Polarität II – Rhythmus und Werdeprozesse

Vorlesungsreihe:

Das lebende Buch der Natur, Teil I
Tiefenökologie und Neue Naturphilosophie

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 1999
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 18

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Wer bestimmte Reizbegriffe hört, das wissen wir alle, der neigt dazu, sofort eine Einordnung vorzunehmen, wenn er den Begriff „Äther“ hört, beispielsweise, ist für viele sofort der Gedanke da, dass ist irgendwie okkult, esoterisch, theosophisch oder anthroposophisch, jetzt mal bezogen auf die eher spirituelle Ätherfrage, nicht die naturwissenschaftliche Ätherfrage. Also wir sind hier in einem sehr schwierigen Feld, und ich will versuchen trotz alledem und allen Missverständnissen entgegen, die hier notwendig drinliegen, das weiterführen. Also die Frage einer naturphilosophischen Anthropologie.

Ich habe das vor 14 Tagen ja an drei Komponenten gezeigt. Ich will das noch einmal ganz kurz sagen und das in Erinnerung rufen. Letztes Mal hatten wir ja einen Gast. Es war ja ein bisschen anderes Thema. Ich habe das gezeigt an dem Phänomen der Polarität überhaupt. Ich habe versucht, Polarität zu definieren, was schwierig ist, fast unmöglich. An einigen Zitaten ist das vielleicht doch deutlich geworden. Ich will noch mal sagen: Die Polarität ist ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen, wobei der eine Pol in gewisser Weise den anderen Pol bedingt, ergänzt, ja geradezu setzt. Also der eine Pol wird durch den jeweils anderen bedingt. Wenn man das Moment der Bewegung hier noch einbezieht, dann kommt man auf einen Begriff, der das letzte Mal ja auch von einem von Ihnen genannt worden ist, auf den Begriff der Dialektik, also das Spannungsverhältnis zweier Pole, die vielfältig miteinander wechselwirken.

Dann habe ich Ihnen das gezeigt oder zu zeigen versucht, an einem Buch, an einem zeitgenössischen Philosophen, Peter Sloterdijk, „Sphären I – Blasen“, der, ohne dass er diese Begriffe benutzt, die ich hier verwende, doch auf eine merkwürdige Weise in eine ähnliche Grundrichtung gerät oder von einer ähnlichen Grundrichtung ausgeht. Er versucht eine Art von hoch ausdifferenzierter, hoch intellektueller Neo-Gnosis. Nicht, sein Thema, ich darf das noch einmal kurz erwähnen, ist ja der Verlust der Plazenta, also des Mutterkuchens, der seit ungefähr 200 Jahren als Abfall entsorgt wird, während er in früheren Zeiten und Kulturen in vielfältigster Weise medizinisch, rituell und in anderen Kontexten verwendet wurde. Und er sieht darin einen entscheidenden Punkt in der Konstituierung des neuzeitlichen Individuums, das sich jetzt versteht als eine, wie ich das dann gerne nenne, kosmos- und seinsblinde Monade, also als eine isolierte Entität ohne den Anderen, das Andere, die Andere. Und so ist ja der neuzeitliche Subjektivitätsbegriff immer dadurch bestimmt worden bis in die Frage des Naturrechts hinein, der Einzelne ist eben der Einzelne, auch der Ein-Zell-ne, mit einem Bindestrich und Doppel-l, also der Einzelne in seiner Zelle. So kann Sloterdijk mit einigem Recht auch sprechen von der „lebenslangen Einzelhaft“, die im modernen Individualismus vorliegt.

Dann habe ich in einem dritten Schritt, und da will ich anknüpfen, versucht zu zeigen, dass man die menschliche Gestalt polar denken kann, dass es eine Form von, sagen wir mal, „polarer Anthropologie“ geben kann, die von der Leibesgestalt ausgeht. Also, der Versuch ist gemacht worden, und das will ich weiterführen, die Gestalt des menschlichen Leibes, um jetzt nicht des Körpers zu sagen, zu befragen, philosophisch zu befragen im Hinblick auf ihren, sagen wir mal, real symbolischen oder physiognomischen Gehalt. Das ist nicht, sagen wir mal, mainstream-mäßig, das ist …, wird gemeinhin nicht gemacht. Also die Frage, ob die menschliche Gestalt in ihrer spezifischen aufgerichteten Form, unten die Erde, oben der Kosmos, die Sphären, wie immer, ob wir aus dieser Architektur gewissermaßen der lebendig aufgerichteten Gestalt des Menschen Rückschlüsse ziehen können auf anthropologische Grundfragen. Und das hat auch zu tun dann mit bestimmten Wertungen, die hier explizit oder implizit auch ins Spiel kommen.

Sie werden sich erinnern, dass ich den fast vollkommen vergessenen Biologen und Naturphilosophen Herbert Fritsche herangezogen habe und sein exzellentes Buch „Der Erstgeborene“. Die Frage kam auf, gibt es das Buch noch? Ja, es gibt es noch, in einem eher kleinen, abgelegenen Verlag, aber ist beliebig bestellbar. Das Buch ist also noch erhältlich. „Der Erstgeborene ‒ ein Bild des Menschen“, eines der wirklich wichtigen, um nicht zu sagen grundlegenden, fundamentalen Bücher zur naturphilosophischen Anthropologie, in den 40er Jahren geschrieben. Ich habe hier eine Ausgabe von 1948, und ich darf noch einmal eine Stelle hier kurz vorlesen, die ins Zentrum der Frage führt. Man kann jetzt die eine oder andere Art der Formulierung auf sich beruhen lassen. Man könnte sie gleichsam übersetzen in einer andere, eine modernere Sprache. Das will ich jetzt im Moment nicht machen. Ich lese nur noch einmal diese eine Stelle hier vor.

Aus dem Buch „Der Erstgeborene“ in dem Kapitel „Polare Anthropologie“, Herbert Fritsche: „Ist das Zentralnervensystem, ist das Gehirn auch bei den Tieren etwas Individualisierendes, so wird es beim Menschen zum Organ des Logos.“ Logos ganz allgemein bei ihm Geist, Bewusstsein, nicht scharf geschieden von Seele und Bewusstsein. „Das Ich-Bewusstsein des Menschen ist das Resultat der Hinwanderung von Nervenzentren zum Kopfende. Nur beim Menschen hat die Natur dieses Resultat erreicht, während in der Tierheit das Ich niemals zu individueller Bewusstheit gelangt. Die Wanderung der nervösen Substanz und ihrer höchsten Funktionen zum Hirnpol brachte das Instrument zustande, auf dem der Geist zu spielen vermag.“ Zitat jetzt Goethe: „ ,Freu Dich, höchstes Geschöpf der Natur, Du fühlest Dich fähig, ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken.‘ Auch innerhalb der Hirnentwicklung selbst setzt die Wanderung der wesentlichen und wertvollsten Elemente zum vordersten, äußersten Körper-Ende hin fort, setzt sich fort. Alte Hirnabschnitte werden von jüngeren überlagert und herabgedrängt im anatomischen sowohl als auch im funktionellen Sinne.“

Er bezieht sich an dieser Stelle hier auf etwas, was erst in späterer Zeit in der Neurophysiologie-Gehirnforschung erforscht worden ist, auf die Polarität von Neocortex, Großhirnrinde und dem sogenannten limbischen System bzw. noch darunter dem sogenannten Reptilienhirn. Wir haben ja, wie uns die Neurophysiologen versichern, das können wir bis zu einem gewissen Grade auch so hinnehmen, quasi drei Gehirne, die ständig im Kampf miteinander liegen. Wir haben eben auch das Reptiliengehirn, ein Stück weit ist jeder von uns auch eben einfach ein Krokodil, quasi. Und das limbische System soll also die emotionalen, die sexuellen, die aggressiven Instinkte steuern. Insofern also auch ein Gegenpol zum Ich und Individualitätspol des Neokortex. „Alte Hirnabschnitte werden von jüngeren überlagert und herabgedrängt, herabgedrängt im anatomischen sowohl als auch im funktionellen Sinne. Die einst außen, oben gelegene Ursinnes-Sphäre“, das muss ich gleich erklären, „die das Tor zur Welt darstellte, sank zu nur noch hormonaler Bedeutsamkeit ab, während die Hirnrinde die Führung übernahm.“

Ursinnes-Sphäre war ein in der Anthropologie und damaligen Evolutionsforschung der 20er und 30er Jahre von dem Anthropologen, Paläontologen Edgar Dacqué eingeführter Begriff: Ursinnes-Sphäre. Damit war gemeint, dass das, was man heute eher dem limbischen System und dem Reptilienhirn zuspricht, ursprünglich vor der Herauskristallisierung und Herausdifferenzierung des Neokortex, eine Art Sinnessphäre war, eine ganz andere Form von Sinneswahrnehmung, als wir sie heute kennen. Das war damals sehr populär, hatte eine ungeheure Verbreitung, Edgar Dacqué, auch ein Name, den heute kaum einer mehr kennt, damals jedenfalls ein sehr bedeutender Anthropologe. Die Bücher sind fast alle vergriffen und wie gesagt, werden kaum gelesen auch.

„Also die einst außen-oben gelegene Ursinnes-Sphäre, die das Tor zur Welt darstellte, sank zur noch hormonalen Bedeutsamkeit ab, während die Hirnrinde die Führung übernahm. Von hier her ist der Mensch mehr als Bios. Mit ihr dringt er ins Geistgebiet vor. Ihre Prozesse können selbst spiritualisiert werden und lassen dann den Menschen wahrhaft im Ich beheimatet sein. Auf dieser Grundlage erst entfaltet sich freier Geist, wahre Individualität.“ Und jetzt das, was ich das letzte Mal auch schon zitiert habe. Ich will es als Anknüpfung benutzen. „Der Mensch ist leiblich ein Kind. Organ-Primitivismen kennzeichnen ihn. Er ist ein ursprungnahes Geschöpf unter den Säugern. Hirnlich aber ist er ein Spitzenprodukt, im wortwörtlichen, auch im leiblichen Sinne. Der Mensch hat sich unter den Geschöpfen, am wenigsten im Bios breitgemacht. Er ist seinem Wesen nach ein starker Geist in einem schwachen Leibe. Leiblich vermag er mit der Tierheit nicht zu konkurrieren. Aber er hat sich der Signatur des Tierheitlichen, der Horizontale entrissen, und damit ist die Wanderung der Nervenzentren zum Schädel hin nicht nur eine Wanderung nach vorn, sondern auch eine nach oben.“

Also, die Aufrichtung, der aufrechte Gang, der ja ein ganz wesentliches Moment des Menschseins bedeutet, wird hier auch als eine anthropologische Größe gesehen, die zu tun hat damit, dass der Mensch nun einen Individualitätspol, einen Ich-Pol, in gewisser Weise einen Geist- und Freiheits-Pol sammeln, konzentrieren, fokussieren kann, der ihn über jeden nur denkbaren Bios hinaushebt. Der Mensch ist immer in diesem Sinne das meta-biologische Wesen. Das macht seine Tragik und seine Größe auch aus. Das kann man ja auch zeigen, etwa an dem Umstand, dass die Tiere Spezialisten sind in allem, was sie tun, während der Mensch Generalist oder Universalist ist. Nur als Spezialist wäre er eher eine Kümmerform des im Tier versammelten Bios. Also das zuvor, daran möchte ich anknüpfen.

Ein Punkt, der in diesem Zusammenhang wichtig ist, ist ja die polare Struktur von Kopf, Ichheit und Körper schon in der Alltagssprache, das sollte eigentlich aufmerken lassen, wird häufig, nicht immer, geschieden von Kopf und geschieden Körper und Kopf: Dein Kopf, leg doch mal deinen Kopf dahin und deinen Körper so. ‒ In einem gewissen Sinne wird der Körper vom Kopf getrennt. Der Kopf gilt als nicht vollständig zugehörig zum Körper, was eigenartig ist, aber in der Normalsprachlichkeit auch sehr signifikant. Die Absenkung der Keimdrüsen, auf die sich auch Herbert Fritzsche bezieht im Laufe der Stammesentwicklung, die Absenkung der Sexualpols, in polarer Spannung zum Ich und Individualitätspol, hat auch zu tun etwa mit dem Schamgefühl.

Es ist ja eine schwierige, anthropologisch schwer zu entscheidende Frage: Wie kommt die menschliche Genitalscham überhaupt zustande? Es ist immer wieder gesagt worden, diese Genitalscham ist letztlich ein kulturelles Erzeugnis, es ist ein Produkt einer bestimmten kulturellen Entwicklung, aber nicht eine anthropologische Konstante. Nun hat der vielleicht bedeutendste lebende Anthropologe, nämlich Hans-Peter Dürr, Professor seit einigen Jahren in Bremen, versucht, das Gegenteil zu zeigen. Nicht, in seiner berühmten Kontroverse mit Norbert Elias „Prozess der Zivilisation“. Er hat nämlich gezeigt, dass das Schamgefühl, die Genitalscham eine anthropologische Konstante ist, die sich in allen bekannten Kulturen zeigt, und, das habe ich vor Jahren schon mal in einem ganz anderen Kontext angeführt, dass die viel gepriesene Unbekümmertheit, Freizügigkeit, ja Naivität im Nacktsein, in vielen sogenannten naturnahen Völkern, dem außenstehenden Betrachter ein vollkommen falsches Bild vermittelt. Denn Nacktsein ist nicht wirklich nackt sein. Sondern es gibt eine bestimmte Tabuierung des Anblickens dieser Nacktheit. Insofern muss man da sehr genau hingucken, dass man da nicht einer vollkommen schiefen und voreiligen Interpretation aufsitzt.

Ich darf noch einmal erinnern, ich war mit Hans-Peter Dürr vor vielen Jahren auf einem Kongress in Bombay. Da sprach eine Inderin enthusiasmiert über ihre Erfahrungen mit dem Tanz auf der Bühne. Und dann sagte sie: Ja, ich, ich weiß gar nicht, warum nicht der Mensch, frei und nackt, wie er doch eigentlich da ist und geschaffen ist, auf der Erde entlang läuft. ‒ Worauf Hans-Peter Dürr sich meldete und sehr scharf und polemisch das als New-Age-Quatsch zurückwies. Das Schamgefühl sei eine anthropologische Konstante, und es sei eben gerade nicht so, wie [es] häufig gesehen wird, dass im Zuge eines Zivilisationsprozesses dieses Schamgefühl entstand sei, im Gegenteil: Da ist [es] eher aufgelöst worden. Das heißt, die, sage ich mal, Schamlosigkeit in diesem Sinne ist eher ein sehr spätes Produkt. Und es ist ja interessant und sehr heikel, weil, man ist bei dem Punkt sofort in einem extrem schwierigen, heiklen Gebiet. Im Englischen heißen die Geschlechtsteile ‚private parts‘, die privaten Teile, während sie doch eigentlich genau der Pol im Menschen sind, die das am wenigsten Private ausmachen, das ist doch eher das Allgemeine. Das heißt, die ‚private parts‘ sind im Grunde allgemein, während das ganz Spezifische, das Physiognomische, das Individuelle, worin sich jeder von allen anderen unterscheidet erst einmal im Antlitz, in dem, was als Gesicht auch erkennbar ist, wiedererkennbar auch über Jahre und Jahrzehnte. Also in diesem ganz Speziellen ist er allgemein, das ist das sozial verbindlich allgemein auch Zugelassene, eine merkwürdige, auch hier innere Polarität, also das Gesicht gerade das Intimste des Menschen, das ist eigentlich sein ‚private part‘. Das Gesicht wird sozial verbindlich zu einer universell gültigen Größe. Auch hier übrigens sehr schöne Sachen in dem Buch von Sloterdijk. Ich habe das auch schon mal angedeutet über die „Interfacialsphäre“, wie er das nennt, mit einem etwas unglücklichen Begriff, also die Begegnung der Gesichter, die ja das Gesicht erst zum Gesicht machen.

Nun, kennzeichnet nicht allein die Physiognomie den Einzelnen, natürlich auch seine Körpergestalt, seine Bewegung, seine Hände, seine Arme, die Gesamtheit seiner Person. Das ist klar. Aber in primärer Form doch erst einmal die Physiognomie und nicht umsonst werden in Büchern Bilder von Köpfen abgedruckt. Hier, auch wenn ich sage zum Beispiel, gesagt habe, Lichtenberg ‒ ein heller Kopf, vielleicht der hellste Kopf der Aufklärung, natürlich war der Mann nicht und nur Kopf, sondern er war Leib und Ganzheit, Gestalt-Ganzheit. Aber wir verbinden ihn zunächst einmal nur mit dem Kopf.

Fragen dieser Art, die ich jetzt weiterführen möchte, haben auch zu tun mit einem Verständnis der tiefsten Gründe der ökologischen Krise, denn das frag ich ja immer wieder, wie das auch Bahro viele Jahre getan hat, wir haben ja da unzählige Gespräche geführt: Warum zerstört der Mensch die Erde? Das ist ungebremst noch immer gültig, und man muss immer tiefer fragen, warum das geschieht. Wo liegen die Abspaltungen? Wo liegen die Beraubungen? Wo liegen die entscheidenden Verluste? An welcher Stelle ist das Ganze, wie es scheint, entgleist? Und das scheint mir, dass es auch dort entgleist ist, wo der Mensch A, wie ich das letzte Mal genannt habe, die gute Polarität aufgegeben hat. Auch die Polarität zwischen Himmel und Erde und sich selber nicht mehr begriffen hat und begreifen konnte als Meso-Kosmos, als mittleres Wesen zwischen Erde und Kosmos bzw. Meta-Kosmos und Geist oder Logos, auch im Verlust des Rhythmus, auf den ich ja heute zu sprechen kommen möchte. Zentral liegt ein Moment der Weichenstellung in diese desaströse Lage, in der wir uns befinden, in dem fast generell zu beobachtenden Verlust dieser Art von Polarität.

Was ist Rhythmus? Rhythmus, kann man formelhaft sagen, ist Polarität als Zeit, während wir in der „polaren Anthropologie“, jetzt mal bezogen auf die beiden Pole erst einmal in gewisser Weise statisch argumentieren, ja von der Architektur des Menschen sprechen, hier der Individualitätspol, dort der Bios-Pol, obwohl sich das daran nicht erschöpft, muss man sagen, Rhythmus ist also Polarität als Zeit. Und das führt auf eine Frage, die ich jetzt weiterführen möchte. Ich habe das letzte Mal an der Tafel gehabt, ich möchte das noch mal aufgreifen, in anderem Kontext, also ganz vereinfacht gesagt und verzeihen Sie das Mechanistische dieser Art von Entgegensetzung, das ist einfach mechanistisch, sehr simplifiziert. [JK arbeitet dazu an der Tafel] Der Pol A und der Pol B, miteinander verbunden im Spannungsverhältnis, jetzt symbolisiert durch die beiden Vektoren, in einer höheren Einheit verschmolzen. Also A und B in einem polaren Spannungsverhältnis, in einer höheren Einheit miteinander verschmolzen. Das ist natürlich, wenn man das so deuten möchte als die liegende Acht, auch die berühmte Lemniskate. Man könnte dann, wenn man das so möchte, auch die Lemniskate als ein polares Symbol bezeichnen. Wenn man jetzt diese Figur, die hier an der Tafel ist, aufrichtet, also einfach das Gleiche macht, nur jetzt in der vertikalen Form, wieder ein Verbindendes drumherum, dann hat man das, was in einer sehr vorläufigen Form hier von Fritsche als Polare Anthropologie bezeichnet wird, und dann bietet sich sofort an, hier auch Zwischenzonen einzutragen, also einen dritten Bereich, einen C-Pol, den man als den rhythmischen Bereich, wenn man das so möchte, bezeichnen kann, also als den mittleren Bereich.

Der Mensch als Ganzes kann ja mit einigem Recht als Meso-Kosmos gedeutet werden, als mittlerer Kosmos. Das kann man ja sogar so weit führen, wie das verschiedentlich geschieht, dass er in seiner puren Größe in der Mitte steht zwischen einem Atom und der Erde, wird behauptet, kann man immer wieder lesen in verschiedenen Darstellungen. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Jedenfalls ist es eine Möglichkeit. In diesem Sinne wird auch gesagt, der Mensch hat eine absolute Größe. Das kann man überraschenderweise in verschiedenen Darstellungen lesen. Diese Größe ist keine zufällige Größe, sie ist in gewisser Weise eine absolute Größe: Der Mensch also als Meso-Kosmos zwischen Atom und dem Planeten Erde.

Dann kann man diese Dreiteilung, die sich jetzt hier ergibt, natürlich noch vielfältig ausdifferenzieren und auch in anderer Form zeigen, zum Beispiel folgendermaßen: Den A-Pol, jetzt mal ganz vereinfacht gesagt, als den elementaren Bios-Pol oder Erdpol und das hier als eine ständig hereinwirkende Sphäre, im Sinne auch von Sloterdijk, und dann den mittleren Bereich, hier mal als C dargestellt.

Und dann kann man, wenn man das möchte, und das geschieht verschiedentlich, und ich mach das auch, hier eine weitere Polarität heranführen, nämlich die Polarität von Licht und Schwere, das heißt der Erdpol ist die Schwere, in diesem Sinne die Gravitation, die Anziehung, das Zusammenballende, das Zentrierende, während der Geist- und Individualitätspol, Ich-Pol eher eine Strahlbewegung, eine Art Gebärde in den Kosmos hinein vollzieht bzw. von dort her Impulse empfängt. Also auch noch mal im Sinne Sloterdijks, hier also als Sphäre verstanden. Sloterdijk meint ja, dass, mit einigem Recht glaube ich, die existenzielle Verortung des Menschen geschieht über Sphären, immer, soziale Sphären, der Mensch hat diese Fähigkeit, er hat das Bedürfnis, und er tut es fortwährend, dass er Sphären schafft, Sphären entdeckt bzw. Sphären konstituiert. Er ist ein sphärenbildendes Wesen, wie Sloterdijk sagt.

Wir haben in dieser Form jetzt ein polares Spannungsverhältnis, symbolisiert durch zwei Pfeiler einer Aufwärtsbewegung und einer Abwärtsbewegung und sind natürlich sofort, wie jeder weiß, der sich ein bisschen auskennt in, sagen wir mal, spirituellen Anthropologien, bei Modellen des Menschen, wie wir sie in vielen asiatischen, spirituellen, esoterischen Traditionen finden, zum Beispiel bei den sogenannten Chakras.

Nun ist es ja so, dass diese Chakras, diese Zentren, die Bewusstseinszentren in einer bestimmten hierarchischen Ordnung aufeinander bezogen, nicht einfach Konstrukte, modellhafte Erfindungen sind, sondern bis zu einem gewissen Grade jedem vollkommen vertraut und bekannt. Das ist zwar in der eher philosophischen und wissenschaftlichen Anthropologie kein zentrales Thema, aber für das sogenannte Normalbewusstsein, im normalen Ich-Bezug und sozialen Kontakt kennt jeder diese Bezüge. Zum Beispiel, wenn gesagt wird, wenn von einem Konflikt gesprochen wird von Kopf und Bauch, dann wird wie selbstverständlich unterstellt, dass der Bauch eine eigene Zone, sozusagen eigene Willenszone mit einem eigenen Willens-Impuls [ist]: Ich entscheide das mal jetzt ganz aus dem Bauch heraus. Heißt ja, das ist ja eigentlich merkwürdig, dass der Bauch die Möglichkeit haben soll, hier überhaupt zu entscheiden. In der esoterischen Anthropologie Asiens oder vieler asiatischer Traditionen wird ja soweit gegangen, dass man wirklich sagt, im Bauchbereich gibt es eine Art von Bewusstsein. Nicht, das gehört ja zu diesem Schema hinzu, dass diese Schichten auch ein eigenes Bewusstsein haben, also nicht nur der Neokortex Bewusstseinsträger ist, sondern der gesamte Leib. Und es ist immer wieder verblüffend, und ich staune immer wieder darüber, auch gerade bei Politikerreden, wenn man sie so reden hört und sieht, wenn sie von sich sprechen, und fast jeder Mensch, wenn er von sich spricht, zeigt fast immer diese Stelle [Brustbereich]. Ich, für meinen Teil ‒ diese Geste [klopft sich auf die Brust] immer übrigens, in allen Kulturen. Warum? Also der Mensch hat das Gefühl, wenn er die Hände wie in einer Art Mudra in die Brustbeingegend führt, Ich, dann meint er sich, warum? Als ob hier quasi das Zentrum der Ichheit wäre.

Nun weiß man, dass in asiatischen, auch esoterischen Traditionen häufig das Herz als Denkzentrum galt. Das Herz, nicht der Kopf, der dachte, nicht der komplexe Neocortex, sondern es wurde ja angenommen, dass das Herz denkt, das Herz galt als Sitz der Intelligenz, des Geistes. Nun ist es interessant, das will ich nur in Parenthese sagen, das kann ich im Einzelnen nicht beurteilen, ich habe das verschiedentlich in Zeitungen gelesen, dass es jetzt auch Untersuchungen gibt, die zeigen, dass bei Herztransplantationen gelegentlich, nicht immer, bestimmte seelisch-geistige, auch charaktermäßige und in Form von Erinnerungen gespeicherte Eigenheiten des Toten, dessen Herz da transplantiert wurde, auf den Empfänger übergehen. Das wird bestritten. Darüber gibt es mittlerweile in verschiedenen Fachzeitschriften eine Diskussion. Auf jeden Fall ist die Frage aufgekommen: Wie ist es möglich, dass das Herz in dieser Form auch Geist und Erinnerungsträger ist? Was ist da gespeichert, eingespeist gleichsam, sodass man also durch ein anderes Organ, in dem Falle das Herz, auch etwas von der Biographie des anderen übernimmt, was natürlich ein vollkommen überraschendes Licht wirft überhaupt auf diese ganze Frage.

Also, man kann jetzt in diese oben-unten-Polarität vielfältige Zwischenstufen einziehen. Meistens geschieht das in Form einer Dreiheit, einer Vierheit, einer Fünfheit oder einer Siebenheit. Die Dreiheit ist die verbreitetste. Auch in der abendländischen Psychologie, also in der Psychoanalyse von Freud ist das ja bekannt als Schema von Es ‒ Libido-Schicht ‒ Ich und Über-Ich, wobei dann hier das Über-Ich bei Freud keine wirklich metaphysische Instanz ist, sondern eher ein soziales, geschichtlich bedingtes Konstrukt. Nicht, also Es als Triebschicht und Ich als dem polar entgegenstehenden Pol.

Die Frage nach dem Bewusstsein ist zentral und ungeklärt, aber hoch spannend. Wo sitzt das Bewusstsein des Menschen? Dass es primär in der Großhirnrinde sitzt, ist wohl nicht zu bestreiten. Aber es hat ja auch seinen Sitz, ist ja auch verortet im limbischen System und im Reptilienhirn und wahrscheinlich auch in sämtlichen Zellen. Es scheint so zu sein, dass es auch eine Art von Zellbewusstsein, ein nicht-zerebrales Bewusstsein gibt oder ein präzerebrales Bewusstsein. Es wird auch immer wieder berichtet, dass einzelne Menschen in Grenzzuständen in der Lage sind in dieses nicht-zerebrale Bewusstsein einzudringen und dann auch Wahrnehmungen zu haben, die rausfallen aus der taghellen Überblendung durch das Ich, wie man ja am Tage bekanntlich unter besonderen Bedingungen auch die Sternbilder sehen kann, auf dem Brunnengrunde, es kommt auf den Winkel an, aber man kann das, unter bestimmten Bedingungen kann man tatsächlich am hellichten Tage die Sternbilder sehen, die sich dann [am] Brunnengrund spiegeln. So kann man also auf diese Weise tatsächlich das Ich-Licht ein Stück weit ausschalten und das hervorholen, hervorbringen, was Edgar Dacqué mit einem kaum noch verwendeten Begriff bezeichnet hat, die Ursinnes-Sphäre.

Ich selber habe in dem Buch „Was die Erde will“ vom Tier-Selbst und vom Pflanzen-Selbst des Menschen gesprochen. Also, der Mensch hat die Möglichkeit, offenbar müssen wir davon ausgehen, sein eigenes Tier-Selbst oder Pflanzen-Selbst zu kontaktieren. Und es ist eine hoch faszinierende Geschichte, wenn man sich die Möglichkeiten vergegenwärtigt, dass der Mensch das vielleicht in der Ichheit, in der Dominanz des Individualitäts-, des Ich-Pols tun kann, also nicht einfach abtaucht aus dem Ich-Pol in vormentale, vorzerebrale Bereiche, sondern das mit rübernimmt, dass er also, wie ich das mal genannt habe, das unter-ichhafte kosmische Bewusstsein etwa der Pflanzen in die Ichhaftigkeit überführt, was ein besonderer Bewusstseinsakt natürlich ist, was einen besonderen Bewusstseinsakt darstellt. Denn wir haben normalerweise nur diese Polarität von Ichhaftigkeit und eben dem, was ich das Pflanzen-Selbst und das Tier-Selbst nenne oder genannt habe. Diese beiden Pfeile, diese Aufwärtsbewegung und Abwärtsbewegung kann man jetzt sehr vereinfacht in zweierlei Hinsicht leben, wahrnehmen, registrieren, im Schema deutlich machen, einmal yogisch und zum Zweiten tantrisch, ganz vereinfacht gesagt, im Sinne des Yoga in sehr großer Simplifizierung geht es primär um die eine Aufstiegsbewegung zum Ich-Pol und dann zum Trans-Ich-Pol, also aufwärts. So beginnt für Patanjali, den großen Theoretiker und Praktiker des Yoga, in seinen Yoga-Sutras, Menschsein erst hier [bezieht sich auf die Zeichung an der Tafel. Gemeint ist wahrscheinlich: ab der Ichheit]. Bis dahin ist der Mensch quasi noch Tier, hier beginnt sein Menschsein. Und das hat immer tendenziell dazu geführt, dass eine gewisse asketische, eine in diesem Bereich eher, wenn nicht ganz negierende, so doch geringachtende Form entsteht.

Also, der Hauptimpuls Richtung Kosmos mit der Kosmos-Spiritualität unter asketischer Verneinung auch der Bereiche A und der darüber liegenden Bereiche, während die tantrische Form eher darin bestand, diese Bereiche einzubeziehen, also die vollständige Acht hier, die Lemniskate, einzubeziehen. Das heißt, die Energien von unten als Motor zu benutzen, als Motor für den Aufstieg des Geistes. Und das ist ein Grundkonflikt, den man immer beobachten kann, etwa in der Anthroposophie, die sich nun nicht als yogisch bezeichnen wird, aber da wird immer wieder betont, Steiner hat das immer wieder gesagt und seine Anhänger sagen es bis heute, dass es wichtig sei, diesen Pol A kleinzuhalten, sozusagen. Man kann diesen Pol ja auch als Bios-, Eros-Pol kleinhalten und eher das Einströmen der kosmischen Kräfte favorisieren und nicht etwa eine wirkliche Zuwendung zu dem Pol A überhaupt zulassen. Daher die bekanntermaßen ambivalente Haltung, die in der Anthroposophie bis heute, etwa zum ganzen Eros-Bereich, zu verzeichnen ist, nicht, weil dieser Eros-Bereich zwar nicht vollkommen negiert wird, aber er wird weitgehend als, sagen wir mal, als brisant, als ambivalent bezeichnet, eher als hinderlich, fast als hinderlich. Im Tantrischen, im Tantrismus, gibt es die Vorstellung des Purusha Kara, des kosmischen Menschen, der letztlich davon ausgeht, dass diese Art von Grundstruktur des Menschen spiegelbildlich den Kosmos verdeutlicht, dass also der Mensch /der Kosmos, hierarchisch-holarchisch, ähnlich aufgebaut ist. Purusha Kara, der tantrische, der kosmische Mensch. ‒ Das erinnert ja sehr an Novalis, unter anderem an Novalis, der ja mal gesagt hat, viele andere ähnliche Äußerungen gibt es: Der Mensch ist eine Analogienquelle für das Weltall, und das Universum sei eine Art Makro-Anthropos. Es gibt sehr viele Aussagen von Novalis in diese Richtung.

Wenn man das jetzt hier, ein Schritt weiter auch kosmologisch versucht zu verstehen, dann ist es vielleicht nicht ganz unwichtig, dass das englische Wort Licht, light, auch „leicht“ bedeutet. Nun muss man das nicht überinterpretieren. Das würde abwegig sein, genauso wenig wie man überinterpretieren sollte, dass das englische Wort I, also die Lautform, auch das Auge [eye] bedeutet. Aber es scheint doch einen Zusammenhang zu geben. Dass also Licht auch „leicht“ bedeutet, und dass wir gute Gründe haben, sagen wir mal vorsichtig, anzunehmen, dass das Organisch-Lebendige, das sich zum Geistigen hin entwickelt, tatsächlich auch sich gegen die Schwere entwickelt und dass organisches Leben tatsächlich in diesem Sinne weniger schwer ist als anorganisches Leben.

Das ist ein Punkt, den beispielsweise auch der Marco Bischof, der das letzte Mal gesprochen hat, am Schluss seines Buches „Bio-Photonen“ kurz anschneidet, ein Punkt, der aber hoch faszinierend ist, wenn man das versucht wirklich weiter zu denken. Ich habe das in meinem neuen Buch, das im August herauskommen soll, versucht zu tun, zu zeigen, tatsächlich auch Experimente vorgeschlagen, wie man das nachprüfen kann, dass tatsächlich ein gewisser antigravitativer Effekt im Licht liegt, was immer verschiedentlich auch so gewusst wurde, in der Naturphilosophie Schellings taucht das immer wieder auf. Das Licht also als ein quasi antigravitatives Element, das Licht auch in Verbindung mit dem Kosmos. In diesem Sinne jetzt, um den Begriff zu verwenden, mit Äther und auch, nächster Punkt, mit einer anderen Raum-Vorstellung. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Das habe ich verschiedentlich auch angedeutet. Es gibt verschiedene Theorien über Räume, unter anderem die Theorie, die sich herleiten lässt auch aus der synthetischen oder projektiven Geometrie des 19. Jahrhunderts, da ist es zumindest in Grundzügen vorgedacht worden, dass es quasi zwei ganz verschiedene Formen von Räumen gibt. Dass es den quasi sogenannten physischen Raum gibt ‒ wir würden heute vielleicht eher sagen: den dreidimensionalen Anschauungsraum ‒ und dass es dann einen weiteren, einen anderen, oder wie Novalis sagt, einen „höheren Raum“ gibt, einen anderen Raum gibt, der zu tun hat mit Bewusstsein und der auch nicht diese übliche Dimensionalität aufweist und dass aus dieser Raumsphäre, aus diesem anderen Raum, quasi Impulse, Bewusstseinsimpulse, auch Licht-Bewusstseinsimpulse hereinströmen, die auch einen antigravitativen Effekt haben. Dass der Mensch also auch in diesem Sinne eingespannt ist zwischen zwei Räume, zwischen den physisch-sinnlichen Raum und dem anderen oder höheren Raum.

Nun ist das eine erkenntnistheoretisch hoch interessante, aber zugleich sehr schwierige Frage, die nach dem anderen Raum. Es kommt auch sofort die Frage auf der mathematisch-theoretischen Modelle, sogenannter Hyper-Räume. Burkhard Heim hat das hier versucht, dann auch zu mathematisieren, was ich für nicht überzeugend halte. Also, die Frage, ob es hier einen anderen Raum gibt, den man „Hyperraum“ nennen kann, aus dem überhaupt dann Bewusstsein und Leben verständlich werden kann. Also auch hier eine Polarität: physischer Raum, von mir aus auch Äther-Raum und Schwere und Licht. Damit ist man natürlich in sehr schwierigen Zonen, es ist sehr heikel, weil man sofort, ich sagte es ja vorhin schon einleitend, in bestimmte weltanschaulich vorgeprägte Bahnen rückt. Nicht, viele Gruppen, Strömungen, religiöse Bewegung, die diese Themen ja besetzt halten, um nicht zu sagen, kolonisiert haben, haben ja ihre Antworten auf alle diese Fragen und sind ja selten gewillt, überhaupt diese Fragen in die Offenheit zu stellen. Und ich will das einfach mal in die Offenheit stellen. Ich finde den Gedanken hoch faszinierend, dass man die polare Struktur auf der Vertikalen auch in Verbindung bringen kann mit zwei vollkommen verschiedenen Räumen, wo denn auch die üblicherweise vorliegende Richtung nicht mehr so gilt. Das ist was anderes als das, was ich ihnen im Winter mal verdeutlicht habe in Anknüpfung an Hermann Schmitz’s Anthropologie, diese Dreifachheit des Raumes, Weite-Raum, vielleicht erinnern sich einige, die da waren, Richtungs-Raum und Orts-Raum. Das ist nicht das Gleiche, obwohl Hermann Schmitz in seiner Anthropologie auch den Versuch macht, sich diesem Thema zu nähern. Man muss wahrscheinlich da die ganze Raumfrage nochmal in ganz neuer Weise denken.

Und dann kommt man natürlich sofort auf den Punkt, den ich ja schon mal vor drei oder vier Wochen angesprochen habe. Wenn das in der Tendenz so sein könnte, mit aller Vorsicht, dann ist das nicht reduktionistisch. Damit wird der Mensch eben nicht hergeleitet in einem absoluten Sinne hiervon. Es ist etwas anderes. Es ist letztlich die Wurzel in der Prämisse, dass die gesamte kosmische Evolution auf den Menschen zielt, über ihn hinaus zielt, und dass der Mensch, das Geistwesen, das aufgerichtete Geistwesen, jetzt noch eine Stufe weiter, das Sternenwesen Mensch, sozusagen auch eine andere Herkunft hat, also eine quasi metaphysische, göttliche oder spirituelle Herkunft und sich nur verbindet mit einem ganz anderen Pol. – (PAUSE)

Ganz kurz bezogen auf zwei Fragen, die jetzt in der Pause kamen. Ganz kurz nochmal zu dieser Geschichte mit der Plazenta bei Sloterdijk. Ich sage es nochmal ganz kurz.

Vor ungefähr 200 Jahren passierte Folgendes: Man hat den Mutterkuchen, die Nachgeburt, die Plazenta, mit der ja der Fötus mit der Nabelschnur verbunden ist, quasi entsorgt, als Müll, als Abfall deklariert, während in allen uns bekannten kulturellen Phasen vorher diese Plazenta rituell verwendet, bewertet und integriert wurde. Und Sloterdijk stellt die kühne These auf, dass das ein Schnitt gewesen sei in der Entstehung des modernen Individuums, dass dadurch das Andere, der Andere, die Andere, der polare Teil, der zum Menschen gehört, abgekappt worden sei. Orpheus hat quasi, soweit geht er dann, Eurydike verloren, Eurydike quasi als die Plazenta.

Nun kann man das für aberwitzig halten, diese These. Und ich weiß nicht, wie das so von vielen aufgenommen wird. Sie hat etwas auch Halsbrecherisches, auch Kühnes. Es ist ja letztlich auch der Versuch einer gnostischen Denkfigur, sein Buch, wimmelt ja auch von gnostischen Bildern des Abstiegs des Geistes, der Seele, in den Körper. Nur dazu, aber an dem Faktum kulturgeschichtlich ist nicht zu rütteln, dass ist wirklich so gelaufen. Ob man das so interpretieren muss, ist eine andere Frage. Dann kann man sich noch viel weitergehende Fragen daran stellen oder kulturgeschichtliche Betrachtungen überhaupt, wer dann das Geburtswesen überhaupt im weiten Sinne übernommen hat. Wie das gelaufen ist in der westlich abendländischen Gesellschaft. Das ist natürlich auch ein weites Gebiet und auch ein trauriges und sehr schwieriges Thema.

Der zweite Punkt bezieht sich auf eine Frage, die in der Pause kam, nach dem Bewusstsein. Nochmals: Bei Fritsche ist das eine ziemlich eindeutige polare Gegenüberstellung des ichlosen Bios-Pols und des Ich-Pols, Gehirn, Ich-Geist, Individualität. Aber auch Fritzsche leugnet nicht, dass es überall Bewusstsein gibt. Und eine Dame hat eben in der Pause mich darauf hingewiesen, dass nach neueren Untersuchungen angenommen wird, dass auch im limbischen System, also was ja für Sexualität, Aggression, Emotion usw. zugänglich [zuständig ?] ist, dass da auch Ansätze von Ich-Bewusstsein vorhanden sind. Ja, das ist richtig. Die Frage ist natürlich schwierig und letztlich ungeklärt, vielleicht ist sie gar nicht zu klären. Gibt es ein Bewusstsein, was sich vollständig loslöst von der Ich-Fokussierung? Es kam ja auch letztes Mal auf die Frage, oder vor 14 Tagen, nach dem Gefühl ohne Ich. Gibt es ein Gefühl ohne Ich? Können wir uns vorstellen, dass ein Etwas quasi fühlt, ohne dass damit ein Ich verbunden ist? Die Frage ist sehr schwer. Genauso die Frage, die ich ja mehrfach gestellt habe nach dem Ich-Bewusstsein der Tiere, nicht, also Hundebesitzer, Katzenbesitzer, überhaupt Tierkenner behaupten häufig genug, dass höher organisierte Tiere tatsächlich eine Art von Ich-Bewusstsein haben. Das ist natürlich kein rational ich-bestimmtes Bewusstsein, aber es ist eine Art von, ein quasi prä-ichhaftes Bewusstsein, was ich auch für durchaus richtig halte.

Die Frage ist ja dann sehr schwer nach dem Zusammenhalt, etwa dem Bewusstseins­zusammenhalt im Tierreich, Stichwort Gruppenseele oder auch die Frage der Instinkte. Das ist ja vollkommen ein Wort, was fast überhaupt nichts aussagt. Was sind Instinkte? Nicht, also auch Sheldrake in seiner Lehre von den morphischen Feldern hat sich ja dazu geäußert: Was sind Instinkte? Sind das vielleicht Momente einer Gruppenseele oder eines morphischen Feldes? Das sind ja alles vollkommen rätselhafte Fragen, etwa der märchenhafte Zusammenhalt einer Termitenkolonie, wobei ein Teil genauestens informiert ist über das, was die jeweils Anderen oder der jeweils Andere tut. Müssen wir da eine Art von Gruppenseele voraussetzen oder eine Art von morphischer Resonanz in diesem Tierkollektiv? Alles offene Fragen, die aber wichtig sind.

Also, was ich das Tier-Selbst im Menschen nenne, meint ja nur Folgendes: dass der Mensch im Prinzip in der Lage ist, auch noch immer die Tierhaftigkeit seinerselbst zu kontaktieren und durchaus über das hinaus, was man umgangssprachlich so als Vertierung oder im abwertenden Sinne als das Tierische bezeichnet, sondern auch in einem höheren Sinne. Und das immer dann, wenn der Mensch das schafft, auch in bestimmten Trance-Techniken er Anschluss gewinnt an Kräfte, die weit über seine rationale Ichhaftigkeit hinausgehen. Es gibt ja die erstaunlichsten Phänomene auch im Grenzbereich zur Geisteskrankheit, dass Menschen in Erregungszuständen, Trancezuständen etwas ganz Anderes kontaktieren, Eisenstangen zu biegen vermögen und ähnliche Dinge vollführen, die im normal biologischen oder auch ich-gestörten Sinne vollkommen unmöglich sind. Also dass da eine ganz andere Schicht kontaktiert werden kann.

Denken Sie etwa, an eines der berühmtesten Beispiele, an die über viele Jahrzehnte in Tibet beobachteten Lung-Gom-Pa, die sogenannten Tranceläufer. Das muss man nicht bezweifeln, es ist gut dokumentiert. Tranceläufer meint nicht den Jogger, der mit Walkman in Trance läuft, der ist auch in einem anderen Zustand, häufig genug. Aber Tranceläufer in Tibet, das war eine besondere Form von Hatha-Yoga bei den Lung-Gom-Pa. Die waren in der Lage, über große Zeiten, Zeiträume und Distanzen hinweg wie in Trance, in rasender Schnelligkeit zu laufen, wie man es ja auch beobachtet hat bei Kindern, die unter Wölfen aufgewachsen sind oder, einmal auch ein Beispiel unter Antilopen, die dann mit der Herde, mit einer Geschwindigkeit mithalten konnten, was an sich ihre physiologische Konstitution als Menschen gar nicht hergibt. Also, die sich sozusagen sich einklinken, trancehaft einklinken in ein ganz anderes Feld, wo dann auch die Begrenztheiten, die ja immer auch mit der Ichhaftigkeit verbunden sind, überschritten werden oder unterschritten werden. Und da ist ja wirklich ein wichtiger Punkt mit dem Unterschreiten und auch dem Überschreiten. Aber es gibt diese Möglichkeit in der Trance, tatsächlich auch zu einer Art, sagen wir mal Zellbewusstsein, auch vorzustoßen.

Und da bin ich bereits bei einem weiteren Punkt, den ich ohnehin ansprechen wollte, bei der Frage von Schlafen und Wachen. Es mag überraschend sein, aber ich möchte es noch einmal in Erinnerung rufen, ein rätselhaftes, bis heute nicht wirklich durchleuchtetes Feld: Warum schläft der Mensch überhaupt? Darauf gibt es keine wirklich befriedigende, differenzierte Antwort. Warum schlafen höhere Tiere, Fische dagegen nicht? Bei Fischen, soweit wir wissen, gibt es keine Art von Schlaf. Warum schlafen höhere Tiere? Was ist dieses überhaupt für ein eigenartiger Zustand? Ich habe mich mal vor Jahren mit der Frage sehr intensiv beschäftigt und auch beschäftigen müssen, weil ich als freier Mitarbeiter des SFB mehrfach auch Sendungen gemacht habe, unter anderem auch eine Sendung genau über diesen Punkt, über Schlaf-Forschung. Da habe ich dann auch Schlafforscher interviewt. Das ist ja dann so, dass man ja quasi dann auch so genötigt feststellt, dass da eine Terra incognita [besteht], dass da nichts wirklich gewusst wird. Und da hat mich dann einer, der hier in Deutschland, ein Professor an der FU, glaube ich, dann aufmerksam gemacht auf den Franzosen Michel Jouvet, der als die große Kapazität in Europa gilt für Schlaf- und Traumforschung. Da habe ich mir das Buch besorgt, von dem Michel Jouvet „Die Nachtseite des Bewusstseins“, bei Rowohlt erschienen. Wunderbares Buch, das vor vier Jahren, fünf Jahren erschien, das diese Forschung zusammenfasst. Und da wurde deutlich, dass man nichts darüber weiß, fast nichts, was eigentlich Schlaf ist und was Träume sind. Man weiß es nicht, aber es gibt eine, sagen wir mal, Hypothese, die ich aufstelle. Die sieht folgendermaßen aus, eine Hypothese mit aller Vorsicht, dass vielleicht das, was ich hier angedeutet habe, damit zusammenhängt, dass nämlich nachts, in der lichtlosen Phase dieser Polarität von Licht und Finsternis, tatsächlich der Körper schwerer wird. Und bekanntermaßen lässt sich die Tiefe des nächtlichen Schlafes niemals gleichsetzen mit einer noch so tiefen Tiefschlafphase am Tage. Auch bei Menschen, die in der Nacht arbeiten, aus beruflichen Gründen, von denen ist es bekannt, dass die Tiefe des Schlafes nie vergleichbar ist mit der in der Nacht. Was genau geschieht beim Schlaf, ist nicht bekannt. Man weiß auch nicht genau, was im Traum-Bewusstsein passiert. Nicht, Michel Jouvet bezeichnet dann Träume als endogene Halluzinationen, ist ja auch nur ein Begriff, einfach ein Begriff, ein Wort: endogene Halluzinationen. Was für eine Wahrnehmung da tatsächlich der Fall ist. Und in allen, auch spirituellen Traditionen wird immer gesagt, übrigens auch in der genannten tibetischen, dass das Traum-Bewusstsein tatsächlich eine eigene Bewusstseinsstufe ist, auch in den Upanishaden wird es schon gesagt. Da gibt es das Tages- und Wachbewusstsein, das sogenannte Normal-Bewusstsein. Dann gibt es das Traum-Bewusstsein, tibetisch dann Sambhoga Kaya und das Bewusstsein das traumlosen Tiefschlafs. Wer kann sich erinnern an sein Bewusstsein im traumlosen Tiefschlaf? Das gilt ja als ein ich-loser Zustand.

Die große Rätselfrage: Wo ist das Ich? Wo ist das Selbst? Wo ist der Mensch überhaupt in seiner Totalität im traumlosen Tiefschlaf? Das ist ja auch ein Mysterium, das gehört in diese Frage hinein. Also meine These, eine Hypothese wäre, dass das auch damit zusammenhängt, mit Licht, Bewusstsein und diesem antigravitativen Effekt, das da tatsächlich, in gewisser Weise buchstäblich, eine Erleichterung passiert. Vielleicht sogar, da habe ich mich drüber mit Marco Bischof unterhalten vor einigen Wochen, vielleicht auch in diesen umgangssprachlichen Wendungen „erleichtert“ sein von etwas, eine Nachricht mit Erleichterung aufnehmen oder „beschwert“ sein, bedrückt sein, vielleicht buchstäblich, quasi physisch, eine größere Schwere zum Tragen kommt. Also ein extrem schwieriges Gebiet, was ich nur mal so aperçuhaft hier andeuten möchte. Aber die Frage ist tatsächlich ungeklärt: Warum schläft der Mensch überhaupt? Warum schlafen höhere Organismen? Und das ist ja auch ein elementarer Rhythmus, der von Schlafen und Wachen, ist ja einer der elementarsten Rhythmen überhaupt. Wie dann wieder innerhalb des Schlafrhythmus die Traumphasen eine wichtige Rolle spielen, die ja angeblich erst immer nach einer bestimmten Zeit auftreten, eben nicht gleich nach dem Einschlafen. Meine Erfahrung spricht dagegen. In den meisten Darstellungen wird gesagt, nicht vor ein bis anderthalb Stunden nach dem Einschlafen treten die ersten Träume auf, wird immer wieder gesagt, kann man in fast allen Büchern darüber lesen. Man hat das Gefühl, das ist sofort der Fall oder kann sofort der Fall sein.

Und da hat man also noch einen weiteren Rhythmus, und der geht ja ganz tief in die Psyche rein. Nicht, wenn man sich etwa überlegt, dass ja zu der Eliminierung dieser natürlichen Rhythmen auch das technische Faktum des ständigen künstlichen Lichtes gehört. Man klinkt ja diese Grundrhythmen, die kosmischen Grundrhythmen ständig aus. Es ist taghell, auch nachts, nicht. Satellitenaufnahmen der Erde zeigen etwa Europa, es ist hell. Und wenn man die Möglichkeit gewonnen hat, zum Beispiel in Subtropen oder Tropen mal wirklich zu erleben, noch mal neu, unverbraucht, quasi zu erleben, was es bedeutet, wenn Nacht hereinbricht, was wirklich Nacht sein kann, was Tag ist, ist ja eine erschütternde Qualität, auch Nacht, Licht, Dunkelheit. Dann kann man…, dann begreift man erst, was es bedeutet, wenn man diesen Grundrhythmus technisch, technologisch, fundamental aus den Angeln hebt. Das heißt nicht, dass der Mensch in seiner Ichhaftigkeit in diesen Pol nun vollständig in diese Rhythmen eingetaucht sei. Das gehört ja zu seiner Freiheit, dass er die Möglichkeit hat, tatsächlich auch diese natürlichen Rhythmen zu transzendieren. Das ist auch wichtig. Der Mensch ist eben kein reines Bioswesen. Aber Tag und Nacht sind auch nicht rein biologische Vorgänge. Und da sind wir bei einem weiteren sehr wichtigen Punkt. Ich hatte ja von Werde-Prozessen auch im Thema gesprochen.

Wir sind nämlich bei dem Punkt, der schon angeklungen ist, von dem Verhältnis von Bios und Bewusstsein. Es ist ja nicht so, dass der Höhepunkt des Bios gleichzeitig der Höhepunkt des Bewusstseins ist. Es ist ja eher das Gegenteil der Fall: Erst wenn der Bios zurückgedrängt wird, entfaltet sich das Bewusstsein in ganzer Ausdifferenziertheit. Der Mensch hat immer die Möglichkeit, in eine Sphäre des Trans-Bios hineinzugeraten. Es ist nicht so, dass, sagen wir mal, der Höhepunkt der organischen Entwicklung eines Lebewesens auch tatsächlich die höchste Stufe seines Bewusstseins ist. Das Bewusstsein steigt, während die Bios-Kurve sinkt. Es ist also ein gegenläufiger Prozess. Also vereinfacht gesagt, Logos und Bios treten wie in einer Schere auseinander. Nicht, der eine sozusagen, das Bewusstsein reichert sich immer mehr an, während der physisch-organische Körper also einem Alterungsprozess unterliegt. Und man kann sagen, und das haben zum Beispiel die Anthroposophen, aber auch andere immer wieder mit einigem Recht gesagt, das Bewusstsein überhaupt sich konstituiert durch Todes- und Abbau-Prozesse, dass gerade nicht durch das organische Werden, Sprießen und Blühen, was uns alle so tief bewegt und auch beeindruckt, sondern gerade durch das Gegenteil, durch das Sich-Absenken, die Verdunkelung, die in gewisser Weise das Sich-Absenken des Bios, der Bios-Ebene, der Geist erst wirklich zu sich selber kommen kann. Bios und Logos in dem Falle sind nicht synchron, die gehen wirklich auseinander, und da ist wirklich eine Schere. Und dass das im Prinzip möglich ist, diese Schere auch noch zu vertiefen, zeigt ja die Entwicklung auch in ihrer desaströsen Auswirkung. Aber da ist eine Schere, und es ist eine Fatalität, sage ich mal, sie kennen ja auch meine Kritik an Teilen der Ökologiebewegung, dass sie das viel zu wenig unterscheiden.

In der Ökologiebewegung wird der Mensch viel zu häufig einfach als Bios-Wesen, mehr oder weniger bezeichnet. Diese Schere wird nicht richtig gesehen, dass da tatsächlich eine Polarität zu beobachten ist. Wo der Bios seinen Höhepunkt erreicht, schläft der Logos in gewisser Weise, und wo der Logos seinen Höhepunkt erreicht hat, schläft der Bios. Natürlich gibt es wunderbare, beglückende Zusammenführungen, das ist klar. Aber diese Prozesse sind nicht synchron. Und das macht einen wichtigen Punkt in der naturphilosophischen Anthropologie ja überhaupt aus, das zu begreifen, dass der Mensch eben immer auch Meta-Natur ist oder Über-Natur und nicht nur Natur. Wenn er einfach Natur wäre, wäre das Thema als solches ein verfehltes Thema.

Also der Mensch ist auch in diesem Todes- und Abbau-Prozess oder gerade durch die Todes- und Abbbau-Prozesse dann tendenziell in der Lage, den Geist wirklich zu entfalten. Auch das ein fundamentaler Rhythmus, der den Menschen in der Tiefe tatsächlich bestimmt. Auch hier übrigens gibt es in dem Buch von Herbert Fritzsche wunderbare Überlegungen zur Frage von Logos und Bios, und Fritsche zeigt mit einigem Recht auch an vielen Beispielen, dass eine gewisse Schärfe im Logos immer ein Zurückdrängen des Bios bedeutet. Oder auch wenn das, was ich das Tier-Selbst im Menschen nenne, nach oben kommt, dann eine Absenkung des Bewusstseinsniveaus passiert, wie Jung das nennt, abaissement du niveau mental, das Bewusstsein dann runtergeht. Wenn man also in eine Art von Körperbewusstsein reinkommt, dann hat man große Schwierigkeiten, die klare Ichhaftigkeit noch beizubehalten. Und darin liegt ja eine Herausforderung des Bewusstseins, die immens ist. Nicht, was ich ja vorhin angedeutet habe: das Unterichhafte, quasi kosmische Bewusstsein, das wissende Bewusstsein etwa der Pflanzen, wenn wir es mal so nennen wollen, in der Ichhaftigkeit, in die Ichhaftigkeit aufzunehmen, und damit in gewisser Weise die Pflanzen zu erlösen, in Anführungszeichen. Also, das sind extrem schwierige Punkte. Ich sage das mal mit aller…, mit allem Vorbehalt und auch ungestützt und auch wohl wissend, dass hier Tür und Tor natürlich geöffnet sind für Missverständnisse jeder Art.

Man kann diese rhythmische Polarität natürlich am leichtesten und direktesten am Atem zeigen. Nicht umsonst gibt es in allen Traditionen, die sich mit Leib-Arbeit, mit Bewusstseinsarbeit über den Leib beschäftigen, immer Anleitungen zum Umgang mit dem Atem, weil der Atem die Stelle ist, an der das Bewusste und das Unbewusste, das Willkürliche und das Unwillkürliche zusammenkommen. Also die Arbeit mit dem Atem hat immer auch mit Bewusstsein zu tun. Das weiß jeder, auch dass ist im Grunde genommen jedermann bekannt, dass die Form, Tiefe, Intensität des Atems Auswirkung hat auf das Bewusstsein und umgekehrt, dass bestimmte seelische Zustände häufig zu einem flachen, hektischen Atem führen, dass die Stimme sich verkrampft, wie geknebelt wirkt, dass es aber Techniken gibt, mittels deren man tatsächlich den Atem und die Stimme befreien kann. Das weiß ich von meinem Gesangsunterricht, den ich mal genossen habe, dass man wirklich über bestimmte Atemtechniken auch Blockaden lösen kann in der Stimme.

Oder: Es gibt Menschen, deren Stimme zum Beispiel vollkommen von dem Leib wie abgeschnitten ist. Die könnten gar nicht in einem Saal überhaupt in die hinteren Reihen vordringen. Das ist nicht eine Frage der Lautstärke, sondern eine Frage der Fundierung, der Stützung durch den Leib. Im Sängerjargon ist das die sogenannte „Stütze“. Wer das mal gehört hat, die sogenannte Stütze für Sänger, in der Gesangsausbildung, die Stütze ist eine gewisse…, ein Ensemble von Anspannung des Zwerchfells, von Bodenhaftung, einer bestimmten Art, von bis in [den] Rücken hinein bestimmten Weise, also wirklich geerdet sein, dann trägt die Stimme. Wenn das nicht der Fall ist, trägt die Stimme nicht.

Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten, mit dem Atem zu arbeiten, auch im Pranayama etwa, aber auch einfach in dem ruhigen Beobachten, in der Tiefenmeditation, im Atem, in den Buddha zugeschriebenen Äußerungen, schon im Pali-Kanon, wird immer wieder dieses Wort von ihm zitiert, dass die Beobachtung des Atems, die Beobachtung des unwillkürlich pulsenden Atems ein Weg ist, um in eine meditative Bewusstseinsform hineinzukommen. Nicht, also tatsächlich ganz tief atmen und den Atem beobachten, ihn aber nicht manipulieren. Man kann natürlich auch Atemarbeit betreiben, das ist ja auch im Sinne des Pranayama der Fall, dass man den Atem extrem lange anhält oder extrem intensiv ausatmet. Im Sinne dieses Pali-Kanon ist gemeint: den Atem beobachten, auch im Sinne der Atemarbeit, wie sie hier in Berlin ja Ilse Middendorf an ihrem Institut lehrt, seit Jahrzehnten. Nicht, also, den Atem kommen lassen, den Atem beobachten, weil der Atem eine merkwürdige Verbindung, ja eigentlich die faszinierendste Verbindung neben der Ernährung schafft mit der Außenwelt, denn das fand ich…, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, einen wunderschönen Satz habe ich hier gefunden in dem Buch des Chemikers Rudolf Hauschka „Substanzlehre“, der sich auch intensiv mit dem Atem beschäftigt, dass er heraushebt, dass Atmen die sozialste Handlung überhaupt ist. Denn wir alle in diesem Raum atmen dieselbe Luft.

Ich zitiere mal aus dem wunderbaren Buch „Substanzlehre“ von Rudolf Hauschka. Er bezieht sich hier auf den, das muss [ich] noch vorab sagen, auf den Stickstoff. Interessant ist, dass der Stickstoff bekanntermaßen ungefähr 79 Prozent der Erdatmosphäre ausmacht, meistens in diesen Atem-Lehren und Schulen überhaupt nicht erwähnt wird. Der kommt nämlich genauso raus, wie er reingeht, der Stickstoff. Vom Sauerstoff, Kohlendioxid ist klar, dass da ein Austausch stattfindet. Aber beim Stickstoff ist es nicht so. Und keiner weiß eigentlich warum. Es ist einfach so. Was tut überhaupt der Stickstoff? Mit einigem Recht nennt ihn hier Hauschka den Bewegungsstoff oder Luftstoff, also immerhin 79 bis 80 Prozent der Atmosphäre. Er lenkt überhaupt das Augenmerk auf den Punkt. Meistens wird das gar nicht überhaupt ins Bewusstsein gezogen. Da heißt es hier an einer sehr schönen Stelle: „Es liegt im Wesen dieses Luftstoffes, also Stickstoff, dass er zugleich Träger eines seelischen Elementes werden kann. Jedermann weiß, dass die Atmung in innigem Zusammenhang mit seelischen Zuständen steht. Durchzieht Freude unsere Seele, dann wird der Atem rascher, bedrückt uns Trauer, dann wird der Atem langsam und schleppend. Der Sanguiniker hat einen rascheren Atem und Pulsrhythmus als der Melancholiker. Durch den Atem sind wir in ständiger rhythmischer Wechselbeziehung mit der Außenwelt, wie ja auch über die Ernährung natürlich.

Wir nehmen mit unserer Atemluft mit jedem Atemzug ein Stück Außenwelt in uns auf. Und ebenso wie wir mit unseren Fingern und Gliedmaßen die Außenwelt betasten im Tun und wie wir sie begreifen in unserem Denken, so betasten wir sozusagen durch den Atem die Außenwelt im Fühlen. Eines der wesentlichsten Ergebnisse der neueren Menschenkunde ist die Erkenntnis, dass die Atmung die physiologische Grundlage des Fühlens ist, ebenso wie das Nervensystem die physiologische Grundlage des Denkens“, und jetzt der Satz, auf den ich eigentlich hinaus wollte, der aber ohne diesen Vorspann in der Luft hinge: „Es liegt ein eigenartiges soziales Element in der Tatsache, dass alle Menschen dieselbe Luft atmen. Nichts tun die Menschen so gemeinsam wie eben atmen. Alles andere hat jeder für sich mehr oder minder allein. Und man ist doch bestrebt, die Gegenstände des täglichen Gebrauchs möglichst mit niemandem zu teilen. Heute widerstrebt es den Menschen schon, mit anderen aus einer Schüssel zu essen. Aber die Luft genießen alle gemeinsam. Gewiss gibt es Frischluft-Fanatiker, die auch ihre eigene Luft atmen möchten und die es nicht ertragen können, mit mehreren Menschen in einem Raum beisammen zu sein. Das ist “, und dann schreibt er hier witzig hier, na ja, „das ist besonders für den Engländer charakteristisch“, na gut. „Aber was spricht sich darin aus? Ein gewisser Grad von Egoismus. Ist nicht die Tatsache, dass ich durch die Atemluft einen Teil des anderen Menschen in mich hineinnehme, die physische Grundlage dafür, dass ich den anderen Menschen erfühle.“

Also, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Atem und Bewusstsein, ist überhaupt nicht zu leugnen, das ist, liegt auf der Hand, das liegt offen zutage. Das kann man unter anderem dadurch testen, das kann jeder für sich testen, wenn er einmal seine eigenen Atemzüge jetzt willentlich steuert, zum Beispiel extrem verlangsamt, was dann mit seinem Denken geschieht, oder extrem beschleunigt, etwa in der sogenannten Hyperventilation, was ja in Teilen des Rebirthing geschieht oder in dem holotropen Atmen nach Stanislav Grof und Christina Grof. Da wird ja in einer schnellen Form über einen langen Zeitraum hinweg, oft ein, anderthalb, zwei Stunden heftig geatmet, hyperventiliert, gleichzeitig bei in gezielter Weise ausgesuchter Musik. Dann kommt irgendwann ein Zustand, wo tatsächlich dieser Pol hier, der Ich-Pol zurücktritt und ein ganz anderes Material nach oben schießt, archtypisches Material, kollektives Material auch natürlich aus der eigenen Biographie ganz viel nach oben kommt.

Auch das gibt es in den vielfältigsten Zusammenhängen aller Weltkulturen, etwa im asiatischen vorderorientalischen Zikr-Atmen der Sufis, wo auch über Stunden hinweg in einer heftigen Weise hyperventiliert wird, um bestimmte Bewusstseinszustände tatsächlich zu erzeugen. Und Ihnen allen bekannt, es ist fast banal, das zu sagen, trotzdem sage ich es noch mal, dass natürlich die Begrifflichkeit von Atem im Sinne auch des Sanskrit Wortes Atma immer zu tun hat auch mit Bewusstsein und Seele. Also „Atma“, das Sanskrit-Wort Atma, bezieht sich auf „Atem“. Gelegentlich, allerdings mit einer anderen Schwerpunktsetzung, wird auch das Wort Prana verwendet. Prana ist nicht unbedingt identisch. Atman ist das Geistwesen, das höhere Geistwesen, das unsterbliche Geistwesen. Prana ist eher die Lebenskraft, Lebensenergie, wenn man das so nennen will, wenn man da einen Begriff dieser Form für richtig hält. Schwierig bei all diesen Begriffen, das hat ja auch Marko Bischof angedeutet. Kann man das gleichsetzen? Ist Prana gleich Chi oder gleich der Od-Energie oder gleich Orgon-Energie ‒ wie immer? Das sind letztlich Fragen, die sehr schwer zu klären sind. Auf jeden Fall ist hier eher die Lebensenergie gemeint, Prana, und hier eher das Geist-Selbst gemeint. Aber der Zusammenhang ist offenkundig, auch im griechischen „pneuma“: Das ist die Luft, der Hauch, „Odem“, wie das Luther übersetzt und zurückbezogen auch auf Atma, auf das Lebendige. Also damit ist auch ein Grundrhythmus im Geistwesen des Menschen mit angelegt. Insofern ist die Frage der rhythmischen Polarität ja ohnehin eine zentrale Frage überhaupt des Menschseins, aber eben auch noch darüber hinausgehend. Und man kann beobachten in den letzten Jahren, dass ein gewisses Bewusstsein dafür entstanden ist, dass es so ist, dass die Abkoppelung von diesen rhythmischen Prozessen, von diesen gegenläufigen Prozessen auch in diesem Sinne, Aufstieg, Abstieg und den pulsenden Prozessen, dass diese Abkoppelung davon tatsächlich desaströse Auswirkungen hat. Indem man das alles eliminiert, schafft man eine Cyberspace-Welt, die sich natürlich immer noch dieser lebendigen Rhythmen bedient. Das ist ja so in gewisser Weise pervers, dass auch der Cyberspace-Fan ja in jeder Millisekunde hängt an diesen Grundrhythmen der Existenz. Nicht, dass man ihm nur mit einem Zug den Stecker aus der Wand ziehen kann, dann ist seine ganze Cyberspace-Welt dahin, das ist das eine. Aber auch in der physisch-sinnlichen Existenz ist er in jedem Bruchteil einer Sekunde abhängig von diesem kosmischen rhythmischen Wellenschlag.

Und die Frage, wie diese Rhythmen zustande kommen, ist natürlich eine hoch interessante. Ich meine, der Hauschka, ich nehme mal ein beliebiges Beispiel, erwähnt mit einigem Recht, das wissen sie alle: Ein Mensch, ein erwachsener, gesunder Mensch vollzieht ungefähr 26000 Atemzüge pro Tag, in etwa. Er setzt das in Verbindung, kann man sagen spekulativ, wenn man das so nennen will, mit dem platonischen Weltenjahr, was 26000 Jahre umfasst. Sie wissen, diese ständige Rückwanderung der Sonne etwa alle 26000 (!) Jahre, irgendwann soll sie wieder am Ausgangspunkt angekommen sein (Sonnenpräzession). Das geht auf die Pythagoreer und Platoniker zurück, also das pythagoreische Weltenjahr, [das] ja eigentlich 25920 Jahre [umfasst]. Genauso viele Atemzüge wie ein Mensch pro Tag vollführt, ein gesunder Mensch. Auch hier wieder interessant, das kann ich heute nicht erörtern, die Zahlenbezüge, etwa Atemschlag – Pulsschlag, ungefähr 1 zu 4. Der Vier-Viertel-Takt in der Musik geht darauf zurück, auf bestimmte Tanzbewegungen, eins zu vier, Atemschlag – Pulsschlag.

Also es ist durchaus wahrscheinlich, dass diese Rhythmen eine kosmische Ursache haben, eine kosmische Quelle haben, das vielleicht die Rhythmen im Organischen sich letztlich auf höhere kosmische oder metakosmische Rhythmen zurückführen lassen, die vielleicht auch hier angesiedelt sind, in diesem Bereich [deutet auf an der Tafel Stehendes, wahrscheinlich den „höheren Raum“], also nicht nur im Sinne des physischen Kosmos zu verstehen sind. Das wirft natürlich dann ein ganz neues Licht auf die Rhythmik überhaupt und auch auf die Frage der kosmischen Verankerung von Musik und der Zahlen. Denken Sie an meine Vorlesung im Winter über Zahlen ‒ dass ganz bestimmte harmonikale Strukturen auch bestehen, dass rhythmische Impulse ausgesendet werden und spürbar sind und ablesbar sind, etwa die Terz und die Quinte spielen eine große Rolle im Pflanzenreich, wie Rudolf Haase und Kayser und andere nachgewiesen haben, nur als Beispiel. Ich habe hier die Sache mit der Quinte auch erwähnt im Hinblick auf Celibidache [der Dirigent hatte auf die unbedingte Notwendigkeit der Quinte für die Harmonik hingewiesen] für die Polarität.

Um erstmal für heute das zu resümieren, will ich Folgendes sagen: Ich habe versucht, Ihnen in umrisshafter Form einen Eindruck zu vermitteln, wie man eventuell, versuchsweise, Polarität, auch rhythmische Polarität denken kann und wie man das auch praktisch umsetzen kann, denn das ist alles eminent konkret. Man könnte ja sagen, das sind eher abstrakte Allgemeinheiten. Das ist nicht so. Das sind ja ganz konkrete Dinge, die ja auch Auswirkungen haben für das Verständnis des Menschen überhaupt. Ich meine, wenn man den Menschen einfach reduktionistisch zum schlauen oder dummen Tier erklärt, wie das ja mit Halali an allen Fronten geschieht, dann braucht man diese Frage überhaupt gar nicht erst zu stellen. Dann sind sie Scheinfragen, alles Scheinfragen. Irgendwann kommt der Mensch eben doch dahinter, dass das alles gar nicht wahr ist, dass er letztlich total reduktionistisch zum Tier gemacht werden kann. Dann bleibt immer noch die Frage, wie der Geist beschaffen ist, der das erkennt, nicht, dass der Gegensatz von quasi-Nichts und quasi-Gott, auch darüber habe ich ja gesprochen, natürlich dann ungelöst bleibt. Die Frage nach dem Bewusstsein selber bleibt natürlich ein Rätselfrage nach wie vor. Aber man kann doch, man hat die Möglichkeit, über ein Verstehen der Polarität im Rhythmus den Menschen ganz neu noch mal (zu) verstehen, über eine stoffliche, feinstoffliche, feinststoffliche, auch psychische, geistige Pulsation, kann man den Menschen verstehen und auf vielfältigste Weise auch tatsächlich neu und auch gleichzeitig wieder ganz alt, auf alte Weise angucken. In diesem Sinne also naturphilosophische Anthropologie.

So, das wollte ich Ihnen als Überblick geben. Dass das Ganze natürlich in einem hohen Maße ausdifferenziert werden kann, ist selbstverständlich. Dass das aber in dieser umrisshaften Form hier nur möglich ist, kann man leicht einsehen.

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