer Stunde habe ich einen Hund und eine Katze gelehrt, Freunde zu sein. Ich setzte sie in einen Käfig. In einer weiteren Stunde brachte ich ihnen bei, auch mit einem Kaninchen Freundschaft zu schließen. Im Verlauf von zwei Tagen konnte ich einen Fuchs, eine Gans, ein Eichhörnchen und mehrere Tauben hinzutun, zuletzt einen Affen. Sie alle lebten in Frieden, ja sogar voller Zärtlichkeit miteinander. Als nächstes sperrte ich einen irischen Katholiken aus Tipperary ein und sobald er gezähmt schien, tat ich einen schottischen Presbyterianer hinzu, sodann einen Türken aus Konstantinopel, einen griechischen Christen aus Kreta, einen Armenier, einen Methodisten aus der Wildnis von Arkansas, einen chinesischen Buddhisten und einen Brahmanen aus Benares, zuletzt dann einen Obersten der Heilsarmee aus Worthing. Dann blieb ich volle zwei Tage weg. Als ich wiederkam, war mit den höher entwickelten Tieren [alles] in Ordnung, aber in dem anderen fand ich nur noch ein Chaos von zerfressenen Fetzen, Turbanen, Fetzen, Tüchern, Knochen und Fleisch. Nicht ein einziges Exemplar war mehr am Leben. Die vernünftigen Tiere waren über eine theologische Streitfrage einander in die Haare geraten und hatten die Entscheidung in die Hände des Höchsten gelegt. Man kann nicht umhin zuzugeben, dass was Lauterkeit des Charakters betrifft, der Mensch nicht beanspruchen kann, auch nur an das Niedrigste der höher entwickelten Tiere heranzureichen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass er wesensmäßig außerstande ist, das Niveau desselben zu erlangen, dass er wesensmäßig mit einem Defekt belastet ist, der einen Vergleich auf immer ausschließt, denn dieser Defekt gehört permanent und unzerstörbar zu ihm. Ich habe gefunden, dass dieser Defekt im Moralgefühl oder dem Gewissen liegt. Der Mensch ist das einzige Tier, das dieses besitzt. Hier liegt das Geheimnis seiner Erniedrigung. Es ist diejenige Eigenschaft, die ihn befähigt, das Böse zu tun. Ein anderes Amt übt es nicht aus. Es ist unfähig irgendeine sonstige Funktion zu verrichten. Es kann auch nie zu einer solchen gedacht gewesen sein. Ohne sein Gewissen könnte der Mensch kein Unrecht tun, er würde als dann zugleich zu dem Niveau der höher entwickelten Tiere aufsteigen. Was nur den Stil betrifft, so denke man an den bengalischen Tiger, in idealer, in anmutschöner körperlicher Vollendung, Majestät. Dagegen der Mensch, dieses klägliche Etwas, er ist das Geschöpf mit der Perücke, den Schädelnähten, dem Höhrrohr, dem Glasauge und der Plastiknase, den Porzellanzähnen, der silbernen Speiseröhre, dem Holzbein, geklebt und bepflastert vom Scheitel bis zur Sohle. Wenn er für all das Stückwerk in der nächsten Welt keinen Ersatz bekommt, wie wird er da erst aussehen? Nur einen kolossalen Vorrang besitzt er: sein Intellekt ist hervorragend. Die höher entwickelten Tiere können sich da nicht mit ihm messen. Da ist es nun kurios und bemerkenswert, dass ihm kein Himmel geboten wird, wo diese Urgabe auch nur die leiseste Chance hat, sich zu entfalten.“ Denn es geht ja nicht um diese Intelligenzen dort, wahrlich nicht. „Selbst wenn er diesen Himmel selbst erfunden haben sollte, hat er doch darin keinerlei intellektuelle Freuden vorgesehen. Ein schlagendes Manko, das deutet auf ein stillschweigendes Eingeständnis hin, dass der Himmel nur für die Tiere da ist. Das stimmt nachdenklich, gibt Anlass zu ernsten Überlegungen und birgt eine grimmige Ahnung, wie wenn wir gar nicht so wichtig sind, wie wir uns alle Zeit eingebildet haben.“ Und so weiter.

Also auch eine sehr deutliche, zynische Sprache, letztlich eine verständliche Form von Zynismus, wie man sie sehr häufig findet. Die bekannteste literarische Form wird Ihnen vielleicht vertraut sein, stammt aus dem vierten Teil des Romans „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift. Da wird von einer Gesellschaft berichtet, die von Pferden, Hauyhnhnms genannt, geleitet und organisiert wird, und als ihre sozusagen unteren Wesen, als die von ihnen verachteten Wesen werden Menschen gehalten als Yahoos, und alle Ingredienzien der Bestialität, der Dummheit, der Armseligkeit, der Engstirnigkeit, des dumpfen Egoismus werden auf diese Yahoos übertragen, während die Pferde die eigentlich menschlichen Wesen sind. Auch Swift, der große Misanthrop, wenn man ihn so nennen will, der große Menschenverächter, wenn man dies überhaupt so nennen darf, hat also, wie so viele Andere den Tieren eine höhere Seinswürde zugesprochen.

Nun sind solche Überlegungen natürlich schwierig. Das ist ja letztlich eine Aussage des Menschen über sich selbst. Es ist ja nicht wirklich das Urteil der Tiere über den Menschen. Wie das ausfallen würde, das wissen wir nicht. Es ist letztlich das Urteil des Menschen über sich selbst, über eine bestimmte Unfähigkeit, die offenbar mit seiner Intellektualität, seiner Ich-Natur, seinem unseligen Drang [zu tun] hat, dieses Projekt anzustoßen und voranzutreiben, [das] technisch-mentale Eroberungsprojekt, das ihn immer mehr in die Selbstzerstörung hineinpeitscht. Und dabei kommen natürlich dann diese seine Mitgeschöpfe unter die Räder. Noch mal Nietzsche im „Verkehr mit den Tieren“: „Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Tiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit. Wir töten und verwunden zum Beispiel Insekten und lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar nichts dabei. Wir sind so plump, dass schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Tiere fast immer mörderisch sind, was unser Vergnügen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. Es ist toll, das Fest der kleinen Tiere, der schönste Tag des Jahres. Es wimmelt und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wollen, aber auch ohne achtzugeben, bald hier bald dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. Bringen die Tiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Vernichtung. Die Mittel sind oft grausam genug, ohne dass wir dies eigentlich wollen. Es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so beuten wir sie aus, bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Tiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der Pflege und Zucht, reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit gegen das Haustier und die Quälerei gemieden. Der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in gemäßer primitiver Gemeinde-Moral, welche den gemeinsamen Nutzen und Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. Der in der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt, fürchtet den indirekten Schaden für sich. Und wir fürchten für die Güte des Fleisches, des Landbaus und der Verkehrsmittel, wenn wir die Haustiere nicht gut behandelt sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Tiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein. Er gilt als unedel, des feinen Stolzes ermangelt. So entsteht ein Ansatz von moralischen Urteilen und Empfinden. Das Beste tut nun der Aberglaube hinzu. Manche Tiere reizen durch Blicke, Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie hineinzudichten. Manche Religionen lehren im Tiere, unter Umständen den Wohnsitz von Menschen und Götterseelen sehen, weshalb sie überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgang mit den Tieren anempfehlen. Aber auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm erweckten Empfindungen fort und reifen und blühen aus. Das Christentum hat sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildene Religion bewährt.“

Erst mal ein Schnitt an dieser Stelle. Wir sollten versuchen, uns soweit das möglich ist, nochmal grundlegend darüber im Klaren zu werden, was eigentlich Mensch-Sein von Tier-Sein trennt. Ich habe noch einmal in meiner Bibliothek verschiedene Bücher daraufhin befragt und bin auf ein Buch gestoßen, was ich schon mal in verschiedenen Zusammenhängen hier erwähnt habe. Ein Buch eines Naturphilosophen und Biologen, 1948, „Der Erstgeborene“ von Herbert Fritsche, der sich intensiv auch zu dieser Frage äußert, zu dieser Frage Mensch und Tier äußert. Und ich will Ihnen mal eine kleine Passage hier vorlesen, die ich im Wesentlichen, abgesehen von sprachlichen Nuancierungen, ich würde das ganz anders formulieren, für produktiv halte, für fruchtbar. Man kann da anknüpfen, und das möchte ich auch. Also in dem Buch „Der Erstgeborene“ von Herbert Fritzsche, „ein Bild des Menschen“, 1948 entstanden, findet sich eine längere Betrachtung über den Unterschied von Mensch-Sein und Tier-Sein. Fritsches Lebenszeiten sind mir unbekannt, ich glaube, dass er 1911 geboren wurde, irgendwann relativ früh in den 60er Jahren gestorben ist und mehr weiß ich nicht. Er war von Hause aus Biologe und Zoologe, und ist ein wirklich erstaunlicher Naturphilosoph und dieses sein Buch „Der Erstgeborene“ ist eines seiner Hauptwerke. „Der Erstgeborene“ bezieht sich übrigens auf den Atem, auf den Rhythmus. Das ist wichtig, gerade im Zusammenhang mit dem, was ich über das Buch von Guenter Wachsmuth gesagt habe. Für ihn ist, und nicht nur für ihn, die Rhythmisierung der Stoffe ein zentrales Merkmal des Lebendigsein, also was man auch schlicht und abstrakt als Metabolismus, Stoffwechsel bezeichnet, ist ja in einer anderen, subtileren Betrachtungsweise eine Pulsation. Das heißt, die Stoffeswelt, die Materie wird, aus welchen Gründen auch immer, immanent oder durch einen von außen kommendes transzendentes Wirkprinzip, in Pulsation versetzt, wird rhythmisiert. Insofern kann man sagen, Metabolismus, Stoffwechsel ist Rhythmisierung des Stoffes. Und damit ist man bei einem wesentlichen Charakteristikum des Lebendigen, dass man dann noch auf die Erde als Ganzes übertragen kann, mit einigem Recht, glaube ich.

Jetzt vor der Pause noch diese Aussage hier von Herbert Fritsche. „Man mag nun zu einer Differenzierung des viel zu weit gefassten Begriffes Instinkt vordringen.“ Er kritisiert das, Instinkt ist letztlich ein schwacher Begriff, der ganz viele verschiedene Momente einschließt. Also: „Man mag nun zu einer Differenzierung des viel zu weit gefassten Begriffs Instinkt vordringen oder ihn auch bequemerweise schlagwortartig verwenden. In beiden Fällen sind Instinkte etwas enorm Spezialisiertes, Eingeschliffenes, Festgelegtes. Das Tier wird von seinen Instinkten gelebt. Es wird, wie Goethe sagt, tyrannisiert von seinen Bildern. Der Bauplan ist innig verbunden mit vorgezeichneten Verhaltensabläufen, eng gekoppelt daran. Diese Verhaltensabläufe spiegeln sich ganz eng in der Leibes-Organisation. Ein guter Zoologe sieht der Leiblichkeit eines Tieres sozusagen seine Verhaltensnotwendigkeiten an. Was ein Maulwurf instinktiv mit seinen Grabschaufeln tun wird, bedarf keines langen Rätselratens. Je tiefer man in die innersten Baugeheimnisse eines Tierleibes Einblick gewinnt bis in die des zentralen Nervensystems hinein, desto deutlicher zeigt sich das Zusammenklingen von Körperbau und Verhalten. Das Tier hat sich in seine Glieder und hat sich zugleich in die ihm von den Gliedern diktierten Verhaltensweisen hineinspezialisiert. Es wird tyrannisiert von seinen Gliedern. Das Tier ist festgelegt.“

Sehr schön also die Rede von dem Hineinspezialisieren in bestimmte Gliedmaßen, in bestimmte Gestaltformen der Leibes-Organisation. „Der Mensch ist frei, nicht nur als der große Indifferente, als der noch weitgehend Nicht-Spezialisierte kann er verstanden werden. Nicht hat er seine Instinkte, die keinesfalls mit den Reflexen seines Nervensystems verwechselt werden dürfen, verloren, denn etwas Spezialisiertes, Eingeschliffenes kann kein Lebewesen wieder rückgängig machen, vielmehr hat er sein Verhalten gar nicht erst festgelegt. Wer den Menschen klar als das erkennen will, was er wahrhaft ist, muss ihn als Stauungs-Phänomen werten, als Lebewesen, das seine Potenzenfülle in sich zurückhielt. In jeder Hinsicht ist der Mensch das bildsam gebliebene Kind der Schöpfung.“ Schöne Formulierung, das bildsam gebliebene Kind der Schöpfung. „Im gleichen Maße entging er der Versuchung leibliche Spezialanpassungen, Schnauze, Hörner, Pranken, … , Hangelhände und so weiter wie auch seelische starre Instinkte zu erwerben. Damit wurde er der Heros der Organismenwelt, der das Risiko auf sich nahm, die Lebensversicherung des Spezialisiertseins an Leib und Seele auszuschlagen.“ Eine sehr schöne Formulierung. Also „der das Risiko …

der Mensch, der das Risiko auf sich nahm, das nicht festgestellte Tier in Nietzsches Anklang, die Lebensversicherung des Spezialisiertseins an Leib und Seele auszuschlagen.“ Das macht ja seine Dramatik aus, seine Verwundbarkeit und auch seine unvorstellbare Macht, die er ja über diese Erde ausübt, weil er eben nicht Spezialist ist, sondern in gewisser Weise Universalist. „Für das Tier sorgt der Bios. Das Tier ist tief hineingebettet in seinen Leib und in seine Arteigentümlichkeiten, erblichen Verhaltensweisen. Das Tier wird gelebt vom Bios. Der Mensch lebt selber. Der Mensch ist schwach im Bios, aber stark im Handeln, im Selbstbestimmen seiner Lebensweise. Eine der modernsten anthropologisch-philosophischen Definitionen des Menschen lautet geradezu: das handelnde Wesen.“ Ein Leitmotiv dieses Buches ist immer wieder, dass der Mensch als Tier das nicht festgestellte, das nicht spezialisierte, das unzulängliche, das unvollkommene Tier ist. Und gerade weil er das nicht festgelegte, nicht spezialisierte … (Audiolücke) … Instinkt wählt, um jetzt mal diesen Begriff in einem allgemeinsten Sinne zu verwenden.

Ich mache eine kleine Pause. Ich will dann nach der Pause noch mal auf einige zentrale Punkte versuchen zu kommen und dann den ganz vorsichtigen Versuch machen, Einiges zu sagen, wie eine ökologische Ethik, wie auch eine Tierethik sein müsste, aussehen könnte, wenn sie mehr ist oder sein soll als nur ein Katalog von Postulaten. Das ist ja der entscheidende Punkt. Eine Ethik, die nur ein Postulatenkatalog ist, kann nicht in der Tiefe greifen. Sie ist nicht wirklich im Bewusstsein lebendig verankert. Das kann nicht funktionieren und hat auch bisher nie funktioniert. Also wenn ökologische Ethik, dann muss sie tiefer gelagert sein, dann kann sie nicht nur eine Postulatsethik sein und auch keine Institutionen-Ethik. Dann muss sie im Tiefenbewusstsein des Menschen verankert sein. Und was das bedeuten soll oder kann, dazu will ich ein paar Bemerkungen machen, nachher nach der Pause.

Ich sage mal, wir machen maximal zehn Minuten [Pause].

Ich will ganz kurz einen Traum erzählen, den ich heute hatte, in der Nacht zu heute, in dem interessanterweise Tiere vorkamen. Das ist natürlich klar, wenn die Seele arbeitet, dann produziert sie Bilder bestimmter Art oder nimmt Bilder auf, wie immer. Auf jeden Fall hatten diese Traumbilder, jedenfalls einige davon, etwas mit Tieren zu tun. Das war interessant. Einmal tauchten zwei gewaltige Hunde auf, einer schwarz, zottig, zottlig, den ich liebevoll umarmte und packte, was überhaupt nicht meine Art ist, weil ich mit Katzen aufgewachsen bin und eine sehr innige und tiefe Beziehung zu Katzen habe, weniger eine solche zu Hunden. Insofern ist das eher ungewöhnlich. Der zweite Aspekt in diesem Traum ist eher ein Kuriosum. Tiefenpsychologen unter Ihnen mögen darüber grübeln oder sich darüber amüsieren. Ich träumte von einem Tier, das aussah wie eine Mischung aus Bison und Rhinozeros, von der Größe eines Schoßhündchens, so groß, von bläulich schimmernder bis schwärzlich übergehender Farbe, was handhabbar war und ich bequem und kuschelig mir auf die Schulter setzen konnte. Und also wirklich eine Miniaturausgabe eines, wie gesagt, eines Bisons oder eines Rhinozerosses, irgendwo in der Mitte, aber in Taschenformat. Also, aber es war eine sehr heitere und angenehme Beziehung zwischen uns. Und so geht das in der Seele weiter, und man mag darüber jetzt grübeln oder man kann daraus Schlussfolgerungen ableiten. Tierträume sind ja ein eigenes Thema für sich. Tierverwandlungen ist wieder ein anderes Thema. Darüber haben wir schon das letzte Mal gesprochen, im Zusammenhang mit Schamanismus, dass man in bestimmten Grenzzuständen ja die Möglichkeit hat, sich in die vielleicht nur dort, nur in diesen Grenzzuständen, sich in die Innenperspektive eines Tiers, eines bestimmten Tieres, einer Gruppe von Tieren quasi hineinzuversetzen und dann von innen und als dieses Tier oder diese Gruppe von Tieren dann zu agieren und das Bewusstsein aus dieser Innenperspektive heraus zu erfahren. Das geht nicht von außen, das geht nur in ganz bestimmten meditativ-träumerischen, grenzüberschreitenden Zuständen. Und immer ist dabei wichtig, das ist ja schon angeklungen vor einer Woche, dass die Ichheit des Menschen, seine Ich-Fokussiertheit zurückgenommen wird. Das ist der entscheidende Punkt. Im Zuge der Aufrichtung des Menschen, ich meine das nicht jetzt platt evolutionistisch oder biologistisch, im Zuge der Aufrichtung des Menschen, im Zuge der Herausbildung dieser Polarität von Kopf, aufgerichteter Wirbelsäule, Kopf und die Oben-Unten-Polarität hat der Mensch natürlich auch über die Selbstheit eine Grunddistanz erworben und damit auch die erwähnte Universalität, den erwähnten Universalismus und damit sich auch getrennt. Zwar hat er noch starke Anteile in sich, die man als Tier-Selbst bezeichnen kann, ich tue das ja, aber diese sind ihm nicht unmittelbar über das Ich-Bewusstsein zugänglich. Nun kann man das jetzt, wenn man das jetzt modern, neurophysiologisch im Sinne der Gehirnforschung deuten will, auch als Anteil des limbischen System und des Stammhirns und so weiter deuten. Aber darum geht es mir nicht primär. Mir geht es erst einmal weniger um die neurophysiologischen Korrelate oder gar um genetische Prozesse oder Merkmale, sondern um die Bewusstseinsdimension, wie immer das jetzt seine Entsprechung hat im Genetischen oder im Neurophysiologischen. Das ist ein eigenes Thema für sich wieder, das ich in dem Zusammenhang erst einmal auf sich beruhen lassen kann. Also diese Ichheit hat ihn getrennt in der Aufrichtung und hat ihm erst einmal den Zugang versperrt, den er nur dann wieder erlangen kann, wenn er ein Stück weit regrediert, in Anführungszeichen, wenn er ein Stück weit regressiv, wenn man das so nennen will, die Ichheit zurücknimmt und eintaucht in eine elementare Leiblichkeit. Darüber haben wir hier auch schon mehrfach gesprochen, dass Leiblichkeit als das eigentlich Elementare, in gewisser Weise auch Vor-Ichhafte des Menschen ihn grundsätzlich verbindet über das, was Hermann Schmitz die Einleibung nennt mit anderen organischen Wesen, auch mit den Tieren natürlich. Da gibt es also eine ganz elementare, gewissermaßen unter-ichhafte Verbindung mit den Tieren, die jeder kennt und vielleicht auch schätzt, wie immer. Auf jeden Fall ist es eine phänomenologische Realität, die nichts im eigentlichen Sinne mit dem Ich zu tun hat. Und da gibt es Anknüpfungspunkte. Also über die elementare Leibhaftigkeit kann der Mensch über die Brücke der Einleibung, wie das Hermann Schmitz nennt, das Tier kontaktieren, unmittelbar kontaktieren. Das ist ein Stück Tier-Selbst im Menschen oder des Menschen.

Ich meine, man kann ja, wenn man das ganz vereinfacht oder ganz formelhaft verkürzt, ja sagen, dass der Mensch eine Vierheit darstellt. Das wird ja in vielen Traditionen auch so gesehen, mit einigem Recht auch, man kann das ja auch als Dreiheit oder als Siebenheit verstehen, aber eben auch als Vierheit, das ist durchaus plausibel, eben als jemanden, der eine physische Leiblichkeit hat. Eigentlich müsste man sagen: physische Körperlichkeit, denn der Leib ist nicht physisch, das habe ich ja oft genug gesagt. Der Leib ist die Innenperspektive, das ist eigentlich nicht physisch, der Leib ist nicht dimensional, er ist nicht materiell. Also eine Körperlichkeit, man kann das Stoff-Selbst nennen und eine Innenseite, die man wieder davon abgrenzen könnte, also eine innerleibliche Wesenhaftigkeit. Dann eine schwer greifbare Bios-Organisation, eine Rhythmisierung dieser Stofflichkeit, die den physischen Körper ausmachen, eine Leibes-Organisation: Man kann das auch als eine feinstoffliche bezeichnen oder im Sinne der Philosophen oder Anthroposophen auch als Ätherleib. Das ist eigentlich nicht so wichtig, wie das genannt wird. Auf jeden Fall gibt es ein … oder Energieleib, wie es bei manchen auch heißt, also eine Art Organisationsprinzip, das ihn ganzheitlich durchwirkt, durchwaltet und auch antreibt und seine Form bestimmt. Das mag etwas von dem Seelischen völlig Getrenntes sein, mag aber auch mit dem Seelischen ganz eng zusammenhängen. Das wissen wir nicht. Es ist nur eine Frage vielleicht der Begrifflichkeit, denn die dritte Ebene, die man dann anführen müsste, wäre ja die eigentlich seelische Ebene, die ja auch dem Tier zugesprochen werden muss, [in] unterschiedlichen Graden.

Eine Seelenhaftigkeit ohne Ichhaftigkeit im Sinne eines Kollektiv-Seelischen. Theosophen haben von Gruppenseele gesprochen und die Anthroposophen dann von den Theosophen übernommen, ist auch berechtigt und auch legitim und auch fruchtbar, Gruppenseele oder Kollektivseele, auf jeden Fall eine nicht-individualisierte Seelenhaftigkeit. Ein schwer greifbares auch Gefühlsleben, was damit verbunden ist, das Seelische der Tiere ist ein eigenes schwieriges Feld: Dass da viele Projektionen mitlaufen ist klar, eine Anthromorphisierung ist immer sehr schnell bei der Hand. Das muss nicht das sein, was wirklich die Innenperspektive der Tiere ausmacht. Und dann, im Menschen, das wäre das Tier-Selbst, vielleicht eine eigene Hülle oder eine eigene Wesenhaftigkeit innerhalb dieses ganzen Organismus Mensch, möglicherweise. Und dann eben die Ich- und Selbsthaftigkeit, und über die Ich- und Selbsthaftigkeit emanzipiert sich der Mensch von dem Tier- und Pflanzen-Selbst, gewinnt ein Stück Freiheit, auch Entscheidungsfreiheit, das zu tun oder nicht zu tun und sich universalistisch auszurichten, sich abzukoppeln von engen, leibgebundenen, instinktmäßigen Bahnen und auf diese Weise eine auch fatale Trennung vorzunehmen ‒ das ist ja die entscheidende Nahtstelle, die ja den Menschen ausmacht. Und da liegt auch die Chance vielleicht drin, das habe ich ja letztes Mal ja schon angedeutet, eine Art Rückkoppelung zu versuchen. Das kann nicht so sein, dass der Mensch seine Ichhaftigkeit, seine mentale Teilhabe, auch erkenntnismäßig, an den Weltgesetzen nun zurückschraubt oder zurücknimmt zugunsten eines tierisch-seelischen oder eines nur Bios-Wesen. Das geht nicht. Das ist ein Irrtum in vielen, auch wirklich wohlmeinend ökologisch orientierten Kreisen, die häufig das favorisieren, was aber der Bewusstseinsentwicklung des Menschen, glaube ich, Gewalt antut. Das kann nicht gehen.

Es kann nur darum gehen, diese pointierte, diese zugespitzte und in diesem Sinne pathologische Ichhaftigkeit, die Perversion des Ichs, des Ich-Impulses, zurückzunehmen und das Ich wieder wirklich integral-ganzheitlich einzubinden in die große Ordnung. Nur das kann funktionieren, in Anführungszeichen. Das heißt nicht das Ich-Selbst ist der Fehler, sondern eine bestimmte, pervertierte und pathologische Form der Ichhaftigkeit, heute nun extrem zugespitzt zum Körper-Ego, das von allem sich abgetrennt hat. Und das ist aber nicht eigentlich das Ich. Ich glaube, dass das Ich in der Tiefe, wenn man es integral oder ganzheitlich versteht, diesen Kontakt auch halten kann. Und wenn ich das, ich habe das ja wiederholt so formuliert und weiß, dass das schwierig ist und dass das weitgehend ist und dass das vielleicht auch kaum realisierbar ist, so wie wir das zur Stunde begreifen können, dass der Mensch über seine Ichhaftigkeit, dass der Mensch durch seine Ichhaftigkeit und über die Ichhaftigkeit doch Kontakt gewinnt zu diesem unter-ichhaften Bewusstsein der Tiere und Pflanzen, das in diesem Sinne auch ein kosmisches Bewusstsein ist, weil die Tiere und die Pflanzen, wenn sie sie selber sein dürfen, ja nicht rausfallen können aus der großen Ordnung, weil sie das nur könnten, wenn sie frei wären, wenn sie in diesem Sinne entscheidungsfreie Wesen wären, das sind sie nicht.

Wenn es Störungen auch dort gibt, dann sind sie menscheninduziert, das kann man nachweisen. Also es gibt da bestimmt natürlich mittlerweile auch im Tier- und Pflanzenreich menscheninduzierte Grundstörungen, die diese relativ klaren, einfachen Verhältnisse verdunkelt haben. Das ist klar. Aber das ist jedenfalls eine große Aufgabe, dass der Mensch über eine integrierte ganzheitliche Ichhaftigkeit Zugang gewinnt zu einem Bewusstsein, was in der großen Ordnung oder in die große Ordnung integriert ist in einer unter-ichhaften Form, das ist nicht regressiv, das ist nicht eigentlich schamanisch, das ist etwas anderes. Es ist eine andere Bewusstseinsstufe, die da und dort auch erkennbar ist. Vielleicht ist sie, sagen wir mal in nächster Zeit nicht in größerem Maßstab realisierbar, aber es gibt sie in Ansätzen. Das ist ja ein zentraler Aspekt, eine zentrale These, die ich mehrfach in dem Zusammenhang auch formuliere. Und damit hängt natürlich eng zusammen die Frage der ökologischen Ethik überhaupt. Ich meine, es hat wenig Sinn, und alle Versuche dieser Art sind weitgehend gescheitert, wenn man versucht, ich habe das ja vor der Pause kurz angedeutet, einen Katalog von Postulaten aufzustellen. Das geht ja. Das gibt es ja auch zum Teil, einen kategorischen Imperativ, jetzt vielleicht bezogen auf ökologische Belange oder bezogen auf unser Verhältnis zu den Tieren. Also ein Postulatskatalog, ein Katalog der Wünschbarkeiten. Das ist das Eine.

Genauso wenig wird es sinnvoll sein, nach neuen Institutionen in diesem vordergründigen Sinne Ausschau zu halten und [zu] glauben, dass man institutionell diese Dinge in irgendeiner Form bewältigen kann. Das kann man nicht. Natürlich gibt es politische Grundakzente, die gesetzt werden können, und die mögen auch institutionell sein, und da mag auch ein Katalog von Postulaten enthalten sein. Das ist ja nun nicht, dass das ganz schlecht wäre, ist es ja nicht. Aber es wird nicht in der Tiefe greifen, weil das Entscheidende, was passieren müsste und was vielleicht nur über kollektive Erschütterungen möglich ist, wie wir sie ja vor einigen Monaten auch gehabt haben ‒ also was passieren müsste, wäre einfach zu begreifen, dass da ein tiefer, ein ganzheitlicher Zusammenhang über das eigene Tier-Selbst mit den Tieren besteht. Dass wir über die Schädigung der Tiere nicht nur uns selber schädigen, sondern tiefe, todbringende Schnitte legen, die letztlich in unserer eigenen Bewusstseinsverfassung wurzeln. Und da liegt der Punkt. Es liegt letztlich in unserer eigenen kollektiv verankerten Bewusstseinsformation ‒ da liegt der Punkt ‒ die ja längst eigene Trägheitskräfte entwickelt hat, Trägheitskräfte, die nun wiederum wechselwirken, natürlich ja längst auch Institutionen herausgebildet hat, Apparate, politische Formationen, die aber in der Tiefe immer wurzeln in einer bestimmten kollektiven Bewusstseinsformation. Und da liegt der Punkt. Wenn da nicht über eine nicht nur den Einzelnen ergreifende, also eine kollektive Erschütterung, erste Risse erkennbar werden, wenn es da nicht gelingt, um das mal in dieser Sprache zu formulieren, einen Virus einzuschleusen, der das ganze System erst einmal aus den Angeln zu heben droht, dann wird es sinnlos sein. Insofern ist die erste Voraussetzung für eine sinnvolle ökologische Ethik, dass in der Tiefe des Bewusstseins sich etwas regt. Das kann sich erregen über kollektive Erschütterungen, ich sagte es schon. Das kann und muss immer wieder neu verankert sein in der lebendigen Erfahrung. Das weiß man ja nun wahrlich genugsam, dass ein theoretisch abstraktes Über-die-Dinge-Reden, wie es sein sollte, so gut wie nichts bewegt. [Es] kann nur erwachsen aus einem lebendigen Erfahrungshorizont heraus, es muss erlebbar sein.

Die Einheit, die viel beschworene Einheit, ethische, ökologische Einheit mit der Natur muss eine gelebte sein. Wenn sie das nicht ist, ist auch das dann letztlich nur Makulatur oder eben nur Postulat. Da liegt der entscheidende Punkt. Niemand hat zur Stunde irgendeine passable, greifbare, handhabbare Lösung. Ich auch nicht. Aber es ist wichtig, dass man sich erst einmal im Grundlegenden verständigt. Wenn hier unten der Spruch von Karl Marx mir immer wieder neu aufstößt, wenn ich die Treppe da hoch gehe, dass die Philosophen immer nur interpretiert hätten, es käme darauf an, die Welt zu verändern, dann würde ich sagen, das stimmt, aber eine bestimmte Form der Interpretation ist immer auch eine Veränderung. Insofern ist das Über-etwas-Nachdenken, das In-der-Tiefe-Reflektieren, das geistige Durchdringen und das Verstehen kein abgehobener intellektueller Prozess. Als ein solcher wäre er wirklich müßig, sondern [es ist] etwas, was tatsächlich sich einspeist in einen kollektiven Prozess. Nur wenn man diese Hoffnung hat, dass ich das wirklich einspeisen kann in diesen kollektiven Prozess, kann man ja nicht resignieren. Andernfalls müsste man resignieren aufgrund der unvorstellbaren Trägheitskräfte.

Ich habe das ja schon gesagt, Ervin Laszlo, hat in seinem Schluss-Statement dieser Zivilisation noch 20 Jahre gegeben. Nach allen Daten, die man heute festmachen kann. Nun, es hat andere Prognosen schon dieser Art gegeben, die sich alle als falsch herausgestellt haben. Diese Zeitprognose muss nicht stimmen, aber eine gewisse Größenordnung wird erkennbar, dass dieser Kurs ungebremst weitergeht und natürlich auch etwas zu tun hat mit der Bewusstseinsform, unser aller Bewusstseinsform. Und dass der Zusammenhang besteht mit der Bewusstseinsform und in der Weise wie wir mit Tieren umgehen, kann man schon bei Autoren lesen, von denen [man] es vielleicht gar nicht vermutet. Ich habe das letzte Mal schon angedeutet, ich war erstaunt, in diesem Sammelband hier auch Aussagen zu finden von Horkheimer und Adorno, die erstaunlich hellsichtig und weitgehend sind, etwa Adorno, Horkheimer, 1947, in ihrem berühmten Buch „Dialektik der Aufklärung“, das liest ja heute kaum noch jemand. Aber es ist trotzdem ein hochinteressantes Buch, denn wir sind in der zweiten oder dritten Stufe dieses dialektischen Prozesses der Nach-Nach-Aufklärung. Da gibt es also interessante und sehr präzise Aussagen genau zu diesem Zusammenhang von Bewusstseinsformation, Gesellschaftsformation und der Haltung zu den Tieren.

Die Idee des Menschen, Horkheimer, Adorno: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allem Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, dass er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.“ Heute ist 1947 in diesem Fall. „Die Behavioristen haben ihn bloß scheinbar vergessen. Dass sie auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluss, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, passt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, dass er und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht. Der Professor am Seziertisch definiert sie wissenschaftlich als Reflexe. Der Mantiker am Altar hatte sie als Zeichen seiner Götter ausposaunt. Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft. Das Tier, aus dem er den blutigen Schluss zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, der ihm abgeschnitten ist. Der Mangel an Vernunft hat keine Worte. Beredt ist ihr Besitz, der die offenbare Geschichte durchherrscht. Die ganze Erde legt für den Ruhm des Menschen Zeugnis ab, in Krieg und Frieden, Arena und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden aufgrund der ersten Planung überwältigen, bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren, wie der sichtbare Hergang verdeckten Henkern, den Unsichtbaren, das Dasein ohne Licht der Vernunft, die Existenz der Tiere selbst. Sie wäre das echte Thema der Psychologie, denn nur das Leben der Tiere verläuft nach seelischen Regungen. Ob Psychologie die Menschen erklären muss? Sind sie regrediert und zerstört?“ Und so weiter. Also sehr scharfe, sehr präzise Aussagen, die mich erstaunt haben, muss ich sagen. Ich hatte lange nicht mehr Adorno gelesen und bin doch verblüfft auch über manche andere Zitate in dem Buch, wie scharfsinnig und tief diese Dinge erfasst worden sind, wie der Zusammenhang wirklich begriffen worden ist zwischen dieser Dialektik der Aufklärung und ihren furchtbaren Konsequenzen und auch unserm Verhältnis zu den Tieren und zur Erde schlechthin.

Also, Sie werden kaum von mir erwartet haben, dass ich Ihnen eine plakative Lösung vorstelle, die man sozusagen auf einem Blatt abhaken kann, um nun zu wissen, wie die Dinge sich verhalten. Das kann es nicht sein, das wäre einfach Scharlatanerie oder blanke Hybris. Es kann nur darum gehen, erst einmal ein Verständnis für diesen Zusammenhang zu gewinnen, ein Tiefenverständnis, das nicht nur ein reduktionistisches ist, wie wir es ja kennen von der herrschenden, der Mainstream-Naturwissenschaft, das kann es nicht sein. Da werden wir so keinen Millimeter weiterkommen.

Ich will, bevor wir ins Gespräch kommen, vielleicht dann noch ein paar Fragen klären. Das nächste Mal werde ich auf die Frage eingehen, wie der Mensch sich der Erde verbinden kann, was heißt das? Naturphilosophisches und Tiefenökologisches zur Geomantie. Ich werde Einiges zur sogenannten Geomantie sagen. Und, es ist interessant, ich habe das erfahren, dass in der Herbst-Ausgabe der „Hagia Chora“ nochmal das Gaia-Thema im Mittelpunkt stehen soll. Ich werde mich dann auch dazu äußern [zur] Frage starke und schwache Theorie und [werde] auch meine eigene Vorstellung von Gaia-Demeter, wie ich Ihnen das ja umrissen habe, darstellen und werde sicherlich schon einige weitere Passagen des Buches dann gelesen haben und kann das hier dann einbeziehen. Auf jeden Fall ist das eine Fundgrube hier, dieses Buch von dem Wachsmuth, ich sage das bei aller Distanz zur Sprache der Anthroposophen und auch zu ihrer ganzen Weltanschauung, aber sie ist trotzdem fruchtbar und führt wirklich weiter, also eine vordergründige Distanzierung davon ist un[nötig].

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Östliche Spiritualität und moderne Naturtheorien – Buddhismus und Chaostheorie

Vortrag

Urania Berlin
06.04.1998
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 51

Transkript als PDF:


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Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu diesem, ich hoffe sehr spannenden Thema: Gibt es eine Möglichkeit, östliche, asiatische Spiritualität, im Besonderen den Buddhismus in irgendeiner Form zusammenzuführen, zusammenzudenken mit neuen Naturtheorien? Und das soll am Beispiel geschehen der sogenannten Chaostheorie und am Beispiel der sogenannten Systemtheorie.

Grundsätzlich und sehr allgemein gesagt geht es ja um die Frage, die glaube ich jeden von uns in irgendeiner Form beschäftigt: Sind das nun zwei grundsätzlich und auf alle Ewigkeiten getrennten Stränge ‒ der naturwissenschaftlich-technische auf der einen Seite und der spirituell-religiöse auf der anderen Seite? Ich will das mal an einem kurzen Zitat verdeutlichen, das hier als eine Art Motto an den Anfang gestellt sei von einem bedeutenden Denker unserer Zeit. Nach meiner Überzeugung dem vielleicht bedeutendsten gegenwärtigen Philosophen, dem Amerikaner Ken Wilber. Der hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht, „Naturwissenschaft und Religion“, wo es auch zentral um diese Frage geht und hier schreibt er gleich zu Beginn, und ich darf mal diese Passage vorlesen, weil sie den Finger genau auf die Stelle legt, um die es geht. Im ersten Kapitel, das Wilber nennt „Die Herausforderung unserer Zeit ‒ die Integration von Wissenschaft und Religion“, schreibt er: „Es gibt wohl kaum in der modernen Welt ein bedeutsameres und dringenderes Thema als das Verhältnis von Wissenschaft und Religion. Die Naturwissenschaft ist zweifellos eines der tiefgründigsten Verfahren, die die Menschheit bisher entwickelt hat, um Wahrheit zu entdecken. Während Religion diejenige Kraft ist, die wie keine andere, Sinn stiftet. Wir brauchen Wahrheit und Sinn, Wissenschaft und Religion. Aber wir wissen nicht, wie man beides in einer Weise zusammenführt, die von beiden Seiten akzeptiert wird. Die Versöhnung von Wissenschaft und Religion ist nicht nur von flüchtigem akademischem Interesse. Diese beiden gewaltigen Kräfte Wahrheit und Sinn liegen in der heutigen Welt in heftigem Widerstreit miteinander. Die moderne Wissenschaft und die prä-moderne Religion ringen mit ihren je unterschiedlichen Mitteln auf diesem Erdball um die Vorherrschaft. Früher oder später muss sich eines von beiden geschlagen geben. Wissenschaft und Technik haben ein weltweites und transnationales Netz industrieller, wirtschaftlicher, medizinischer, naturwissenschaftlicher und informationstechnischer Systeme geschaffen. Wie nutzbringend aber alle diese Systeme auch sein mögen, sie sind doch als solche sinn- und wertfrei. Wie die Vertreter der Wissenschaft selbst immer wieder betonen, sagt uns diese ‚was ist’“, also die Wissenschaft, „nicht ‚was sein sollte‘. Die Wissenschaft sagt uns etwas über Elektronen und Atome, Moleküle, Galaxien, Daten, Bits und digitale Netzwerke. Sie sagt uns, was ein Ding ist, aber nicht, ob es gut oder schlecht ist oder was es sein könnte oder sollte. Daher ist diese gewaltige globale wissenschaftliche Infrastruktur als solche ein wertfreies Gerippe, wie funktionell auch immer sie sein mag. Dieses enorme Wertvakuum füllt die Religion gern aus. Die Wissenschaft hat hier einen außergewöhnlichen, weltweiten und globalen Rahmen geschaffen, der frei von jeglichem Sinn ist. Und in diesem ubiquitären Rahmen haben sub-globale Nischen der prä-moderne Religion Milliarden von Menschen in allen Teilen der Welt Wert und Sinn gegeben. Zugleich bestreiten diese prä-modernen Religionen dem naturwissenschaftlichen Rahmen, in dem sie leben und der den größten Teil ihrer Medizin, ihrer Wirtschaft, ihres Bankwesens, ihrer Informationsnetze, ihres Verkehrswesen bereitstellt, oft jegliche Gültigkeit. Religiöser Sinn versucht sich innerhalb des wissenschaftlichen Wahrheitsgerippes zu behaupten, wobei er oft den naturwissenschaftlichen Rahmen als solchen bekämpft. Dies ist freilich die Haltung eines Menschen, der munter an dem Ast sägt, auf dem er selbst sitzt.“

Damit ist also ein Problem umrissen. Eine Kernfrage: Ist es möglich, diese beiden Stränge in irgendeiner Form zusammenzuführen? Es geht hier substanziell um den Gegensatz der Welt der Tatsachen, der Dinge, der Phänomene da draußen, der Fakten und auf der anderen Seite der Welt der Werte, der Welt der Wertsetzungen. Wissenschaft, im Besonderen Naturwissenschaft, ist ja in diese Welt getreten mit dem Anspruch, eine Welt, wie sie ist, wie sie da draußen als solche wirklich und wahrhaftig existiert, abzuspiegeln, wiederzugeben, in Modellen darzustellen. Und Spiritualität, auch als organisierte Religion, ist immer davon ausgegangen, dass es einen spirituellen, einen metaphysischen Sinn in der Welt gibt, einen Sinngehalt, dass die Welt in der Tiefe werthaltig ist. – Das schließt sich aus.

Nun muss man klar feststellen, das wissen Sie wahrscheinlich alle, die These von der Nicht-Wertgebundenheit der neuzeitlichen Naturwissenschaft des Abendlandes hat sich mittlerweile als nicht haltbar herausgestellt. Wir wissen heute sehr genau, dass auch die angeblich wertfreie Wissenschaft basiert auf ganz bestimmten fundamentalen Weichen­stellungen und damit auf Werten. Wissenschaft, auch wenn sie wertfrei zu sein vorgibt, basiert auf Werten. Ganz bestimmte Wertentscheidungen in bestimmten Phasen der kon­kreten Geschichte sind der Ausgangspunkt.

Nun ist es leicht, die Spaltung von Religion und Naturwissenschaft zu bedauern. Es gibt gute Gründe, das zu bedauern, aber man sollte vielleicht einen kurzen Blick darauf werfen, dass es auch vorteilhaft, dass es auch fruchtbar war, dass es auch produktiv war, dass hier irgendwann seit der Renaissance, seit der Aufklärung, eine Weichenstellung erfolgt ist. Hier haben sich nämlich grundlegende Zugänge zur Welt herausdifferenziert und auch mit gutem Grund. Es ist ja nicht ganz unsinnig zu sagen: Ich kann mich beschränken in meinem Zugang zur Welt auf das, was tatsächlich vorliegt. Muss ich denn, wenn ich einen Fallvorgang beschreibe, beispielsweise in der Physik, Zuflucht nehmen zu spirituellen oder religiösen oder sonstigen Wertvorstellungen? Natürlich nicht. Das muss ich in keiner Weise, ich kann das in sich konsistent beschreiben, darstellen. Ich muss dazu keinerlei Spiritualität und keinerlei religiöse Formen irgendeiner Form heranziehen. Das ist also bis zu einem gewissen Grade durchaus auch ein Gewinn, ein Gewinn, den, wenn man so will, die abendländische Kultur vor jeder anderen voraus hat. Denn in keiner anderen Kultur, soweit wir das überhaupt beurteilen können, ist diese Ausdifferenzierung in dieser Form so erfolgt.

Nun gibt es ja seit gut 20 Jahren im Abendland bestimmte Bestrebungen, nicht nur in der sogenannten New-Age-Szene, bestimmte Theorien der modernen Physik mit den asiatischen, im Besonderen den buddhistischen Ansätzen der Weltbetrachtung zu verbin­den, ja, die These aufzustellen, dass die moderne Naturwissenschaft, in gewissen Grenzen, geradezu beweise, geradezu letztgültig mathematisch-physikalisch belege, was östliche Weisheit ohnehin schon seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden behauptet habe. Das berühmteste Buch dieser Art erschien Mitte der 70er Jahre, Fritjof Capras „The Tao of Physics“, das „Tao der Physik“. Capra, ein österreichisch-amerikanischer Physiker, [hat] damals, zunächst in einem kleinen Verlag und ohne dass das viel Aufsehen erregt hätte, dieses Buch veröffentlicht und hat versucht zu zeigen, dass man die moderne Quanten­theorie auch östlich-buddhistisch interpretieren kann.

Er selbst ist mittlerweile von diesen Thesen ein bisschen abgerückt, er hat sie relativiert. Sie sind ja auch arg überstrapaziert worden und arg popularisiert worden und auch verflacht worden. Aber da war doch etwas enthalten, was zumindest viele aufmerken ließ. Geht das dann? Ist das möglich? Nun ist auch das nicht neu, schon die Gründerväter der Quantentheorie, etwa Niels Bohr oder Werner Heisenberg oder Erwin Schrödinger und andere, hatten ja diesen Gedanken erwogen, ob nicht vielleicht die moderne Physik, in diesem Falle die Quantentheorie, in irgendeiner Form zusammengedacht werden könnte mit östlich-asiatischen Gedanken.

Nun will ich Ihnen das versuchen zu erläutern am Beispiel der Chaostheorie und der sogenannten Systemtheorie und versuchen zu zeigen, welche Ansätze es gibt, das zusammenzudenken mit dem Buddhismus. Ich muss das noch etwas genauer sagen. Es geht nicht um den Buddhismus schlechthin als ein religiöses oder spirituelles System. Es geht meistens bei diesen Versuchen, das zusammenzudenken, um eine bestimmte Facette des Buddhismus, um eine bestimmte Facette des Mahayana-Buddhismus. Es geht weniger um den traditionellen, den Ur-Buddhismus, den sogenannten Hinayana-Buddhismus, es geht in erster Linie um jene mächtige Strömung seit dem zweiten, dritten nachchristlichen Jahr­hundert, die man als den Buddhismus des „großen Fahrzeugs“ bezeichnet, als den Mahayana-Buddhismus. Und es geht da zentral um einen Begriff, der in der westlichen Diskussion, auch konkret der Wissenschaftler mit dem Dalai Lama etwa, immer wieder auftaucht, nämlich um den Begriff der Leere. Nicht mit ‚eh‘, sondern Doppel ‚e‘, Leere, das Leer-sein der Phänomene, die Nicht-Substantialität, die Nicht-Dinghaftigkeit, als ein zentra­les Element der mahayana-buddhistischen Weltüberzeugung. Der Begriff der Leere taucht im traditionellen oder im Ur-Buddhismus kaum auf. Ganz selten finden wir im klassischen Pali-Kanon den Begriff „shunyata“, „Leere“. Aber im Mahayana-Buddhismus ist er der Schlüsselbegriff überhaupt. Die Welt ist leer. Sie ist nicht Selbst, sie ist nicht Atma, sondern sie ist An-Atma. Sie ist in der Tiefe wirklich und Maya-Schein zugleich. Und das hat Interpreten, übrigens nicht nur in Europa, auch in Asien, bis heute nicht losgelassen. Was meinen die Buddhisten, wenn sie von shunyata reden? Und es liegt natürlich nahe, hier zu sagen, natürlich, das wissen wir ja in der neueren Physik, der Äquivalenz von Masse und Energie. Die Welt hat diese Dinglichkeit im naiven, realistischen Sinne nicht. Und es lag natürlich nahe, hier Zusammenhänge herzustellen. Also es geht um den Mahayana-Buddhismus. Es geht um den zentralen Begriff der Nicht-Dinghaftigkeit, der Nicht-Substantialität, der Leere der Welt.

Nun, die sogenannte Chaostheorie war ja viele Jahre sehr populär. Es gab eine Unzahl von Büchern, auch gelegentlich kritische Darstellungen, vor 4, 5 Jahren der berühm­te Zweiteiler im „Spiegel“, und es hat viele Diskussionen um die sogenannte Chaostheorie gegeben. Ich will Ihnen mal versuchen, die Chaostheorie von einem Gesichtswinkel aus in ganz kurzer Form nur zu umreißen, der meistens nicht genannt wird. Ich bin darauf gekommen durch einen der führenden Mathematiker der Chaostheorie [Ralph Abraham], den ich vor drei Jahren in Wien bei einem Symposion kennengelernt hatte, was ich selber moderieren sollte, auch moderiert habe. Wir haben eingehend über diese Fragen gesprochen, und er hat mir eine erstaunliche Sache mitgeteilt, die ich jetzt erst kürzlich in einem seiner Bücher auch nachgelesen habe. Er hat nämlich Folgendes gesagt: Die Entwicklung der sogenannten Chaostheorie, die ursprünglich ein Zweig der Komplexen Mathematik war, die niemand in der breiten Öffentlichkeit irgendwie interessiert hat, war ein paralleles Phänomen zur psychedelischen Revolution. Viele der maßgebenden Leute haben selber LSD genommen. Sie haben ganz bestimmte psychoaktive Substanzen genommen, übrigens auch Abraham selbst. Und sie haben in den 60er Jahren in einem ganz bestimmten, auch kulturell gefärbten Untergrundmilieu diesen Begriff „Chaos“ für diese neue Theorie geprägt. Und dieser Begriff als ein Pop-Begriff, als ein Pop-Begriff im Rahmen der psychedelischen Kultur Kaliforniens der 60er Jahre, hat dann weltweit Furore gemacht. Normalerweise hätte diese hochschwierige, hochkomplexe Theorie der dynamischen Systeme niemanden ernsthaft interessiert, und sie ist auch zunächst auf ganz große Abwehr gestoßen bei durchgängig allen Naturwissenschaftlern. Es hat, was man heute fast vergessen hat, mehr als zehn Jahre gebraucht, ehe es zaghaft überhaupt anfing, dass Physiker sich interessierten für diese sogenannte Chaos-Mathematik. Zehn Jahre lang hat sie es überhaupt nicht interessiert. Es gab Stellungnahmen von führenden Physikern gegen diese Chaostheorie. Seit ungefähr 1973 kann man sagen, beginnt dann, was man als „chaos-revolution „bezeichnet, also die sogenannte Chaostheorie.

Ich sage es noch mal: „Chaos“ war ein Pop-Begriff, denn ursprünglich ist ja „Chaos“ ein Begriff, der ganz anders besetzt war, ein Begriff in der griechischen Mythologie. Er steht, wenn ich es richtig weiß, in der Kosmogonie des Hesiod, parallel zu den Begriffen Gaia, Erde und Eros. Gaia, Eros und Chaos werden gleichzeitig geschaffen und Chaos war in der altgriechischen Weltvorstellung der nicht geordnete Weltengrund, der ungeformte Urgrund der Welt, aus dem dann die geformte kosmische Welt erwuchs. Und die gesamte griechische Geistigkeit kann man verstehen als das Bemühen zu denken, wie der Kosmos aus dem Chaos entstand. Und in der neueren Denkbewegung auch der Naturwissenschaft seit dem 16., 17. Jahrhundert, war Chaos immer negativ belegt, immer als ein extrem negativer Begriff. Chaotisch ist alles, was wir heute noch im Sprachgebrauch, alles das, was ungeordnet ist. Der Kosmos, so hieß es ja seit Galilei, Newton, Laplace und anderen, der Kosmos ist gerade geordnet. Der Kosmos ist die Ordnung. Das Chaos ist das, was der Kosmos gerade überwunden hat, was er hinter sich gelassen hat.

Nun macht Abraham in seinem Buch „Chaos, Gaia, Eros“ auf faszinierende Weise deutlich, was der Ursprung der Frage nach dem Chaos im Denken über die Natur überhaupt war. Und auch das findet sich eigenartigerweise in vielen der populären Darstellungen über die Chaostheorie überhaupt nicht, deswegen erwähne ich das. Der Ausgangspunkt, meint Abraham, war eine Preisfrage, vor knapp 100 Jahren, gestellt von einer französischen Akademie der Wissenschaften an die scientific community der Zeit, an die Elite der Naturwissenschaftler und Mathematiker, nämlich folgende Frage: Warum ist das Sonnen­system stabil?

Und jetzt [könnte man] denken: Was ist das für eine Frage, was soll diese Frage? Aber sie ist sehr ernst gemeint und sehr tief. Warum ist das Sonnensystem stabil, d.h. warum bewegen sich die Planeten mit dieser doch erstaunlichen, mit dieser frappanten Regelmäßigkeit, von ganz geringen Abweichungen einmal abgesehen? Und das wusste man immer, dass es Abweichungen gibt, dass die Planeten in keiner Weise ganz genau, ganz präzise den Newtonschen Gesetzen folgen. Man musste dann immer wieder fiktiv neue, unbekannte Planeten entdecken, in Anführungszeichen, die es gar nicht gab, um diese Anomalien zu erklären. Ohne Erfolg, bis heute ist es so, das weiß jeder Astronom, dass Ungenauigkeiten, Anomalien in den Bahnen vorliegen. Also die Frage, warum ist das überhaupt so konstant geordnet? Das hat schon, auch das ist meistens vergessen worden in der Wissenschaftsgeschichte, Newton beschäftigt und hat … war ein Element seiner berühmten Kontroverse mit Leibniz, nämlich die Frage: Wie ist es mit der Ordnung in der Welt? Newton meinte ja, eine in sich konsistente Ordnung, eine immanente Ordnung, die sozusagen einmal von Gott in Gang gesetzt wird und nun in alle Ewigkeit weiterläuft, kann es nicht geben. Gott müsste von Zeit zu Zeit in diese Welt eingreifen, um zu verhindern, dass das Weltensystem dem Chaos anheimfällt. Das hat ja den Spott von Leibniz und der Leibnizianer hervorgerufen. Und das war eine Kontroverse: Ist das ein immanentes mechanistisches System? Einmal angestoßen, läuft es bis in die Ewigkeit weiter? Oder muss der Schöpfer, der das Ganze in die Welt gebracht hat, immer wieder eingreifen? Newton nahm an, der Schöpfer müsste eingreifen, und es gab einen Zeitgenossen Newtons, den heute keiner mehr kennt, einen gewissen Wiston, William Wiston, der war eigentlich in gewisser Weise schon ein Protagonist der Chaostheorie, der meinte, der Kosmos ist eigentlich gar nicht kosmisch, der ist chaotisch. Auf dem Untergrunde des Chaos und des Kosmos gibt es das Chaos, und auch das Sonnensystem ist ständig gefährdet durch Asteroiden-Impakte, damals noch Kometen-Impakte, etwas was Newton in der Form scharf zurückgewiesen hat. Also die alte, auch heute ja viel diskutierte Frage: Ist es möglich, dass etwa die Erde von einem Asteroiden getroffen wird? Wurde schon im 17., im späten 17. Jahrhundert ernsthaft diskutiert und zwar im Zusammenhang mit dem berühmtesten Kometen, der dann nach Halley auch „Halleyscher Komet“ genannt wurde. Auch das ist eine Geschichte, die die meisten heute vollkommen vergessen haben. Noch 1910, wissen Sie ja vielleicht, beim vorletzten Durchgang des Halleyschen Kometen, hatten einige Physiker errechnet, die Erde würde durch den Schweif des Kometen durchgehen, es würde eine gigantische Katastrophe geben. Angeblich soll es auch Panik gegeben haben und Massen­selbstmorde.

Nun also, wie sicher ist diese Ordnung, das war der Ausgangspunkt. Und wenn man davon ausgeht, dass diese Ordnung gar nicht so sicher ist, wie man glaubt, dann muss man den Begriff „Ordnung“ ganz anders fassen, und das macht die Chaostheorie. Die Chaos­theorie sagt ja nicht, die Welt ist chaotisch, es geht drunter und drüber, sondern die Chaostheorie versucht ja, in diese scheinbare Unordnung eine neue Ordnungsvorstellung reinzubringen. Sie versucht ja zu zeigen: Gibt es eine andere, eine neue, vielleicht eine tiefere Ordnung, die wir bisher noch gar nicht gesehen haben? Die kann man mathematisch beschreiben. Und das ist möglich, da gibt es also eine Fülle von mathematischen Verfahren, die man in dem Zusammenhang anführen kann.

Und da hat die Chaostheorie Erstaunliches geleistet, ein Element nur dazu: Zum Beispiel, ist es ja im Sinne der früheren Mathematik vollkommen unmöglich, etwa die ungeheure Komplexität einer einzigen Küstenlinie zu berechnen. Das kann man mit der Chaos-Mathematik machen. Man kann sich zu diesem Behufe ganz bestimmter Computer­simulationen bedienen. Und auch das geschieht ja, das wissen Sie alle. Die Chaos-Mathematik ist ja nicht zu denken ohne die parallell laufende Computersimulation.

Nun ist es interessant, dass dieser Ralph Abraham, von dem eben die Rede war, sich selbst als einen hochspirituellen Menschen versteht, war mal in Indien, hat Indien [in] geforscht, hatte indische Lehrer, hat sich intensiv mit indischer Spiritualität beschäftigt, und dieser selbe Abraham war der Auffassung, oder ist noch immer der Auffassung: Was die Chaostheorie mittels ihrer mathematischen Mittel und mittels der Computersimulation leistet, ist in der Essenz spirituell. Es ist nicht etwa ein Parallelphänomen oder ein Etwas, was man erst zusammenführen müsste. Das ist selber in sich schon spirituell. Durch diese, wie er das nennt, visuelle Mathematik würde die Mathematik vollkommen neu definiert, radikal neu definiert als ein System von Raumzeitmustern, die zu tun haben mit der Tiefe, mit der Tiefenstruktur der Welt überhaupt, die an sich spirituell sei. Ich habe damals vor drei Jahren in dieser Podiumsdiskussion dagegen gesprochen und habe meine Überzeu­gung vertreten, dass ich diese Zusammenführung in der Form für nicht tragbar halte. Ich habe damals gesagt, ich will das nachher auch noch andeuten, dass hier doch zwei völlig verschiedene Ebenen vorliegen und dass man sehr vorsichtig sein muss, dass man nicht allzu schnell eine spirituelle Ebene, die ja subjektiv vollkommen authentisch ist, zusam­menbringt mit dieser anderen Ebene. Denn es geht ja nicht um die Frage, ob der einzelne Naturwissenschaftler vielleicht buddhistisch orientiert ist, das kann er ja sein. Er kann ja auch Christ sein oder Moslem oder Anthroposoph oder sonst etwas. Er muss ja im Rahmen der scientific community genauso forschen, wie es die herrschenden Methoden vorgeben. Und nur so kann er ja überhaupt in irgendeiner Form wissenschaftlich Karriere machen. Nicht als Buddhist, nicht als Christ, nicht als Moslem. Das gilt ja bekanntlich als seine private Überzeugung. Er kann von mir aus einer Sekte angehören, der kann die monströ­sesten Privatvorstellungen über die Welt haben. Aber als Wissenschaftler, als Teil dieses großen Systems der wissenschaftlichen Gemeinde, der scientific communities, hat er sich streng an die herrschenden Regeln zu halten.

Also, es geht nicht darum, dass einzelne Forscher religiös sind. Das sind viele, das war Planck, das war Heisenberg, das war Einstein, das ist Carl Friedrich von Weizsäcker und viele andere. Sondern es geht um eine viel weiter reichende Frage, die über das Individuelle vollkommen hinausgeht. Es geht um etwas Kulturell-Kollektives, ob da eine Zusammenführung möglich ist. Es geht also weit über den Einzelnen hinaus.

Also, die Chaostheorie war ursprünglich, ich sage es noch mal plakativ vereinfacht, ein Feld der Mathematik, der Beschreibung sehr komplexer Systeme. Sie hat auf ungeheuer differenzierte und subtile Weise reussiert, damit Komplexität zu beschreiben. Sie war damit unvorstellbar erfolgreich, was immer man nun davon im Einzelnen halten mag.

Nun, es ist still geworden, ich sagte das schon, um die Chaostheorie. Dafür mag es Gründe geben. Andere Theorien sind mehr diskutiert in diesen letzten Jahren, etwa die sogenannte Systemtheorie. Was ist die sogenannte Systemtheorie, die vielleicht im Moment wichtigste, auch übrigens ökologisch wichtigste Theorie der modernen Naturwissenschaft? Ich will das in aller Knappheit Ihnen mal verdeutlichen und dann versuchen, die Zusam­menhänge, soweit sie zu benennen sind, auch zu benennen.

Ich habe mal die wichtigen Punkte dieser sogenannten Systemtheorie in aller Knappheit zusammengetragen, thesenhaft, und will Ihnen das mal vorstellen. Das sind 11, 12 zentrale Thesen. Die Systemtheorie, ganz kurz geschichtlich, entstand in den späten 40er Jahren aus einem bestimmten Prozess heraus, der zur Entwicklung der modernen Computer führte, entstand letztlich aus der Kybernetik. Folgende Grundthesen behauptet die Systemtheorie, weltweit, alle maßgeblichen Vertreter.

Erstens. Sie behauptet: Alles in der Natur, buchstäblich alles, ist miteinander vernetzt, sozusagen, flapsig gesagt, die Welt ist ein gigantisches Internet auf allen Ebenen, vom subatomaren Bereich bis zu den Galaxien. Alles hängt mit allem zusammen. Es gibt ein großes Netz des Lebens, „web of life“, das sogenannte „Lebensnetz“. Und, sagen die System­theoretiker, es gibt überhaupt keine isolierten Einheiten. Nichts, absolut nichts, auch nicht ein subatomares Teilchen oder ein einzelner Mensch oder ein Planet ist in irgendeiner Form isoliert. These 1. Das ist alles miteinander verbunden.

Zweitens, hängt damit eng zusammen. Man postuliert, dass die Welt als Ganzes auf den verschiedenen Ebenen nur aus dieser Ganzheit heraus überhaupt verstanden werden kann. Sie kann nur als Ganzheit und als Ganze interpretiert werden, also nur holistisch. Und das Ganze bestimmt auch die Teile. Und das gilt für die lebendige Welt, für die organische Welt, genauso für die anorganische … wie für die anorganische Welt. Und in diesem Kontext polemisieren die Systemtheoretiker seit 30 Jahren sehr scharf gegen den früheren Atomismus, gegen das frühere mechanistische Denken mit dem Anspruch, sie hätten eine höhere, eine adäquatere Ebene der Wirklichkeitserkenntnis erreicht. Also, keine Zersplit­terung, keine atomistische Vereinzelung, sondern das Ganze zählt. Naheliegend, dass auch die Ökologie sich immer wieder auf die Systemtheorie stützt.

Dritte These. Es wird behauptet, in allen Schriften, die relevant sind, der System­theoretiker, von Gregory Bateson bis heute zu Capra, seinem letzten Buch „Lebensnetz“, es gäbe, ich sage es bewusst mal im Konjunktiv, keine Trennung von Geist und Natur. Die Welt sei nicht so zu verstehen, als ob die Natur, die physisch-sinnlichen Phänomene, das, was die Naturwissenschaft beschreibt, in irgendeiner Form vom Geist getrennt werden könnte. Es gibt diese berühmte Formel von Gregory Bateson, er sagt: Der Geist hat überhaupt keine Eigen-Existenz, sondern ist ein Muster, er ist the pattern that connects, ist das Muster, das die Phänomene verbindet. Er ist immanent. Der Geist ist also kein metaphysisches Prinzip, das von außen in die Welt eindringt, sondern der Geist ist immanent. Er ist in der Welt selber, ist selber die immanente Ordnung der Welt, und damit wird jeder Geist-Körper-Dualismus vollständig zurückgewiesen. Die Welt selber, einschließlich der biologischen Welt, ist Kognition, Erkenntnis und Information; [das ist der] Punkt, einer der zentralsten Punkte überhaupt. Also Geist und Natur werden auf diese Weise zusammengeführt.

Vierte These. Mit dieser These verbindet sich bei den führenden Systemtheoretikern immer die Vorstellung einer Relativierung jeglicher Naturerkenntnis. Die früheren Absolut­heitsansprüche werden zurückgenommen, also in dem Sinne: Da draußen existiert eine Welt, hier ist der Naturforscher, und der ist in der Lage, bis zu einer gewissen Annäherung tatsächlich diese Welt da draußen abzubilden. Das berühmte Repräsentationsparadigma, was ja immer die Schwäche hatte, das haben ja die Philosophen schon im 18. und 19. Jahrhundert gesehen, dass das Subjekt, der Einzelne, der Betrachter, draußen vor blieb. Das ist ja die berühmte Subjektblindheit der Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaftler bilden eine Welt ab, und sie selber als Subjekte tauchen überhaupt nicht auf. In physika­lischen Lehrbüchern gibt es nicht das lebendige Subjekt, es gibt das anonyme Beobachter-„man“, „m a n“, und nicht den einzelnen Menschen, der leidet, der fühlt, der Schmerz empfindet, der sich freut, der spielt keine Rolle, auf den ist es nicht abgesehen. Also, eine starke erkenntnistheoretische Skepsis bis dahin, dass man sagt, jede Erkenntnis ist eigentlich zirkulär. Wir können aus der Zirkularität dieser Erkenntnis der Welt nicht ausbrechen. Wir können keinen Standpunkt, keinen archimedischen Punkt finden, von dem aus wir das Ganze einfach so souverän überblicken können. Wir sind immer Teil der Welt, Erkenntnis ist immer zirkulär. Ein ganz wesentlicher Aspekt, den vor allem die bedeuten­den chilenischen Neurophysiologen Umberto Maturana und Francisco Varela in den Vor­dergrund ihrer Forschung gestellt haben. Nicht zufällig übrigens, dass dieser selbe Varela als einer der maßgebenden Systemtheoretiker selber sich als Buddhist versteht. Er ist Buddhist und tritt als Buddhist auch auf und hält auch als Buddhist Vorlesungen und versucht das auf seine Weise zusammenzubringen.

Fünfter Punkt der Systemtheorie. Die Systemtheoretiker kritisieren den Neo-Darwi­nismus, und zwar auf eine sehr scharfe Weise. Sie zeigen aufgrund einer Fülle von Evidenzen, dass die natürliche Zuchtwahl, natural selection, und auch der struggle for life und all diese Punkte, die im Neo-Darwinismus angeführt werden, so nicht haltbar sind, dass man Evolution anders interpretieren muss, dass ein ganz wesentliches Moment bei Darwin fehlt, nämlich das eigenschöpferische Element des Naturprozesses, das eigen­schöpferische Element, was ja bis zu einem gewissen Grade immer auch zu tun hat, damit, dass die Evolution auf ein bestimmtes Ziel hingeht, auf ein Telos. Insofern ist diese Betrachtungsweise auch teleologisch. Sie zielt auf ein Telos, auf ein Ziel ab. Darwin hatte ja diese Zielvorstellung radikal abgeräumt. Das war ja ein wesentlicher Affront seinem ganzen Zeitalter gegenüber, als sein [Darwins] Epoche-machendes Buch 1859 erschien. Es gibt keine Zwecke, keine Ziele, die kann man nach wie vor glauben, aber man kann sie wissenschaftlich überhaupt nicht belegen. Es gibt nur Ursachen, die in der Vergangenheit liegen. Also, eine starke Kritik am herkömmlichen Darwinismus, auch am Neo-Darwi­nismus. Man setzt nun einen Begriff dagegen, ich nenne diesen Begriff mal, den Begriff „emergence“, „Emergenz“. In den meisten Übersetzungen, deutschen Übersetzungen dieser Texte, wird der Begriff einfach so stehen gelassen. Er meint an sich ein Heraufquellen, ein Heraufkommen eines vorher nicht Dagewesenen. Er meint einen schöpferischen, ein ur-schöpferischen Akt im Prozess der kosmischen Evolution. Wenn man sagt, ein Phänomen emergiert, meint man, es ist zwar in gewisser Weise verbunden mit der Ebene, die davor liegt, aber es erscheint etwas vollkommen Neues, also etwas, was sich nicht herleiten lässt, kausal ableiten lässt von der Ebene davor. Also schöpferische Prozesse werden im Weltall unterstellt.

Der nächste Punkt der Systemtheorie, der hängt zusammen mit der Vorstellung, was Geist ist. Ich hatte ja gesagt, Geist wird verstanden als ein Muster, „a pattern that connects“, ist der Begriff der „Autopoiesis“, berühmt geworden, mittlerweile ja weltberühmt, der Selbstorganisation. Es wird gesagt, Materie organisiert sich selbst, was immer das heißen mag. Da wird kein Selbst im Sinne der menschlichen Ichhaftigkeit angenommen. Es wird gesagt, die Materie organisiert quasi sich selbst, immanent, Autopoiesis, und wir bedürfen keines transzendenten Schöpfers von oben oder keines transzendenten Geistes von oben. Wir bedürfen im Grunde keiner metaphysischen Hinterwelt. Alles ist immanent, so in diesem Sinne natürlich zu erklären, und auch das Leben bestimmt sich durch Autopoiesis, durch Selbstorganisation auf allen Ebenen.

Dann ist der nächste Punkt, dass in all diesen Vorstellungen immer davon ausge­gangen wird, ähnlich wie in der Chaostheorie, dass man die Phänomene, die System­phänomene computermäßig simulieren kann. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Das geschieht doch ständig.

Nächster Punkt. Wir sind gleich am Ende dieser Skala von Elementen. Man nimmt an, dass zwar die einzelnen Systeme in der Welt, etwa ein Ökosystem oder ein Gesellschaftssystem oder ein subatomares System oder ein wie immer geartetes biologisches System, eine relative Autonomie hat, also eine relative Autonomie, aber im Grunde genommen wird davon ausgegangen, dass die Welt nur auf einer, gleichsam auf einer Ebene funktioniert. Es gibt also nicht in irgendeiner Form höhere Welten, etwa im Sinne der anthroposophischen Vorstellung von höheren Intelligenzen, höheren Hierarchien darüber, das alles wird radikal abgeräumt. Das Ganze wird in die pure Immanenz hinein­gezogen. Und damit wird natürlich auch der herkömmliche Dualismus scharf kritisiert. Und es gibt in all diesen Büchern nun immer wieder den Versuch, die Entwicklung der Welt nun systemisch zu begreifen, nicht systematisch. Da ist ein neues Adjektiv eingeführt worden, das im Duden, jedenfalls in dem Duden, den ich habe, noch gar nicht existiert. „Systemisch“ taucht oft gar nicht auf als Adjektiv, ist nicht „systematisch“. Man muss vielleicht noch kurz sagen, das „System“ stammt aus dem Griechischen, meint Ursprung. [Griechisch] „sistema“ ist fast synonym mit Ordnung, das Zusammengefügte, das Zusammengesetzte. Platon war einer der ersten, der das Wort „sistema“ für die Erde, für das kosmische System als Ganzes angewandt hat.

Nun, wenn das so ist, wenn die Welt so aussieht, dann ist das zunächst einmal eine abstrakte Beschreibung der Welt. Was hat das zu tun mit den sehr lebendigen spirituellen Innenwelten, die ja natürlich den Menschen erstmal primär interessieren?

Jetzt zum Buddhismus. Ich hatte gesagt, der zentrale Begriff der mahayana-buddhistischen Lehre ist der Begriff „shunyata“, der Nicht-Selbstheit. Was heißt das? Buddha war davon ausgegangen, dass das Ich, das Selbst, dass der Einzelne in sich spürt ‒ jeder Einzelne von uns hier im Raum spürt sich in sich als ein Ich, als ein Selbst, er ist er selbst, die anderen sind eben die Anderen, jeder hat sich selber nur unmittelbar ‒ , dass dieses Ich und Selbst in der Tiefe, so wie wir es wahrnehmen, nicht existiert. Das Ich oder Selbst ist eine Täuschung, es existiert nicht. Im Gegensatz dazu ja bekanntlich die abend­ländische Überzeugung, dass Ich, das Selbst, die Individualität ist das Kostbarste über­haupt, was der Mensch hat, „höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit“, heißt es ja in einem Goethe-Gedicht. Und wenn ein Leben nach dem Tode im Abendland in irgendeiner Form jemals gedacht wird, es ist ja oft gedacht worden, dann verbindet der Abendländer oder verbinden die meisten Abendländer damit die Vorstellung, dass eine wie immer geartete Individualität nun weiterexistiert. Während die Buddhisten immer davon ausgehen, der Einzelne als Einzelner existiert gar nicht mehr. Er verschwindet in gewisser Weise, er löst sich auf in einen Seinszustand, den zu beschreiben die Sprache nicht ausreicht, und es ist ja immer wieder versucht worden: Was ist denn dieser Zustand der Erleuchtung oder des Angekommenseins in diesem absoluten Seinszustand des Nirvana? Was ist das denn überhaupt? Kann man da etwas zu sagen? Ist das das Nichts? Sind die Buddhisten vielleicht im Grunde Nihilisten? Das ist ja auch verschiedentlich so gesehen worden. Schon Zeitgenossen von Buddha haben ihn als einen Nihilisten kritisiert. Wir haben dann mit einigem Recht ja auch erst mal gesagt: Du nimmst an, es gibt Wieder­verkörperung. So. Du sagst aber gleichzeitig, es gibt überhaupt keine Seele. Denn Buddha hat unermüdlich in seiner 45-jährigen Lehrtätigkeit immer wieder gesagt: es gibt nur an-atma, kein atma, es gibt keine Seele. Also die Frage: Wenn es keine Seele gibt, was rein­karniert sich eigentlich? Dann muss sich etwas Anderes reinkarnieren als die Seele. Ja, was? Und dann die große Frage: Was reinkarniert sich, ein karmischer Bewusstseinsstrom in irgendeiner Form? Da geht etwas weiter, so wird angenommen, was aber nicht identisch ist mit dem Einzelnen. Und die Frage, die dann immer wieder auftauchte, war naheliegend und ist auch heute noch ein erkenntnismäßig schwer zu verdauender Brocken.

Ja, wenn ich gar nicht der Andere oder die Andere wirklich bin und dessen oder deren karmische Last ich aber jetzt, heute hier tragen muss, und ich leide zum Beispiel, weil der oder die etwas gemacht hat, wie ist denn da die Verbindung überhaupt? Und das hat schon Buddha mit einem Paradoxon beantwortet, hat gesagt: Du bist der Andere, die Andere und gleichzeitig bist du es nicht. Das heißt, kann man sagen, er hat sich aus der Affäre gezogen. Er hat gesagt, das kann man nur paradox beantworten, nicht im Sinne der aristotelischen Logik. Ja, bist du nun, würde ja der Abendländer naiv sage, bin ich nun der Betreffende, oder bin ich es nicht? Buddha hat gemeint, die Frage ist so nicht zu beant­worten, weil du bist es, und du bist es nicht, gleichzeitig.

Was hat das für eine Konsequenz für die Überzeugung von der Existenz von Welt? Was ist die Welt für den Buddhisten, auch für den Mahayana-Buddhisten? Das ist im Laufe von Jahrhunderten eine riesige Literatur, im Mahayana-Buddhismus immer wieder versucht worden, auf den Punkt zu bringen. Diese Welt ist in gewisser Weise für den Buddhisten auch eine Art System, aber ein System, was sich ausschließlich speist durch Bewusstsein. Und nur Bewusstsein ist die eigentliche, qualitative Essenz der Welt, das ist wesentlich für den Buddhismus. Der Buddhismus ist eine Bewusstseinslehre. Er ist, wenn man das so nennen will, eine Tiefenpsychologie. Alles ist Bewusstsein und Bewusstsein erfüllt die Existenz des Einzelnen, gelingt oder scheitert am Bewusstsein. Und dieses Bewusstsein ist nicht einfach das Ego, das Ich oder das Selbst. Dieses Bewusstsein ist ein Ur-Bewusstsein. Oftmals wird im Mahayana-Buddhismus von einem Speicher-Bewusstsein gesprochen, das den ganzen Raum erfüllt, das unendlich und ewig ist, ja in gewisser Weise mit dem Raum identisch ist.

Einige westliche Interpreten haben dann einen Begriff dafür gewählt aus der europäischen Philosophietradition, den Begriff der Weltseele und ob man nicht das, was Platon und Plotin, Giordano Bruno, Schelling und Andere als die Weltseele bezeichnet haben, ob man nicht das verwenden kann für dieses Ur- oder Grundbewusstsein oder Speicherbewusstsein der Mahayana-Buddhisten. Ist die Welt nun in diesem Sinne für die Mahayana-Buddhisten einfach Schein? Das ist sehr schwer zu sagen. Sie changiert zwischen Schein und Wirklichkeit. Niemals würden die Mahayana-Buddhisten in einem direkten und absoluten Sinne sagen: Die Welt, wie wir sie sinnlich wahrnehmen, ist einfach eine Illusion. Das findet man, diese Vorstellung findet, man in den „Upanishaden“. Da wird es gesagt: Diese Welt ist Maya. Diese Welt ist in einem absoluten Sinne ein Traum eines unbekannten, absoluten Wesens, das sich in die Vielzahl der Einzel-Existenzen hinein verstrickt [hat]. Diese Welt ist Maya, Schein. Die Buddhisten sind da vorsichtiger. Sie betonen schon den Wirklichkeitscharakter der Welt, aber sagen gleichzeitig das ist keine eigentliche, keine wahre Wirklichkeit, es ist eine sehr relative Wirklichkeit. Also auch da ein paradoxes Changieren zwischen den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Schein. Und auch hier die Frage im Grunde eine Scheinfrage: Ist die Welt nun wirklich, oder ist sie Schein? Sie ist beides. Sie ist wirklich und Schein zugleich.

Nun hat nach der Vertreibung des Dalai Lama und der intellektuellen Elite Tibets in den späten 50er Jahren, der Film „Kundun“, der jetzt läuft, zeigt das hier auf eindrucksvolle Weise. Der tibetische tantrische Buddhismus [hat] einen Siegeszug um den Planeten ange­treten, der auf seine Weise wirklich einzigartig ist. Und sehr viele haben nun bestimmte Elemente dieses Denkens aufgegriffen und versucht zu zeigen oder plausibel zu machen: Gibt es vielleicht Zusammenhänge? Wenn die Buddhisten so etwas sagen, dass die Welt Bewusstsein ist und nur Bewusstsein, ein gewaltiges System des Bewusstseins, ist das nicht dann doch ähnlich, wenn die Systemtheoretiker sagen: Es gibt nur dieses gewaltige Netz, dieses Netz „web of life“ der Phänomene? Ist das nicht im Prinzip, in der Tiefe, im Kern, das Gleiche? Warum soll man da differenzieren? – Da muss man, und das soll jetzt der nächste Schritt sein, genau differenzieren, wovon man redet.

Man muss sich hüten, meine ich, dass man nicht grundsätzlich voneinander getrennte Ebenen einfach in eins setzt. Denn die Grundhaltung der neuzeitlichen Natur­wissenschaft der Welt gegenüber seit dem 16. Jahrhundert, auch die der Chaostheorie oder Systemtheorie oder wie immer, geht letztlich nicht davon aus, wie in der Spiritualität des Buddhismus, dass es höhere, dass es transzendente, dass es über die Ratio hinausgehende Erfahrungsdimensionen gibt oder Bewusstseinsdimensionen. Es gibt keine Hierarchie höherer Bewusstseinszustände, höherer Seinszustände. Das wird gerade und ist gerade hier seit der Aufklärung abgeräumt worden. Die höchste Stufe ist die rational- ichhafte die Stufe, und diese Stufe wird von der Aufklärung als die allein wichtige favorisiert. Das ist ein wesentlicher Punkt.

Die Aufklärung und mit ihr die neuzeitliche Naturwissenschaft setzt auf die rationale Ichhaftigkeit. Wenn sie sagt: Wenn es so etwas geben sollte wie diese höheren Bewusst­ seinsstufen, von denen alle spirituellen Traditionen berichten, dann sind sie nicht beweisbar. Also, eine radikale These wäre: Es gibt sie gar nicht. Das wäre eine dogmatische Geste. Was ihr für höhere Bewusstseinszustände haltet, ist letztlich Pathologie. Da würde man extrem sagen, na gut, dann ist also auch ein Erleuchtungszustand, wie ihn Buddha für sich reklamiert, letztlich ein pathologischer Zustand. Er hat zwar keine psychoaktive Substanz eingenommen, hätte er aber vielleicht tun können, und es ist letztlich eine Quasi- Pathologie. Alles, was heilige Menschen, spirituelle Menschen im Laufe der Jahrhunderte behauptet haben, existiert gar nicht, [ist] pathologisch. Oder man sagt, das ist ja eher die Meinung, gut, ich akzeptiere das, es gibt diese Zustände. Es scheint wohl so zu sein. Ich habe es nicht erlebt, wird oft gesagt, aber bitte sehr. Es scheint diese Zustände zu geben, aber, sie haben keine Relevanz für die naturwissenschaftliche Fragestellung, weil sie sind nicht verifizierbar, sie sind nicht beweisbar. Und das ist ein entscheidender Punkt, den auch Ken Wilber in seinen Schriften ja seit 20 Jahren immer wieder anspricht. Und auch in seinem letzten Buch „Naturwissenschaft und Religion“. Es wird gesagt, sie seien nicht beweisbar. Es wird so getan, als gäbe es überhaupt keine Kriterien zu unterscheiden, was ist Halluzination, was ist pure Phantasie und was ist in irgendeiner Form objektivierbare Wirklichkeit?

Nun gibt es ja buddhistisch-spirituelle Systeme, übrigens auch im Zen-Buddhismus, die durchaus Kriterien angeben für die Objektivierbarkeit dieser Erfahrungen. Es gibt durchaus Kriterien, es gibt Stufen-Modelle, auch in anderen spirituellen Traditionen. Es ist nicht so, dass diese höheren Stufen im Niemandsland vollkommener Subjektivität sich aufhalten oder einer Belanglosigkeit oder Verbindlichkeit, die die pure Glaubenssache wäre. Das kann schon deswegen nicht sein, wenn man sich mal anschaut, wie weltweit, in allen Zeiten und Kulturen ganz bestimmte grenzüberschreitende Erfahrungen beschrieben werden. Da gibt es Parallelitäten, da gibt es Ähnlichkeiten, da gibt es offenbar Zusammen­hänge. Es scheint so zu sein, dass Menschen in verschiedensten Zeiten und Epochen diese Bewusstseinszustände kontaktieren können in irgendeiner Form. Oft wird angenommen, dass ein jahrelanger, jahrzehntelanger Meditations- und Schulungsweg dazu erforderlich ist und dass dann auf den oberen Stufen bestimmte Zusammenhänge erkannt werden und dass die, die die Stufen auch erreicht haben, miteinander kommunizieren können. Dass da wirklich etwas ist, was ja auch die moderne Bewusstseinsforschung in den letzten 20, 25 Jahren denke ich, genugsam bewiesen hat. Auch die Bewusstseinsforschung, die ausgeht von den LSD-Erfahrungen der 60er und 70er Jahre, das ist ja auch versucht worden im Zusammenhang mit der transpersonalen Psychologie, diese meditativ erreichten hohen Bewusstseinszustände zusammenzubringen mit den Erfahrungen, die heute jeder Mensch machen kann, durch Psychedelika oder durch ganz bestimmte Atemtechnik, Fasten, Schlaf­entzug oder was auch immer.

Also, man muss sehr genau aufpassen, von welcher Ebene redet man, wie differen­ziert und subtil Naturwissenschaft auch immer die Welt betrachtet ‒ die Welt ist nie eigenlebendig, sie ist nie ein bewusstseinserfüllter, eigenständiger Dialogpartner. Die Naturwissenschaft ist immer in diesem Sinne monologisch. Ob ich einen Stein betrachte oder ein Ökosystem oder eine Galaxie, die spricht nicht, diese Phänomene sprechen nicht mit mir. Ich muss nicht in einen Dialog mit ihnen treten. Sie sind da, sie sind Phänomene der Außenwelt, die ich betrachte. Ich kommuniziere nicht als Mensch oder als Bewusst­seinswesen wie mit einem anderen Bewusstseinswesen. Wenn wir uns miteinander verständigen zu zweit, zu viert, zu sechst, wie immer, dann müssen wir ja immer erst einmal rausspüren, oder Sie, wenn Sie mir zuhören, was meint der Jochen Kirchhoff, wenn er diese Vokabel, diese Begriffe benutzt? Es geschieht ein Dialog in irgendeiner Form, auch wenn Sie nichts sagen, es geschieht ein Dialog, es wird etwas vermittelt über Sprache, das Sie selber innerlich nachvollziehen müssen. Es ist ja nicht eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Dies kann es ja nie geben, zwischen Menschen ist ja immer, wie Martin Buber gesagt hat, eine Dialog-Beziehung.

Und das ist schon mal ein wesentlicher Unterschied. Naturwissenschaft ist ihrem Wesen nach monologisch, sie ist nur dialogisch wenn sich einzelne Forscher untereinander verständigen über bestimmte Ergebnisse, dann ist sie natürlich auch dialogisch, dann ist sie intersubjektiv.

Und spirituelle Erfahrung ist in dem Sinne immer translogisch, sie überschreitet jede nur denkbare logische Dimension. Sie ist also nicht auf den Boden der sogenannten Wirk­lichkeit herabzubringen. Das heißt nicht, dass sie per se total unverbindlich und nur sub­jektiv wäre und dass darüber keine Verständigung möglich wäre. Ich habe ja gerade gesagt, dass das doch der Fall ist. Aber sie ist nicht mit den Gültigkeitskriterien der herkömmlichen Wissenschaft zu betrachten. Wer das versucht, muss scheitern, das kann nicht gehen, ich kann nicht ein Erleuchtungs- oder ein wie immer geartetes transpersonales Erlebnis in irgendeiner Form mit quantentheoretischen oder chaostheoretischen oder systemtheo­retischen Überlegungen verbinden. Ich kann nur sagen, hier liegt eine ganz andere Wirklichkeitsebene vor. Und da ist ein Punkt, der für mich zentral zu sein scheint bei dieser ganzen Auseinandersetzung, dass man anerkennen sollte, auch wenn einem das vielleicht schwerfällt, dass wir … dass wir in einer Welt leben, wahrscheinlich in einer Welt leben, in der es Ebenen der Wirklichkeit gibt, einfach Seinsebenen und dass wir ja alle darunter leiden, wenn wir diese Seinsebenen nicht integrieren können, wenn wir etwa die rationale, die intellektuelle Ebene, die wissenschaftliche Ebene eben nicht integrieren können, etwa mit der künstlerischen, mit der ethisch-moralischen Ebene oder der ichhaften Ebene. Aber die Aufgabe bleibt. Es kann ja nicht darum gehen, dass wir einen Punkt finden in der Vergangenheit, bevor sich diese Abzweigung, diese Bifurkation, um einen chaostheore­tischen Begriff zu verwenden, vollzogen hat, dass wir sagen, na gut, das hat sich jetzt herauskristallisiert, aber es sollte nicht so sein. Ich suche also nach einem Punkt in der Vergangenheit, wo das nicht so war. Es gibt ja viele Bücher, die in diese Richtung gehen. Man sucht einen Punkt in der Vergangenheit, wo diese als verhängnisvoll gesehene Abzweigung noch nicht vorhanden war. Man geht zum Beispiel in die frühe Neuzeit rein. Man geht noch weiter zurück. Man kann dann Platon, Sokrates heranziehen. Man kann in die frühen Hochkulturen zurückgehen, und kann sagen, da sind schon Weichenstellungen erfolgt, patriarchal, egozentrisch, machtbezogen. Schon da wurde die Welt als auszu­beutendes Objekt betrachtet. Das ist ja alles versucht worden, aber das wird nicht gehen, das ist vergeblich, weil, was vollzogen ist an herausdifferenzierenden Weichenstellungen kann nicht zurückgenommen werden. Und es ist ja gerade das, sage ich nochmal wie am Anfang, auch ein Gewinn der abendländisch-europäischen Aufklärung, ein wirklicher Gewinn, dass diese Herausdifferenzierung erst einmal erfolgt ist. Ob sie so bleiben muss in dieser ja eigentlich neurotischen Dissoziation, in der totalen Spaltung, können wir mit Fug und Recht verneinen. Nein, sie soll nicht so bleiben, bloß, das wirklich zu leisten, diese Ebene zusammenzubringen, ist eine ganz eigene und extrem schwierige und subtile Aufgabe und die ist nicht vollzogen worden, man soll sich da keinen Illusionen hingeben, auch wenn das vielleicht jetzt enttäuschend klingt. Diese … ich meine es nicht resignativ, aber bis zur Stunde kann man sagen, diese wirkliche Integration von Spiritualität, im Falle auch des Buddhismus, der mahayana-buddhistischen shunyata-Lehre, mit … also diese Verbindung, diese Integration mit naturwissenschaftlichen Denkansätzen, ist nicht gelungen.

Nun kann man fragen: Kann sie überhaupt gelingen? Wenn das stimmt mit den Ebenen, könnte man sagen: Nein, das kann nie funktionieren. Ich kann nur die Welt so betrachten, da komme ich zu den Ergebnissen, ich kann rechnen. Ich kann mittels der Technik die Welt betrachten, ich kann sie als Ich betrachten, ich kann sie als Künstler betrachten, ich kann Bilder malen oder Streichquartette komponieren oder selber Musik machen, wie immer. Und da kann ich eben auf eine ganz andere Weise sie auch spirituell meditativ betrachten. Und das kann derselbe Mensch sein, der am Vormittag in einem Labor arbeitet, Quantenphysiker ist, am Nachmittag vielleicht Zen-Meditation macht und abends als Bratscher in einem kleinen Kreis musiziert. Das wären dann drei verschiedene Facetten, die in einem Menschen zusammengeführt sind, aber damit ist kulturell nichts geleistet, damit ist die Dissoziation nicht aufgehoben. Und es gibt ja genügend Kulturen auf dieser Erde, wo ja noch nicht einmal der Anfang, diese Herausdfferenzierung überhaupt geleistet wurde, denken Sie an den Islam. Da hat es so etwas wie die Reformation oder die Aufklä­rung oder so etwas überhaupt nicht gegeben. Deswegen gibt es auch nicht diese Heraus­differenzierung. Deswegen kann sich ein fundamentalistischer Mullah vollkommen selbstverständlich, wie selbstverständlich, der modernsten Technik bedienen, das tut er ja auch, aber im Innern bedeutet es für ihn gar nichts. Für ihn hat das innerlich überhaupt keine Relevanz. Das ist in unserer eigenen Geschichte vollständig anders. Insofern, wenn man jetzt sich klarmacht, was für Möglichkeiten kann es denn überhaupt geben, da etwas wirklich zusammenzudenken, dann könnten wir heute, ohne nicht in Scharlatanerie zu verfallen, eigentlich nur sagen, mit aller Vorsicht: Was wären die Kriterien dafür, dass das möglicherweise gelingt? Was wären die Kriterien? Mehr kann man im Moment, in dieser geschichtlichen Stunde, glaube ich, nicht sagen, denn wenn man das nicht tut, wenn man nicht diese Beschränkung oder eine gewisse Bescheidung vornimmt, kommt man natürlich zu den bekannten schnellen Gleichsetzungen, die ja … von denen es ja sehr viele gibt. Also ich meine, wir können im Moment zwar feststellen, dass es in der modernen Denk­bewegung, unter anderem auch in der Chaostheorie oder in der Systemtheorie, Versuche gibt, die Natur anders zu betrachten, ganzheitlich zu betrachten und insofern den atomistischen Ansatz zurückzunehmen. Das ist ein Fortschritt, unbedingt. Darüber ist überhaupt nicht zu diskutieren. Aber wir müssen immer sehen, dass die spirituelle Welterfahrung als sie selber, von vornherein etwas Anderes ist und was immer wir, wenn wir es denn erleben, in diesen Schichten, in diesen Dimensionen, in diesen Seinsebenen wirklich erfahren, hat nichts zu tun mit system- oder auch quantentheoretischen Konzepten.

Denn das alles bleibt dann immer auf der konzeptionellen, auf der intellektuell-rationalen Ebene. Das muss man einfach sehen, sonst kommt man, meine ich, in eine heillose Klitterei hinein, eine heillose Klitterei der Phänomene hinein, die intellektuell, meine ich, übrigens auch spirituell, dann unseriös ist. Das heißt nicht, dass man da resignieren sollte an der Stelle, nur genau gucken, wovon redet man. Und dann kann man .., da müsste überhaupt erstmal, das wäre die Grundvoraussetzung, ein seriöser öffentlicher Dialog überhaupt entstehen. Der ist erst ganz zaghaft im Gang über solche über die rationale Ebene hinausreichenden Seinsstufen, Bewusstseinsstufen. Gibt es diesen seriösen öffentlichen Dialog darüber? Nein, es gibt ihn nicht. Es gibt ihn in bestimmten Zirkeln, es gibt ihn bestimmten Zirkeln der New-Age-Bewegung, es gibt ihn in der Anthroposophie, es gibt ihn in verschiedenen esoterisch orientierten Richtungen, aber einen seriösen öffentlichen Dialog über diese Fragen, über die Existenz oder Nichtexistenz dieser Phänomene gibt es in der Form nicht. Es gibt interkulturellen, interreligiösen Dialog, das ist bekannt, aber kaum ein wirklichen Austausch auf der höchsten Erfahrungsebene. Dann zieht sich jeder sehr schnell zurück, auch wenn es ihm um den Dialog geht, auf seine Glaubenspositionen, die nicht weiter hinterfragt werden ‒ ja ich glaube das eben, beweisen kann ich es auch nicht. Wenn das dabei bleibt, bei dieser puren Glaubensebene, dann ist in der Tat der Vorwurf berechtigt, das Ganze bliebe letztlich subjektiv. Man muss, glaube ich, in eine Ebene hineinkommen, wo man überhaupt diese Phänomene einer höheren Bewusstseinsmöglichkeit sich neu anschaut. Das geschieht im Ansatz eigentlich nur, wenn ich das richtig sehe, in der sog. Bewusstseinsforschung der letzten 20, 25 Jahre, die ja vor allem in Amerika ein riesiges Material zusammengetragen hat, phänomenologisch aus den verschiedensten Kulturen und versucht bestimmte Modelle aufzustellen: Wie ist das dann etwa, meinen vielleicht die mystischen Moslems, die Sufis, wenn sie Sikkha [eigentlich ein buddh. Begriff für „Schulung“] sagen und praktizieren etwas ähnliches, was die Zen-Buddhisten als Satori bezeichnen? Ist das vergleichbar, oder ist das etwas vollkommen Verschiedenes?

Und da müsste man dann auf eine neue Weise ansetzen. Und ich meine, dass da noch eine ungeheure Aufgabe vor uns liegt. Aber ich glaube, dass das im Kulturellen nur möglich ist, wenn das wirklich gelingt, diese neue Stufe wirklich plausibel zu machen. Es muss der Dialog darüber möglich sein. Denn wenn, ich sag’s noch mal in aller Schärfe, wenn ich von vornherein annehme, es gibt diese Wirklichkeitsdimension gar nicht oder sie sind nicht beweisbar, sind nicht objektivierbar, dann schneide ich eigentlich den öffentlichen Dialog darüber ab. Dann muss ich darüber eigentlich nicht weiter verhandeln. Da kann ich sagen, gut, Sie glauben das, ich glaube das, wir können uns verständigen, einen ganzen Abend lang oder eine ganze Nacht, was wir alles glauben. Aber können wir auch darüber reden, was wir erfahren haben auf diesen anderen Dimensionen? Und haben wir Kriterien? Und dann kann man in die Traditionen auch der spirituellen Strömungen hineinschauen, unter anderem auch den Mahayana-Buddhismus, und findet dann tatsächlich Kriterien, auch bei den Zen-Buddhisten. Ganz bestimmte Visionen werden ganz bestimmten Klassen von Erfahrungen, ganz bestimmten Erfahrungsebenen zugeordnet. Und da wird es dann wirklich interessant. Und da gibt es dann wirklich, was man im Englischen „plausibility claims“ nennt, also Plausibilitätskriterien. Das ist dann keineswegs so ein Tanzplatz der Subjektivität und der Willkür. Und dann hätte … dann wäre wirklich, vielleicht, ein … dann wäre vielleicht wirklich die Spiritualität ein echter Dialogpartner. Das ist ja noch nicht der Fall. Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt einige Ansätze, fraglos, aber da ist noch viel zu leisten.

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Tiefenökologie – Der Neue Bund von Mensch und Pflanze

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 46

Transkript als PDF:


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Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser zehnten und nunmehr für das Sommersemester auch letzten Vorlesung zum Thema: Der Mensch, das Licht und die Pflanzen. Ich habe in früheren Semestern oft das Verfahren gewählt, am Ende des Semesters die Grundthemen, Motive noch einmal anklingen zu lassen und gewissermaßen eine Conclusio, eine Art Zusammenfassung zu bringen. Das mache ich heute nicht. Ich werde, wie ich Ihnen das schon angekündigt habe, ein eigenständiges Thema behandeln, das natürlich vielfältige Bezüge hat zu den anderen Themen. Aber ich gebe nicht eine conclusio-artige, thesenartige Zusammenfassung unserer bisherigen Abende hier über dieses Thema.

Ich habe das heute Abend genannt, aus guten Gründen: „Der neue Bund von Mensch und Pflanze“ als Hauptzeile und dann im Untertitel: „Wie können wir uns den Pflanzen geomantisch, tiefenökologisch und existenziell neu verbinden?“ Geomantie ist eine Strömung, die alt ist in der Menschheitsgeschichte, die in den letzten Jahren zunächst einmal über China, Feng Shui und so weiter eine gewisse Popularität erlangt hat. Sie wissen vielleicht, im deutschen Sprachraum gibt es mittlerweile seit drei Jahren diese Zeitschrift, wo ich auch mitarbeite, „Hagia Chora ‒ Zeitschrift für Geomantie“, die Internet-Freaks können auch nachschauen, www.geomantie.net, und dazu mehr. Dann habe ich Ihnen gesagt, dass ich den Fokus legen wollte auf die Frage einer möglichen Wiedervereinigung, Zusammenführung, Verschmelzung des Natürlichen und des Heiligen. Die Frage der Sakralität, die ja eine zentrale Frage ist für unser Thema, auch zu tun hat mit der Frage des Bewusstseins der Pflanzen, auch zu tun hat mit der Frage der Orte, der Plätze, der Erde überhaupt, der Frage der Resakralisierung, die ja in der tiefenökologischen Diskussion, sagen wir mal seit 10, 12, maximal 15 Jahren auch vielfältig behandelt wird, auf ganz unterschiedliche Weise. Ich bin auf die Formulierung „Der neue Bund von Mensch und Pflanze“ durch das Buch von Wolf-Dieter Storl gekommen, „Pflanzen-Devas“. Ich will Ihnen mal diese Passage vorlesen, die mir die Anregung zu dieser Themen-Formulierung gegeben hat. Das ist im Literaturverzeichnis drin, Wolf-Dieter Storl, „Pflanzen-Devas“, 1997 erschienen in der ersten Auflage, mittlerweile gibt es eine neue Auflage, da ist der Titel ein bisschen geändert, darüber habe ich gesprochen. Auf den letzten drei Seiten dieses interessanten Buches, das ich ja schon mehrfach herangezogen habe, heißt es: „Nachwort ‒ der schlimmste Krieg aller Zeiten“. Und jetzt taucht dieser Begriff hier auf. Ich lese mal einige Sätze hieraus vor, und Sie sehen daraus, wo die Quelle ist,dieses Begriffs, in diesem Kontext:

„Lautlos sind sie gegangen, die Ulmen. Die Tannen im hohen Erzgebirge, unter denen bunt gekleidete Skisportler Slalom fahren, sie sehen aus wie riesige Fischgräten. Unsere Wiesen und Felder sind eintönig grün, die blühenden Wildpflanzen verschwinden. Gifte, zynisch Pflanzenschutzmittel genannt, haben die Schmetterlinge, Bienen und Hummeln dezimiert, welche die farbenfrohen Freudenbringer zu ihrer Bestäubung brauchen. Flammen und Motorsägen machen jedes Jahr 200’000 Quadratkilometer Tropenwald nieder, eine Fläche dreimal so groß wie Bayern. Die Tiergeister und Pflanzendevas ziehen sich aus der Welt der Erscheinung zurück. Ernst Jünger drückt es einmal deutlich in einem Interview aus: ,Unser Verstand kann das Ausmaß dieses Geschehens gar nicht begreifen. Es lässt sich nicht in die gängigen Modelle und Kategorien einordnen, was über die Erde, über Midgard hereinbricht, sind mythologische, archetypische Gewalten. In die Tiefe verbannte titanische Mächte erheben sich, brechen aus, bekriegen und vertreiben die Götter, Devas. Chthonische Drachen, die Midgard-Schlange speit Feuer und Giftrauch über das Land. Diese Bilder aus uralten Mythen sind voller Aktualität. Es ist wirklich wahr, wir leben in Zeiten, in denen die in den Tiefen der Erde und im Kern der Materie gebündelten Gewalten von Leichtsinnigen oder sollen wir sagen titanisch besessenen Zauberlehrlingen entfesselt werden. Milliarden Tonnen Erdöl, Gajas Blut aus chthonischen Tiefen gepumpt und verbrannt, verpestet unsere Luft, erhitzt unsere Atmosphäre. Metalle, Schwermetalle, von roboterartigen Maschinen aus dem Bauch der Erde gerissen, nehmen Gestalt an, stampfen über den Boden, fliegen durch die Luft, umkreisen den Planeten, schleichen sich in die Nahrungskette, bohren sich in unsere Zähne. Energie aus zerfallender, zersplitterter Materie, treibt Mega-Maschinen, befeuert künstliche Intelligenz und verfängt Millionen von Menschen in die Gaukelwelten einer virtuellen Realität.’“ Und dann, am Ende heißt es hier, und jetzt taucht dieser Begriff auf: „Diese Bilder aus alter Weisheitstradition sollten uns Mut geben. Devas sind ewige Archetypen.“ Nicht, darüber habe ich öfters gesprochen. Storl ist ja der Überzeugung, dass Pflanzen-Devas makrokosmische Wesenheiten sind, die sich nur in ihrer äußersten Emanation auf der Erde überhaupt inkarnieren, Wesenheiten, die auch der menschlichen Intelligenz überlegen sind, so glaubt er. „Auch wenn sie in diesem Weltenwinter die Blümlein an Frost zu schwinden scheinen, tragen wir sie dennoch in unserem Herzen als Samenkräfte einem neuen Frühling entgegen.“ Der Weltenwinter ‒ das klingt natürlich auch an an den epochalen Winter des Schweizer Psychiaters Padrut. Er spricht ja im Zusammenhang mit der „Winterreise“ von Schubert vom epochalen Winter, so heißt eines seiner Bücher. „Es ist notwendig, uns von der titanischen Illusion zu befreien, die uns verkennen lässt, dass jede Pflanze Ausdruck “ ‒ Storl ganz dezidiert ‒ „eines Engelwesens einer göttlichen Persönlichkeit ist. Die Pflanzen-Devas rufen uns zu, sie wollen uns wachrütteln, sie wollen mit uns einen neuen Bund eingehen, sie wollen blühen und grünen, damit diese Erde wieder ein glücklicher, froher Ort wird. Denn in ihnen sind noch ungeahnte Möglichkeiten verborgen, neue Nahrungsmittel, Genussmittel, Heilmittel für Körper, Geist und Seele.“

Man mag jetzt das Pathos dieser Sätze bekritteln oder mag sich davon distanzieren wollen. Das spielt jetzt keine Rolle. Die Sache selber ist ziemlich deutlich, das greife ich auch auf. Auch wenn man diese These von den Devas als makrokosmischen Wesenheiten im Sinne von Storl und anderen so nicht akzeptieren muss, das ist auch gar nicht erforderlich für unseren Kontext.

Worum es mir geht jetzt, ist den Versuch zu machen, Ihnen zu erläutern, dass eine Wiederverwendung in diesem Sinne eine neue Verbindung, ein neuer Bund zwischen Mensch und Pflanze, damit auch zwischen Mensch und Natur, überhaupt zwischen Mensch und Erde, Gaia, Demeter nur möglich ist auf der Ebene der lebendigen Erfahrung. Das kann nicht sein eine ideologische Ebene, das kann nicht sein ein Postulat, das kann man nicht postulieren. Man kann nicht im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant sagen, das sollte so sein. Das ist keine moralische Forderung, die man legitimerweise in die Welt stellen könnte mit der Maßgabe, dass sie nun fürderhin befolgt werden sollte. Das ist so schlechterdings nicht möglich. Man kann aber bestimmte Impulse setzen oder geben, die möglicherweise dazu angetan sind, dass einige Einzelne, von mir aus auch Gruppen sukzessive in mittelfristigen, längeren oder größeren Zeiträumen dann auch in die Lage versetzt werden, diese neue Verbindung zu leisten und damit auch diese kollektive Neurose, von der ich so oft spreche, zu überwinden. Oder die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose, wie das Gottfried Benn sehr schön genannt hat, 1943. Also darum geht es hier, es geht um einige Impulse in dieser Richtung.

Es geht nicht um ein moralisches Postulat, und es geht schon gar nicht um ein Postulat, von dem man annehmen könnte, dass es in irgendeiner Form politisch mehrheitsfähig wäre. Das ist es nicht. Diese Illusion muss man sich einfach gar nicht machen. Immer wenn ich hier zu meinen Vorlesungen gehe, seit vielen Jahren gehe ich hier „Unter den Linden“ [Straße vor dem Gebäude der Humboldt Universität Berlin] entlang, dann denke ich jedes Mal, was ich hier sage im Saal ist so vollkommen abseits, so vollkommen getrennt von dem, was hier die großen Paukenschläger der Gegenwart in Technik, Wissenschaft und Medien usw. hier verkünden. Das wird mich nicht abhalten, das zu tun, hat mich nicht abgehalten das zu tun und wird mich auch in Zukunft nicht abhalten. Das muss man einfach wissen. Das ist eine bestimmte Art von seelisch-geistiger Sezession, die hier von mir initiiert wird. Gut. ‒

Was ist dieses Heilige, das Sakrale? Ein ganz schwieriger, belasteter Begriff, wie wir wissen, tausendfach missbraucht, so dass man fast schon Probleme hat, wenn man den Begriff überhaupt anführt. Was soll das denn sein? Die Sakralität eines Ortes? Die Sakralität einer Pflanze? Ist das nicht ein altes Denken was das Bewusstsein auf unserer kollektiven Stufe, aber auch auf der individuellen Stufe, längst überwunden hat? Ja und nein. Ich will Ihnen mal einige Thesen hier vorlesen, die ich in meinen Aufzeichnungen entdeckt habe. Ich habe vor viereinhalb Jahren mal einige Überlegungen aufgeschrieben zum sogenannten Sakralen oder Heiligen. Ich lese Ihnen das mal zu Beginn vor. Das können Sie vielleicht ein bisschen im Bewusstsein behalten, wenn wir dann der Frage nachgehen, wie man das Heilige, das Sakrale, von mir aus auch das Numinose, wie immer man das nun nennt, und das Natürliche zusammenschließen [kann oder könnte]. Also: „Vom Heiligen ‒ Überlegungen, Fragen, Aspekte“, habe ich damals aufgeschrieben. Das sind 14 Thesen, 19 Thesen, ich will nur einige Ihnen vorlesen, damit Sie sehen, wie man das denken kann.

„Was ist das eigentlich? Das so genannte Heilige? Was unterscheidet es vom Profanen, Alltäglichen, Gewohnten oder Gewöhnlichen?“ Und das ist ja schwierig. „Das Heilige ist immer auch das Geheimnisvolle, das Rätselhafte, das Undurchdringliche. Das Heilige entzieht sich dem rationalen Zugriff. Aber es ist nicht nur geheimnisvoll und rätselhaft undurchdringlich. Es ist auch mächtig. Das Heilige hat Macht von alters her. Es lebt aus der Macht des sehr Alten. Das Heilige kann und darf nie neu sein.“ Erste These. Also das Heilige lebt aus der Kraft des sehr Alten. „Was unterscheidet das falsch Heilige, das schlechte Heilige, siehe Hegels schlechte Unendlichkeit vom wirklich Heiligen, wenn es das geben sollte, vom authentisch Heiligen? Mache ich etwas individuell und kollektiv kulturell zum Heiligen? Sakralisiere ich ein Etwas?“ Das wäre dann eine Art Projektion, psychologisch gesprochen. Oder ist das Heilige ein Sein in eigener Kraft? Das ist ja etwas vollkommen anderes. Kommt mir da etwas aus dem Sein der Dinge selber entgegen, mit dem ich in Resonanz trete? Oder projiziere ich anthropomorph etwas in die Dinge hinein, etwa in die Pflanzen hinein? Könnte man ja sagen, der Bios, [das] Bioswesen wird anthropomorph aufgeladen mit einer quasi göttlichen sakralen Potenz. „Gibt es das Heilige oder schaffen wir das Heilige? Oder gilt beides zugleich? Wir geben, wir weisen zu, wir projizieren, und zugleich entbirgt sich das Heilige in eigenster der Substanz.“ Dritte Überlegung. „Das Heilige muss das Seltene sein, das Herausgehobene, das Singuläre. Es darf nicht zu häufig, es darf nicht überall sein.“ Das ist wichtig. Es darf nicht überall sein. Ich sage das deswegen, weil ich vor einigen Tagen einen Essay gelesen habe von der berühmten Matriarchats-Forscherin Heide Göttner-Abendroth, hier aus diesem Band „Hagia Chora“, wo sie die These aufstellt, dass in den von ihr unterstellten matriarchalen Kulturen eben grundsätzlich keine Trennung existiert habe zwischen dem Sakralen und dem Profanen. Alles war gewissermaßen sakral, könnte man auch sagen, alles war in gewisser Weise profan und sakral gleichzeitig. Als erstes Grundprinzip gilt, schreibt Heide Göttner-Abendroth, ja bekannt geworden durch ihr Buch „Die Göttin und ihr Heros“, seit Jahrzehnten ja auf diesem Sektor tätig: „Denn es ist in matriarchalen Gesellschaften keine Trennung zwischen Sakralem und Profanem. Das kennzeichnet diese Kulturform als durchgängig spirituell. Daher lassen sich, ohne etwas über matriarchale Spiritualität zu wissen, weder ihre weltanschaulichen noch ihre politischen, sozialen oder ökonomischen Muster verstehen.“ Und so weiter. Also, ich vertrete demgegenüber die These, dass das Heilige das Seltene sein muss, nach Heide Göttner-Abendroth wahrscheinlich eine typisch patriarchale These.

Viertens. „Gibt es nun das falsch Heilige? In gewisser Weise ja. Es gibt das angemaßt Heilige, die heilige Gebärde, die imperiale Gebärde heiliger Macht, des Heiligen Krieges, der heiligen Drohung. Auch das Hakenkreuz war heilig. Dem Führer galt das Heil. Das Heilige kann gesetzt werden, doch nicht vollständig. Das Falschgeld gibt es nur, weil es echtes Geld gibt, sagt sinngemäß Rumi. Wir statten das Falsche und Angemaßte mit den Attributen des echt Heiligen aus. Wir verleihen ihm die Aura der wirklich sakralen Würde. So gesehen stiften wir das Heilige.“

Fünf. „Ohne das Heilige kann es keine Spiritualität geben. Wahrscheinlich bedarf der Mensch des Sakralen. Er bedarf des Wirklichen, des eigentlichen, des gemeinten Menschen, des ganzen, des vollständigen Menschen. Er bedarf dieses hohen Bildes, um nicht unterzugehen im Meer der Bruchstücke, Treibgut der zerschmetterten und verratenen Ganzheit.“ Das erleben wir ja. Wir sehen ja überall die Fragmente, wir sehen das Treibgut der zerschmetterten und verratenen Ganzheit nun wahrlich überall. „Der Mensch ersehnt das Heil, das Heile, das Ganze, das Heilige als das Heilende. Das Fragment ersehnt die Ganzheit. Das Heilige ist oft, nicht immer, auch das berühmte Schöne, Gute und Wahre“, dieser neuplatonischen Trias. „Es ist die Manifestation dieser Trias, aber es manifestiert sich, indem es sich verbirgt. Es zeigt sich, indem es sich verschließt. Es enthüllt sich, indem es sich zurückzieht. Es zieht an und stößt doch ewig ab, so reißt sein Zauber nie ab.“ Das ist das, was ich ja immer wieder auch gesagt habe in dieser Vorlesungsreihe, dass die Natur auf eine rätselhafte Weise sich verbirgt und entbirgt, im Goetheschen Sinne geheimnisvoll offenbar ist.

Ich stieß heute beim Durchblättern einiger Bücher auf ein wunderbares kleines Goethe-Gedicht, was ich hier anführen möchte, was im Zusammenhang mit der Metamorphose der Pflanzen steht. Da heißt es in diesem Sechszeiler von Goethe:

„Müsset im Naturbetrachten

immer eins wie alles achten.

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen.“

‒ Nichts ist nur drinnen, nur draußen ‒

„Denn was innen, das ist außen,

so ergreifet ohne Säumnis

heilig öffentlich Geheimnis.“

Wunderbar gesagt, heilig-öffentlich Geheimnis. Das trifft auch für die Natur, das trifft für die Pflanzen zu, sind ein heilig-öffentliches Geheimnis.

Acht. „Das Heilige kommt aus den Zonen des Todes. Es sendet ein Licht, das von drüben kommt. Sakralität ist Todesnähe. Das Heilige wird als groß empfunden. Es kann dich zerstrahlen, wenn du kein Widerpart sein kannst, wenn es zu groß ist für deine Kleinheit.“

Neun. „Das Heilige liegt nah am Dämonischen. In seinen letzten Ausläufern pendelt es zwischen dem Lächerlichen und dem Teuflischen. Der Teufel ist der Großmeister der falschen Heiligkeit. Das Heilige ist nicht denkbar ohne das Göttliche, ohne die Götter. Gibt es die Götter, gibt es das Göttliche, muss es auch das Heilige geben, vielleicht auch die Heiligen im Sinne von die ganzen, die vollständigen, die geglückten Menschen. Nietzsches Kritik am Typus des Heiligen ist gerechtfertigt dort, wo das falsch Heilige berührt wird. Beim wirklich Heiligen greift sie fehl.“

Zwölf. „Das Heilige droht und tröstet zugleich. Es verheißt und es verdammt. Es sendet, und es hüllt sich in undurchdringliches Schweigen. Es will nicht erkannt und geschaut werden, und will doch und zugleich gerade dies und nur dies.“

Und dann der Schluss. „Die Natur als heilig zu nehmen, einfach so, und in dem bekannten Sinne, also die Natur da draußen, führt nicht weiter, weil dann das Heilige auf eine falsche Weise in die Welt ausgegossen wird. Derart büßt das Heilige sein Tremendum ein, und ohne Tremendum ist das Heilige das, was ohnehin der Fall ist, also das Profane oder eben ein Tummelplatz des Unverbindlichen. Das Heilige ist selten und fern und verbindlich. Es duldet keine ironische Distanz. Es will dich ganz. Es will ich in Gänze durchwalten. Es will dich transformieren und beherrschen. ,Hüte dich wohl. Es ist schon spät. Es ist schon kalt. Kommst nimmer mehr aus diesem Wald‘, singt die Hexe Lorelei in dem berühmten Heine-Gedicht, das Schumann vertont hat. So ist das Heilige stets gefährlich und niemals harmlos. Wer das Harmlose will, weiß nichts vom Heiligen. Harmlos ist das Unverbindliche, und gerade das ist das Heilige nicht.“ Und so weiter. ‒

Also, einige Überlegungen vor viereinhalb Jahren von mir einmal aufgeschrieben über das Heilige. Das kann man ein bisschen jetzt im Bewusstsein behalten.

Die Frage nach dem heiligen Ort im Zusammenhang mit den heiligen Pflanzen ist uns ja bei Eleusis begegnet. Und dieses Heft hier hat das Thema „Archäologie des Unsichtbaren“. Es geht der Frage, unter anderem der Frage nach, ob bestimmte Plätze, die in vergangener Zeit eine Sakralität hatten, die Weihestätten waren, etwa Eleusis in der Bucht von Salamis, auch heute noch etwas davon spiegeln oder atmen oder manifestieren. Da gibt es etwa einen Essay von einem gewissen Robert Wallace, einem Archäologie-Professor, ein Engländer, „Wem gehören die heiligen Orte? Neo-Schamanismus als Herausforderung für die Archäologie“. Also was heißt das? Der Demeter-Kult existiert nicht mehr, seit 17, 1800 Jahren, vielleicht auch etwas weniger lang. Was heißt das? Bedeutet das, dass der Ort Eleusis, Elefsina, heute 22 Kilometer von Athen entfernt, endgültig entsakralisiert ist? Oder gibt es die Möglichkeit, an dieser Stelle anzuknüpfen an eine alte, an eine sehr alte Sakralität im Sinne dieser Weihestätte. Sheldrake zum Beispiel, in mehreren seiner Bücher, behauptet das mit einigen Gründen. Er bringt das in Zusammenhang mit seiner These von der morphischen Resonanz. Er meint tatsächlich, dass Orte dieser Art in gewisser Weise in eine Resonanz treten können mit ihrer eigenen Vergangenheit. Dass also auch viele Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende nach der lebendigen Wirklichkeit solcher Kulte etwas noch in dem Feld vorhanden ist, in der Aura, wenn man will, in einem lebendigen Ganzen, das quasi eingespeist ist. Sehr schwer diese Frage, die wird in diesem Heft hier auch ventiliert: „Archäologie des Unsichtbaren“. Was kann der Archäologe davon möglicherweise mitbekommen?

Die Frage einer Wiederanknüpfung an die Sakralität der Erde habe ich in verschiedenen Zusammenhängen dargestellt.


(Sie kommen, mich stört das nicht. Ich kann das ganz gerne auch hören, mit halbem Ohr sozusagen. Das höre ich gerne, das beschwingt mich eher.)

Also, in dem Buch „Was die Erde will“ zum Beispiel gibt es ein Kapitel, das beschäftigt sich mit dem Thema Spiritualität, Tiefenökologie und Bewusstseinsforschung. Die Herausforderung transpersonaler Erfahrung, und da gibt es einen Unterabschnitt mit dem Titel „Die Grenzerfahrungen und das Heilige“, was genau dieses Thema berührt einer möglichen Re-Sakralisierung oder Re-Integration der menschlichen Wesenheit mit Pflanzen, mit der Intelligenz der Demeter. Denn das gehört zusammen. Das habe ich ja Ihnen versucht zu verdeutlichen mit meiner Vorstellung vom Pflanzen-Selbst, das behaupte ich ja, es gibt ein Pflanzen-Selbst im Menschen, dass diese Verbindung in gewisser Weise herstellt, diesen Kontakt auf eine lebendige Weise tatsächlich ermöglicht. Das ist keine Theorie, keine abstrakte, postulierte, keine abstrakte philosophische Idee, sondern es ist eine existenzielle Wirklichkeit.

Die Grenzerfahrung, das Heilige. „Von dem Heiligen war bereits im Zusammenhang mit den heiligen Bergen und ihrer geomantischen Bedeutung die Rede. Und zweifellos ist die Frage einer möglichen Re-Sakralisierung, Wieder-Heiligung der Erde, für eine tiefenökologische Perspektive von zentraler Wichtigkeit.“ Das kann man schlechterdings nicht leugnen, dass das so ist. „Ohne einen gewissen Grad an Re-Sakralisierung wird es nicht möglich sein, Landschaften, Tiere, Pflanzen, von mir aus auch Ökosysteme vor dem brutalen Zugriff der Megamaschine zu bewahren“, der ja existiert. Ich habe das hier auf dem Bahro-Kongress vorgestern noch einmal ganz dezidiert gesagt, die ökologische Krise gibt es, auch wenn man nicht ständig von ihr redet und viele meinen, sie existiert nun gar nicht, das ist also eine Täuschung. Sie existiert wirklich, und die Megamaschine existiert auch wirklich und die Erde wird wirklich zerstört, das ist kein Phantasiegebilde, auch wenn man nicht mehr gerne davon spricht. „Es geht umfassend um Kommunikation und, ja auch das, Kommunion mit der Erde, die damit zur Erde, zu Demeter wird. Und das Kardinalproblem besteht heute und in der näheren Zukunft darin, wie sich eine echte Verbindlichkeit in der Verbindung mit der Erde herstellen lässt. Dass sie nicht verordnet werden kann, ist evident.“ Das kann man nicht, kann man ja nicht verordnen, „Du sollst“, im Sinne eines Postulats, die Pflanzen sakralisieren. Das hab ich vorhin schon angedeutet, das wäre geradezu absurd. „Das Heilige in der Natur wird wahrgenommen oder eben nicht wahrgenommen. Es hat eine kulturell gewachsene Präsenz oder eben nicht.“ Hier muss man natürlich sagen, das sage ich hier zum ersten Mal in dieser Vorlesung im Sommersemester, dass alle diese Fragen selbstverständlich immer eine starke sozial-ökologische Dimension haben, überhaupt eine soziale Dimension, natürlich auch eine strukturelle, eine institutionelle, eine politische Dimension. Das ist doch ganz klar, auch wenn diese Dinge nicht ständig von mir erwähnt werden. Das ist nicht im Belieben des hier Einzelnen gestellt. Das hat aufs Ganze der Wirkenden immer auch eine sozial-ökologische Komponente. Der eleusinische Demeter-Kult in der Antike war auch ein sozial-ökologisches Phänomen. Es wurde nicht deswegen über Jahrtausende, über anderthalb tausend Jahre praktiziert, weil das eine tiefe Erfahrung für Einzelne war, das war auch eine soziale Verbindung, die immer wieder neu hergestellt wurde, sonst hätte sich der Kult gar nicht halten können.

Also, „es hat eine kulturell gewachsene Präsenz oder eben nicht. Verbindlichkeit kann sich nur durch Erfahrung herstellen. Und da helfen zum Beispiel Rituale, geomantische, an alte spirituelle Traditionen anknüpfende, diese aber zugleich überschreitende Gemeinschaftsübungen. Ralph Abraham, ein kalifornischer Mathematiker, der sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt hat, sagt, und dem möchte ich im Grunde zustimmen. Zitat Ralf Abraham: ,Ich glaube, das Wichtigste, was wir tun müssen, um die Welt zu retten oder wenigstens um Hoffnung in dieser Richtung haben zu können, ist die Neu-Anknüpfung an das Heilige. Der fallen gelassene Faden dieser Verbindung muss für einen größeren Teil der Menschheit wieder aufgenommen werden. Dieses Programm nenne ich, sagt Abraham, die Wiederheiligung der Erde.‘

Soweit ich weiß, gibt es nur wenige Vorschläge zu direktem Handeln in dieser Richtung.“ Jetzt entscheidend. „ ,Der Kernpunkt‘, immer noch Abraham, ,ist eine tatsächliche Verbindung mit dem Heiligen. Ich glaube nicht, dass wir eine archaische Erneuerung bekommen, indem wir einfach zurückgehen.’“ Von der archaischen Erneuerung spricht zum Beispiel der vor zwei Jahren verstorbene Neo-Schamane und Psychologe Terence McKenna, der in Hawai gelebt hat. Also „,ich glaube nicht, dass wir eine archaische Erneuerung bekommen, indem wir einfach zurückgehen. Wir müssen unsere Archäologie des Wissens zu dem Punkt treiben, wo wir das Wesen dessen begreifen, was damals geschah und es dann in moderne Formen umsetzen.’“ Also nicht einfach eine Wiederanknüpfung, eine Wiederauflage alter Kulte, etwa alter Mysterienkulte, die ganze Frage nach einem neuen Eleusis. Das kann so nicht gehen. Das kann auch nur zu einem Programm werden, das scheitern muss in dieser Form. Zitat Ende.

„Wir müssen, um die Formel von Sloterdijk aufzugreifen, einen ritualisierten Grenzverkehr mit der Erde ins Werk setzen. Ein Grenzverkehr, der ja ein sinnlicher, physischer und ein übersinnlicher, metaphysischer zugleich ist. Ohne Gaia bleibt auch Demeter stumm oder unsichtbar. Wir brauchen so etwas wie einen neuen Demeter-Kult, und der ist nicht im Handstreichverfahren zu gewinnen. Und es ist schon schwierig, auch nur [in] die Nähe dieser Möglichkeit zu gelangen. Zu schwer lastet noch immer auf uns allen, was Gottfried Benn als zentrales Verhängnis bezeichnet hat, die Trennung zwischen Ich und Welt, die schizoide Katastrophe und damit das fortgesetzte Ringen um den Begriff Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die sich eben nicht mehr von selbst versteht, die abhanden gekommen ist.“ Das muss man in aller Schärfe und schmerzlichen Schärfe sagen: Es geht wirklich um eine, um die oder eine Wiedergewinnung, eine Wiedereinführung auch an die Wirklichkeit. Das ist einer der schwierigsten Begriffe überhaupt. Was ist Wirklichkeit?

Wie können wir überhaupt wirklich werden, wo wir offenbar uns so in eine Unwirklichkeit hineinmanövriert haben … „die abhanden gekommen ist oder in der wir Fremde geworden sind, Outcasts, heimatlose Zigeuner, Winterreisende. Die ökologische Krise ist ein überwältigender Ausdruck von Wirklichkeitsverlust. Den epochalen Winter ‒ Padrut ‒ kann man nicht einfach an einen alten, längst erloschenen Kult in neuer Form auf neuer Ebene anknüpfen, auch nicht mit Psychedelika, wie Terence McKenna meint. Gleichwohl gibt es hier einen machtvollen Impuls, der nur noch keine kulturell verbindliche und überzeugende Gestalt gefunden hat.“ Das glaube ich. Es gibt diesen Impuls und darauf vertraue ich auch. Sonst wäre es ein müßiges Reden ohne dieses Vertrauen. „Ohne Eleusis, ohne den eleusinischen Demeter-Kult und zwar in seiner Substanz jenseits der konkreten Form im antiken Griechenland wird es nicht möglich sein, die integrale Tiefenökologie sozial zu verankern, ihr eine soziale Form zu verleihen.“ Das habe ich Ihnen ja dargestellt, dass der Demeter-Kult auf eine einzigartige, menschheitsgeschichtlich einzigartige Weise die Verbindung hergestellt hat zwischen einem Mutter-Mysterium, einem Erdmutter-Mysterium in Verbindung mit dem Kreislauf der Pflanzen am Beispiel des Korns ‒ und einer Initiation, dem ständig aufs Neue, Jahr für Jahr aufs Neue verwirklichten Durchgang durch die Todesschwelle, durch ein Todeserlebnis. Das berichten ja, oder es wird ja von den Initianden berichtet, ohne dass wir im Einzelnen wissen, was passiert war. Wir haben über diese Fragen ja gesprochen, ob in Eleusis möglicherweise eine psychotrope Substanz verwendet wurde. Wir wissen es nicht. Keiner weiß das, aber eine Möglichkeit zumindest besteht. Dass es sich so verhalten hat. „Psychoaktive Substanzen als Reagenzien des Heiligen ‒ Sloterdijk ‒ das bedarf der näheren Bestimmung. Es ist schwierig, in einer weitgehend hysterisierten Öffentlichkeit der schlichten Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass bestimmte psychoaktive Substanzen, Psychdelika, auch heute noch in der Lage sind, Bewusstseinszustände zu induzieren, die eine echte Erfahrung des Sakralen ermöglichen.“ Eine zentrale These des Buches „Die Speisen der Götter“ von Terence McKenna, das auch im Literaturverzeichnis angegebenen ist.

Gut, ich will jetzt auf Terence McKenna eingehen. Ich habe noch mal sehr gründlich mir dieses Buch „Die Speisen der Götter“ angeschaut für diese Vorlesung und will da anknüpfen. Terence McKenna hat in diesem interessanten Buch, das vor zehn Jahren erschienen ist, den Versuch gemacht, genau dies, was ich hier als Thema formuliert habe, in den Mittelpunkt zu stellen, nämlich folgende Frage: Welche Möglichkeiten gibt es für den Menschen heute, auf eine authentische Weise, sich wieder den Pflanzen zu verbinden und damit, und dem stimme ich vom Wort her zumindest zu, und damit auch zu verbinden mit der Intelligenz der Erde, mit der Intelligenz von Gaia. Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, ist schon immer wieder angeklungen. Denken Sie an meine Überlegungen und Aussagen zur Phänomenologie, nicht, zur denkenden Anschauung im Sinne von Goethe, die bei McKenna überhaupt keine Rolle spielt. Nicht, das scheint ihn gar nicht zu interessieren, was eine Schwäche dieses Buches ist. Aber das soll uns nicht daran hindern, trotzdem auch die Stärken einmal zu betrachten.

Wir haben ja im Zusammenhang mit den psychoaktiven Pflanzen vor einer Woche die Frage auch gestellt: Wie ist es möglich, dass bestimmte Pflanzen in der menschlichen Psyche solche unglaublichen Auswirkungen haben können? Also wie ist es möglich, dass dramatische, dass Bewusstsein überflutende, überwältigende Vorstellungen, Imaginationen und Durchbrüche passieren? Das wissen wir nicht. Das weiß niemand. Auch Albert Hofmann, der große Chemiker, und auch Richard Schultes, der Ethno-Botaniker, sie sagen, andere sagen es auch, es ist ein Mysterium. Wenn man chemisch das analysieren kann, herausdestillieren kann, das kann man ja mittlerweile, das bleibt trotzdem das Mysterium. Letztlich weiß niemand, warum das so ist. Es ist eine Frage, die wahrscheinlich zu tun hat mit den Tiefen der kosmischen Entwicklung überhaupt. Aber letztlich ist es unbekannt. „Die Verwendung von Pflanzen“, schreibt Terence McKenna in dem Buch „Die Speisen der Götter“ „wie die oben beschriebenen, wird uns helfen, das kostbare Geschenk einer Partnerschaft mit Pflanzen zu verstehen, das zu Beginn der Zeit verlorenging. Viele Menschen sehnen sich danach, an diese Tatsache über ihre wahre Identität herangeführt zu werden. Diese grundlegende Identität ist es auch, die von einer halluzinogenen, psychoaktiven Pflanze deutlich angesprochen wird. Die eigene wahre Identität nicht zu kennen, bedeutet, ein sich wie wahnsinnig gebärdendes, seiner Seele beraubtes Ding zu sein, ein Golem.“ Das ist nun sehr scharf und radikal formuliert, aber kaum ernsthaft zu entkräften.

Ohne ein Verständnis der eigenen Identität ist man eigentlich ein Ding, ein an der Seele beraubtes Ding, ein Golem. „Und tatsächlich lässt sich dieses Bild, so widerlich es auch nach Orwell klingt, auf die Masse der Menschen anwenden, die heute in den hochtechnisierten industriellen Demokratien leben. Ihre Authentizität besteht aus ihrer Fähigkeit, die durch die Medien vermittelten Veränderungen im Lebensstil der Masse zu befolgen und mitzumachen, von minderwertiger Nahrung und dem Müll aus den Medien überschüttet, eingebettet in die politischen Machenschaften verkappter Faschisten, sind sie dazu verdammt, ein vergiftetes Leben mit geringer Bewusstheit zu führen.“ Ja, nun wollen wir mal den McKenna dann auch so zu Wort kommen lassen. „Durch den ihm täglich verordneten Schuss einer Dosis Fernsehen ruhig gestellt, sind sie lebende Tote, die außer zum Akt des Konsums zu nichts mehr fähig sind.“ Das mag sehr radikal klingen. Niemand wird ernsthaft leugnen, dass ein Gran Wahrheit da drin steckt. Man kann es noch radikaler übrigens formulieren, als es McKenna macht. Es ist auch gut, dass man mal die Dinge so in dieser Radikalität betrachtet, weil, das muss man, weil man sonst sich des Zugangs oder des Verständnisses [ver-]/be-gibt, wie überhaupt diese Zugänge möglich sind. Es ist ja nicht so, dass diese Zugänge einfach so gegeben sind. Das sage ich ja auch immer wieder. Es ist ja nicht so, dass man einfach einen reinen, einen unverfälschten, einen nicht kontaminierten Zugang haben könnte, eröffnen könnte, einfach so, das geht nicht. Wir alle sind Erben einer langen Bewusstseinstradition und müssen auch mittels des Denkens, mittels der intensiven geistigen Beschäftigung diese eigenen Voraussetzungen versuchen zu verstehen, in das Dickicht der eigenen Voraussetzungen eintauchen. Dabei bleibe ich, das habe ich immer wieder gesagt. Das muss ich auch immer wieder sagen, um einer Illusion nicht aufzusitzen, als ob das einfach wäre, als ob man das eben so mal realisieren könnte.

„Es ist für uns an der Zeit, in einen Dialog zu treten, der auf einer objektiven Einschätzung dessen beruht, was unsere Kultur tut und bedeutet. Noch weitere 100 Jahre so zu tun, als wäre alles in Ordnung, ist undenkbar. Dogmen und Ideologien sind überholt. Ihre bösartigen Annahmen erlauben uns, die Augen vor unserer abscheulichen Destruktivität zu verschließen und selbst jene Ressourcen zu plündern, die eigentlich unseren Kindern und Enkeln gehören. Unsere Spielzeuge belügen uns nicht. Unsere Religionen sind nicht viel mehr als Wahnvorstellung. Unsere politischen Systeme sind ein groteskes Nachäffen dessen, was wir ursprünglich damit beabsichtigten. Hilfe aus der Natur bedeutet zu erkennen, dass religiöser Impuls nicht durch ein Ritual und noch weniger durch ein Dogma befriedigt wird, sondern vielmehr durch“ ‒ jetzt seine These ‒ „fundamentale Erfahrung, die Erfahrung der tiefen Symbiose mit psychoaktiven Pflanzen und anderen und dass durch sie das Erlebnis einer Symbiose mit der Gesamtheit planetarischen Lebens.“

Das ist nun seine sehr radikale, vollkommen kompromisslos hingestellte These, dass die ritualisierte Neubelebung psychoaktiver Substanzen eine Möglichkeit wäre, sich der Intelligenz von Gaia auf neue Weise zu vergewissern, jenseits religiöser Überzeugungen. Das hat er kompromisslos und direkt vorgetragen. Das hat ihm natürlich viel Kritik eingetragen, als sei er nun ein Propagandist der Drogen. Das ist viel zu vereinfacht gesagt. Es geht bei ihm um einen ganz bestimmten Zugang, der nicht einfach zu benennen und schon gar nicht einfach zu praktizieren ist. „Nun müssen wir uns die gesuchte und gefundene Antwort ansehen. Vor uns flackert eine Dimension auf in diesen Erfahrungen, die so gewaltig ist, dass sich ihre Umrisse kaum noch im menschlichen Koordinatensystem fassen lassen. Unsere tierhafte Existenz, unsere planetarische Existenz geht ihrem Ende entgegen.“ Das glaubt er, nicht, das hat er immer wieder gesagt, er glaubt, dass das nicht mehr lange weitergehen kann. „In geologischen Zeiträumen gerechnet ist dieses Ende jetzt nur noch wenige Augenblicke entfernt. Unsere Zukunft liegt im Bereich des Geistes. Die einzige Hoffnung unseres erschöpften Planeten auf ein Überleben besteht darin, dass wir uns in diesem Geist wiederfinden und aus ihm einen Freund machen … werden lassen, der uns wieder mit der Erde vereinigen kann. Es ist ein um ein Vielfaches größerer und radikalerer Wandel als je zuvor, steht uns unmittelbar ins Haus. Schamanen haben die Gnosis der Erreichbarkeit des Anderen über Jahrtausende hinweg bewahrt. Die Konsequenzen dieser Situation beginnen sich erst gerade zu entfalten.“

Also, er meint, dass es eine Möglichkeit gibt, über die Pflanzen, über die Verbindung mit ganz bestimmten psychoaktiven Pflanzen, eine elementare, eine existenzielle, eine wirkliche Verbindung mit Gaia zu erreichen. Ich sage es nochmal, Terence McKenna weiß nichts von einem denkenden Anschauen, Schauen im Sinne von Goethe. Diese Gedanken sind Ihnen viel zu, sagen wir mal, distanziert, nüchtern, wenn man das so nennen will. Aber, man kann diese Ansätze miteinander verbinden, und das ist ja auch etwas, was ich in dieser ganzen Vorlesungsreihe versucht habe, diese ganz verschiedenen Ansätze zusammenzuschließen. Synergetisch von mir aus, um ein wunderbares Modewort mal zu verwenden. (…)

… hier das genaue denkende Beobachten, wo auch immer wieder die Sakralität der Natur zum Tragen kommt. Das finden Sie in allen Goethe-Ausgaben der Gedichte, die berühmte Metamorphose der Pflanzen. Nur mal einige Zeilen hierzu:

„Dich verwirrt, Geliebte, die tausendfältige Mischung

des Blumengewühls über dem Garten umher.

Viele Namen hörest du an, und immer verdränget

mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr.

Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleicht der andern;

und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz.“

Und dann heißt es später:

„Und dem Reiz des Lichts, des heiligen, ewig bewegten

gleich den zartesten Bau keimender Blätter entfiel.“

Und das Licht hier als heilig, und dann sehr schön am Ende, denn man müsste eigentlich das ganze Gedicht vorlesen, interpretieren, das wäre eine eigene Vorlesung, das mache ich jetzt nicht. Wunderbares Gedicht.

„Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.

Jede Pflanze verkündet dir nun die ewgen Gesetze,

jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.

Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern“

‒ die Buchstaben der Göttin, sagt da der Goethe ‒

„Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.“

Also die Pflanzen, die Metamorphose der Pflanzen als eine Manifestation des geheimen Gesetzes der Dinge, der Göttin heilige Lettern, der Göttin heilige Buchstaben, ganz im Sinne dessen, des geheimnisvoll Offenbaren, wie das bei Goethe ja immer wieder zum Ausdruck kommt.

Bei dieser Frage der Beziehung zu den Pflanzen ist man immer an einem entscheidenden Punkt. Man kommt immer an einen entscheidenden Punkt, der auch schon verschiedentlich angeklungen ist. Man kommt nämlich immer an den Punkt der ontologischen Barriere zum Pflanzenreich, die es ja gibt, und man kommt an den Punkt der menschlichen Selbst- oder Ichhaftigkeit. Gibt es eine Möglichkeit, das habe ich ja verschiedentlich gefragt, eine Re-Sakralisierung, eine Re-Integration in die Intelligenz von Gaia, eine Wiederverbindung mit den Pflanzen ohne die Errungenschaft des Selbst, des Ich-Impulses aufzugeben? Das halte ich in der Tat für eine ganz große Errungenschaft der geistigen Entwicklung, der geistigen Evolution im Sinne auch von Ken Wilber, Spirit of Evolution, dass eine integrierte Ichhaftigkeit entstanden ist. Das ist nicht zu verwechseln mit dem verdünnten und pervertierten Ego des modernen Menschen, sondern das ist das Selbst, das Ich in der Tiefe. Und da liegt eine entscheidende Stelle. Das muss man immer mitbedenken, damit man nicht bei dieser Frage in einen, sagen wir mal, regressiven, in diesem Sinne dann neo-schamanischen, regressiven Schub hineinkommt.

Nochmal Terence McKenna, der an dieser Stelle zumindest sehr nahe kommt an diese Art von regressiven Schub, obwohl er dann auch wieder andere Äußerungen hat, wo er das zurücknimmt. Aber er kommt da sehr nah. Ich lese mal nur zwei Stellen vor, wo das ganz deutlich wird, dass er eine Bewusstseinsevolution in diesem Sinne nur mit großen Einschränkungen überhaupt akzeptiert. Er meint ja geradezu, man muss da anknüpfen und dann hätte man diese Re-Integration geleistet, was ich ja auf gar keinen Fall glaube, weil das einfach nach meiner Überzeugung eine pure Illusion ist. „Der weltweite Triumph westlicher Wertvorstellung bedeutet, dass wir uns als Spezies“, meint er, „wegen des Fehlens einer Verbindung zum Unbewussten in einem Zustand anhaltender Neurose verloren haben.“ Zugegeben, das ist so, auch er spricht von einer kollektiven Neurose. Wenn wir durch die Verwendung bestimmter psychoaktiver Pflanzen Zutritt zum Unbewussten erhalten, bekräftigt das unsere ursprüngliche Bindung an den lebendigen Planeten“, hebt also in diesem Sinne, meint McKenna, die Neurose auf. „Und zur Entfremdung von der Natur und vom Unbewussten verfestigte sich vor etwa 2000 Jahren, und zwar in der Zeit des Übergangs vom Zeitalter des großen Gottes Pan in das der Fische, in der auch die Unterdrückung der heidnischen Mysterien durch den Aufstieg des Christentums erfolgte.“ Darüber haben wir auch gesprochen, dass das Christentum massiv gegen den eleusinischen Demeter-Kult vorgegangen ist, aus verschiedenen Gründen.

„Die psychologischen Veränderungen, die sich daraus ergeben, hinterließen eine europäische Zivilisation, die mit starrem Blick auf zwei Jahrtausende religiösem Wahn, Verfolgung, Krieg, Materialismus und Rationalismus zurückschaut, die in die moderne Zeit hineingetragenen monströsen Kräfte des wissenschaftlichen Industrialismus, der Weltpolitik, entstanden, als sie symbiotischen Beziehung mit den Pflanzen zerschlagen wurden.“ Das ist sicher richtig, als die symbiotischen Beziehungen mit den Pflanzen zerschlagen wurden und damit die symbiotischen Beziehungen überhaupt mit Gaia, mit Demeter, auch mit der Intelligenz von Gaia. Aber auch darüber haben wir schon gesprochen. Bis zu einem gewissen Grade war es notwendig zur Herauskristallisierung des mentalen Selbst, diese Verbindungen abzuschneiden. Ich habe das ja ausführlich im Zusammenhang mit der Bewusstseinsgeschichte und [in] „Was die Erde will“ dargestellt. Da habe ich auch nichts von zurückzunehmen.

„Schreckliche Angst vor dem Sein war der Nährboden für die Entstehung des Christentums, dieses Kultes einer endgültigen Vorherrschaft des entfesselten männlichen Egos.“ Ganz dezidiert sagt er das. „Die Abkehr von Riten, die mit visionären Pflanzen das Ego auflösen, macht es möglich, dass das Ziel einer anfänglich auf individueller Ebene vollzogenen schlechten Anpassung zum Leitbild des gesamten gesellschaftlichen Organismus wurde. Der Drang nach einheitlicher Ganzheit innerhalb der Psyche, der in hohem Maße instinktiver Natur ist, kann trotzdem pathologisch werden, wenn ihm in einem Kontext nachgegangen wird, indem die Auflösung von Grenzen und die Wiederentdeckung des Seinsgrundes unmöglich gemacht wird. Der Monotheismus wurde zum Überträger des dominatorischen Herrschaftsmodells, dem apollinischen Modell vom Selbst als sonnengleich, um seinen männlichen Ausdruck vollständig. Dieses pathologische Modell hatte zum Ergebnis, dass der Wert und die Kraft der Emotion und der Natur entwertet und durch eine narzisstische Faszination vom Abstrakten und Metaphysischen ersetzt wurde. Diese Einstellung hat sich als zweischneidiges Schwert erwiesen. Sie hat der Wissenschaft die Macht verliehen, Erklärungen zu liefern und sie in die Lage versetzt, moralisch bankrott zu gehen. Energisch leugnet der Monotheismus die Notwendigkeit einer Rückkehr zu einem Kulturstil“, ‒ das ist eine Bemerkung hier von McKenna ‒ „der das Ego und dessen Wertvorstellungen regelmäßig in die richtige Perspektive rückt und zwar durch den Kontakt mit einem Grenzen auflösenden Eintauchen in das archaische Mysterium einer von Pflanzen hervorgerufenen und daher mit der Mutter verbundenen Ekstase und Ganzheit.“

Schwierig, natürlich verständlich und auch nachvollziehbar, aber doch heikel, wenn man bedenkt, dass McKenna ja letztlich, wenn man das wörtlich nimmt, wenn man das explizit macht, nichts weiter sagt, als man müsste über die Verbindung mit ganz bestimmten visionären Pflanzen auch die mentale Ichhaftigkeit zurücknehmen, das sei herrschaftbehaftet, das sei in sich schon die Pathologie. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass da McKenna entscheidend die Dimension der Entwicklung im Bewusstsein unterschätzt oder völlig falsch einschätzt. Ich glaube, das ist ein Irrweg, der in dieser Form nicht weiterführt.

Ich darf noch einmal eine kurze Passage aus „Was die Erde will“ zitieren, wo ich mich auch zu dieser Frage nochmal äußere, zu der Frage des Ichs in dem Zusammenhang: „Wenn alles Werden, Werden hin zu Atman, Werden als Erinnerung und das augenscheinlich im Angesicht und unter der Ägide höherer Intelligenzen, wo stehen dann die Pflanzen? Wie nah sind sie noch am Ursprung? Wie scheint in ihnen das Ziel auf? Das lässt sich nur mutmaßen. Wahrscheinlich sind sie die kollektiven Träger eines kosmischen Bewusstseins.“ Das ist ja nicht das Gleiche wie die Pflanzen-Devas. Das ist sozusagen eine abgemilderte Form. Ich teile nicht diese Überzeugung von den Pflanzen-Devas. Das ist ja auch schon mal in einem Vortrag deutlich geworden. Manche mögen da enttäuscht gewesen sein. Ich habe ja auch schon da einen Anruf bekommen von einem New-Age-Bewegten, der enttäuscht war darüber, dass ich nun nicht diese Gestalten, die doch ganz eindeutig visionäre Menschen sehen können, nun hier dargestellt habe. Also eine Enttäuschung darüber. Das war ja gar nicht meine Absicht, hier in irgendeiner Form diese Überzeugung einfach so zu bedienen. Also die Vorstellung der Pflanzen-Devas in diesem Sinne von Storl halte ich für schwierig, sagen wir mal, doch wahrscheinlich für eine Projektion, so in der Form, obwohl was Wahres dran [ist], glaube ich. „Wahrscheinlich sind sie die kollektiven Träger eines kosmischen Bewusstseins, das ohne Ich oder Selbst auskommt“ ‒ das kann man nun kaum leugnen ‒ angesiedelt irgendwo zwischen Es, Wir und Ich, das Nicht-mehr-Mineral und das Noch-nicht-Tier. Dieses kosmische Bewusstsein ist nur im uneigentlichen Verständnis wirklich Bewusstsein, wie der Mensch es kennt. Es ist Seelenausdruck ohne ichhafte Seele, ohne Schmerz und Freude in unserem Sinne, aber auch im Sinne der höheren Tiere. Was die Pflanzen einfach sind, erd- und lichtverbunden und Träger eines kollektiven kosmischen Bewusstseins, müssen wir in individualisierter Form werden. In einem vom Ich getragenen Bewusstsein könnte das ichlose Wissen der höheren Pflanzen in anderer Gestalt erwachen.“

Das muss ich nochmal lesen, weil das sehr weitgehend ist. „In unserem vom Ich getragenen Bewusstsein, könnte das ichlose Wissen der höheren Pflanzen in anderer Gestalt erwachen bzw. wir könnten“ ‒ und müssten wir auch ‒ „Pflanzenwesen, an das wir ohnehin ständig angeschlossen sind über unser Pflanzen-Selbst zum bewusst und ichhaft erworbenem Wissen machen. Also ohne Regression. Es geht dabei nicht um naturmagische Rückverwandlung, nicht um diese Art Schamanismus, die es ja analog auch in Bezug auf das Tierreich gibt, sondern um einen Neo-Schamanismus ganz neuer Prägung, wenn der Neo-Schamanismus überhaupt das richtige Etikett ist.“

Das heißt nun auch wieder nicht, dass man derartige Erfahrungen auch einer ekstatischen Überschreitung des Selbst nun mit einem Etikett vorschnell versieht, im Sinne einer nur naturmystischen Erfahrung einer vergleichsweise niederen Stufe. Das glaube ich, wird diesen Erfahrungen nicht gerecht. Man muss versuchen, diese Art ekstatischer Entgrenzungserfahrung, die es ja gibt, ernstzunehmen, ohne in gewisser Weise im Sinne des Neo-Schamanismus, der ja weltweit existiert, ohne im Sinne dieses Neo-Schamanismus regressiv zurückzugehen, sondern vorausgehen, trotz aller Pathologien. Und das ist ein heikles Thema. Das werden Sie auch von mir hier nicht erwarten, dass ich nun pauschal und plakativ ihnen sozusagen Methoden an die Hand gebe, wie man das machen kann. Das wäre absurd. Es gibt ganz viele Bücher darüber, die sagen, wie man das machen könnte. Da gibt es viele Möglichkeiten. Ich habe hier eine ausführliche Literaturliste Ihnen gegeben, da kann man auch nachschlagen, da kann man forschen, wenn man das möchte. Also, das ist ein kolossal schwieriges Gebiet. Der moderne Mensch ist in einem so unvorstellbaren Maße neurotisch, abgespalten vom Elementarsten, dass ihm das ganz schwer nahezubringen ist. Und die Erdung, die Rückbindung an auch das Kreatürlich-Sinnliche ist überhaupt die Grundvoraussetzung für alles weitere. Sonst gelangt man in einen vollkommen neurotischen, einen krankhaften Impuls hinein, die Erde zu verlassen, der dann wirklich nur in der Psychiatrie enden kann. Und wenn Ken Wilber von der „Decent of the World Soul“ spricht, vom Herabsteigen der Weltseele als einem großen kollektiven Impuls, dann ist das eine wunderbare Formel. Aber natürlich muss man sich fragen: Was heißt das konkret? Ich habe das ja auch auf dem Bahro-Symposion vorgestern gesagt. Was heißt das? Wie weit gehen wir da? Wovon gehen wir aus? Was erwarten wir? Sehr schwierig. Ungeheuer schwierig. Gibt es das wirklich?

Das muss man jetzt mal, diese Ebene, ansprechen. Ein kollektives Potenzial, das behaupten ja einige, etwa der Amerikaner Paul Ray behauptet ja, 20 bis 25 Prozent der amerikanischen Bevölkerung seien bereit, in irgendeiner Form an dem neuen integralen Denken zu sein, gewissermaßen auf dem Wege zu einer integralen Kultur. 20 bis 25 Prozent ist ja eine riesige Zahl. Wenn ich mir das überlege im Hinblick auf Deutschland, 80 Millionen Menschen, dann davon 20 Prozent. Das ist ja unglaublich. Da würde ich jubeln vor Hoffnung. Dann hätte ich wirklich keine Minute mehr deprimiert [zu] sein. Also das ist erstaunlich. Ken Wilber übrigens äußert sich auch zu diesen Fragen. Der sagt, na ja, so viele sind es nicht. Es ist ein Prozent, immerhin ein Prozent von 80 Millionen, das ist auch etwas. Also das muss man ja bedenken. Deswegen muss ich noch einmal diese geschichtliche Dimension ansprechen, die da ja hineinspielt. Jeder Einzelne kann ja diese Zugänge finden. Er kann die Sezession realisieren von der Megamaschine. Dazu ermuntere ich ja auch. Aber was macht er dann damit? Wie kommen diese Einzelnen zusammen? Wie verbinden sie sich? Was ist der große, tragende, Tiefenimpuls in der Epoche? Und da kann man einfach nur eine gewisse Hoffnung haben. Man muss sie geradezu haben, dass sozusagen, wie ich das auch vorgestern gesagt habe, der Weltgeist mit uns ist. Denn wenn man diese Hoffnung ganz aufgibt, dann kann man gleich … dann braucht man gar nicht erst anzutreten, nicht, das ist klar.

Insofern muss man das in diesem Kontext mit einbeziehen. Das ist nicht isoliert zu betrachten. Man kann nicht sagen, gut, jetzt machen wir diese Pflanzen-Meditation. Auch der Storl gibt wunderbare Hinweise, wie man mit Topfpflanzen meditiert, das ist ja ganz wunderbar. Es kann ja jeder Einzelne ein ganz eigenes, wunderbar zartes Verhältnis entwickeln zu irgendeiner Topfpflanze. Das ist ja großartig. Ich will das auch gar nicht lächerlich machen. Aber die Frage ist doch, wie bettet sich das ein in einen großen, auch geschichtlich relevanten Impuls? Das interessiert doch die Menschen jenseits des nur Individuellen. Und da liegt der entscheidende Punkt, der ungelöst ist, den man aber in irgendeiner Form lösen muss, wenn man die Hoffnung nicht vollkommen aufgeben will. Und da wird man wahrscheinlich zurückgreifen müssen auf Vorstellungen von Bewusstseinsentwicklung überhaupt, wie sie unter anderem Ken Wilber entwickelt hat, aber er ist ja nicht der Einzige, und das in diesen Kontext einbeziehen. Also das ist eine schwierige … , ein schwieriges Unterfangen, und das will ich nie verschweigen. Das habe ich in diesem Semester auch immer wieder betont. Das ist schwierig, das ist nicht naiv und direkt zu erlangen. Es gibt auch in den verschiedensten anderen Zusammenhängen auch wunderbare Impulse, auch von den Anthroposophen übrigens gibt es einige sehr interessante, sehr fruchtbare Impulse zum Umgang mit Pflanzen, unter anderem auch dargestellt in diesem Sammelband „Phänomenologie der Natur“. Man kann das auch jenseits der ideologischen Verfestigung dieser Strömung, dieser Bewegung erkennen. Man kann das unverkrampft, auch fruchtbar machen. Man muss sich da nicht gewaltsam und dagegen abgrenzen. Man kann das aufgreifen und damit wirklich arbeiten, ohne dass man nun das andere alles mit zu übernehmen braucht, was einem ja natürlich nahegelegt wird, aber das muss man ja nicht.

Also ich habe versucht, Ihnen darzustellen, immer wieder in diesen zehn Vorlesungen, dass man das nur in einem, wirklich in einem integralen Zugang von den verschiedensten Ebenen aus realisieren kann, eben existentiell, tiefenökologisch, mittels des Denkens, mittels Tiefenerfahrungen, auch ästhetischer, spiritueller Art. Immer wieder habe ich das gesagt, und das möchte ich auch als Abschluss Ihnen sozusagen mit auf den Weg geben. Das ist für meine Überzeugung die einzige Möglichkeit, wie man sich dem Thema nähern kann. Es gibt so viele Bücher, die auf eine sehr verkürzte Weise sozusagen das Thema darstellen, verengen, auf eine ganz simple Methodik reduzieren oder pure Ideologie liefern. Auf dem Sektor wird ja auch ungeheuer viel Ideologie einfach geliefert. Pure Behauptungen werden in den Raum gestellt. Das hilft uns alles überhaupt nicht weiter. Man muss wirklich versuchen, eine eigenständige Zugangsweise sich zu erarbeiten. Und das kann man nur, es ist wirklich Arbeit, es ist wirklich geistig-seelische Arbeit, die man da leisten muss und zu der ich aber ermuntere, weil sie wirklich lohnend ist. Und sie müssen nicht alle Bücher lesen, die ich da auf dem Literaturzettel habe, aber einige lohnen sich durchaus und sie sind sehr bewusst von mir gewählt worden, diese Bücher.


Ich werde jetzt wieder gefragt, wie ist es mit dem Wintersemester? Es wird dieses Wintersemester von meiner Seite aus nicht gehen. Ich werde nicht im Wintersemester, ich sage es nochmal offen, eine Vorlesung machen, weil das ist eine bewusste Entscheidung von mir. Ich will im Wintersemester mich zurückziehen, mache da und dort andere Seminare und Vorträge. Ich will schreiben und nachdenken. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, dieses Wintersemester keine Vorlesung zu machen. Letztes Sommersemester wussten Sie das nicht, dann haben Sie das Plakat gesehen, dass ich nicht das Wintersemester mache. Ich habe zehn Jahre lang Wintersemester immer auch gemacht. Wie das im nächsten Frühjahr ist, das werde ich rechtzeitig bekannt geben. Über die Medien, wie ich das ja auch diesmal gemacht habe. Sie haben es ja auch mitbekommen. Und im Wintersemester wird es keine Vorlesungen geben. Es gibt da und dort vereinzelte Veranstaltungen, Seminare, die ich mache. Das können Sie auch, wenn Sie das interessiert, immer mal irgendwo lesen, aber keine Vorlesung. Ich meine, dass ich, was diese Wintersemester betrifft, diese zehn Jahre, so viel gebracht habe, vielleicht viel zu viel. Und ich will nicht Dinge wiederholen, die ich schon oft gesagt habe, sondern auch, wenn immer wieder neue Hörer zu den alten dazukommen. Es gibt ja auch eine große Fluktuation. Das will ich einfach nicht. Ich habe genügend geschrieben dazu. Die Bücher gibt es ja. Es gibt wieder das neue Buch, das ich Ihnen sehr ans Herz lege. Das kann man und das sollte man auch studieren. Es gibt im Internet viel, wenn Sie das nachschlagen, was ich da gemacht habe, was da auch von mir und über mich steht.


Also man kann da forschen, wenn man das möchte. Und da muss ich einfach auch ermuntern, das zu tun. Man ist da nicht dann …, man kann da wirklich weiterarbeiten.

Gut, ich möchte dann diese Vorlesung beenden und will auch keine Diskussion machen, weil ich finde, das kann man sich setzen lassen. Man muss nicht immer gleich alles kommentieren. Oft sind diese Kommentare ja auch sehr kurz, also auf den Augenblick bezogen und das muss gar nicht jetzt sein. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Sommer und hoffe, dass ich Ihnen in diesen zehn Abenden einige Impulse vermittelt habe, mit denen Sie selbstständig weiterarbeiten können. Und mehr kann es nicht sein.

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