Naturerkenntnis und Wirklichkeit

– Wie wahr sind wissenschaftliche Theorien ?

Vorlesungsreihe:

Mensch und Erde, Teil IV
Gedanken zu einer neuen Theorie der Natur und des Kosmos

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Wintersemester 1998/99 Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 4

Transkript als PDF:

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Nun habe ich das genannt: „Naturerkenntnis und Wirklichkeit ‒ die Basis naturwissenschaftlicher, naturphilosophischer Theorien“.

Ich will mal mit einem konkreten Fall beginnen, der schlaglichtartig die Problematik beleuchtet. Ich traf am Freitagnachmittag einen mir flüchtig bekannten Elektrotechniker, von dem ich wusste, dass er sich seit Monaten, vielleicht sogar seit Jahren mit der Frage beschäftigt: Gibt es diese mysteriöse Lebensenergie ‒ oder gibt es sie nicht? Sie wissen, ich habe ein ganzes Sommersemester dieser Frage gewidmet, und Sie kennen meine Überzeugung zu diesem Punkt, oder viele von Ihnen, ‒ was immer nun Lebensenergie im Einzelnen bedeuten mag, so etwas in der Form müsste es geben. Ich glaube, die Evidenz dafür sieht recht gut aus. Wir haben das ja eingehend im Sommersemester behandelt.

Nun dieser Elektrotechniker, mit dem ich also ein kurzes Gespräch, vielleicht sieben, acht Minuten, maximal zehn Minuten hatte, der sagte mir, wir unterhielten uns so, ja, er habe nun 10000 Seiten gelesen, werden immerhin 20 dickleibige Bücher von 500 Seiten, also 10000 Seiten [sein], habe er gelesen zum Thema Lebensenergie. Nun sei ihm klar, dass es Humbug ist. Eigentlich wusste er’s schon vorher, aber jetzt sei es nun endgültig klar: Es gibt diese Lebensenergie nicht. Und ich habe also zaghaft nachgefragt: Warum nicht? Warum sollte es die Lebensenergie nicht geben? Ich meine immerhin, es gibt doch Hinweise darauf, es könnte sie doch geben. ‒ Nein: unmöglich. ‒ Dann fragte ich ein bisschen weiter, und da sagte er, er als Elektrotechniker sei ein Mann der Praxis, er sei Realist. Und wenn er einen Apparat verkauft, dann muss der funktionieren, sonst kann er ihn nicht verkaufen. Und das sei das Einzige, was für ihn zählt. ‒ Immerhin haben Sie sich doch ungeheuer viel Literatur angeguckt zu dieser Frage: Gibt es eine Lebensenergie oder nicht ‒ und sind zu einem negativen Ergebnis gekommen. Und dann, im weiteren Verlauf dieses sehr kurzen Gesprächs versuchte ich, wahrscheinlich nur mit geringem Erfolg, seine Kriterien noch genauer zu hören, warum es denn so etwas wie eine Lebensenergie nicht geben könnte. Und brachte nun das Beispiel. Ich hörte so heraus, er habe auch moderne physikalische Literatur gelesen. Und dann fragte ich also nach, ob er auch quantentheoretische Bücher gelesen hätte ‒ ja, hätte er auch gelesen. Ob er die auch verstanden hätte? ‒ Kaum, weil er versteht nicht so viel von Mathematik. Und außerdem ist es so schwer, auch diffizil und komplex. Das habe er dann doch wieder beiseite gelegt. ‒ Und dann frage ich ja, wieso eigentlich? Ob er glaubt, was in diesen Büchern steht? Immerhin sind doch das erstaunliche Behauptungen, die da aufgestellt werden. Ja, schwindelerregende Behauptungen. Also wenn man einige der avanciertesten Bücher zur Quantentheorie zur Hand nimmt und mal genau prüft, was da wirklich behauptet wird, und wenn man diese hypothetischen, spekulativen, ab-strakten Überlegungen ontologisiert, also zur Wirklichkeit erklärt, dann kommt man aus dem Staunen nicht raus. Da ist dann ja ein merkwürdiges, fremdartiges, rätselhaftes Bild der Wirklichkeit, dass da gezeichnet wird. ‒

Das sei ihm egal. ‒ Und dann kamen wir immer mehr auf den Punkt, dass er das zwar nicht anzweifelt. Ich frage: Warum nicht? Warum denn nicht? Nur weil es mathematisch präzise ist und weil es funktioniert? Er sei doch ein Matador des Funktionierens. Warum er das dann … Also, dann kam immer mehr heraus, dass er das deswegen nicht anzweifelt, weil es allgemein anerkannt ist, weil es in irgendeiner Form von Autoritäten abgesichert ist. Also, was durch Autoritäten abgesichert ist, in irgendeiner Form, [da] tritt ja kaum einer öffentlich dagegen auf, also muss es in irgendeiner Form stimmen. Viel leichter ist es natürlich, die Lebensenergie, sag ich mal, abzubügeln, weil sie noch nicht, also als Konzept, verankert ist in dem herrschenden Wissenschaftsmuster oder Paradigma. Und das war für mich ein interessantes Beispiel, wie ein, jetzt in diesem Falle Techniker, es gibt genügend Beispiele auch in anderen Bereichen, sich quasi aufgrund seiner eigenen empirischen Welt, aufgrund seiner eigenen, relativ begrenzten schmalen empirischen Welt, eine Vorstellung zusammenbaut, wie die Welt im Ganzen sei, was möglich ist und was nicht möglich ist. In seiner Vorstellung gab es, gibt es also ganz bestimmte Dinge, die sind möglich und andere Dinge, die sind absolut unmöglich. Immerhin muss er die Möglichkeit erwogen haben, dass es so etwas wie Lebensenergie geben könnte, sonst hätte er nicht seinen Aussagen zufolge 10000 Seiten gelesen.

Was immer er da wirklich gelesen hat und wie intensiv er diese Bücher gelesen hat ‒ ihm war wichtig, irgendwann zu einem Resultat zu kommen: Das ist Humbug, die Leute machen nur Geld, das ist Scharlatanerie. Nun ist das ein zentraler Punkt. Ich sage das nicht, um mich auf eine arrogante Weise jetzt darüber zu mokieren und sage, es ist ein kleines Denken, ganz schmal nur, was sich sozusagen ins Allgemeine weitet, das meine ich nicht. Ich meine den symptomatischen Charakter daran, dass wir alle mehr oder weniger eine Grundüberzeugung davon haben, wie die Welt im Gesamten ist. Auch wenn wir das nicht immer präsent haben und vielleicht auch nachgefragt gar nicht genau sagen könnten, wie das in unseren Köpfen oder unseren Seelen aussieht. Wir alle haben ein mehr oder weniger unhinterfragtes Grundverständnis von Wirklichkeit, und um dieses Grundverständnis geht es mir hier.

Und meine Frage ist: Welche Kriterien haben wir, um überhaupt zu entscheiden, was wirklich oder wahr ist? Ich will mich jetzt gar nicht auf die Abgründigkeit dieser Begriffe „Wahrheit“ oder „Wirklichkeit“ einlassen. Das wäre eine eigene Vorlesungsreihe, allein darüber, die Begriffe zu klären. Man kann das ganz schlicht erst mal sagen: Wahrheit ist eine gewisse Übereinstimmung von theoretischen Konzepten, von Theorien, von Hypothesen, von Mutmaßungen mit der Wirklichkeit. In irgendeiner Form muss es einen Zusammenhang geben, sonst könnte keine Theorie, keine Hypothese, kein Konzept in irgendeiner Form wirksam geworden sein.

Nun wissen wir alle, dass bestimmte Konzepte im Laufe der Geschichte sehr mächtig waren und dann doch ganz allmählich, manchmal auch revolutionär schnell überwunden wurden. Und die Frage ist: Wie kommt es, dass über Jahrzehnte hinweg bestimmte Grundüberzeugungen vorherrschend sind, und dann ‒ in einem mehr oder weniger schnellen Prozess ‒ diese Grundüberzeugung dann als obsolet gelten, als überholt, vielleicht gar als grundsätzlich falsch.

Der berühmte Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn, mittlerweile weltberühmt geworden durch den Begriff, den er geprägt hat, des Paradigmas, in seinem Buch „The Structure of Scientific Revolution“, Mitte der 60er Jahre, hat ja versucht, unzulänglich meine ich, aber er hat es versucht, eine Antwort zu geben, wie das möglich ist, ‒ also wie die Abfolge des Denkens sich einordnen lässt in eine Abfolge von Grundmustern, die in bestimmten Epochen, in bestimmten Gruppen, herrschend sind.

Der Begriff des Paradigmas ist ja mittlerweile abgeflacht und vernutzt. Man kann ihn kaum mehr benutzen, weil alle Welt redet von „Paradigmawechsel“. Die wenigsten wissen so genau, was damit gemeint sein soll. Deswegen will ich es ein bisschen genauer erklären. Ich finde hier ausgesprochen hilfreich, dieses Büchlein von dem Arnim Bechmann, das ich mehrfach erwähnt habe ‒ der ja von Hause aus Physiker und Mathematiker ist, der hier im letzten Sommer auch einen Gastvortrag gehalten hat ‒ in seinem Begleitbuch zu Wilhelm Reichs Orgon … im Verlag Zweitausendeins. Er hat hier am Ende einen kleinen Essay ge-schrieben, fünfzehn Seiten lang nur, den nennt er “Wissenschaft ‒ die Suche nach der Wahr-heit in paradigmatischen Festungen”. Und ich finde diesen kleinen Essay sehr unprätentiös und, wie ich sagte, hilfreich, weil Bechmann macht wirklich deutlich, was ein Paradigma ist. Ich kenne eigentlich nichts Besseres und Präziseres und etwas, was mehr auf den Punkt zielt. Nun, ich werde mich gleich dazu noch kommentierend und zitierend äußern.

Nun ist die Frage einer möglichen anderen Art, die Welt zu betrachten, einer anderen Art Naturwissenschaft zu betreiben ‒ was mich ja sehr beschäftigt, wie viele von ihnen wissen, seit vielen Jahren, ich arbeite ja selber an einem Konzept einer anderen Naturwissenschaft ‒ in unserer Zeit kolossal verbreitet. Ich habe mir vor einem halben Jahr eine Anregung folgend ein Buch beschafft, bei dessen Lektüre ich aus dem Staunen nicht herauskam. Lektüre ist vielleicht nicht das richtige Wort, weil dieses Buch ist nichts weiter als ein Literaturverzeichnis, was ich hier in der Hand halte. Sie können gerne in der Pause mal reinschauen: Norbert Moch “Die alternative naturwissenschaftliche Literaturliste”. Dieser Band hat hunderte von Büchern, gibt hunderte von Büchern an, teilweise mit Kurz-einführung in die jeweilige Thematik, zu einer anderen, einer alternativen Naturwissenschaft. Man muss sich das mal vorstellen, was mittlerweile, also jenseits des Mainstreams an Theorien, an Hypothesen, an Vermutungen, zum Teil an abenteuerlichen Behauptungen verbreitet ist, aber auch an hochinteressanten, spannenden, faszinierenden Ansätzen. Also wem das Thema am Herzen liegt, in einem umfassenden Sinne, dem sei dieses Verzeichnis hier ans Herz gelegt: Die alternative naturwissenschaftliche Literatur-liste. Hier gibt es etwa “Äther-Physik”. Wir sprechen noch darüber, dann im Januar, “Nikola Tesla”, “Elektrosmog”, “Radioästhesie”, “Sterling-Motor”, “Freie Energie”, “Wilhelm Reich”, “Quantenphysik”, “Anthroposophie” werden hier aufgeführt. Na gut, “Parapsychologie”, “Kirlian-Fotografie”, “levitiertes Wasser”, “Viktor Schauberger”, “Kritik der Relativitätstheorie” und so weiter.

Also, nun wäre es natürlich zu einfach zu sagen, na ja, das sind eben die üblichen Begleiterscheinungen des herrschenden Paradigmas. Man müsste sich damit nicht ernst-haft beschäftigen. Ich kenne einige dieser Texte und bin immer wieder erstaunt, wie einige Außenseiter, ich benutze jetzt mal bewusst das Wort, doch sehr scharfsinnig und präzise Schwachstellen im Mainstreamdenken beleuchten. Der Fehler der meisten dieser Außenseiter, soweit ich das beurteilen kann, besteht darin, wenn ich das richtig sehe, dass sie sozusagen ihr Konto überziehen, dass sie ein Segment sehr scharf beleuchten, mit einer Versessenheit bis ins äußerste Detail hinein und wirklich erstaunliche Dinge zutage fördern, durchaus auch zeigen können, dass die Mainstream-Wissenschaft einfach falsch liegt, ‒ aber dass sie dann fast alle den Fehler machen, den hat auch Wilhelm Reich gemacht, das ist auch psychologisch menschlich ganz verständlich, das Ganze nun aufzubauen, sozusagen ein privates Gesamtweltbild nun hinzustellen. Das ist das typische, sage ich mal, die typische Privat-Philosophie der Techniker, Ingenieure, Naturwissen-schaftler, wie es natürlich umgekehrt genauso eine gleichsam Privat-Naturwissenschaft der Philosophen gibt. Das hat schon vor knapp einem Jahrhundert der große, wirklich bedeutende Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftsphilosoph Ernst Mach in seinen Büchern gezeigt, unter anderem in seinem berühmten Buch “Erkenntnis und Irrtum”. Gleich am Anfang sagt er da, 1905 erschienen: Es ist eigentlich eine Tragödie, dass die Naturwissenschaft und die Philosophie eigentlich sich vollkommen auseinander entwickelt haben, weil die meisten der Naturwissenschaftler haben eine Philosophie im Kopf, die recht grob gestrickt ist, um nicht zu sagen simpel, primitiv, eindimensional, auf jeden Fall nicht auf der Höhe der Reflexion ‒ während auf der anderen Seite viele Philosophen ein oft rudimentäres Wissen haben über ganz fundamentale naturwissenschaftliche Fragen. Das hat ja auch gestern Johannes Heinrichs kurz angesprochen, dass das sogenannte Scheitern des deutschen Idealismus seit der Jahrhundertmitte, ja damit, also seit der Mitte. 19. Jahrhunderts, auch damit zu tun hat, dass die ungeheuren Erfolge, die technischen Erfolge der abstrakt-mathematischen Naturwissenschaften so überwältigend waren, dass diese Ganz-heitsentwürfe überhaupt keine Chance mehr hatten. Und es gehörte ja in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum guten Ton der Physiker etwa, sich über Hegel zu mokieren. Das war gang und gäbe. Ich habe mich mal damit beschäftigt, dass also führende Naturwissenschaftler Hegel einfach ins Lächerliche zogen, indem sie Zitate brachten aus der “Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften”, also etwa: Elektrizität gestalte sich von sich selbst befreit ‒ Gelächter im Saal angestimmt, also sozusagen ermuntert. Der einzige Philosoph, der danach zählte, war Kant. Jedenfalls die Idealisten wurden lächerlich gemacht. Schellings Naturphilosophie ‒ einfach abstrakt, mystische Spekulation. ‒

Sicherlich hat man hin und wieder dann auch zugestanden, die Philosophen haben auch das eine oder andere vorausgedacht. Das erwähne ich ja immer mal wieder als ein berühmtes Beispiel, dass Schelling den Elektromagnetismus in gewisser Weise erfunden hat, in Anführungszeichen. Er war der erste Mensch überhaupt, der gesagt hat: Elektrizität und Magnetismus ist dasselbe, das sind nur verschiedene Aspekte des gleichen Grund-phänomens. Und der dänische Physiker Hans Christian Oersted, der eigentlich der Begründer der neueren Magnetismus- und Elektrizitätsforschung ist, war ein Schüler Schellings. Also, es gibt da schon Zusammenhänge, aber der Mainstream jedenfalls hat dies vollkommen zurückgewiesen und eher lächerlich gemacht. Nun kann man nicht leugnen, wenn man die Schriften genauer betrachtet, auch die Schellings, dass da oft auch wirklich abstruses Zeug drin steht, das ist einfach so. Das sollte einen aber nicht abhalten, das genauer zu betrachten.

Nun, nach diesem Vorspann jetzt zu einigen zentralen Vorstellungen und Begriffen, die hier wichtig sind, erst mal der Begriff “Paradigma”. Ich darf mal hier mich auf Bechmann beziehen, ich sagte es ja schon, dass ich das sehr eindrucksvoll finde, wie er das macht, wie er das darstellt. Ganz allgemein kann man sagen: Ein Paradigma ist eine kollektive Grundüberzeugung, ein kollektives Grundmuster von dem, was zulässig ist, was wirklich ist und welche Methoden angewendet werden dürfen. Damit ist das Paradigma eine bestimmte Struktur, die von vornherein ganz bestimmte Wahrnehmungen einschränkt. Das macht den Erfolg dieses Paradigmas aus. Das macht aber auch gleichzeitig seine Schwäche aus, weil Wissenschaftler, die innerhalb eines bestimmten Paradigmas arbeiten, mit Erfolg vielleicht auch arbeiten, grenzen in der Regel das aus, was außerhalb des Paradigmas liegt, aus einer Vielzahl von Gründen, nicht nur aus den bekannten Karrieregründen, obwohl die hier sicherlich auch eine Rolle spielen.

Ich darf mal Bechmann zitieren, der sich hier mit Kuhn auseinandersetzt. In diesem Buch über Wilhelm Reichs [Experimente in der Wüste].

“Paradigmen sind Modelle”, schreibt Armin Bechmann, “Denkschemata oder gedankliche Raster, die bei jeder wissenschaftlichen Tätigkeit, insbesondere für jede Theoriebildung als gegeben vorausgesetzt werden.” ‒ Das ist wichtig. ‒ Die Voraussetzung ist häufig so implizit, dass der einzelne Wissenschaftler, wenn er darauf angesprochen würde, häufig gar nicht sagen kann, was das Paradigma genau ist, in dem er arbeitet, weil es so absolut selbstverständlich ist. Also viele wissenschaftliche Akademien und Institutionen pflegen einen ganz bestimmten Wissenschaftsbegriff, und die Frage wird gar nicht gestellt, im Rahmen dieser Apparate und Institutionen, was denn die Fundamente, was denn die Basis, was denn die philosophischen Prämissen sind, auf denen diese Wissenschaft beruht. Und jede Wissenschaft basiert auf solchen Prämissen. Also man soll sich nichts vormachen. Man kann die Messpräzision bis ins Äußerste treiben ‒ Messungen müssen interpretiert werden, und Interpretation erfolgt im Rahmen einer bestimmten philosophischen Grundhaltung. Jede ausdifferenzierte Theorie ist immer ein Stück Philosophie. “Das heißt”, schreibt Bechmann weiter, “in einem Paradigma sind die Bestandtteile und Grundsteine einer Theorie erfasst, die innerhalb dieser Theorie selbst nicht mehr thematisiert wird.” Das ist kein Thema. Bei manchen ruft man geradezu Verwunderung hervor, wenn man danach fragt. ‒ Ja, das funktioniert doch, das klappt doch. Wir können doch diese Voraussage machen, das ergibt sich doch. Wieso soll ich da weiter fragen? ‒ “Paradigmen dienen somit der Grenzziehung. Sie trennen einen wissenschaftlichen Erkenntnisraum von seiner Umgebung. Thomas Kuhn versucht die Struktur eines Paradigmas an einem Beispiel zu erläutern.” Hier zitiert Armin Bechmann Thomas Kuhn aus diesem berühmten Buch “Die Struktur der wissenschaftlichen Revolution”.

Zitat Kuhn: “Die genaue historische Untersuchung eines bestimmten Spezialgebietes zu einem bestimmten Zeitpunkt enthält eine Reihe sich wiederholender und gleichsam maßgebender Erklärungen verschiedener Theorien in ihren Anwendungen in Bezug auf Begriffsbildung, Beobachtung und Instrumentation. Das sind die Paradigmen der Gemein-schaft, wie sie in ihren Lehrbüchern, Vorlesungen und Laborversuchen zu Tage treten.”

Also, wenn es der Wissenschaft schon um den Begriff “scientific community” geht, der weltweit verbreitet ist, kommt das heraus ‒ das ist eine soziale Angelegenheit. Die Institutionen sind ja die soziale Veranstaltung dieses Unternehmens Wissenschaft.

Nochmals Thomas Kuhn: “Menschen, deren Forschung auf gemeinsamen Paradigmen beruht, sind denselben Regeln und Normen für die wissenschaftliche Praxis verbunden. Diese Bindung und die offenbare Übereinstimmung, die sie hervorruft, sind Vor-aussetzungen für eine normale Wissenschaft, das heißt für die Entstehung und Fortdauer einer bestimmten Forschungstradition.” Zitat Ende.

Jetzt Bechmann weiter: ”Paradigmen schaffen somit die Voraussetzung für ,Normal- Wissenschaft‘ ” ‒ er setzt das in Anführungszeichen ‒ “als der Wissenschaft, die in stabilen Institutionen, Universitäten, Akademien, Forschungsgesellschaften usw. routinemäßig betrieben werden kann. Die Herausbildung eines Paradigmas für ein bestimmtes wissen-schaftliches Erkenntniskonzept bietet die Voraussetzung dafür, dass dieses Konzept Grund-lage vergesellschafteter wissenschaftlicher Tätigkeit wird.” ‒ Das muss es bis zu einem gewissen Grade auch sein, weil sonst müsste ja jeder einzelne Wissenschaftler in seinem jeweiligen Fachgebiet zusammen das Ganze immer wieder neu von den Fundamenten aus befragen, was unmöglich ist. Er muss ein bestimmtes kollektives Grundeinverständnis bei seiner Arbeit erst einmal voraussetzen, sonst ist es nicht möglich. “Erst auf der Basis eines wohl strukturierten Paradigmas wird arbeitsteilige Normal-Wissenschaft möglich und erfolgreich. Für ein neu entstehendes Wissensgebiet wird sich ein klar erkennbares Para-digma selten ganz früh, sondern erst später im Verlaufe des Forschungsprozess heraus-bilden.”

Weiter Bechmann: ”Ein Paradigma stellt somit so etwas wie eine besondere Brille dar, welche sich eine Gruppe von Forschern eines wissenschaftlichen Fachgebietes aufsetzt, um die Gesamtkomplexität, mit der jeder Forschungstätigkeit belastet ist, auf ein verarbeitbares Maß zu reduzieren.” ‒ Ein wichtiger Aspekt hier, die Reduktion, die Reduzierung einer sehr komplexen Wirklichkeit auf bestimmte Grundstrukturen, wobei auch hier schon die zentrale Frage wissenschaftsphilosophisch ja wichtig ist: Worum geht es hier? Geht es um pure Modelle, die im Kopf entstehen, die gebaut sind, die so oder auch anders sein könnten ‒ oder geht es um Wirklichkeit? Geht es um die wirklichen Gesetze der wirklichen Welt?

So kann man sagen, die herrschende Naturwissenschaft ist ja angetreten, in der Nachfolge des Kopernikanisums, verständlich zu machen, ‒ das war der Hauptansatzpunkt ‒ , wie die Bewegung des Planeten Erde vereinbar sein kann mit dem Gefühl der Ruhe. Das war der Ausgangspunkt für die Galileische Physik, weil das war ja das erst einmal, was den Alltagsrahmen sprengte. Wenn sich die Erde mit dieser enormen, allein schon Orbitalgeschwindigkeit von 30 Kilometer pro Sekunde bewegt und wir absolut nichts davon merken, dann muss es dafür eine Erklärung geben. Es war der Spott der Antikopernikaner: Das kann nicht sein, da müsste ständig ein Gegenwind spürbar sein, der der Bewegung der Erde entspricht und so weiter. Das war der Ausgangspunkt.

Es war also durchaus die Frage der Wahrheit, der Wirklichkeit. Es ging um die wirkliche Bewegung in einem wirklichen Universum, eben nicht primär um die Frage, welches Modell ist einfach besser und welches ist schlechter. Das hat man im Nachhinein häufig so interpretiert. Man kann es in ganz vielen wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen lesen: Kopernikus war nur deswegen erfolgreich, weil er ein einfacheres Modell aufgestellt hat. ‒ Wenn man das wirklich konsequent so denkt, dann fällt man zurück, ich sage das mal hier, weil das wissenschaftsgeschichtlich interessant ist, auf das berühmte Vorwort, was ein protestantischer Geistlicher namens Andreas Osiander zu dem kopernikanischen Haupt-werk geschrieben hat, nämlich den Wahrheitsanspruch zurückzunehmen in dem Sinne: Was der Kopernikus hier bietet, ‒ frei paraphrasiert ‒ , sind nichts weiter als Hypothesen über das Sonnensystem. Kopernikus behauptet nicht, dass es wirklich so ist.

Also der erste klassische, kann man sagen, Ansatz, der bis heute sich durchzieht ‒das Modell funktioniert besser, also nehmen wir das, ein anderes Modell funktioniert schlechter. Das hat zu heillosen Verwirrungen geführt bis in die gesellschaftliche Wahrnehmung von Wissenschaft überhaupt hinein. Worum geht es denn eigentlich? Geht es um unsere eigenen Konstrukte oder geht es um die wirkliche Wirklichkeit?

Nun kann man sagen, das ist gar nicht unterscheidbar. Wir können das nicht auseinanderhalten, das ist miteinander verflochten. Aber erst einmal ist ja doch die Frage wichtig, worum es gehen soll.

Man kann ja zwei extreme Positionen einander gegenüberstellen. Man kann ja sagen, Wissenschaft, das wäre positivistisch, Wissenschaft hat nur die eine Aufgabe, den Zusammenhang der Erscheinungen formal zu beschreiben. So heißt es wörtlich in dem berühmten Aufsatz von Werner Heisenberg über die Unbestimmtheitsrelation 1927, also Wissenschaft habe die Aufgabe, den formalen Zusammenhang der Erscheinungen zu beschreiben. Be-schreiben heißt nicht primär mit Worten zu beschreiben, sondern heißt primär, eine mathe-matische Form dafür zu finden. So könnte man fragen: Wo bleibt die Wirklichkeit, wenn es nur um Beschreibung geht? Darauf hätte Heisenberg geantwortet: Die Frage nach der wirklichen Wirklichkeit hinter diesem mathematischen Formalismus kann so nicht mehr ge-stellt werden. Immer wieder, Jahrzehnte hinweg, dafür ist er berühmt geworden, hat er gesagt: Der mathematische Beschreibungsformalismus ist die letzterreichbare Wirklichkeitsgestalt, die uns zugänglich ist. ‒ Reinster Platonismus in einer bestimmten Version. ‒ Das bestimmt ja die sogenannte Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie.

Also das ist eine Möglichkeit. Man kann sagen, wir beschreiben den Zusammenhang der Erscheinungen formal. Was die Wirklichkeit selber ist, das wissen wir nicht, das können wir nicht wissen. Vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen. Jedenfalls würde das die Wissenschaft überschreiten, ‒ das ist die eine extreme Position.

Man kann auf der anderen Seite sagen: Wissenschaft hat es primär mit Wirklichkeit zu tun. Wissenschaft soll erkennen, soll erkennend durchschauen, wie die wirklichen Gesetze dieser Welt aussehen. Und es geht um die wirklichen Gesetze dieser wirklichen Welt. Und Sie sehen, dass das zwei im Grunde sich ausschließende Positionen sind. Man kann die eine Überzeugung vertreten, man kann die andere Überzeugung vertreten. Natürlich gibt es vielfältige Mischformen, aber man muss sie erst einmal im Klaren sein: Worum geht es?

Nun ist das sehr modern heute, um nicht zu sagen postmodern, wenn jetzt gesagt wird, häufig in der Kognitionswissenschaft, im Konstruktivismus, auch viele wie Michel Foucault oder Jacques Derrida und viele andere Postmoderne, sogenannte postmoderne Denker, haben gesagt: Na ja, letztlich ist alles Interpretation. Es gibt nur Interpretationen. Es gibt diese Wirklichkeit gar nicht bzw. die Frage danach zu stellen, wie denn die wirkliche Wirklichkeit sei, ist schon eine Frage, die ist von vorgestern. Weil, wir haben nur diese Interpretation. ‒ Nun ist das eine Extremposition, die man ja auch vielfältig infrage stellen kann. Man könnte ja fragen: Wenn das stimmt.

Die Teilwahrheit dieser Aussage ist evident. Und wenn es in einem absoluten Sinne stimmt: Wo sind wir dann? Dann sind wir praktisch immer nur auf uns selber zurückge-wiesen. Dann können wir eigentlich Wirklichkeit grundsätzlich nicht erkennen. Dann sind wir immer nur im Muster, im Netzwerk unserer eigenen Projektionen gefangen. Das ist ja die Grundüberzeugung in der Postmoderne, die in gewisser Weise ‒ mit Abstrichen ‒ mit Nietzsche beginnt, so sagt es jedenfalls Ken Wilber, dass wir gar nicht mehr eine Welt da draußen abbilden können.

Und dann kann man noch dem genannten Gegensatz einen anderen hinzufügen. Man kann zum Beispiel sagen, Wissenschaft hat die Aufgabe, eine Welt, wie sie an sich existiert, abzubilden. Man nennt das das Repräsentations-Paradigma, also Repräsentieren. Wobei der Einzelne, das wissenschaftliche Subjekt, sich dabei draußen vor lässt, sich in gewisser Weise selber auslöscht. Sozusagen, der Mensch als Wissenschaftler ist das anonyme “man” der Lehrbücher, wie sie es ja in allen Lehrbüchern, ob der Physik oder der Chemie oder sonst wie finden, dass das anonyme “man”, klein geschrieben. Feministinnen sagen, das ist typisch: das ist der Mann, der da spricht, und zwar der sozusagen sich leibfern fühlende abstrakte Mann, der da spricht, da spricht gar nichts Lebendiges, das ist einfach tot. Also, das wissenschaftliche Subjekt ist das abstrakte “man”: Man nehme. ‒ Und dann wird alles Subjektive vollständig herausgefiltert ‒ Emotionen, die einer hat, zum Beispiel, aufgewühlt hat ‒ das alles darf nicht sein. Natürlich ist es dann doch, nämlich Emotion, wenn es um Forschungsgelder geht, aufgewühlt hat, wenn ein anderer schneller ist mit den Entdeckungen. Also all diese sehr menschlichen Momente sind ja alle ständig anwesend, aber sie dürfen nicht sein. Offiziell geht es nur um ‒ ja, worum eigentlich? Um Wirklichkeit? Oder geht es nur um ein besseres oder schlechteres Modell?

Nun haben die postmodernen Denker sich mokiert über dieses Repräsentations-Paradigma, immer wieder gesagt, es sei naiv. Die Philosophie hätte doch schon nicht erst seit dem Idealismus immer wieder Selbstreflexion betrieben, immer wieder nach dem Subjekt gefragt. Und die Naturwissenschaft tut so, als ob da draußen ist die Welt und da gucke ich hin und das bilde ich ab, und da mache ich eine Landkarte von der Welt da draußen. Ich muss mir gar keine Gedanken machen, woher diese Landkarte kommt. Aber diese Landkarte wird ja angefertigt, und es gibt ganz bestimmte Landkarten, die von vornherein die Wirklichkeit aus- und wegfiltern, und die Landkarte ist ja nicht die Wirklichkeit. Und was die Sache noch zusätzlich erschwert, ist, und das ist auch ein Thema bei der ganzen Außenseiter-Naturwissenschaft heute, ist die technische Anwendbarkeit, das Funktio-nieren. Also was ich einleitend gesagt habe, dass der Betreffende gesagt hat: Es funktioniert doch, ich sehe doch ganz klar, wenn ich bestimmte Hypothesen mache, bestimmte Apparate baue, funktionieren sie oder funktionieren sie nicht. Wenn sie funktionieren, dann stimmen sie.

Das ist die Mentalität, würde ich mal sagen, von maximal 14-jährigen. Was funktioniert, stirbt nicht, weil es funktioniert kolossal viel und bestimmte Prämissen sind natürlich eingeflossen, und ein bestimmter Zusammenhang mit der Wirklichkeit ist natürlich gegeben, das ist ja selbstverständlich. Deswegen muss es noch lange nicht in irgendeiner Form wahr sein. Ganz zu schweigen davon, dass es natürlich sehr ausdifferenzierte Systeme immer gegeben hat, die über die Wirklichkeit gestülpt wurden, die auch in der Lage waren, tatsächlich diese Wirklichkeit sehr genau zu beschreiben. Also wenn das ein Kriterium sein soll, die Präzision der mathematischen Beschreibung, dann gibt es sich völlig ausschließende Systeme dieser Art, und dann bleibt wieder die Frage: Was ist denn wirklich?

Oder wenn man sich dann gar nicht mehr zu helfen weiß, wie im Falle des Mikro-Bereichs, ‒ sind denn nun diese verdammten kleinen Teilchen eher Welle oder eher Teilchen? ‒, dann hilft man sich damit, dass man sagt, na ja, irgendwie sind sie beides, je nach der Beobachtungssituation verhalten sie sich mal so, mal verhalten sie sich anders. Der naive Betrachter, der naive Realist würde natürlich sagen: Das kann nicht sein ‒ ent-weder sind sie Welle, oder sie sind Teilchen, ‒ es ist nicht möglich. Also das setzt natürlich eine bestimmte Auffassung davon voraus, was diese Wirklichkeit ist.

Man kann ja sagen, diese Wirklichkeit muss ja nicht so gebaut sein, dass sie uns so in dieser eindimensionalen Weise überhaupt zugänglich ist, kann ja sein, die Wirklichkeit ist so paradox in sich, dass man ihr nur mit Paradoxa beikommen kann. Vielleicht ist es wirklich so, dass wir nur in Paradoxa denken können. Das wäre immerhin eine Möglichkeit. Also, das ganze Thema ist kolossal schwierig. Und es ist spannend, finde ich, da mal wirklich genauer hinzugucken.

Bechmann gibt nun hier vier zentrale Komponenten, von denen er glaubt, dass sie ein Paradigma kennzeichnen. Ich darf diese vier Komponenten mal nennen.

Ich schreibe das jetzt nicht an die Tafel. Es ist immer so langatmig, immer an der Tafel steht und lange rumschreibt. Mache ich nicht so gerne. Und ich bin auch kein Freund von Folien, wie die meisten ja wissen. Dann jagt immer so eine Folie die andere, und da muss man erst dann lesen, und das muss nicht sein.

Also, vier zentrale Momente dieses Paradigmas.

Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen ist der erste Punkt. Dann listet er auf: Wissenschaftsmethode, Wissenschaftsbegriff, zum Beispiel “phänomenologisch”, “dialek-tisch”, “axiomatisch”, “reduktiv”. Das ist ein zentraler Begriff, der wichtig ist generell für Wissenschaft. Das bezieht sich ja auch auf die Frage des sogenannten Reduktionismus, also das kommt von “reducere”, zurückführen. Also, Wissenschaft ist, wenn sie den Namen verdient, bis zu einem gewissen Grade immer reduktionistisch. Sie reduziert, sie versucht ja, ein bekanntes Phänomen auf etwas zurückzuführen, was erst einmal unbekannt ist.

In diesem Sinne verknüpft sie die Phänomene in dem Sinne, dass etwas eigentlich etwas anderes ist. Paradebeispiel ist ja die kopernikanische Wende. Die unmittelbare sinnliche Anschauung wird ja radikal aus den Angeln gehoben. Ich meine, jeder Mensch, jeder, wir alle sind physisch, physiologisch, sinnlich, eingefleischte Antikopernikaner, ‒ aber vollkommen. Das ist ja für uns gar keine sinnlich fassbare, in diesem Sinne empirische Wirklichkeit. Das weiß man zwar intellektuell, das sieht man ja auch, wenn man die berühmten Astronautenbilder sich betrachtet, man sieht das ja. Aber das ist ja nicht eine ständig präsente Wirklichkeit. Also die Sinne sind eigentlich antikopernikanisch, in gewisser Weise, also, und da ist es ja schon eine ziemliche Herausforderung oder ein Affront zu sagen, das stimmt gar nicht. Und das ist natürlich dieser große Triumph der Wissenschaft mit dem Kopernikanismus, der zieht sich ja bis heute durch, dass immer wieder die sinnliche Unmittelbarkeit demontiert wird. Der Sinnenmensch sagt: Na, ich sehe das, ich fühle das, ich greife das, ‒ das ist doch so! Und ständig versucht ihm die Wissenschaft, jedenfalls ein bestimmter Strang der Wissenschaft auszureden oder besser einzureden, dass es nicht so sei bzw. so sei.

Die Frage, haben wir hier schon ein paar Mal angesprochen, der Farben. Was sind Farben? Fragen Sie einen Physiker. Kein Physiker hat einen Hauch von einer Vorstellung, was Farben sind. Er sagt: Das ist gar nicht mein Thema, zu fragen, was Farben sind. Das ist eine psychologische Frage, vielleicht eine physiologische Frage. Das ist eine Frage, die wir nicht stellen und auch in gewisser Weise nicht stellen dürfen, weil die Farbe als Farbe, also als sie selbst, nicht einfach als [eine] messbare Schwingung, das ist ja keine Farbe. Wenn ich sage, so viele Billionen Schwingungen pro Sekunde, ist das ja nicht die Farbe, sondern es ist ein bestimmtes Phänomen, erstmal da draußen. Farbe wird es ja erst im Wechselspiel mit dem lebendigen Subjekt. Und nicht umsonst ist das der Ansatzpunkt ja auch der Goethe-schen Naturphilosophie gewesen. Gerade hier, dass eben das Außen und das Innen sich verschwistern und untrennbar miteinander verbunden sind, dass man den Schnitt gar nicht machen kann auf diese radikale Weise, wie das etwa in der Newtonschen Optik geschehen ist. Also Farben sind ein anderes Beispiel.

Also, zurück zu Bechmann. Art der Theoriebildung war noch Punkt 1. Erklärungsbegriff, wie wird denn erklärt, schreibt Bechmann hier in Klammern: kausal, statistisch, genetisch, funktional. Völlig verschiedene Dinge. Ich greife nur mal raus: kausal und funktional. Gemeinhin wird in der Physik beispielsweise funktional erklärt, das heißt die Frage nach der causa, nach der eigentlichen Ursache, wird meistens gar nicht gestellt. Das ist nachzuweisen eigentlich seit der klaren Herausbildung des sogenannten mechanistischen Weltbildes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dass alle Phänomene eigentlich funktional erklärt werden. Es wird nicht mehr gefragt, warum. Die Frage etwa: Warum sind die Dinge schwer? Die berühmte Frage: Warum zieht die Erde eigentlich die Dinge an? Darauf haben die Physiker dann seit dem 18. Jahrhundert gesagt: Das wissen wir nicht, das müssen wir auch nicht wissen. Das ist gar keine Frage, die irgendwie relevant ist, weil wir sehen, da ist etwas, und es wirkt, und es lässt sich auch mathematisch beschreiben. Es ist eminent erfolgreich, es kann Gestirnbewegung erklären und voraussagbar machen. Aber die Frage blieb bis heute eine unbeantwortete, ein Thema, was mich viel beschäftigt hat und auch weiterhin beschäftigt, was eigentlich Gravitation ist, eines der größten Rätsel überhaupt in der Physik – völlig ungeklärt. Die herrschende Physik hat dazu buchstäblich nichts zu sagen.

Also, die Kausalität wird meistens in der Physik seit dem 18. Jahrhundert zugunsten der Funktionalität ausgeklammert, also die Erscheinungen werden funktional erklärt. Man kann sie aber auch kausal erklären. Dann müsste man fragen: Warum sind die Dinge? Das wäre dann die ja schon von Kindern gestellte Warum-Frage. Das wäre etwas vollkommen anderes. Wenn ich das so ansetze, dann komme ich zu einem ganz anderen Grundverständnis, wenn ich frage: Warum? Da müsste ich ja schon mal stocken. Da würden viele Physiker dann sagen: na, die Gravitation ‒ ich kann die Warum-Frage nicht beantworten. Also was soll ich machen? Soll ich mich jetzt nach Art der Philosophen grübelnd hinsetzen und darüber meditieren oder denken: Was ist denn diese Gravitation? ‒ Da komme ich nicht weiter. Also setze ich voraus, sie ist da, es gibt sie und rechne, bloß ist diese Art von Rechnen natürlich kein Denken. Aber man sieht an dem Beispiel, dass es zwei verschiedene Dinge sind, ‒ eine Sache funktional zu erklären oder kausal.

Zweiter großer Bereich ist das Wahrnehmungskonzept nach Bechmann. Also erstens der theoretische methodische Bezugsrahmen generell, dann das Wahrnehmungskonzept: Was wird wahrgenommen? Art des Empirie-Bezuges, jetzt ganz wichtig: zugelassene Formen der Wahrnehmung oder Beobachtung. Welche Wahrnehmung wird denn zugelassen? Also wenn zum Beispiel in der Reichschen Physik die Emotionen des Menschen eine sehr große Rolle spielen, also, wie ist einer als Mensch und zwar vollkommen ganzheitlich verstanden ‒ dann ist das etwas, was in der … im herkömmlichen Wissenschaftsbereich als völlig irrelevant gilt. Wie einer sich gerade fühlt oder welche Emotionen er hat, ob es ihm gut oder schlecht geht, dürfte oder sollte keinen Einfluss haben auf das Versuchsergebniss. Das sollte vollkommen draußen vor bleiben. Also würde die Frage vollkommen unzulässig sein, also die Frage zu stellen: Wie ist meine emotionale Befindlichkeit? Oder wie Reich sagen würde: Wie stehe ich zur Sexualität? Kann ich überhaupt Natur sinnvoll betrachten, wenn ich nicht in irgendeiner Form meine eigene Sexualität integriert habe? Kann ein Neurotiker, jetzt mal ganz radikal im Reichschen Sinne, eigentlich die lebendige Natur in irgendeiner Form nicht-neurotisch betrachten? Reich würde sagen: Nein, kann er nicht. Er ist von vornherein gebunden an seine eigene neurotische Grundstruktur. Da wird natürlich die gesamte Natur genauso neurotisch betrachtet, weil die Frage ist nicht zulässig, welche Gefühle einer hat beim Messen. ‒ Zugelassene Form der Wahrnehmung und Beobachtung oder welche Phänomene werden denn zugelassen?

Ich könnte ja sagen, es gibt jetzt, ‒ ich bleib noch mal ganz kurz bei der Gravitation ‒, es gibt mittlerweile ja eine ganze Reihe von Beobachtungen in der sogenannten Außenseiter-Naturwissenschaft, dass es so etwas wie Antigravitation gibt. Immer mal wieder geistert das sogar durch die Presse. Das stimmt gar nicht, was gemeinhin behauptet wird. Es gibt immer wieder Vermutungen auf eine sogenannte fünfte Kraft und so weiter. Nun kann man sagen: Wird das zugelassen [von] Technikern und Experimentalphysikern? Dann kommt noch ein Moment hinzu, was wichtig ist, dass es bei vielen Experimentalphysikern, sagen wir mal gelinde, ein gewisses Unwohlsein gibt über die kolossale Publicity der theo-retischen Physiker. Nicht, die theoretischen Physiker stehen im Rampenlicht und vor allen Dingen die Elementarteilchenphysiker und die Kosmologen, die stehen im Rampenlicht, überall, im “Focus” und in der “Zeit” und in der “Süddeutschen Zeitung”, im “Spiegel”, wenn etwas berichtet wird, dann sind es aus der Physik meistens diese Bereiche, während die eigentlichen Experimentalphysiker eher im Schatten stehen. Und es gibt ein gewisses Ressentiment, und so gibt es, ist es verständlich, dass von Seiten der Experimentalphysiker häufig viele Einwände gebracht werden gegen diesen Abstraktionismus. Die sind oft ganz direkt bezogen auf diese Apparate und auf das Messen, ‒ und ich habe das verschiedentlich auch in Gesprächen gemerkt ‒ und [die Experimentalphysiker] haben richtig ein tiefsitzendes Ressentiment, eine Mischung aus Neid und Missgunst, aber auch von sozusagen von Verdächtigen dieser Positionen der theoretischen Physiker. Sie haben das Gefühl, das stimmt nicht und sind aber …, haben keine Öffentlichkeit und haben auch keine Möglichkeit, in der Regel in den führenden Fachjournalen zu veröffentlichen. Das ist ja eine gnadenlose Zensur, die da ausgeübt wird. Also das ist nicht eine bösartige Behauptung, sondern das ist wirklich so. Es wird im Vorfeld eine radikale Zensur ausgeübt.

Wenn Sie zum Beispiel heute über Kosmologie veröffentlichen wollen, und sie sind etwa ein eingefleischter Gegner der Big-Bang-Kosmologie, dann haben sie Schwierigkeiten, in den meisten Journalen überhaupt ihre Aufsätze unterzubringen. Das ist schwierig. Es geht, aber es macht ganz große Probleme. Und da sind wir bei einem weiteren Punkt, dass wenn ein Paradigma sich in irgendeiner Form als erfolgreich erwiesen hat, wird es auch mit Zähnen und Klauen verteidigt gegen Einwände. Und dann kann man fragen: Warum ist es denn so wichtig, ob dieses oder jenes stimmt ‒ das ist dann der nächste Schritt. Und warum hat man nicht die Offenheit und sagt: Ich weiß es auch nicht. Lass uns doch mal offen über diese Dinge reden. ‒ Das ist oft nicht der Fall.

Noch kurz vor der Pause die beiden nächsten Punkte von Bechmann. Also, wir hatten den theoretisch-methodischen Bezugsrahmen, wir hatten das Wahrnehmungskonzept ‒ was ist zugelassen, was ist nicht zugelassen? Ich habe das Beispiel auch gebracht von Wilhelm Reich und den Emotionen, auch zugelassene Messverfahren, auch wichtig: Was wird zugelassen?

Dann dritter Punkt, vielleicht am einfachsten zu verstehen: erkenntnisleitende Interessen. Erkenntnisinteresse ‒ theoretisch, technisch, praktisch, thematisierte Fragestellung, Zielvorstellung. Was ist das Interesse? Also das ist ja nun die naheliegende Überlegung. Ich habe das mit einem Physiker im Sommer mal ausführlich diskutiert. Er sagte mir, er hätte in seinem Labor plötzlich ein Messergebnis herausbekommen, was einfach nicht stimmte. Er hat immer wieder nachgemessen, die Messungen stimmten, aber die Interpretation stimmte nicht im Rahmen des Herrschenden. Ganz große Schwierigkeiten, ganz große Probleme tauchen da auf. Was soll jetzt der Physiker X in so einem Fall machen, zumal wenn er abhängig ist, in einem Forschungsinstitut auch Gelder bekommt? Es gilt ja auch für Projekte generell: Welche Projekte kriegen denn Gelder und welche kriegen keine Gelder? Die Scientific Community ist ja sehr geschickt, den Politikern, die sowieso keine Ahnung davon haben, klar zu machen, dass das Grundlagenforschung ist. Also wenn ein Kosmologe, sagen wir mal, jetzt plädiert für eine Erweiterung der Teilchenbeschleuniger, dann kann er den Politikern deutlich machen: Wir müssen konkurrenzfähig bleiben, wir müssen das machen, weil die anderen sind sonst schneller. Nicht, das jetzt in Genf, das größte Projekt überhaupt in dieser Form, das ist Grundlagenforschung und wenn wir die Grundlagenforschung nicht betreiben, dann werden wir wissenschaftlich ins Hintertreffen geraten. Also da ist das erkenntnisleitende Interesse ganz deutlich, auch purer nationaler Ehrgeiz, Ellbogen in der Weltgemeinschaft und dass das Wettrennen um Preise, ‒ menschlich alles verständlich, aber trotzdem hat das mit Wissenschaft nichts zu tun, erst mal. Also, erkenntnisleitende Interessen sind immer vorhanden.

Der vierte Punkt bei Bechmann hier ist materialer Bezugsrahmen. Er meint damit den allgemeinen Objektbereich. Das heißt, welche Phänomene oder Objekte sind denn überhaupt zugelassen? Wenn ich sage, ich habe da Dinge beobachtet, und ich bin noch so kühn und ich stelle mich da in die Öffentlichkeit, dann erwähne ich ja manchmal dieses irische Sprichwort, das da lautet “Wenn du einem zweiköpfigen Schwein begegnest, halt den Mund”. Weil, du kriegst nur Schwierigkeiten, wenn du es wirklich gesehen hast und selbst erläuterst. Sag lieber nichts, es ist besser, du behältst es für dich. Das ist der Punkt. Also, wenn Sie das zweiköpfige Schwein gesehen haben, dann sagen Sie lieber nichts. Also allgemeiner Objektbereich. – Dann durch das Paradigma erfassbarer Ausschnitt des Objektbereiches, auch wichtig, Inhalt und Struktur der als gesichert vorausgesetzten Zuliefertheorien, ‒ sehr schöner Begriff von Bechmann: “Zuliefertheorien”.

Also jede Theorie hat ihre Zuliefertheorien. Ein Naturwissenschaftler kann ja gar nicht alles nachprüfen, was andere gemacht haben. Auch der Nobelpreisträger im Fach X übernimmt ja 99 Prozent der Werte aus den Lehrbüchern, oder er übernimmt die Messwerte. Oft genug stimmen die Messwerte gar nicht, oder es werden falsche Werte tradiert. Es gibt also verheerende Beispiele. Er kann ja nicht anders, ist ja unmöglich. Er kann ja nicht alle Forschung selber machen. Also, es gibt ja theoretische Physiker, wie sie wissen, die sowieso ungerne praktisch arbeiten. Wolfgang Pauli war das berühmteste Beispiel. Immer wenn er irgendwo auftauchte, gingen die Instrumente kaputt – Pauli-Effekt, ja, weltbekannt. Das habe ich auch schon mal hier erwähnt: Wolfgang Pauli, ein bedeutender theoretischer Physiker, Quantenphysiker, hasste Experimente, die irgendwie grobstofflich sind, denn sein Lieblingsbetätigungsfeld waren Gedankenexperimente. ‒ Also “Zuliefertheorien”, finde ich sehr schön von Bechmann, den Begriff, und dann zum Schluss: Inhalte explizit oder implizit vorausgesetzter Leitbilder, Konzepte oder Theorieansätze. Also was wird vorausgesetzt? Ich würde hier eher von Prämissen sprechen. Was sind die Prämissen?

Man kann häufig genug auch in Lehrbüchern feststellen, dass die Prämissen gar nicht deutlich gesagt werden. Man muss dann erst genauer weiterforschen und feststellen, was sind die Prämissen, von denen einer ausgeht? Ich habe das oft in Diskussionen mit Wissenschaftlern versucht, auf den Punkt zu kommen: Wovon gehst du aus, ich möchte deine Prämisse erst mal wissen, wovon gehst du aus? Was ist für dich eigentlich eine unhinterfragte Grundlage? Und darüber dann erst mal reden. Denn natürlich neigen Wissenschaftler in solchen Diskussionen immer dazu, sozusagen, den so Fragenden darauf festzunageln, dass er diese Prämisse akzeptiert und dann Schritt für Schritt vollzieht. Ich kann dann sagen, gut, wenn deine Prämisse stimmt, dann sind deine Schritte konsequent logisch. Aber ich bezweifle diese Prämisse. Die Prämisse stimmt nicht, sie ist auch nicht beweisbar. Da wird es schwierig. Da geht man dann wirklich in die Fundamente von Wissenschaft überhaupt, wenn es um diese Prämissen geht.

Gut, machen wir mal eine kleine Pause. Ich habe bisschen überzogen. …

Bevor ich bei Bechmann weitermache, will ich darauf hinweisen, dass ein zweites Buch, was auf der Literaturliste steht, auch zu dieser Frage wichtig ist, gelinde gesagt wichtig ist, ich würde sagen spannend, hochinteressant ist, dass dieses Buch: Rupert Sheldrake “7 Experimente, die die Welt verändern könnten”, umstritten, in England übrigens war es lange Zeit ein Bestseller, in Deutschland kaum, obwohl es auch eine gewisse Verbreitung erreicht hat. Sheldrake selber, von Hause aus Biochemiker, gibt hier Beispiele für wissenschaftliche Methoden und auch Beispiele für das, was wir eben gehört haben über das Paradigma von Bechmann. Zum Beispiel hat er hier einen Abschnitt drin, den nennt er “Objektivitätsillusionen”. Er gibt dann Beispiele, wie häufig genug mit bestimmten Messwerten umgegangen wird. Und eines der spannendsten Punkte, ich sage das nur in Ergänzung zu Bechmann, ist die Frage der Selektion von Messwerten. Ich will jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen, weil das vielleicht für einige ein bisschen abwegig oder vielleicht auch langweilig sein könnte, aber es ist ein wichtiger Punkt: Welche Messwerte wähle ich aus, und welche lasse ich draußen. Wenn mir eine bestimmte Theorie, nur mal jetzt ein beliebiges Beispiel, eine solche Kurve als unbedingt richtig nahelegt, ‒ ich habe aber diese Messwerte ‒, dann werde ich natürlich, wenn mir die Theorie wichtig ist, geneigt sein, zu sagen, das sind Messfehler, das kann nicht stimmen, da ist irgendwie ein Fehler passiert. Die liegen relativ dicht dran und die, die ganz dicht dran sind, sind die eigentlich richtigen Messungen. Ist verständlich, weil wenn ich eine bestimmte Theorie favorisiere, wo diese Kurve als eine gemittelte herauskommen muss, dann ist es erst einmal vollkommen plausibel, wenn ich nur diese Messungen wähle, die dieser Kurve sehr nahe kommen. Das hat häufig zu extremen Fehldeutungen geführt. Es gibt also wirklich verheerende Beispiele in der Wissenschaftsgeschichte, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, die man aber ganz gut nachweisen kann, also wirklich am Material zeigen kann, also nicht jetzt von einer philosophischen Grundlagenkritik aus, sondern einfach am empirischen Material.

Wenn man sich die Bücher anguckt und wirklich nachforscht, was ist denn da eigentlich gemessen worden? Und wie kommt man dazu, dass man sagt, die Theorie ist verifiziert, weil die Kurve rauskommt? Das ist wirklich ein hoch interessanter Punkt. Ich habe das mal genau recherchiert, an mehreren Beispielen, und auch an dem Beispiel, das ich hier nur andeuten will ‒ das wird uns noch im Zusammenhang mit dem Äther beschäftigen ‒ bei den berühmten Äther-Versuchen von Michelson-Morley, die ja legendär geworden sind 1881/1887, dann sind sie wiederholt worden, 1905 bis in die 20er Jahre hinein. Was ist da eigentlich gemessen worden? In allen Physik-Lehrbüchern steht drin, es gab ein Null- Resultat. Diesen Ätherwind hat es nie gegeben, also existiert der Äther nicht. Einige von ihnen werden das wissen. Ich komme auf diese Frage noch zu sprechen ‒ und in allen Physik-Lehrbüchern steht drin, alle Messungen hätten ergeben, es hat diesen Äther[wind] nicht gegeben. Also, es hat zwar die eine oder andere Messungenauigkeit gegeben, die kann man nicht genau interpretieren, aber im Prinzip ist es nicht so gewesen. Und wenn man aber genau jetzt den Quellen nachgeht, ‒ es gibt einige Autoren, die das gemacht haben, ich habe die mal mir genauer angeguckt ‒, dann kommt man aus dem Staunen nicht raus, wie weit ab die eigentlichen Messwerte davon entfernt lagen. Und man staunt wirklich, wie es möglich ist, dass in fast allen, allen, nicht nur fast, Physik-Lehrbüchern für Schule und Universität immer behauptet wird, dass es keine Ätherwind-Effekte gegeben hat. ‒ Es hat sie gegeben. Sie waren klein. Man hat ja doch zwei Lichtstrahlen genommen, einen in Richtung der Erde, einen im rechten Winkel dazu. Und wenn man von der Orbitalgeschwindigkeit der Erde mit dreißig Kilometern pro Sekunde ausgeht, dann haben einige vermutet, müsste sich das irgendwie bemerkbar machen. Der eine Strahl müsste schneller sein als der andere. Dann hat man das gar nicht festgestellt. Es gab nicht diese Interferenzen, die schienen gleich schnell zu sein. Also gab es nur zwei Möglichkeiten, den Äther[wind] gibt es gar nicht, Version Einstein, Spezielle Relativitätstheorie ‒ oder andere Version, der Äther ist mitgeführt worden von der Erde. Wenn man aber jetzt die Messwerte, das habe ich mal gemacht, sich genauer anschaut, stellt man fest, es hat immer Äther-Effekte gegeben, die waren nur sehr klein. Die lagen im Bereich von 8 bis 9, 8,7 km pro Sekunde, also relativ kleine Werte, aber immerhin, es gab sie. ‒

Ein anderes Beispiel bei den berühmten Versuchen der Lichtablenkung durch Fixsterne. Nicht, die berühmte, ja fast legendäre Krümmung der Lichtstrahlen in Schwerefel-dern. Wenn Sie die Messunterlagen sich angucken, dann stellen Sie fest, dass die Streuung sehr groß ist und dass man eine bestimmte Kurve favorisiert hat und dass man die anderen einfach rausgenommen hat. Die ist ganz ungenau verifiziert nur, ja, es gibt zig Beispiele dafür. Also es ist nämlich nicht so wie der, sagen wir mal der Laie, der wissenschaftsgläubige Laie denkt, hier ist eine bestimmte Kurve vorausgesagt, mathematisch präzise, und die Messwerte idealiter müssten ja alle genau auf der Linie liegen oder wenn man von kleinen Ungenauigkeiten absieht, ganz geringfügig davon abweichend, aber häufig genug weichen die erheblich voneinander ab. Ich sage es noch mal, dann ist es menschlich verständlich, wenn man eine bestimmte These favorisiert, Hypothese favorisiert, dass man diesen Wert zum Beispiel als extreme Messungenauigkeit hinstellt, den als moderate Messungenauigkeit, [und] den hier hätte man richtig gemessen. Vielleicht stimmt die ganze Kurve nicht, oder es gibt ja viele Gründe auch, ganze Forschungsgelder werden ja bereitgestellt für ganz bestimmte Theorien, dass sie verifiziert werden, nicht dass sie widerlegt werden. Damit kann man überhaupt keine Meriten gewinnen.

Das führt auf diese Ebene der Interessen, die wirklich ganz stark sind. Das ist in der Tierverhaltensforschung noch entscheidender. Da ist wirklich so, oder auch in der Psychologie. Es ist wirklich vielfach nachgewiesen, dass Patienten, die eine Freudsche Analyse machen, wirklich auch dann Freudsche Träume träumen, und die die Jungsche Analyse machen, träumen wirklich diese Archetypen. Also jeder träumt das, was der Psychiater ihm nahelegt. Das ist natürlich nicht in diesem absoluten Sinne der Fall. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, das wäre jetzt allzu simpel, ja irgendwie auch platt, das so zu sagen. Aber es gibt eine gewisse Tendenz. ‒ Also, bestimmte Gänse verhalten sich eben bei einem Tierforscher so und bei dem anderen anders. Das ist auch noch verständlich. Aber merkwürdig bleibt es, wenn zum Beispiel die Frage, ob diese legendären Neutrinos eine Masse haben oder nicht, weltweit in allen Laboratorien verschieden beantwortet werden. Die einen behaupten fest, sie hätten eine Masse gemessen, die anderen sagen, da gab es überhaupt keine Masse. Was ist nun passiert? Gibt es da paranormale Effekte? Glauben alle, da muss eine Masse messbar sein, dann wird sie auch gemessen. Oder sie glauben alle das Gegenteil, [dann] wird sie nicht gemessen. Bis heute weiß das keiner: Haben diese verdammten Teilchen nun eine Masse oder haben sie keine Masse? Mittlerweile wird die These favorisiert von der scientific community: Die kleinen Kerlchen haben keine Masse, aber das ist immer noch auf sehr tönernen Füßen. Auch da sieht man, wie schwierig die Sachen sind.

Und das zeigt ja Sheldrake sehr schön, dann geht es oft sehr merkwürdig voran. Man nimmt eine Bestätigung, der nächste liest das in einem Lehrbuch. Klare Sache. Er misst ja nicht mehr nach. Heute wird ja kein Physiker in aller Welt noch mal ernsthaft sich hinstellen und Michelson-Morley 1881-87 nochmal neu messen. Ganz wenige haben das so gemacht. Das ist gemacht worden, 1987 (von …) in Amerika, die haben es gemacht und kamen zu überraschenden Ergebnissen: gewaltige Ätherwind-Effekte. Das kann man auch nachlesen. Die sind noch größer als sie damals gemessen wurden. Also kann das alles nicht stimmen. Entweder stimmen die Messungen nicht, oder das ganze war eine gewaltige Mystifikation einer Phantasmagorie, große Verwirrung. In die Lehrbücher ist das noch nicht vorgedrungen. Tatsache ist, es gibt erhebliche Effekte dieser Art, und da ist man an einer wichtigen Stelle. Weil, das hat ja ungeheure Auswirkungen, wenn man plötzlich sagt, na ja, diese Effekte hat es ja gegeben. Ja, was ist denn dann mit der Interpretation der angeblichen Null-Effekte? Ganze Bibliotheken sind geschrieben worden darüber, über diese Null-Re- sultate, nicht, das ist ja bekannt. Wenn das gar nicht stimmt, was dann? Ist das alles Makulatur ‒ oder muss man das jetzt neu denken? Und so weiter. Also diese Fragen sind hochinteressant, und sie sind kontrovers. Es ist nur wichtig, dass man erst einmal den Punkt begreift, um dem es geht. Darauf will ich hinaus, dass man diese Naivität aufgibt, die häufig herrscht, auch bei Leuten, die ein gewisses Grundverständnis mitbringen, anzunehmen, dass die experimentellen Grundlagen, so klar sie sind, häufig noch unklar sind, und auf unklaren, ungenauen Messungen werden oft aberwitzige, weitreichende Überlegungen angestellt. Ist ja nicht so, dass das einfach sich von selbst verstünde. Es ist ja nur ein sehr simples Beispiel mit dieser Kurve hier.

Zurück mal zu dem Bechmann und seinem Essay “Wissenschaft ‒ Die Suche nach der Wahrheit und paradigmatischen Festungen”. Übrigens auch gut finde ich den Ausdruck “Festungen” in dem Zusammenhang, weil diese Paradigmen wirklich wie Festungen sind. Die werden gehalten, die werden verteidigt, und sie werden natürlich auch von Einzelgängern angegriffen. Wilhelm Reich war so ein Einzelgänger, Viktor Schauberger war ein anderer. Es gibt viele Einzelgänger, die dagegen angegangen sind. Alle sind sie gescheitert an diesem gewaltigen Apparat. Nicht deswegen gescheitert, weil sie immer Unrecht hatten, sondern weil der gesamte Apparat als ein ungeheurer, auch gewachsener, institutionalisierter Faktor auch mühelos einzelne Einwände abbügeln kann.

Und dann kommt natürlich der Punkt, der psychologisch verständlich [ist], dass der Außenseiter, wie ich das vorhin genannt habe, sein Konto überzieht und dann glaubt, es müsste doch eigentlich deutlich sein, dann beharren diese Außenseiter ‒ verständlich ‒ auf bestimmte Einzel-Phänomene: die sind falsch. Und dann, ich meine Physikprofessoren mokieren sich darüber, dass sie ständig irgendwelche Widerlegungen Einsteins ins Haus bekommen. Ja, es ist eine Freude, schon wieder mal kommt einer, der angeblich Einstein widerlegt. Diese Freude darüber kann man mal auf sich beruhen lassen, weil manche von diesen Leuten tatsächlich auch Einzelaspekte richtig beleuchten. Natürlich alle dann ihr enges Segment ausdehnen ins Grundsätzliche. Und leider sind viele dieser Außenseiter seither noch größere Reduktionisten als die Herrschenden, weil sie gerade in dem sie pochen auf die Evidenz einzelner Phänomene, ganz bewusst noch einmal dieses herrschende Paradigma eigentlich akzeptieren. Aber das herrschende Paradigma trifft nicht das, worum es geht. Und häufig sind diese wirklich auch extreme Reduktionisten.

Man kann das beobachten, zum Beispiel bei der Frage, die Gravitation neu zu denken. Da gibt es verschiedene Zeitschriften. In Amerika gibt es ein “Electric Space Craft Journal”. Das beschäftigt sich seit Anfang der 90er Jahre mit diesen Fragen. Ich habe mal durch einen Bekannten die ersten Nummern bekommen und habe mir die angeguckt. Das sind meistens Ingenieure und Techniker. Die sind sehr umtriebig, sind aber im Grunde alle Reduktionisten, häufig genug auch Materialisten. Die werfen gerade den herrschenden Physikern dann vor, die seien zu metaphysisch. Also plötzlich wird das alles umgekehrt. Dann wird denen Metaphysik vorgeworfen, was auch stimmt, weil die Quantentheoretiker, die sind wirklich blanke Metaphysiker, aber anders als es hier in der Kritik erscheint ‒ also sehr kompliziert, auch der Zusammenhang.

Also, “Paradigmen wirken zugleich in negativer Weise selektiv”, schreibt Bechmann, da habe ich schon darüber gesprochen, “indem sie Phänomene und theoretische Aspekte bzw. Fragestellungen, die nicht zu ihrem Gesichtsfeld gehören, zur Artikulationsunfähigkeit verdammen.” Nicht, das Beispiel mit den Emotionen, was ich gebracht habe. “Die jeweils wissenschaftsfähige Welt endet an den Grenzen der einzelnen Paradigmen. Ein Wissenschaftler sieht in der Regel nur das, was ihm das Paradigma seiner Wissenschaft zu sehen anbietet und gestattet. Dies gilt umso mehr, als ein Paradigma im wissenschaftlichen Alltag nicht durch eine punktuelle Entscheidung oder Konvention übernommen wird, sondern weil sie das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses ist.” In diesem Sinne ist ja Wissenschaft wirklich eine kollektive Veranstaltung, eine soziale Veranstaltung, und es braucht immer eine gewisse Zeit, bis eine revolutionäre neue Idee so weit gefestigt ist, dass sie eine bestimmte Anzahl von Individuen auf sich vereinigt, die sich erst einmal damit beschäftigt, die das für ernst halten, für seriös, die das für würdig befinden, sich damit zu beschäftigen. Das kann man ja … Ich habe zig Beispiele dafür.

Ich erwähne ja auch gerne das Beispiel der Wellentheorie des Lichts, die sich mühsam durchsetzen musste im frühen 19. Jahrhundert, gegen die lähmende Autorität der damals herrschenden Physik, die sagte, Licht kann keine Wellen-Natur haben. Thomas Young in England und andere haben das dann mühsam durch ständiges Insistieren darauf dann durchgesetzt in einigen Jahren, haben tatsächlich 10, 15 Jahre gebraucht, bis sie dann die scientific community soweit hatten, dass sie sagte: Okay, das stimmt. Und dann war es plötzlich 20, 30 Jahre später, wie ein Dogma fest gemauert. So muss es sein, so ist es absolut richtig.

Also ein Wissenschaftler sieht in der Regel nur das, was ihm das Paradigma seiner Wissenschaft zu sehen anbietet und gestattet. Jetzt noch mal Thomas Kuhn, wird hier zitiert: “Wissenschaftler arbeiten nach Modellen, die sie sich durch ihre Ausbildung und die spätere Beeinflussung durch die Literatur angeeignet haben.” Müssen sie, keiner würde irgendeine Prüfung bestehen können, wenn er das nicht tut, dann muss er Punkt für Punkt abhakbar funktionieren. Sonst würde er niemals auch nur über das Proseminar hinauskommen. Wer schon im Proseminar Grundsatz-Einwände hat gegen bestimmte Theorien, der kommt nicht weit, also würde keine Prüfung bestehen. Rechne erst mal richtig, bevor du hier so kritisierst, nach dem Muster.

Also: “Wissenschaftler arbeiten nach Modellen, die sich durch ihre Ausbildung oder spätere Beeinflussung durch die Literatur angeeignet haben, ohne genau zu wissen oder auch wissen zu müssen, welche Eigenschaft diesen Modellen den Status von Gemeinschafts-Paradigmen gegeben haben.” Das wissen sie oft nicht, interessiert sie auch gar nicht. Viele finden das eine unsinnige Frage, eine philosophische Frage oder eine soziologische Frage, wie immer, auf jeden Fall keine wissenschaftliche. Noch einmal Thomas Kuhn wird hier zitiert. “Obwohl viele Wissenschaftler leicht und gut über die besonderen individuellen Hypothesen sprechen, die einen konkreten Teil der laufenden Forschung zugrunde liegen, sind sie doch nur wenig besser als Laien” ‒ Thomas Kuhn ‒ “wenn es um die Charakteri-sierung der etablierten Grundlagen ihres Gebietes, seiner legitimen Probleme und Metho-den geht, sagen sie eigentlich auch nur das, was der Mann auf der Straße oder die Frau auf der Straße eben mal so von sich gibt, nichts wesentlich Differenzierteres. Wenn Sie der-artige Abstraktionen überhaupt gelernt haben, dann zeigen Sie es in erster Linie durch Ihre Fähigkeit zu erfolgreicher Forschung. Diese Fähigkeit kann aber verstanden werden, ohne dass man bei hypothetischen Spielregeln Zuflucht suchen müsste.”

Dann stellt Bechmann hier sehr schön dar, dass es in jedem Paradigma einen Kernbereich gibt und einen Peripher-Bereich. Und das eigentlich Wichtige ist der sogenannte Kernbereich eines Paradigmas, also eines Musters, eines wissenschaftlichen Gesamtsystems der Forschung. Der Kernbereich ist so gefasst, dass in ihm eine echte Erschütterung des Paradigmas nicht möglich ist. Das ist wichtig. Das kann nicht sein, weil er ist in sich so gebaut, dass die Erschütterung am Kern nicht ansetzen kann, zunächst, etwa dadurch, dass der Anwendungsbereich mit seiner Hilfe angemessen erklärt werden kann. Dies gilt zum Beispiel für die Darstellung unseres Planetensystems aus ptolemäischer als auch aus kopernikanischer Sicht. Also die Messungen, ständig gab es Beobachtungen, die einfach nicht stimmten. Irgendwie war die allgemeine Unruhe: Irgendetwas stimmt nicht. Die Epizyklen wurden immer komplizierter, die man bauen musste, weil man nicht auf den Grundgedanken kam, den dann Kopernikus wieder aufgriff aus der Antike, Möglichkeiten zu Immunisierungsstrategien gegen unliebsame Einwände entwickelt werden. Das ist ein schöner Begriff von Bechmann: “Immunisierungsstrategien”.

Also man immunisiert den Kernbereich gegen Einwände. Das kann man, kann man lukendicht abschließen, “wobei energisch darauf geachtet wird, dass nur das thematisiert wird, was innerhalb des eigentlichen Kernbereichs zugelassen ist, (Dogmatisierung)”. Das ist natürlich auch leicht so geschrieben und gesagt, auch vollkommen richtig: Wenn man erst einmal in diesen Apparaten arbeitet, gibt es natürlich einen enormen Druck von oben, von dem Institut wo man ist, von den Kollegen, ganz wichtig, die Kollegen, sich lächerlich machen, vor den Kollegen, die Reputation, man muss ständig veröffentlichen, das muss durch anerkannte Leute in irgendeiner Form abgesegnet sein. Meistens werden die Sachen ja gar nicht richtig gelesen. Und diese Hunderttausende von Aufsätzen, die ständig erscheinen, liest ja kein Mensch, wenn, nur ganz wenige. Und das ist natürlich ein psychologischer Druck, der da ständig aufgebaut wird: Veröffentlichen müssen, sich irgendwie auf sich aufmerksam machen müssen, ab und zu auch mal, wenn man Professor ist, auch schon mal ein Buch veröffentlichen. Ganz ohne das, da macht man sich dann auch irgendwie ‒ der hat ja noch nie ein Buch veröffentlicht. Also, jeder ist da in einem ungeheuren Druck, der ist erst einmal menschlich durchaus verständlich, und er mag dann seine Zweifel und seine Einwände für sich behalten oder im privaten Kreise äußern. Oder auch mal mit dem Kollegen X, wenn er mit dem abends beim Wein zusammensitzt, aber nicht offiziell. Extrem schwierig.

Hinzu kommt natürlich die enorme Konkurrenz untereinander, der Leistungsdruck auch, um noch mal die Forschungsgelder anzusprechen, die Frage: Wofür wirklich For-schungsgelder und wofür keine Forschungsgelder? Das ist ja ein zentraler Punkt. Die Geldtöpfe sind begrenzt, und wer kriegt die Gelder, wer kriegt sie nicht? Immer Interessen. Das ist eben wichtig. Wenn einer da einfach mal weitreichend Grundsatz-Überlegungen anstellt, was alles im Herrschenden nicht stimmen kann, der wird kaum von offizieller Seite die Gelder bekommen. Die muss er sich anders verschaffen. Wenn er da ein Institut hat, dann müssen die Gelder auf andere Weise herkommen oder gesponsert werden. “… also energisch darauf geachtet wird, dass nur das thematisiert wird, was innerhalb des eigentlichen Kernbereichs zugelassen wird. Durch sinnhafte Konstruktion, Immunisierung und Dogmatisierung kann jedes naturwissenschaftliche Paradigma hinsichtlich seines Kerns gegenüber logischen oder empirischen Angriffen verteidigt werden.” Das ist wichtig. Also, Schluss hier von Bechmann, eine Art Resümee: “Paradigmen sind stets selektiv”, da haben wir schon drüber gesprochen, “und ermöglichen dadurch Kommunikation und Tiefen-schärfe für Erkenntnisse”, jetzt positiv gesagt. Es geht ja nicht darum zu sagen, Paradigmen überhaupt sind schlecht, in keiner Weise. “Für den wissenschaftlichen Normalbetrieb sind sie hilfreich. Zum Problem kommt es jedoch dann, wenn konkurrierende Paradigmen zu ein und demselben Gegenstandsbereich auftreten, oder wenn Wissenschaftler ihr eigenes Paradigma mit Wissenschaft insgesamt verwechseln, wenn sie beispielsweise zu glauben beginnen, es könne keine wissenschaftliche Erkenntnis außerhalb der Grenzen ihres Paradigmas geben.”

Und dann stellt Bechmann abschließend die Frage, die er nicht, da finde ich ihn nicht sehr überzeugend, zu klären versucht, wie es kommt, dass bestimmte Paradigmen sich durchsetzen und andere nicht. Und ich meine, dass das oft noch mit Faktoren zusammenhängt, die hier nicht erfasst sind. Warum sind bestimmte Theoreme so kolossal populär, ja geradezu jedermann eingängig, obwohl sie empirisch ganz schlecht gestützt sind? Da kommen Momente, archetypische, psychologische Momente ins Spiel, die meist vollkommen undurchschaut sind.

Das neue Paradigma siegt in dem beginnenden Verdrängungsprozess in der Regel nicht deshalb, weil es stärker oder in sich gesicherter ist, dass ist ohne Frage richtig, nicht weil die besseren Argumente da sind, das ist ganz naiv, zu sagen, einer hat die besseren Argumente, also sagen die anderen, okay, du hast recht. Das kommt hin und wieder vor. Aber zunächst mal sind es nicht die besseren Argumente. “Die Schwierigkeiten, die ihm entgegenstehen, sind normalerweise zunächst viel massiver als die ungelösten Probleme des in die Krise geratenen alten Paradigmas. Damit ein neues Paradigma sich letztendlich doch durchsetzt, muss es vermutlich einige Stärken haben, die seine Anhänger motivieren, an ihm zu arbeiten, die erkannten Hindernisse beiseite zu räumen, durch Propaganda und durch Überzeugung mehr und mehr neue Anhänger zu gewinnen, um schließlich das alte Paradigma ganz zu verdrängen.” Also muss, habe ich ja schon angedeutet, eine erkleckliche Anzahl von Menschen da sein, die sagen okay, wir versuchen das mal, wie das geschehen ist mit der berühmten Hypothese von Sheldrake in den 80er Jahren. Da hat es großflächige Versuche gegeben, gar nicht mal so günstig für die Hypothese. Also Sheldrake selber sagt heute, die Hypothese ist nicht so sehr gut gestützt. Aber immerhin es gibt einige Hinweise, dass sie stimmen könnte. Aber da hat es den Versuch gegeben, meistens gesponserte Versuche, nicht von staatlicher Seite, nachzuforschen, ob das stimmt oder ob das nicht stimmt. Genauso übrigens mit diesen sieben Experimenten, die er hier in diesem Buch vorschlägt. Da bringt er ja auch Beispiele von Phänomenen, die ja gar nicht wissenschaftswürdig sind, im Normalfall.

Zum Beispiel sagt er, das ist ja ein berühmtes Beispiel: Das Gefühl, von hinten ange-starrt zu werden, ‒ das interessiert ihn. Was ist da? Die meisten Wissenschaftler würden sagen, das ist doch Quatsch, Unsinn, reine Psychologie. Einer sitzt im Theater und hat vielleicht das Gefühl, er wird angeguckt und dann guckt einer wirklich. Also ist doch alles Psychologie, muss man sich da doch nicht mit beschäftigen. Er hat tatsächlich sich damit beschäftigt und kam da zu interessanten Resultaten. Also er hat dann ein Phänomen als wissenschaftswürdig hingestellt, dass der Mensch merkt, wenn er von hinten angeguckt wird. Wenn das wirklich stimmt, dass das in irgendeiner Form spürbar ist, dann müsste ja in den Blicken bereits eine bestimmte Form, gleichsam physikalischer Energie mit gesendet werden, wenn man mal auf der Ebene bleibt. Das behauptet er auch, dass also sozusagen das Sehen selber nicht nur passiv ist, ‒ der Mensch als Apparat, der die Welt abbildet ‒, sondern das Sehen auch als aktiver Vorgang. Weitreichende These von Sheldrake, hat ihm viel Kritik eingetragen, aber einige haben sich auch auf die These eingelassen. Übrigens auch der Volker Rohleder, der hier gesprochen hat, der homöopathische Arzt. Der hatte auch das Buch gelesen, “Sieben Experimente …” und hat sich gleich daran gesetzt, als Empirist oder Empiriker und hat mit in seinem Freundes- und Bekanntenkreis das ausgetestet, wie das ist. Und er meinte, er hätte es weitgehend verifiziert, das sei wirklich so. Also, ein ganz normales Spiel: Sechs Leute stellen sich hin, und man einigt sich hier darauf, dem alle gucken wir mal von hinten auf die Schultern, auf den Nacken: Merkt der das, oder merkt der es nicht? Also, man kann das für lächerlich befinden, aber wenn es irgendwie eine Re-levanz haben könnte, dann hätte es weitreichende Konsequenzen.

Aber auch da ist die Frage: Was ist denn wissenschaftswürdig? Viele würden sagen, es ist überhaupt nicht wissenschaftswürdig, das ist einfach indiskutabel, sich überhaupt damit ernsthaft zu beschäftigen.

Also die Frage ‒ ich will mal versuchen, einen kurzen Abschluss zu finden, dass wir noch ins Gespräch kommen können, ein bisschen wenigstens noch ‒ die Frage ist sehr schwierig, und ich habe zunächst einmal versucht, ihnen das aufzufächern, was es hier an Grundfragen gibt. Das ist schon mal wichtig, dass man sich über diese Grundfragen verständigt, um einen Zugang überhaupt zu bekommen, um gewisse Kriterien zu entwickeln, dass man gewisse Kriterien entwickelt: Wie sieht es denn aus mit der Wahrheit und Wirklichkeit? Ein gewisses skeptisches Auge auf der einen Seite wäre wichtig und dann natürlich grundsätzlich Kriterien zu erarbeiten: Wie kommen wir denn überhaupt weiter in einem anderen Denken? Und das ist in der Tat dann tatsächlich, also außerhalb der herrschenden Paradigmen.

Und da gibt es ja viele Ansätzev, und ich sagte ja schon, ist ja kein Zufall, dass so ein Sammelband hier wie von Norbert Moch, so dickleibig, hunderte von Titeln aufführt im Literaturverzeichnis, die sich alle irgendwie mit dieser Frage beschäftigen. Also es muss ein Thema sein, auch was ich so höre, wenn ich mich so umhöre in Wissenschaftlerkreisen, das bewegt kolossal viele Menschen, kolossal viel, und da ist es nicht abgeschwächt, das Thema. Im Gegenteil, es wird immer aufregender und immer spannender. Immer mehr Menschen beginnen sich damit zu beschäftigen.

Wir brauchen eine wirklich andere, eine grundstürzend andere Form von Naturwissenschaft als die herrschende, obwohl keiner so richtig weiß, wie die aussehen soll. Was ist denn dann noch mit dem alten Paradigma; das ist doch zum Teil durchaus auch empirisch gestützt. Man kann nicht alles über Bord werfen, das wäre ja absurd ‒ und da wird es sehr schwierig. Und es gibt, wie Bechmann auch sagt, feststellt, kaum eine wirklich faire, offene Auseinandersetzung. Das ist traurig, es ist aber so. Es gibt kaum eine offene, wirklich faire Auseinandersetzung, ein öffentliches Forum, wo man wirklich sagt, okay, wir setzen uns mal hin, wir denken das mal neu, offen und ziehen das in Zweifel, was die Grundlage auch des eigenen Lehrstuhls bedeutet. Wir setzen uns einfach mal hin und überlegen uns, wie könnte das auch anders sein? Es geschieht praktisch nichts. Also das ist traurig, aber das ist erstmal die Wirklichkeit, die psychologische Wirklichkeit. Und auch Außenseiter, das habe ich in vielen Gesprächen der letzten 25 Jahre immer wieder festgestellt, beharren dann oft mit einer Hartnäckigkeit auf ihrem Ansatz, dass auch mit denen dann das Gespräch schwierig wird, weil sie haben dann den einen Aspekt, den sie gesehen haben, der richtig ist. Dann bauen sie das aus zu einem eigenen Weltbild, beharren auf den Evidenzen dieser Punkte und sind extrem dogmatisch dann, wenn man auch nur zart wagt, das zu kritisieren.

Nicht, das ist ein psychologisches Phänomen, was ja selbst der große und verehrte Goethe hatte; nicht, einmal kommt Eckermann zu ihm, berichtet, ja, Eckermann in seinen Gesprächen, und macht ihn auf einen Fehler aufmerksam. Goethe verliert die Contenance, ja, Goethe ist außer sich. Plötzlich ist Eckermann, sein Freund, ein Ketzer, der nichts verstanden hat, macht ihn runter, von oben herab, kann man nachlesen, in “Gespräche mit Eckermann”. Eckermann wird ganz klein. Dann danach erkennt Goethe an, Eckermann hat das wirklich gesehen, er hat einen Fehler gesehen. Also, hat er große Schwierigkeiten damit zu sehen, okay, da ist ein Fehler. Natürlich verständlich von jemandem, der als Wissenschaftler ernst genommen werden wollte, ja nicht als Dichter oder als Politiker ‒ als Wissenschaftler wollte Goethe ernst genommen werden und er fühlte, dass die scientific community ihn nur lächerlich macht. Er war natürlich extrem empfindlich, wenn sein Intimus Eckermann auch jetzt plötzlich kommt mit Einwänden. Das nur als Beispiel, dass auch ein so hochkarätiger Wissenschaftler, wie ich ihn auch bezeichnen würde, wie Goethe, der wirklich eine andere Naturwissenschaft wollte, dass der eigentlich vollkommen irrational und emotional aufbrausend und von oben herab dann reagiert auf die Kritik. Und das ist schade. Das ist wirklich einfach furchtbar schade, denn man kann ja nicht sagen, jetzt lass uns doch mal mit diesem Außenseiter an einen Tisch setzen, mit 30 Leuten auf dem Podium. Das geht nicht, weil die Einzelnen sind dann wieder so in ihre Sachen verstrickt, dass sie es nicht können. Sie pochen dann auf die Evidenz dieses einen Punktes, den sie gesehen haben. Und die anderen sagen, kann man da nicht vielleicht mal über was anderes reden; ‒ Nein, auf diesen einen Punkt kommt es doch an.

Ich weiß und sage das alles aus langer Erfahrung, dass man dann ganz große Schwierigkeit hat, wirklich ins Gespräch zu kommen, weil der Einzelne dann beharrt auf der Evidenz dieses Punktes und dann immer der Auffassung ist, wenn du es verstanden hast, musst du es auch akzeptieren. Was ich immer wieder sage, ich verstehe genau, was du sagst. Ich kann darüber eine Stunde reden. Ich verstehe es vollkommen, aber ich akzeptiere es nicht. Oft habe ich das erlebt. Dann kam es ja, wenn du es wirklich verstanden hast, musst du sehen, dass es stimmt, dass es wahr ist. Gut, aber das meine ich jetzt nicht so irgendwie pessimistisch, sondern einfach: Es ist die Wirklichkeit. Man muss das einfach sehen. Man soll sich da keinen Illusionen hingeben. Gut, ich denke, dass ich Ihnen einen Überblick soweit gegeben habe.

Die zweite Frage des Themas: Wie erreichen wir Wirklichkeit? [Die Frage] will ich einmal …, die jetzt hier eigentlich noch groß im Raum steht, will ich erst einmal draußen lassen. Das wird uns im Laufe der Vorlesung immer noch beschäftigen, was Wirklichkeit sein könnte. Auch in dem Gastvortrag von Johannes Heinrichs wird es sicherlich eine Rolle spielen, wie man auch naturphilosophisch unter Einbeziehung der menschlichen Wesenskräfte, um einen Ausdruck von Bahro zu verwenden, immer noch auf eine neue Weise auch an die Natur vielleicht rangehen kann, durchaus auch empirisch kann, nicht nur spekulativ. Das ist wichtig. Es geht ja nicht darum, eine Spekulation durch die andere Spekulation zu ersetzen. Dann bleibt es ein Schlachtfeld von theoretischen Konzepten.

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