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Pflanzen der Götter – Zur Tiefenwirkung psychoaktiver Pflanzen

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 45

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Ich möchte eine Ergänzung noch bringen zum letzten Mal, diese Ergänzung dann als Brücke benutzen zu dem heutigen Thema: Pflanzen der Götter. Es geht ja also um psychotrope, halluzinogene Pflanzen und Ähnliches.

Wir hatten ja am Ende die Frage gestellt bzw. ich hatte das versucht Ihnen zu verdeutlichen, dass die Mysterienkulte in der Antike nicht restlos kompatibel waren mit der Olympischen Homerischen Religion. Dass das eine im echten Sinne esoterische Unterströmung war, die zwar vielfältige Wechselbeziehung hatte mit der Olympisch-Homerischen Religion aber doch in vielerlei Hinsicht abwich. Die entscheidendste Komponente dieses Abweichen ist die Frage nach der Seele. Ich habe Ihnen das ja versucht darzustellen an dem Gegensatz von Thymos und Psyche. Psyche ist das Individualitätsprinzip im Menschen, schon das Selbst, schon das fokussierte Ich in seinen Vorformen, wenigstens im sechsten und fünften vorchrist­lichen Jahrhundert, bei Homer noch nicht ganz, und Thymos ist ein über-individuelles Prinzip. Ein „autonomer Regungsherd“, wie Hermann Schmitz das nennt oder auch eine Art Lebensprinzip, was den natürlich-kosmischen Kreislauf weitergeht, ohne sich mit dem Einzelnen zu verbinden.

In der antiken Welt der Olympischen Religion ist der Fokus ganz eindeutig gelegt auf die physisch-sinnliche Erfahrungs- und Erscheinungs­welt: der Mensch im Lichte, der Mensch im Lichte des Diesseits, in Anführungszeichen. Es gab Jenseitsvorstellungen vielfältiger Art, eben auch apokryphe, auf die Mysterien bezogene, aber eine restlos in sich konsis­tente Vorstellung im Rahmen der Olympischen Religion hat es nie gegeben. Ich habe das nochmal recherchiert an einem Buch, das mehr als alle anderen Bücher sich mit dieser Frage beschäftigt, das berühmte Buch von Erwin Rohde „Psyche ‒ Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Grie­chen“. Und der stellt hier sehr ausführlich diese Dinge dar und zeigt, wie in der Antike der Hades gedacht wurde, bei Homer und auch in den Jahrhun­derten danach, wie Psyche gedacht wurde, wie der Schatten gedacht wurde als eine Art astrales Double, allerdings eigenartig entpersönlicht, schemen­haft, also nicht herauskonturiert im Sinne einer höheren Individualität. Das ist ein Gedanke, den man erst in den Mysterienreligionen findet.

Zwei kleine Passagen mal aus diesem wunderbaren Buch von Erwin Rohde „Psyche“: „Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig tätig, nur, solange die Psyche in ihm verweilt, aber nicht sie ist es, die durch Mitteilung ihrer eigenen Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkenntnis-Vermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des Lebens und der Tätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen Funktionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese und alle seine Tätigkeiten nicht aus, durch die oder vermittels der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche Tätigkeiten im lebendigen Menschen zu. Sie wird überhaupt erst genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevorsteht oder geschehen ist“. ‒ Ganz wichtig ‒ „Als ein Schattenbild überdauert sie ihn und alle seine Lebenskräfte. Fragt man nun, wie es bei unseren homerischen Psychologen üblich ist, welches bei dieser rätselhaften Vereinigung eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der eigentliche Mensch sei, so gibt Homer freilich widerspruchsvolle Angaben.“ Und dann heißt es hier: „Der Mensch ist nach homerischer Auffassung zweimal da ‒ in seiner wahrnehmbaren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche. Eine solche Vorstellung, nach der in dem lebendigen, beseelten Menschen wie ein fremder Gast, ein schwächerer Doppelgänger“ ‒ das ist wichtig ‒ „ein schwächerer Doppelgänger, ein anderes Ich als seine Psyche wohnt, will uns freilich sehr fremdartig erscheinen“, schreibt Erwin Rohde 1895. „Aber genau dies ist der Glaube der sogenannten Naturvölker der ganzen Erde. Es hat nichts Auffallendes, auch die Griechen eine Vorstellung teilen zu sehen, die im Sinne ur-anfänglicher Menschheit so naheliegt. Wahrnehmen, nichts aus den Erscheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und Denkens im wachen und bewussten Menschen, sondern aus den Erfahrun­gen eines scheinbaren Doppellebens im Traum, in der Ohnmacht und Eks­tase ist der Schluss auf das Dasein eines zweifachen Lebendigen im Menschen, auf die Existenz eines selbstständig ablösbaren zweiten Ich in dem Innern des täglich sichtbaren Ich gewonnen worden.“ Und so weiter.

Bloß, dieses zweite Ich, im Sinne der Homerischen, der Olympischen Religion, ist eine abgeschwächte Form. Dieser astrale Doppelgänger, wenn man ihn so nennen will, ist eine sehr ausgedünnte Form des Menschen in seiner Leiblichkeit. Es gibt eine einzige Ausnahme in der offiziellen Religion der Griechen. Das war der sogenannte Heroen-Kult. Im Heroen-Kult war es anders. Da wurde auch die Vorstellung gedacht, dass es einzelne Menschen, nicht alle, dass es einzelnen Menschen gelingt, eine höhere jenseitige Bewusstseins- und Seinsform zu erreichen. „Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig tätig, nur solange die Psyche in dem verweilt.“ Das hatten wir schon diese Stelle … Das kann ich so paraphrasieren, das muss ich gar nicht vorlesen. Die Vorstellung war in Griechenland verbreitet, dass [es] sogenannte Heroen gibt, einzelne herausragende Menschen, die dann nach ihrem Tode in eine diesmal als höher vorgestellte Seinsform über­wechseln. Wunderbar drückt das aus Pindar [griech. Dichter] in einem Gedicht, das ich Ihnen vorlesen möchte. Ein Gedicht, in dem auch der Gedanke der metempsychosis eine Rolle spielt, der Seelenwanderung, ein Gedanke, der im griechischen Denken nur eine apokryphe Unterströmung war. Da heißt es bei Pindar, zitiert nach Thassilo von Scheffer, „Hellenische Mysterien und Orakel“, das ist ganz im Sinne des Heroen-Glaubens gedacht: „ Die aber vermocht drei Mal in beiderlei Leben verweilend“ ‒ also hier und dort ‒ „die Seele zu wahren unsträflich und rein die wallen hinan den Weg des Zeus zu Chronos‘ Burg, wo Lüfte des Meeres, die Insel der Seligen ewig umhauchen, wo golden erglühen die Blumenkelche von leuchtenden Bäumen am Ufersaum und sprießen dort aus des Wassers Schoß, davon die Gewinde, die flechtend sich legen um Stirn und Arm kraft Rhadamanthys‘ gerechtem Spruch.“ Rhadamanthys war ein als gerecht angesehener König auf Kreta.

Hier wird also eine Jenseitsvorstellung aufgestellt, aufgebaut. Die Seele weilt in einem anderen jenseitigen Zustand, der aber kein abstraktes, kein vollständig nicht-leibliches Etwas ist, sondern der vielerlei Verbin­dungen aufweist. „Die Lüfte des Meeres, die Insel der Seligen ewig umhau­chen, wo golden erglühen die Blumenkelche.“ Also eine Art gesteigertes Diesseits, als Wohnort einzelner, herausragender, in diesem Sinne heroisch verstandener Menschen. Das sind zwei völlig verschiedene Vorstellungen, und in den Mysterienkulten wird, ganz stark beeinflusst von der Orphik, ja der Gedanke gedacht und auch praktiziert, dass die physisch-sinnliche Existenz nur eine Durchgangsstation ist zu einem höheren jenseitigen Sein. Das Faszinierende an dem eleusinischen Demeter-Kult ist ja gerade, dass wir auf der einen Seite einen Naturkult haben, auf der anderen Seite aber einen Kult, in dem es um eine initiatorische Jenseitserfahrung geht, um ein Todes-Erlebnis, was in diesem Mysterium in Eleusis ganz bewusst über anderthalb tausend Jahre hinweg initiiert wurde. Wie das möglich war, ist und bleibt ein Rätsel. Es ist durchaus möglich, dass in diesem Falle eine psychotrope Substanz im Spiele war.

Es gibt aber auch zu der häufig dargestellten These vom Mutterkorn-Bier erhebliche Gegenargumente. Zum Beispiel bringt Terence McKenna, der an sich dieser These zuneigt, ein nicht unwichtiges Gegenargument folgender Art: Wenn Mutterkorn-Bier hinter dem eleusinischen Mysterium stand, wie konnte dies dann über so viele Jahrhunderte hinweg genommen werden, ohne dass in den Legenden irgendetwas über unangenehme Nebenwirkungen zu hören war? Die gab es nämlich bei Claviceps in erstaunlichem Maße. Es gab ja ganze Mutterkorn-Epidemien. Wie ist es gelungen, das herauszufiltern? Das wissen wir nicht. Das bleibt letztlich spekulativ. Auf jeden Fall ist es möglich, dass in Eleusis eine psychotrope Substanz eingesetzt wurde.

Nun will ich Ihnen heute darstellen die Frage: Was sind sogenannte „Pflanzen der Götter“ und welche Wirkung haben diese Pflanzen? Und auch, wie können wir diese Wirkung verstehen? Wie können wir uns damit auseinandersetzen? Man muss sich grundsätzlich darüber im Klaren sein, dass man bei diesen Fragen ein schwieriges Terrain betritt. Das ist ein vielfältig vermintes Terrain, ein kontaminierter Boden. Alles was man sagt zu diesem Thema, fällt ja in eine bestimmte Bewusstseinsform, die sich als die herrschende darstellt. Und alles was zu diesem Thema gesagt ist, ist nicht loszulösen von der Dominanz dieser Bewusstseinsform, die ich immer wieder charakterisiert habe als eine im Grunde genommen pathologische, als eine kollektive Neurose, also was Arno Grün den „Wahnsinn der Norma­lität“ nennt. In dieser Bewusstseinsform müssen … bewegen wir uns, und in diesem Kontext sind alle Gedanken dazu einzuordnen. Das macht es schwierig. Man kann nicht sozusagen voraussetzungslos direkt auf diese Frage zugehen, nach dem Motto Wolfgang Neuss‘: Geh aufs Ganze, nimm die Pflanze. Das ist zu einfach. Das hieße eine, in einer völlig naiven Weise die These vertreten, als ob es möglich wäre, durch die gesamten neuro­tischen Verbiegungen, die ja in langen Jahren gewachsen sind gewisser­maßen, einen unmittelbaren Zugang zu finden. Als ob es möglich wäre, all das auf eine direkte Weise zu durchstoßen. Das glaube ich nicht. Jede Erfahrung dieser Art muss eingeordnet, muss interpretiert werden und verdient auch eine sehr gründliche Betrachtung. Das muss man vorab sagen, weil viele, die eine vollkommen naive These hierzu vertreten, die man eigentlich scharf zurückweisen muss.

Es gab in der letzten Woche einen Artikel im „Spiegel“ über Pilze. Vielleicht haben einige von Ihnen das gelesen, „Stoff aus dem Fleisch Gottes“. Und dieser Artikel ist sehr bezeichnend für diese Thematik. Ich lese nur mal eine kurze Passage vor, die das recht deutlich macht, „Stoff aus dem Fleisch Gottes“ heißt es hier, also letzte Woche: „In den High-Tech-Zuchtkammern einer niederländischen Firma sprießen Drogenpilze. Dank einer rechtlichen Grauzone ist ihr Verkauf legal. Deutsche Drogen-Experten warnen vor wahnhaften Horrortrips. In den 60ern und 70ern hatten psycho­delische LSD-Trips Konjunktur. In den 80ern lockten dann eher leistungs­steigernde Drogen wie Kokain oder auch Heroin. In den 90ern, auf dem Höhepunkt der Techno-Ära dominierte die Durchtanz-Droge Ecstasy. Seit einigen Jahren beobachten wir wieder einen Trend zur halluzinogenen Stoffen, erzählte Hurk. Für den Drogen-Forschungsbeauftragten der Ge­meinde Amsterdam, Tom Nabben, geht deren Erfolg vor allem auf das Interesse für Esoterik und Spiritualität, das ganze New-Age-Geschehen zurück. Da passen Psylos [halluzinogene Pilze] genau rein. Die Smartshops bieten neben den Psycho-Pilzen auch Vitamin-Präparate, Energy Drinks und natürliche Aufputschmittel feil, vor allem Kräutermischungen und Tees, etwa aus Guarana. Im Vergleich zu der Wirkung von Zauberpilzen verhalten sie sich aber ähnlich wie ein Glas Cidre zu einer Flasche Wodka. Der Gesetzgeber übt sich ähnlich wie bei Cannabis“ ‒ das wissen wir ja alle ‒ „in Pragmatismus. Laut Betäubungsmittelgesetz ist ein natürlicher Stoff erst als Rauschmittel zu bezeichnen, wenn er von Menschenhand behandelt wurde. Und in diesem Sinne hat auch der Oberste Gerichtshof der Nieder­lande entschieden: Frische Pilze sind legal, getrocknete hingegen illegal.“ Und dann heißt es hier weiter: „In diesem Fruchtkörper, der von india­nischen Ureinwohnern Mexikos huldvoll ,das Fleisch Gottes‘ genannt wird, bildet sich ein Stoff, der im Magen in die psychoaktive Substanz Psilocybin umgewandelt wird. Die bewusstseinserweiternde Wirkung setzt 10 bis 60 Minuten nach der Einnahme der Pilze ein. Der Trip beginnt oft mit Lachanfällen. Danach entfaltet sich vor den Augen ein buntes Farbenspiel aus grünen oder rosafarbenen Nebelschleiern. Die Halluzinationen werden abgelöst durch eine extrem gesteigerte Wahrnehmung. Die Augen sehen schärfer, die Ohren hören besser, so Arno Adelaar, dessen Buch ,Alles über Psylos‘ in keinem Smart Shop fehlt.“ Na gut. „Auch die Fachzeitschrift …“‒ jetzt typisch der Schluss ‒ „Auch die Fachzeitschrift Kriminalistik sorgt sich um den Trend zur Öko-Droge. ,Verkannte Gefahr‘ lautet der warnende Untertitel eines Aufsatzes über biogene Drogen. Die Autoren warnen davor, das vermeintliche Naturprodukt als sauber, unschädlich und damit ökolo­gisch zu betrachten. Sorge bereitet den Drogenbekämpfern vor allem die rituelle Verklärung. Zitat aus der Fachzeitschrift ,Kriminalistik‘: ,Der Konsum beschränkt sich nicht auf die bloße Einnahme der Drogenzu­bereitung, sondern es erfolgt zunächst eine gewisse Einstimmung mit Musik bis hin zu einer regelrechten spirituellen Vorbereitung auf das Rausch­erlebnis‘, heißt es in dem Fachblatt.“ Gut. Dieser Artikel ist in dem üblichen und sattsam bekannten Stil abgefasst. Man findet hier grinsende Dealer, die daran Geld verdienen und die Häme der intellektuellen Distanzierung auf der einen Seite, aber auch der Spott über die spirituell und tiefe Verbin­dung mit diesen psychotropen Substanzen. (…)

Das nur [als] eines von ganz vielen Beispielen. Wer ein bisschen aufmerksam die Szene der letzten Wochen und Monate verfolgt, dem wird auffallen, dass das Thema immer wieder auftaucht. Also es scheint ein Thema zu sein, was in gewisser Weise auch Aktualitätsrang genießt. Aber ich sage es nochmal: Wir bewegen uns bei diesem Thema auf einem konta­minierten Gelände, auf einem verminten Boden. Wo immer man allzu freimütig und naiv hintritt, kann die nächste Mine hochgehen. Das ist einfach so.

Es gibt einen sehr schönen kleinen Aufsatz von Peter Sloterdijk zu dieser Frage, 1993, „Wozu Drogen? ‒ Zur Dialektik von Weltflucht und Weltsucht“. Und da will ich Ihnen mal eine Passage vorlesen, auf die ich gestern gestoßen war. In dem Abschnitt „Heilige Drogen“, der stellt auf eine sehr schöne, präzise und kluge Weise ‒ Sloterdijks ist manchmal sehr klug ‒ auf eine kluge Weise schon den Begriff „Droge“ in Frage. „Heilige Drogen“, ich lese mal diese Passage vor, die man mitbedenken muss bei diesem Thema: „Zu Beginn jedes kritischen Nachdenkens über die Quellen menschlichen Drogengebrauchs müsste eine moderne Denkfreiheit geopfert werden. Die historische Drogen-Forschung hält die für zeitgenössische Menschen erstaunliche Lektion bereit, dass die Assoziation von Drogen und Sucht im Wesentlichen eine neuzeitliche Verknüpfung darstellt. Um die ältere Realität des Drogengebrauchs zu verstehen, wäre es notwendig, die vorherrschende unheilige Allianz von Droge und Sucht aufzusprengen und beide als grundverschiedene Größen zu begreifen. Die Herausforderung der Sache an zeitgenössische Forscher besteht darin, mithilfe von historischer Einbildungskraft zurückzugehen in eine Epoche, in der die Drogen über­wiegend als Vehikel eines ritualisierten metaphysischen Grenzverkehrs fungierten.“ ‒ Sehr schön gesagt: als Vehikel eines ritualisierten metaphy­sischen Grenzverkehrs. ‒ „Der rituell gehegte Gebrauch von Drogen gehört im psycho-historischer Sicht zu dem untergegangenen Weltalter des alten Mediumismus. In diesem begreift sich das menschliche Innere“ ‒ jetzt ganz wichtig und sehr präzise gesagt ‒ „begreift sich das menschliche Innere, sofern es überhaupt schon abgegrenzt ist, nicht so sehr als eine in sich geschlossene und selbstgesetzliche Seelensphäre, sondern als Erschei­nungsraum und Bühne für Ankommendes, Eintretendes, Durchgehendes, ganz im Sinne“ ‒ obwohl er es hier nicht erwähnt ‒ „des altgriechi­schen ,thymos‘, weniger der Psyche. Anders als beim homo clausus der neuzeitlichen Individualitätsauffassung bedeutet Subjektivität im Zeitalter der sakralen Drogen eine erhöhte Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit für das nicht immer Manifeste und doch äußerst Wirkliche, das sich im psy­chischen Ausnahmezustand zu enthüllen pflegte. Das menschliche Innere öffnet sich und bildet sich heraus in dem Maß, wie es Klangkörper und Bildschirm ist für die Epiphanien über- und außermenschlicher Mächte. Deren sakrale Repräsentanten können jene Stoffe sein, die in moderner Apothekersprache ,Drogen‘ heißen. Das Wort Droge bleibt aber so lange eine Fehlbezeichnung, wie wir sie nur mit einem Interesse an ihrer chemisch-pharmazeutischen und kulturpolizeilichen Identifizierung auffas­sen. In der alten mediumistischen Weltordnung besitzen die Drogen einen pharmako-theologischen Status. Sie sind selber Elemente, Akteure und Mächte des geordneten Kosmos, in denen die Subjekte sich um ihres Überlebenswillens zu integrieren versuchten.“ ‒ Sehr schön gesagt ‒ „Elemente, Akteure und Mächte des geordneten Kosmos, in denen die Subjekte sich um ihres Überlebenswillens zu integrieren versuchen. Die pharmazeutischen Helfer werden besonders angerufen in Zeiten, in denen sich die Individuen krank und entfremdet fühlen. Zu ihnen nehmen Menschen Zuflucht, wenn sie sich am eigenen und am sozialen Körper davon überzeugt haben, dass eine Störung der globalen Harmonie vorliegt. Die psychotropen Stoffe dienen also nicht der privaten Berauschung, son­dern fungieren als Reagenzien des Heiligen, als Türöffner der Götter. Ernst Jünger hat einen bedeutsamen Aspekt früher Drogenpraktiken formuliert, als er in den durch sie induzierten Räuschen einen Siegeszug der Pflanze durch die Psyche erkennen wollte.“ ‒ Diese Formulierung haben wir schon genannt. ‒ „Der Ausdruck bringt das Prinzip medialer Durchlässigkeit gut zur Geltung, das zu den archaischen prä-autonomistischen Subjektver­fassungen gehört.“ Und dann ein paar Seiten später, das muss man auch mit dazunehmen zur Frage der möglichen Ekstase in diesen alten sakralen Zusammenhängen: „Und heute, wenn die Ekstase uninformativ wird, weil die Götter offenbarungsmüde sind wie heute …“. (…) Sloterdijk spricht mit einige Recht vom Verstummen der Götter. Die Götter reden zunächst einmal nichts. Man fragt sich, ob sie existieren, wenn sie existieren, schweigen sie erst einmal, in der normalen Bewusstseinsverfassung. „Weil die Götter offenbarungsmüde sind und die Rauschbilder ihre Profilschärfe verlieren. Dann setzt sich ein flacher und entritualisierter Umgang mit den mächtigen Substanzen durch“, wie wir es heute ja haben. „Sobald die rituellen Halterungen fallen, die dem Subjekt beim Gebrauch sakraler Drogen den Rücken stärkten, findet sich dieses“ ‒ also das Subjekt ‒ „in einer ungeschützten Direktbeziehung zu dem vor, was aller Erfahrung zufolge stärker ist als das profane Selbst. Zu den tragischen Lektionen der Droge gehört es, dass sie es dem Menschen verbietet, ein Privatverhältnis zum Überwältigenden aufzubauen. Unter Bedingungen des Privatkonsums nämlich erfüllt jede psychotrope Substanz früher oder später die Definition des Dämonischen. In der Beziehung zum Dämon verliert das Subjekt seinen Willen an den stärkeren Partner. Es sitzt von da an in der Falle, sofern er zum schwachen Teilhaber einer Überwältigungsbeziehung geworden ist. Sein legitimes Verlangen nach Teilhabe an einer Quelle von Kräftigungen und Erhöhungen führt im privaten Konsum von Rauschgift zu einer dämo­nischen Platzvertauschung. Statt an der Kraftquelle zu saugen, wird es selber zum Gesogenen. Es entleert sich zugunsten des Überwältigenden, von dem es zuvor gefüllt werden sollte. Diese Sogumkehrung gehört zu den Merkmalen der Sucht, an denen sich deren Herkunft aus missratener Metaphysik am deutlichsten ablesen lässt.“

Das finde ich sehr schön gesagt, dieses Wort von der „missratenen Metaphysik.“ Das muss man einfach dazu sagen, dass die Entritualisierung der Überwältigung den Einzelnen eine vollkommen ungeschützte, ihn letzt­lich vollkommen überfordernde Direktbeziehung mit diesen „Pflanzen der Götter“, mit diesem Übermächten bringt. Das spielt in diese ganze Thema­tik hinein.

Nun, „Pflanzen der Götter“ ist zunächst mal ein Synonym für, ganz weit gefasst, psychotrope Substanzen oder auch halluzinogene Substanzen bzw. Pflanzen. Ich habe das entnommen einem Buchtitel, „Pflanzen der Götter ‒ die magischen Kräfte der Rausch und Gift-Gewächse“ von Albert Hofmann und Richard Schultes. Richard Schultes, Botaniker, Direktor des Botanischen Museums von Harvard und emeritierter Professor für Natur­wissenschaften an der Harvard-Universität. Zu seinen Hauptgebieten zäh­len die Ethno-Botanik sowie die Erforschung und Konservierung von Pflan­zen. Albert Hofmann, ja bekannt, heute 95-jährig, Chemiker, ehemaliger Leiter der Abteilung Naturstoffe der pharmazeutisch-chemischen Labora­torien der Sandoz AG Basel, Entdecker der halluzinogenen Wirkung des LSD, 1943. Dadurch ist er ja weltberühmt geworden. Erforschung weiterer psychoaktive Substanzen, so unter anderem der mexikanischen Zauber­drogen mit ihren heilkräftigen Wirkungen. Chemische Erforschung, Isolie­rung und Synthese der Wirkstoffe wichtiger Arzneipflanzen.

„Das Wort ,halluzinogene Pflanzen‘ ist nur mit gewissen Einschrän­kungen zutreffend, denn viele der „Pflanzen der Götter“ sind im engeren Sinne nicht halluzinogen. Insofern hat es immer schon im 19. Jahrhundert einen Streit um diese Bezeichnung gegeben. Eine berühmte Bezeichnung im 19. Jahrhundert war von dem Toxikologen Levin ,die Phantastika‘. Die Phantastika. Es ist in der Tat unmöglich, die so vielfältig psychoaktiv wirksame Gruppe von Pflanzen unter einen einzigen Begriff zusammen­zufassen. Der deutsche Toxikologe Levin, der als erster den Ausdruck Phantastika gebrauchte, räumte ein, dass dieser nicht alles umfasst, was nach meiner Vorstellung darunter verstanden werden sollte. Das Wort Halluzinogen ist leicht zu verstehen, doch rufen nicht alle als Halluzinogene bekannten Pflanzen wirklich Halluzinationen hervor. ,Psychotomimeticum‘, ein ebenfalls häufig gebrauchter Begriff, wird von manchen Spezialisten nicht anerkannt, weil nicht alle Pflanzen aus dieser Gruppe psychose­ähnliche Zustände bewirken.“ Das ist eine Klassifizierung, die davon aus­geht, dass letztlich Psychosen, temporäre Psychosen, ausgelöst werden. „Unter den vielen vorgeschlagenen Definitionen der Halluzinogene ist dieje­nige von Hoffer und Osman umfassend genug, um allgemeine Anerkennung zu finden. Halluzinogene sind Chemikalien, die in nichttoxischen Dosen“, also nicht giftigen Dosen, es ist immer eine Frage der Dosis, wie man nicht erst seit Paracelsus weiß, also, „Halluzinogene sind Chemikalien, die in nichttoxischen Dosen Veränderung in der Wahrnehmung, im Bewusstsein und in der Gemütslage hervorrufen, selten jedoch geistige Verwirrung, Gedächtnisverlust oder Desorientierung in Bezug auf Personen, Raum und Zeit bewirken. Hofmann unterteilt die psychoaktiven Drogen, sich dabei auf die ältere Gliederung Levins stützend, in Anagetika und Euphorika, Opium, Kokain, Beruhigungsmittel, Reserpin, Hypnotika, Taba Kava und Halluzino­gene, Peyote, Marihuana.“ Und so weiter.

Also, wir können uns auf den Begriff der „Pflanzen der Götter“ erst einmal einigen. Es geht also um vielleicht 150 Pflanzenarten, die offensicht­lich psychoaktive, psychotrope Wirkung haben. Man schätzt die Gesamtzahl der Pflanzenarten auf dieser Erde auf eine halbe Million. Andere Botaniker setzen die Zahl viel höher an, auf 700’000, 800’000. Es mag ein Schätzwert sein, der einige Richtigkeit hat, eine gewisse Plausibilität. Eine halbe Million Pflanzenarten gibt es auf dieser Erde, und davon sind 150, soweit wir das sagen können, psychotrop oder psychoaktiv oder halluzinogen. Interessant ist es übrigens, dass von diesen 150 psychotropen Pflanzen 130 in den tropischen Gebieten Amerikas wachsen und nur 20 zusammenge­nommen in Afrika, Europa und Asien. Also der überwiegende Teil der psychotropen Substanzen stammt aus den tropischen Regionen Amerikas. Hofmann, in diesem hochinteressanten, faszinierenden und sehr informa­tiven Buch, stellt immer wieder die Frage: Wie ist es zu erklären, dass einige Pflanzen so weitreichende Wirkungen auf die menschliche Psyche auslösen können, dass die gesamte Wahrnehmung von Raum, Zeit und Selbst auf eine fundamentale, eine oft dramatische Weise verschoben wird und der Einzelne das Gefühl hat, eine vollkommen andere Welt, in diesem Sinne eine Anderswelt, einzutauchen, die ihm häufig genug wirklicher, lebendiger, tatsächlicher erscheint als die physisch-sinnliche Welt? Und das ist ja ein wesentlicher Faktor, den man weltweit beobachten kann, dass diese auf diese Weise induzierten Zustände einen ungeheuren Wirklichkeits­charakter haben und überhaupt die Frage aufwerfen: Was ist eigentlich Wirklichkeit, wenn man diese Zustände vergleicht mit der physisch-sinnlichen Wirklichkeit?

„Halluzination“ ist ja ein eher negativ besetzter Begriff, der davon ausgeht, dass die physisch-sinnliche Wahrnehmung die eigentlich wirkliche ist. Dann ist natürlich die Halluzination die Täuschung. „Es bleibt also ein ungelöstes Rätsel der Schöpfung“, schreibt Hofmann immer wieder, ähnliche Formu­lierung, „warum manche Pflanzen Stoffe erzeugen, die auf die psychischen Funktionen des Menschen einzuwirken vermögen. Von den vielen hundert verschiedenen Substanzen, die den chemischen Aufbau einer Pflanze aus­machen, sind nur ein, zwei oder selten bis zu einem halben Dutzend für die psychische Wirkung der betreffenden Pflanze verantwortlich. Chemiker haben mittlerweile sehr genau herausdestilliert, wo die eigentlichen Wirk­stoffe liegen. Der gewichtsmäßige Anteil beträgt meistens nur Bruchteile von Prozenten, oft nur von Promille der Pflanze. Hauptbestandteile der frischen Pflanze, in der Regel über 90 Prozent des Gewichtes, sind Zellu­lose, die als Gerüststoff dient, und Wasser, dem die Rolle des Lösungs- und Transportmittels für die Nährstoffe und Stoffwechselprodukte der Pflanze zukommt. Kohlenhydrate wie Stärke und verschiedene Zucker, Eiweiße, Farbstoffe, Mineralsalze machen weitere Prozente aus.“

Also, Chemiker haben sehr genau herausdestilliert, welche Stoffe kristallisierter Form, hat man festgestellt, nun die eigentliche Wirkung aus­lösen, und man konnte hier Beziehungen herstellen. Das ist ein Erklä­rungsansatz, der aber bei Licht besehen nicht sehr weit trägt, dass es chemisch sehr ähnliche Stoffe, körpereigene Drogen gewissermaßen, wie das der Psychiater [Josef] Zehentbauer gibt, und dass aufgrund dieser Analogie und ganz großen Ähnlichkeit der nahen chemischen Verwandt­schaft eine Möglichkeit besteht, dass also diese Stoffe den im Körper vorhandenen, vom Gehirn produzierten Neurotransmitter oder Botenstoffen chemisch sehr ähnlich sind. „Dabei stellt sich heraus, dass sie eine nahe chemische Verwandtschaft mit im Gehirn natürlich vorkommenden Substanzen aufweisen, die bei der Regulation einer psychischen Funktion, eine gewisse Rolle spielen.“ Ich sage es nochmal, der Psychiater und Arzt Zehentbauer nennt das „körpereigene Drogen“, was ein ganz sinnvoller Begriff ist. „Mithilfe der genau dosierbaren Reinsubstanzen konnten unter reproduzierbaren Bedingungen die pharmakologischen Wirkungen im Tierversuch und das psychische Wirkungsspektrum beim Menschen ermit­telt werden. Das war mit den Pilzen nicht möglich gewesen, weil der Wirkstoffgehalt starken Schwankungen unterworfen ist, beträgt 0,1 bis 0,6 Prozent der getrockneten Pilze, wobei Psilocybin den Hauptanteil ausmacht und Psilocin meist nur in Spuren vorkommt. Die mittlere wirksame Dosis beim Menschen beträgt 4 bis 8 Milligramm Psilocybin oder Psilocin. Statt zwei Gramm des schlecht schmeckenden getrockneten Pilzes zu essen, genügt es, etwa 0,008 Gramm [8 mg] Psilocybin einzunehmen, um einen mehrere Stunden dauernden Pilzrausch zu erzeugen. Der Beitrag des Chemikers an der Erforschung sakraler Drogen soll am Beispiel der Untersuchung der mexikanischen Zauberpilze anschaulich gemacht wer­den.“ Das war auch nur über den Selbstversuch möglich. Also alle entschei­denden Forscher, auch Mykologen, Pilzforscher, haben das über den Selb­stversuch gemacht. Auch übrigens Hofmann und Schultes.
Ich will dann erstmal eine kleine Pause machen. Ich will nach diesen einleitenden Bemerkungen dann den Versuch machen, an einigen Bei­spielen zu zeigen, wie bestimmte psychotrope Pflanzen in die Seele einwir­ken, welche rituellen sakralen Verbindungen sich hier aufweisen lassen, und dann in einem nächsten Schritt, der vielleicht der entscheidende, aber auch der schwierigste Schritt ist, wenigstens umrisshaft den Versuch machen, diese Zustände, die durch die „Pflanzen der Götter“ induziert werden in der Psyche, im Spektrum der menschlichen Bewusstseinsphäno­mene einzuordnen, ohne dass man das hier schematisch machen könnte oder sollte. Aber das ist wichtig, denn nur indem man den Willen aufbringt, eine geistig seriöse, in diesem Sinne wirklich integrale Denkarbeit auch bei diesen Zuständen aufzubringen, nur dann wird man in der Lage sein, diesen Phänomenen wirklich adäquat zu begegnen. Ich sage es nochmal: Eine direkte, gewissermaßen naive, unreflektierte, undurchdachte Zugangsweise kann es so in Ansehung des heute herrschenden kollektiven Bewusstseins­zustands und der einzelnen Individuen, die davon nie restlos abzutrennen sind, nicht geben. Insofern ist eine geistige Arbeit bei dieser Frage unbedingt notwendig. Es ist unabdingbar, und gerade an dieser mangelt es auf ganzer Linie – leider.

(…) und 150 im eigentlichen Sinne als psychotrop oder psycho-aktiv oder halluzinogen gelten, und davon, ich sagte es, 130 im tropischen Bereich Amerikas. Mir fiel, als ich unten im Hof war, eine Stelle ein aus diesem interessanten Buch von Terence McKenna „Die Speisen der Götter ‒ die Suche nach dem Baum der Erkenntnis“, die ich Ihnen vorlesen möchte. Am Ende dieses Buches gibt es ein Kapitel mit dem Titel „Zur Geschichte psychedelischer Drogen“, und das fängt folgendermaßen an. Das ist für uns ein ganz guter Übergang. Das Buch ist vor zehn Jahren erschienen, wie Sie vielleicht wissen, ist Terence McKenna vor zwei Jahren verstorben. Er war einer der Autoren, die sich wie wenige Andere vehement für diesen Weg der Bewusstseinsarbeit mit psychotropen Substanzen eingesetzt haben. Das war für ihn geradezu der Königsweg, seitdem er in Südamerika Ayahuasca entdeckt hatte. Er hatte vorher lange in Indien gelebt und hat dann fest­gestellt, da lebt gar nichts mehr, behauptet er, an Spiritualität. Aber diese eigentlichen pflanzlichen sakralen Stoffe haben ihm eine Tür geöffnet. Und so glaubte er, und er hat vehement das in der Öffentlichkeit vertreten, auch mit der Vehemenz desjenigen, der ideologisch, kann man auch sagen, festgelegt war. Denn diese einseitige Form, mit der er das Thema vorstellt, hat auch etwas Bedenkliches, weil sie vielerlei Reflexion für entbehrlich hält, ja geradezu herabgewürdigt. Da heißt es am Anfang des 14. Kapitels: „Psychedelische Pflanzen und psychedelische Erfahrung“, es ist jetzt egal, wie treffend oder nicht dieses Wort ist, „wurden von der europäischen Kultur zunächst unterdrückt, dann ignoriert und schließlich vergessen. Das vierte Jahrhundert erlebte die Unterdrückung der Mysterien, Religionen, der Bacchus- und Diana-Kulte, der Kult um Attis und Kybele. Der für die hellenische Welt typische reichhaltige Synkretismus war Vergangenheit“, also eine Zusammenführung der verschiedensten geistigen Strömungen im Mittelmeerraum der Spätantike. „Das Christentum triumphierte über die Sekten der Gnostiker, über Valentinen, Marcioniten und andere, die letzten Bastionen des Heidentums.“ Wir hatten das ja letztes Mal auch dargestellt, dass, als das Christentum sich als Staatsreligion etabliert hatte, [es] rabiat brutal gegen Eleusis vorgeht. Nicht, weil es in diesem eigenartigen Mysterium auch des göttlichen Kindes, was da in der psychotropen Schau, wenn man das so nennen will, gezeigt wurde, wie eine Verhöhnung sah der eigenen Glaubensvorstellungen.

„Diese repressiven Episoden in der Entwicklung des westlichen Denkens schlossen mit Erfolg die Tür zu einer Kommunikation mit der Intelligenz Gaias, mit der Intelligenz der Erde.“ ‒ Für ihn ein ganz wesentlicher Verbindungssstrang ‒ diese Pflanzen eröffnen den Zugang zur Intelligenz der Erde, was ich bis zu einem gewissen Grade auch für richtig halte, dazu habe ich mich hier ausführlich geäußert. „In einem hierar­chischen System aufgezwungener Religion und später über eine hierar­chische Struktur verbreitete wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzten jedes direkte Erleben der Intelligenz hinter der Natur. Die Rauschmittel der christlichen Herrschaftskultur waren unabhängig davon, ob es sich dabei um Pflanzen oder synthetische Drogen handelte, unweigerlich Anregungs- oder Betäubungsmittel.“ Die ganze neuzeitliche Kultur ist ja gar nicht denkbar ohne Drogen, nur durch ganz bestimmte Drogen, die sozusagen einen Betäubungscharakter haben, die den herrschenden Irrsinn also erträglich machen. „ … Unweigerlich Anregungs- oder Betäubungsmittel, Drogen für den Arbeitsplatz und Drogen, um Fürsorglichkeit und Schmer­zen zu dämpfen. Im 20. Jahrhundert dienten Drogen nur noch medizini­schen Zwecken oder waren Genussmittel und Freizeit-Drogen. Doch selbst der Westen hat sich noch einen dünnen Faden einer Erinnerung an das archaische und ekstatische Potenzial bestimmter Pflanzen bewahrt, die in das Mysterium einführen konnten.“

Kurz noch zu dem Buch. Interessant sind seine Aussagen zur Geschichte des Kaffees und des Zuckers. Er stellt auf eine wunderbare, sehr überzeugende Weise Zucker als eine fatale Droge [dar], die auch ökono­misch verheerend war. Alkohol, Zucker und dann auch Nikotin. „Tabak aus den nordamerikanischen Kolonien, destillierter Alkohol und Rohzucker aus dem mehr in den Tropen gelegenen Randzonen waren der Motor dieses ökonomischen Systems. Das Zeitalter der Aufklärung stützte sich auf ein auf Drogen basierendes Wirtschaftssystem, nur eben andere Drogen.“ Das ist eine eigenartige Entwicklung in der Geist- und Kulturgeschichte, dass eine Sparte, eine Art von Drogen legalisiert war, ja geradezu erwünscht war, während andere verteufelt wurden. Ein schwieriges Thema. ‒

So, mich hat in der Pause, zu Beginn der Pause, jemand gefragt, ob es nicht auch diese Widersacherseite gäbe in Bezug auf die Devas. Das ist richtig. Natürlich sind „Pflanzen der Götter“ immer auch Pflanzen der Dämonen und diese Überwältigungszustände, die durch psychotrope Pflanzen ausge­löst werden, sind häufig genug auch dämonischer Natur. Das ist natürlich eine Form der Überwältigung, die auch in Tiefenschichten der Psyche hineinreicht, die nicht harmlos sind, überhaupt nicht harmlos und den Einzelnen in der tiefsten Tiefe packen und ja auch aushebeln. Das ist ja gerade das Wesen der Überwältigung. Und die Frage ist ja grundsätzlich bei derartigen Überwältigungserfahrungen, bis zu welchem Grade kann das menschliche Selbst integrativ wirken? Bis zu welchem Grade hat das Ich noch die Navigationsfähigkeit? Denn wenn das Ich die Navigationsfähigkeit überhaupt nicht mehr hat, wird es ja zum Spielball von mächtigen Flutungen und Strömungen. Und die Frage ist keine nur rhetorische oder theoretisch abstrakte: Was hat es mit dem Ich überhaupt auf sich? Inwie­fern soll und kann es sich hier gewissermaßen einmischen? Wie weit kann es hier den Steuermann spielen, oder wie weit muss es sozusagen sich selbst aufgeben? „Shoes and minds are to be left at the gates“, hieß es ja bekanntlich in Poona. Also nicht nur die Schuhe, auch den Geist an der Haustür abgeben.

In diesem Buch „Pflanzen der Götter“ werden viele Beispiele gegeben für psychotrope Pflanzen. Ich will hier mal herausgreifen zwei, die eher im Randbereich liegen, ich greife jetzt nicht Cannabis raus und auch nicht das Mutterkorn und die Bezüge mit LSD, sondern ich nehme mal hier eine Pflanze, die einen ganz eigenen Charakter hat, nämlich Datura, Stechapfel. Eine Pflanze, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, nebenbei gesagt.

„In der Alten Welt hat diese Gattung, wie es scheint, nie die gleiche Bedeu­tung als zeremonielle Droge besessen wie in Amerika. Aber auch hier ist datura oder Stechapfel“, ähnlich wie auch Bilsenkraut, galt ja auch als Hexenmitttel schon im Mittelalter, „auch hier ist datura seit alter Zeit als Arzneimittel und heiliges Halluzinogen benutzt worden.“ Das kann man zeigen, Datura ist eine der am weitesten verbreiteten psychotropen Pflan­zen überhaupt, ähnlich verbreitet wie Cannabis, vielleicht sogar noch verbreiteter. „In verschiedensten Zeiten und Kulturen wurde Datura ein­gesetzt, auch im Mittelalter, auch in Europa. In frühen sanskritischen und chinesischen Schriften wird Datura Metel erwähnt. Die vom arabischen Arzt Avicenna im 11. Jahrhundert unter dem Namen Jusmatal beschriebene Pflanze war zweifellos mit dieser Art identisch. Die Beschreibung wurde in den Schriften des [Pedanios] Dioscurides übernommen. Die Bezeichnung „Metel“ entstammt diesem arabischen Wort. Der Gattungsname „Datura“ ist eine von Linné vorgenommene Latinisierung des sanskritischen Wortes „dhattūra“. In China galt die Pflanze als heilig.“

Also das ist wichtig, hier gibt es immer bei diesen psychotropen Pflanzen zwei Stränge der Interpretation. Auf der einen Seite gelten diese Pflanzen als mediale Wesen, die das Menschliche mit dem Göttlichen, mit der Anderswelt vermitteln. Auf der anderen Seite sind sie selber Götter. Das ist natürlich ein anderes Kapitel. Auf der einen Seite also mediale Wesen, sie vermitteln nur, sie sind, wie Sloterdijk sagt, Reagenzien des Heiligen Türöffners, auf der anderen Seite sind sie selber Götter. Das liegt ja der Vorstellung der Devas zugrunde. Man findet das ja bei Wolf-Dieter Storl ganz extrem, also einem Zeitgenossen, einem heutigen Etno-Botaniker, für den Pflanzen tatsächlich makrokosmische Wesen sind, in gewisser Weise Götter, denen der Mensch sich einfügen muss, sozusagen heilige kosmische Wesen, also nicht etwa Stufen einer Bewusstseinsevolution.

„In China galt die Pflanze, wir sind bei Datura, als heilig. Wenn Buddha predigte, besprengte der Himmel sie mit Tau oder Regentropfen.“ Es gibt viele Bilder in dieser Richtung, auch Reliefs, Gemälde. „Nach einer daoistischen Legende ist Datura einer der Zirkumpolarsterne. Von diesem Stern zur Erde gesandte Boten sollen eine Blüte dieser Pflanze in der Hand tragen. Mit Cannabis und Wein vermischt, diente sie bei kleineren Opera­tionen als Anästhetikum. Die Chinesen kannten ihre betäubende Eigen­schaft, denn Li Ching Yuen persönlich erprobte sie am eigenen Körper und schrieb: ,Die Tradition sagt, pflückt man die Blüten lachend zu dem Gebrauch mit Wein, wird der Wein einen zum Lachen verleiten. Pflückt man die Blüten tanzend, wird der Wein einen zum Tanzen verleiten.‘ In Indien nannte man die Pflanze den Busch Shivas, des Gottes der Zerstörung. Tanzende Mädchen verfälschten manchmal den Wein mit Datura-Samen. Wer von diesem Getränk kostete, verlor jede Willenskraft, wusste nicht, zu wem er sprach.“ Das ist extrem bei Datura, wird immer wieder beschrieben. Negativ gesprochen wird sie als eine der tückischsten psychotropen Sub­stanzen überhaupt angesehen, mit einem ganz lang dauernden Rausch, in Anführungszeichen, um das Wort mal zu verwenden, mit einer vollständigen Verschiebung der Grundkoordinaten von Raum, Zeit und Selbst. „Verlor jede Willenskraft, wusste nicht zu wem er sprach und vermochte sich nach dem Rausch an nichts mehr zu erinnern, obwohl er scheinbar bei vollem Bewusstsein war und auf Fragen reagierte. Viele Indianer nannten die Pflanze deshalb Trunkenbold, Verrückter, Betrüger und Schwindler. In anderen Teilen Asiens schätzte man Datura als Volksheilmittel ebenso wie als Rauschdroge. Noch heute werden in Indochina häufig die mit Cannabis oder Tabak vermischten Samen oder zerstoßenen Blätter dieser Pflanze geraucht. 1578 wurde sie als ein in Ostindien gebräuchliches aphrodisiches Mittel erwähnt. Schon im frühen klassischen Altertum war man sich der Gefährlichkeit von Datura bewusst. Der englische Botaniker Gerald hielt Datura für identisch mit Hippomanes, das nach der Meinung des grie­chischen Dichters Theokrit die Pferde verrückt mache.“ Im alten Grie­chenland, wahrscheinlich eine erstaunliche Aussage, die ich nirgendwo sonst gefunden habe, zu den vielen auch ungestützten Behauptungen in diesem Buch. „Im alten Griechenland verhalf wahrscheinlich Datura den apollinischen Priestern zu ihrem Traumzustand, in dem sie ihre Prophe­zeiung machten.“ Das habe ich nirgendwo sonst gelesen. Das ist eigenartig, zumal man ja gerade den apollinischen Priestern eine besondere Art der Nüchternheit und kosmischen Klarheit zuordnet. Ob das so war? Ich weiß es nicht. Mir ist keines, kein Beispiel aus der Antike sonst bekannt, wo das dargestellt worden wäre.

„In Mexiko erfreut sich Datura nach wie vor großer Beliebtheit als therapeutische und magisch-religiöse Droge. Bei den Yaqui beispielsweise, nehmen die Frauen sie als schmerzlinderndes Mittel bei der Niederkunft ein. Die Huichol machen in der Heilkunde sehr häufig von der Totoache“, das ist das Gleiche, „Gebrauch. Der Pflanze wird eine so starke Wirkung zugeschrieben, dass nur jemand, der dazu befugt ist, sie beherrschen kann. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Datura Wirkung extrem ist und alles in den Schatten stellt, was gemeinhin als die psychotrope Wirkung gilt. Und da alle Datura-Arten weitgehend identische chemische Grundstoffe enthalten, gibt es auch in ihrer Wirkung kaum Unterschiede. Die physio­logische Aktivität äußert sich zuerst in einem Gefühl der Mattigkeit, das in eine halluzinatorische Phase übergeht und schließlich mit tiefem Schlaf und Bewusstlosigkeit endet. Überdosen können zu dauernder Geistesgestörtheit oder zum Tode führen. Die psychoaktive Wirkung ist bei allen Datura-Arten so stark, dass man sich nicht zu fragen braucht, weshalb sie auf der ganzen Welt von Naturvölkern als ,Pflanzen der Götter‘ betrachtet worden sind.“

Nur als Beispiel, eine extreme Form der Überwältigung, eine extreme dramatische Form der Verschiebung der Grundkoordinaten von Raum, Zeit und Selbst. Hier kommt man immer wieder notwendig bei allen diesen psy­chotropen Substanzen auf die gleiche Frage: Was wird hier im wahrneh­menden Subjekt eigentlich an Wirklichkeit wahrgenommen? Ist es eine halluzinatorische Wahnwelt, die letztlich erklärbar wäre, vielleicht sogar reduktionistisch erklärbar wäre? Oder gibt es hier tatsächlich eine Enthüllung, eine Offenbarung einer tieferen Wirklichkeit, vielleicht gar einer wirklicheren Wirklichkeit? Denn was alle diese Substanzen gemein­sam haben, Datura steht da ganz oben, das gilt auch für Peyote zum Beispiel, das gilt für Psilocybin und andere, ist ja, dass die Wirklichkeit des Wahrgenommenen so überwältigend ist, dass die physisch-sinnliche Wirk­lichkeit in unserem Verständnis, in unserem mentalen Verständnis von Raum, Zeit, Kausalität und so weiter dagegen wie blass, schemenhaft wirkt, wie von außen betrachtet werden kann. Und das ist eine Frage, die letztlich die Wirklichkeit überhaupt berührt, die ungeklärt ist, der man sich aber nähern muss. Es bringt überhaupt nichts, wenn man naiv einerseits die physisch-sinnliche, raumzeitlich-kausale Welt für die einzig wirkliche und legitime hält und sie gegen diese psychotrope Wirkung ausspielt. Genauso wenig, wenn man nun meint, man würde gewissermaßen einen direkten Zugang, gewissermaßen durch einen Zaubergang nun einen Zugang gewin­nen zur wirklichen Wirklichkeit. Beides sind sehr vordergründige Zugänge, und sie führen letztlich nicht weiter.

Interessant ist natürlich, dass das etablierte Christentum alle diese Zugänge rabiat verteufelt hat. Das ist verständlich, weil natürlich auf diese Weise eigene Zugänge eröffnet werden, die der Offenbarungswahrheit radikal widersprechen. Ganz spürbar wird das an der Verteufelung von Peyote, dem Peyote-Kaktus durch die christlichen Missionare und durch die Spanier und Portugiesen und Andere, die in Mittelamerika herrschten.

„Seit der Ankunft der ersten Europäer in der Neuen Welt hat Peyote immer wieder Diskussionen, Unterdrückung und Verfolgung hervorgerufen. Die Pflanze wurde schon von den spanischen Eroberern, wegen ihrer teuflischen Durchtriebenheit“, Zitat, „verurteilt und vor nicht allzu langer Zeit wieder von den Behörden und von religiösen Gruppen in Amerika ange­griffen.“ Immer wieder, eine ganz entscheidende Polemik des etablierten Christentums ist es immer, derartige Zugänge grundsätzlich zu verteufeln. Das ist … also, daran hat sich nichts geändert, bis heute. „… Vor nicht allzu langer Zeit wieder von den Behörden und religiösen Gruppen in Amerika angegriffen. Dennoch spielt die Pflanze nach wie vor eine große Rolle bei den heiligen Handlungen der mexikanischen Indianer. Ihre Verwendung hat sich in den letzten hundert Jahren sogar bis zu den Stämmen in Nord­amerika ausgedehnt. Die Hartnäckigkeit, mit der sich der Peyote-Kult behauptet und zunehmend verbreitet hat, stellt ein fesselndes Kapitel in der Geschichte der Neuen Welt dar, gleichzeitig auch eine Herausforderung an Anthropologen, Psychologen, Botaniker und Pharmakologen, die Pflanze und ihre Substanzen ihrer Wirkung auf den Menschen zu erforschen.“ Von Philosophen ist hier nicht die Rede. Offenbar geht man von vornherein davon aus, dass Philosophen hier[zu] nichts zu sagen haben. Haben sie auch meistens nicht, die meisten jedenfalls nicht. Aber es ist trotzdem wichtig, dass man sich auch als Philosoph dieser Frage widmet. Das tue ich ja. Und dass man auch eine philosophische Herausforderung darin sieht, denn die besteht. Es ist eine philosophische Herausforderung, der man sich stellen kann und auch stellen soll, das ist letztlich die Frage nach der Wirklichkeit und die Frage nach dem Bewusstsein.

„Wir können in diesem wolligen mexikanischen Kaktus ein Musterbeispiel für ein Halluzinogen der Neuen Welt sehen. Peyote war eine der ersten von den Europäern entdeckten Drogen und zweifellos die aufregendste der Visionen auslösenden Pflanzen, auf die die spanischen Eroberer stießen. Sie bildet einen festen Bestandteil der religiösen Zeremo­nien der Eingeborenen. Die Bemühung der Europäer, diese Praktiken zu unterbinden, bewirkten, dass sie nur noch heimlich in den Bergen abge­halten wurden, wo sich der Brauch aber bis heute behauptet hat.“

Dann wird darüber spekuliert, wie alt dieser Peyote-Kult ist. Das weiß keiner. Die Schätzungen gehen bis auf 2000 Jahre. Und es ist interessant, dass, wie ich das gesagt habe, diese Verteufelung von Seiten der etablierten Religionen ganz massiv vorgetragen wurde. Das ist verständlich, weil natür­lich, wenn es diese Zugänge gibt, wenn man auch nur die Möglichkeit einräumt, dass es eigenständige Zugänge dieser Art geben könnte, sozu­sagen eigenmächtige Offenbarungen, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Offenbarung überhaupt vollkommen neu. Und diese Verteufelung hat sich natürlich auf vielfältige Weise bis in die Gegenwart hinein fortge­pflanzt und bestimmt auch immer noch das Klima.

„Die meisten frühen Aufzeichnungen aus Mexiko stammen aus der Hand von Missionaren, die sich dem Peyote-Gebrauch in den religiösen Handlungen der Indianer widersetzten. Für sie hatte Peyote im Christentum keinen Platz, weil damit heidnische Vorstellungen verbunden waren.“ McKenna interpretiert das vollkommen eindeutig. Das Christentum mit seiner einseitigen Gottesvorstellung habe die alte planetarisch-kosmische Intelligenz von Gaia verleugnet und im Bunde mit der mental-rationalen Ichhaftigkeit letztendlich die Menschheit in die völlige Neurose gebracht, in die herrschende Pathologie. „Für sie hatte Peyote im Christentum keinen Platz, weil damit heidnische Vorstellungen verbunden waren. Die Intoleranz der spanischen Kirche, die keinen anderen Kult neben dem ihren duldete, führte zu strengen Verfolgungen, sogar rabiat mit polizeilichen Mitteln wurde da vorgegangen. Aber die Indianer gaben ihre während Jahrhun­derten gepflegte Tradition nicht so leicht auf. Die Unterdrückung von Peyote dauerte lange Zeit an. So publizierte ein Geistlicher bei San Antonio, Texas, im Jahre 1760 ein Handbuch, in dem unter anderem folgende Fragen an die zu Bekehrenden standen.“ Ich lese Ihnen das mal vor. Ich habe mir das hier angestrichen, weil das bezeichnend ist, also die zu Bekehrenden wurden folgendermaßen gefragt: „Hast du Menschenfleisch gegessen? Hast du Peyote gegessen? Ein anderer Priester, Padre Nicolas de León, prüfte die Bekehrungswilligen in ähnlicher Weise: Bist du ein Wahrsager? Kannst du Ereignisse voraussehen, indem du Zeichen und Träume deutest oder Kreise und Figuren auf dem Wasser ziehst?“ Offenbar wurde das mit Peyote in Verbindung gebracht. „Bekränzt du Götzenbilder und Altäre mit Blumen­girlanden, saugst du anderen das Blut aus, wandelst du nachts umher und rufst Dämonen zu Hilfe?“ Das sind die alten Verdachtsmomente, die auch schon im Mittelalter den Hexen gegenüber aufgebracht, vorgetragen wurden. „Bekränzt du Götzenbilder und Altäre mit Blumengirlanden? Saugst du andern das Blut aus? Wandelst du nachts umher und rufst Dämonen zu Hilfe? Hast du Peyote getrunken oder anderen zu trinken gegeben, um Geheimnisse zu erfahren oder gestohlene und verlorene Gegenstände wiederzufinden?“ Also das Verdikt, dass derartige Zugänge in die Tiefen des Seins einfach illegitim sind, dass sie aufs Schärfste zu bekämpfen sind.

Nun will ich nicht jetzt in der Phänomenologie weiter fortfahren. Man könnte jetzt viele andere Pflanzen ja auch anführen und die Wirkungsweise im Einzelnen darstellen. Das würde uns jetzt im Moment nichts nützen. Wenn Sie das wollen, müssten Sie das im Einzelnen nachlesen. Viel wichtiger ist jetzt erst einmal die Frage, wenn man das sich vergegen­wärtigt, was ich jetzt in knapper Form und im Hinblick auf Peyote und Datura angedeutet habe: Was heißt das? Man muss hier nochmal, was ich ja immer wieder versuche zu sagen, den Ablauf, den evolutionären Prozess von Bewusstsein überhaupt sich klarmachen. Was heißt das? Ich meine, die Frage bleibt doch: Was wird da eröffnet? Ist es eine archaische, vor-ichhafte, prämentale, sozusagen Unterwelt, die sich da öffnet? Wird der Mensch in gewisser Weise zurückgesogen in eine Seinsstufe, die er im Grunde genommen in seinem evolutionären Prozess überwunden hat? Oder noch schärfer gesagt: Handelt es sich letztlich um regressive Momente? Ist das eine Art von Regression in eine Pflanzennähe, die das Ich gemeinhin überwunden hat?

Ich spreche hier wiederholt von der ontologischen Barriere, die besteht zwischen der Ichhhaftigkeit des Menschen und dem unterichhaften Bewusst-Sein der Pflanzen. Und da ist eigentlich die entscheidende Stelle. Was passiert hier? Handelt es sich um eine regressive Form des Bewusst­seins, die letztlich überschritten werden muss? Werden wir hier überflutet von Strömungen, die letztlich das Ich aufzehren, überwältigen, ja zerstören, in einem dämonischen Sinne? Oder gibt es hier im Sinne von Ken Wilber und Anderen eine höhere Öffnung, eine transmentale Öffnung, sozusagen eine kosmische Öffnung? Oder, was die Sache noch schwieriger macht, vielleicht aber den wahren Sachverhalt am besten beschreibt: Es liegt beides vor.

Diese Wirkungen sind auf eine schwer begreifbare Weise beides. Ich spreche öfter vom sogenanntem mentalen Fenster, und ich habe immer wieder die These vertreten, dass bei bestimmten Überwältigungs­erfahrungen das mentale Fenster in beide Richtungen durchlässig wird, dass also nicht nur eine Durchlässigkeit nach unten passiert, sozusagen in die Unterwelt der Psyche, in die Abgründe auch des Magisch-Mythischen, des Pflanzlich-Tierhaften, genauso eine Öffnung nach oben. Und für das menschliche Bewusstsein in seiner Selbsthaftigkeit am schwierigsten zu verkraften ist, wenn beides gleichzeitig passiert, wenn es also eine Öffnung nach unten und nach oben gleichzeitig gibt, und wenn sich das auf eine schwer entwirrbare Weise ineinanderfügt. Dann ist das Bewusstsein zunächst einmal überfordert.

Insofern ist es verständlich, wenn viele, wenn die gesamte mentale Ichhaftigkeit erstmal darauf aufbaut, die Barriere nach unten und die Barriere nach oben möglichst festzuziehen, das mentale Selbst zu festigen und alle Zugänge nach unten und nach oben erst einmal abzuschneiden.

Das muss man wissen bei dem Thema und alle Erfahrungen, über die man lesen kann, die man machen kann, bestätigen eigentlich immer wieder dieses eine, dass wir offenbar bei den „Pflanzen der Götter“, bei der Tiefenwirkung der psychoaktiven Pflanzen auf eine rätselhafte Weise beides vorliegen haben. Und es öffnet sich sozusagen die Unterwelt, jetzt symbolisch-metaphorisch gesprochen, es öffnet sich aber auch oder kann sich öffnen, eine kosmische Überwelt, und beides überflutet die rationale Ichhaftigkeit, beides überflutet das mentale Fenster und stellt das Ich vor eine extreme Zerreißprobe. Und da ist die entscheidende Stelle der geistigen Arbeit, die geleistet werden muss, wenn man an dieser Stelle weiterkommen will, auch übrigens bei dem elendigen und vielfältig, wie ich schon sagte, kontaminiertem Thema der Frage nach Drogen, nach soge­nannten Drogen überhaupt, muss diese Frage geklärt werden. Und sie ist schwer. Sie ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt auch im Zusam­menhang mit der Frage, kann es so etwas geben wie ein „Neues Eleusis“, wie das ja manche behaupten?

Ich habe mich ja selbst auch in meinem Buch „Was die Erde will“ zu diesen Fragen geäußert. Kann es so etwas geben? Gibt es eine neue Form der Wiederanbindung, der Wiedereingliederung derartiger Zustände in ein anderes Bewusstsein? Oder ist das blanker Illusionismus in Ansehung der herrschenden Bewusstseinslage, der überhaupt keine Basis hat in der Wirk­lichkeit? Ist das pure Ideologie? Das kann man zunächst mal offen lassen. Aber die Frage ist wichtig, gibt es so etwas? Kann man da anknüpfen? Kann man da etwas Neues erschließen, ohne dass man, regressiv sozusagen, dem eigenen Pflanzen-Selbst in diesem Sinne der Öffnung der Unterwelt anheim­fällt? Diese Frage ist weitgehend ungelöst. Ganz naiv, sage ich mal, bei aller doch Wertschätzung auch der Forschungsleistung von McKenna, sind seine Thesen hierzu. Er bringt geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie es nach meiner Überzeugung, wie es gerade nicht geht.

Und ich will das aber in der nächsten Vorlesung weiterführen, weil das jetzt zu weit führen würde. Ich will den Bogen spannen dann, in der letzten Folge im Sommersemester, zu der Frage: Wie können wir eine authentische Verbindung mit den Pflanzen realisieren? Wie können wir, wie ich das mit Ralf Metzner sagen möchte, eine Wiedervereinigung des Heili­gen und des Natürlichen realisieren? Und darum geht es. Kann das Sakrale mit dem Natürlichen in irgendeiner Form zusammengeführt werden? Lässt sich das Natürliche resakralisieren? Dass es entsakralisiert worden ist, das wissen wir alle, das ist die Bewusstseinsrealität nicht erst unserer Zeit. Gibt es da eine Möglichkeit der Resakralisierung, also Wiedervereinigung des Heiligen mit dem Natürlichen? Ich habe das ja genannt: Der „neue Bund von Mensch und Pflanze“ ‒ wie können wir uns den Pflanzen geomantisch, tiefenökologisch und existenziell neu verbinden. Das will ich das nächste Mal aufgreifen und damit auch die Frage nochmal neu stellen und in umrisshafter Form beantworten, ob es die Möglichkeit gibt, eines „neuen Eleusis“ oder ob das in dieser Form letztlich Illusionismus ist.

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Pflanzen und Erdmutter (Gaia) – Die Bedeutung des antiken Demeterkults

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff

Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 44

Transkript als PDF:


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[Wir kamen in der letzten Vorlesung auf die] geistige Dimension zu sprechen, kann man sagen, dass die Pflanzen in gewisser Weise Bewusstsein haben jenseits einer zerebralen Substanz, also jenseits eines Nervensystems. Dann habe ich Ihnen versucht zu erläutern, dass man das nur dann denken kann, wenn man Bewusstseinsqualitäten in der Welt, im Universum, im Kosmos überhaupt annimmt. Man kann lebendige Pflanzen ‒ im Sinne von bewusstseinserfüllten Pflanzen ‒ nur sinnvoll denken im Rahmen einer Kosmologie, die die Gestirne überhaupt als lebendig begreift, in diesem Fall also die Erde als lebendig begreift. Und dann waren wir der Frage nachgegangen, was sind sogenannte Pflanzen-Devas? Das ist ja noch eine Schicht darüber. Gibt es vielleicht so etwas wie eine autonome Pflanzenwesenheit, was ja auch Ernst Jünger annimmt?

Und ich bin in der FAZ vorgestern, in der Sonntagszeitung, auf ein Buch gestoßen, das hier kurz vorgestellt wird, was einen vollkommen anderen Fokus hat, aber auch eine merkwürdige, in gewisser Weise kuriose Weise mit der Frage der seelisch-geistigen Dimension der Pflanzen zu tun hat. Hier wird ein Buch vorgestellt von einem gewissen Michael Pollan: „Botanik der Begierde“. Und da heißt es in der Überschrift, also FAZ Sonntagszeitung: „Unser Gebieter, die Pflanze. Wer gärtnert, weiß es. Gerade bei eintönigen Verrichtungen sprießen mitunter furiose Gedanken. So erging es auch dem amerikanischen Journalisten Michael Pollan. Zitat: ,Eine Biene würde sich im Garten vermutlich auch als Subjekt und die Blüte, deren Nektartropfen sie plündert, als Objekt betrachten, und dabei verhält es sich gerade andersherum‘, behauptet Pollan. Es ist der Samen einer wunder­baren Theorie, dass nämlich im Bauplan der Pflanzen der Mensch als Werkzeug bota­nischer Evolution vorgesehen ist.“ Also der Mensch als Werkzeug der Pflanzen. „Durch bestimmte Strategien veranlassen sie, die Pflanzen, uns, ihre Verbreitung voranzutreiben. Dazu setzt beispielsweise der Apfel seine Süße ein, die Tulpe ihre Schönheit, und die Kartoffel nährt uns mit ihrer Stärke. Man mag das für vollkommen abwegig, für wissen­schaftlich unhaltbar oder für den Auswuchs einer Neurose halten. Kurzweilig liest sich Pollans Abhandlung allemal, da seine Beschreibungen den Vorzug haben, abgegriffene Metaphern zu meiden und alle naheliegenden Einwände amüsant zu entkräften.“ ‒ Finde ich immer schön, wenn das wirklich gelingt. Es gibt ja immer die berühmten naheliegenden Einwände, die sozusagen immer in Griffnähe liegen, die meistens schnell entkräftet und widerlegt werden können. ‒ Bei aller Genauigkeit erlaubt Pollan uns dennoch immer wieder, auch über den Autor als glücklichen Gärtner zu lachen, etwa über seine Karriere als Marijuana-Züchter. Eins allerdings verrät er nicht: ob die hochintelligenten Pflanzen nicht sogar den Namen dieses Autors zwecks Bestäubung des PR-Werts vorab erdacht haben. Resümee: Die ideale Lektüre nach getaner Gartenarbeit fördert die Einsicht, dass mensch­liches Tun im Garten und anderswo stets von begrenzter Wirksamkeit ist.“

Ich meine, das ist wirklich ein Kuriosum. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber man kann diesen kurzen Bemerkungen hier ein bisschen nachgehen und stellt also fest, dass die Pflanzen, hier tatsächlich als eine eigene Wirkpotenz vorgestellt werden, die sich in gewisser Weise der Menschen bedient. Es gibt ja solche Gedanken auch bei Wolf-Dieter Storl, wenn er über die Pflanzen-Devas schreibt. Nicht, das habe ich ja angedeutet. Er behauptet ja, dass die Pflanzen-Devas in gewisser Weise als gewaltige makroskopische Wesen in die Menschheitsgeschichte hineinwirken und Menschen, Individuen, ganze Menschengruppen und auch kulturelle Zusammenhänge von ihrer Ebene aus in ihrem Sinne bestimmen. Gut, das vorab.

Ich habe das gesagt: Eleusis ist das größte Rätsel der antiken Welt und eines der faszinierendsten Phänomene der Geistesgeschichte überhaupt. Warum? Einmal deswegen, weil hier wirklich authentisch und wahrhaftig Esoterik vorgelegen hat. Nicht in diesem abgeflachten New-Age-Sinn, wo alle Irrationalismen nun gleich Esoterik sind, sondern in dem eigentlichen, tiefsten Sinne des Wortes „Esoterik“ im Sinne der nur für Eingeweihte erschließbaren und verständlichen Bewusstseinsformen.

Der Kult von Eleusis war ein Mysterienkult. Wir wissen nicht, wann dieser Kult entstand. Es gibt nur Vermutungen. Aristoteles sagt, dass der Kult schon zu seiner Zeit über 1000 Jahre alt gewesen sei. Das würde dann sehr weit zurückgehen. Er ging auf jeden Fall bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert, als dann die Christen aus einem starken Konkurrenzimpuls heraus Eleusis bekämpften und die Weihestätte restlos zerstörten. Sie ist immer wieder einmal zerstört worden im Laufe der Geschichte, unter anderem auch von den Persern. Und was man heute an diesem Ort findet, in Elefsina, also in der Bucht von Salamis, in einem musealen Raum, ist eine Mischung aus römischen Bauten, die zum Teil noch von Hadrian stammen, also Ruinen, dann einige Teile des Peisistratos oder von ihm angeregten, und auch Restbestände dessen, was Perikles angeregt hat. Man sieht noch das Telesterion, diese gewaltige Einweihungshalle im Grundriss, man sieht Säulenfragmente, man sieht an der Seite die Sitzmöglichkeiten, denn diese gewaltige Halle, 54 mal 52 Meter, sollte bis zu 3000 Initianden beherbergen, eine erstaunliche Zahl. Über diese Frage werden wir noch sprechen.

Wir müssen uns bei Eleusis erst einmal generell in einen völlig anderen Bewusst­seinsraum einzuschwingen versuchen. Das ist schwer genug. Schon deswegen schwer, weil es eine unverbrüchliche Schweigepflicht gab für alle Initianden in diesem Eleusis. Keiner der Initianden hat in diesem gewaltigen Zeitraum von 1200 bis maximal 2000 Jahren jemals diese Schweigepflicht gebrochen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. In unserer heutigen vollkommen geschwätzigen Zeit, wo jeder über alles redet und keiner irgendetwas für sich behalten kann, ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass ein Kult existiert hat, über einen so riesigen Zeitraum hinweg und tatsächlich die Schweigepflicht von niemandem ernsthaft gebrochen worden ist. Es gab hin und wieder mal zaghafte Andeutungen, was möglicherweise in Eleusis passiert sein könnte, zum Beispiel in den Tragödien des Aischylos. Man hat ja verschiedentlich Aischylos den Vorwurf gemacht, er habe Mysterienwissen von Eleusis in seinen Tragödien preisgegeben. Und es gab natürlich auch verschiedene Versuche, das Mysterium zu entweihen. Darüber sprechen wir noch. Etwa im Jahre 415 v. Chr. gab es einen Skandal in Athen. Einige hätten sich unbekannte Kultgegenstände und eine unbekannte Substanz privat, im privaten Rahmen zugeführt oder einverleibt. Was das war, wissen wir nicht. Wahrscheinlich das sogenannte Kykeon, ein Gerstegetränk, von dem ja immer wieder vermutet worden ist, dass es mit psycho­troper Wirksamkeit ausgestattet gewesen sei. Das wird uns noch beschäftigen.

Alle, die in Eleusis eingeweiht waren, haben davon in den höchsten Tönen gekündet, ob das Pindar war, die Tragöden Sophokles, Euripides, ob das Platon war und viele, viele andere. Immer wieder ist gesagt worden, das sei eine überwältigende Erfahrung gewesen, etwas Unvorstellbares, etwas Unsagbares. Also man muss sich das bitte mal überlegen, über einen so riesigen Zeitraum hinweg ist das nicht gebrochen worden, ist das Schweige­gelöbnis nicht gebrochen worden. Das kann man sich nicht vorstellen. Daraus kann man schon schließen, es muss etwas Besonderes mit diesem Kult auf sich gehabt haben.

In den letzten Jahren, und so stellt sich ein gewisser Kontext her, hat es ja ver­schiedene Zusammenhänge, verschiedene Fragen gegeben, den Kult von Eleusis in einen neuen, zeitgemäßen Kontext einzubinden, Stichwort „Neues Eleusis“. Es hat immer wieder Überlegungen gegeben, ob man vielleicht doch an das Rätsel von Eleusis herankommen könnte, ob man wesentliche Komponenten entschleiern könnte und ob es möglicherweise, die Möglichkeit und Wirklichkeit geben könnte, einen neuen Demeter-Kult zu initiieren. Von denen, die das schriftlich verschiedentlich geäußert haben, seien nur einige genannt. Das ist Terence McKenna, der vor zwei Jahren Verstorbene, dann Ralph Abraham, der Mathematiker aus Kalifornien, dann auch Albert Hofmann, kürzlich 90 Jahre alt geworden, der Entdecker, man kann auch sagen Erfinder, wie immer, des LSD, und ich habe das auch getan. In meinem Buch „Was die Erde will“ habe ich an mehreren Stellen die Frage gestellt: Gibt es möglicherweise so etwas wie ein Neues Eleusis? Wie könnte man das denken in einem geomantischen, tiefenökologischen Zusammenhang, der unserer Bewusstseinsform heute entspricht?

Das ist allerdings die Voraussetzung ‒ denn wir können ja nicht einfach ein altes Mysterium wieder aufleben lassen, zumal wir ja in der Essenz gar nicht genau wissen, was wirklich passiert ist. Auf einer Gedenkveranstaltung zum neunzigsten Geburtstag von Albert Hofmann, wie ich gehört habe, soll Christian Rätsch, der Etnobotaniker, gesagt haben: LSD ist Eleusis. Eine erstaunliche Aussage, die wirklich sehr weitgehend ist und eine Fülle von Fragen auslöst, und hier einfach mal als These hingestellt sei. Ich bin nicht dort gewesen, habe das aber von verschiedenen Seiten gehört, dass das Christian Rätsch gesagt haben soll. Dann wäre natürlich die Frage eine völlig andere, in gewisser Weise einfachere, wenn man das so nennen will.

Eleusis war ein Mysterienkult, schon im Rahmen der antiken Religiosität ein Unikum, also keineswegs unbedingt integrierbar in die Olympische Religion der Griechen, sondern wahrscheinlich viel älter als diese. Wie die Olympische Religion der Griechen entstanden, wissen wir nicht. Es gibt buchstäblich nur Spekulationen, Vermutungen, Arbeitshypothesen. Kein Mensch weiß, wie diese rätselhafte Welt, wie dieses rätselhafte Pantheon der Gestalten wirklich entstanden ist. Bei Homer bereits 800 v. Chr. finden wir es vollständig vor, rätselhaft, und in den nachfolgenden Jahrhunderten wird das nur noch ausdifferenziert.

Demeter ist offenbar noch viel älter. Hier scheinen sich in die Olympische Religion, in die griechisch-homerische Religion, alte Elemente, Mutterkult-Elemente zum Beispiel, dionysisch-orphische Elemente eingeschlichen zu haben, scheinen darin integriert worden zu sein. Und es scheint hier eine Verbindung hergestellt worden zu sein, die selbst für die Griechen etwas Fremdartiges hatte. Denn wenn das nicht so gewesen wäre, wäre ja gar nicht verständlich gewesen, warum man dieses Mysterium geheimhalten musste. Es muss etwas gewesen sein, was selbst im offiziellen Kanon der griechischen Mythologie etwas Singuläres, etwas Einzigartiges und etwas zu Bewahrendes, als Geheimnis zu Bewahrendes gewesen sein.

Nochmal eine kurze Bemerkung, die wichtig ist für den jetzt kommenden Zusam­menhang. Ich habe in der zweiten Vorlesung dieses Sommersemesters Ihnen versucht zu zeigen, dass vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren ein radikaler, ein revolutionärer Bewusstseinsbruch in der abendländischen Geistesgeschichte stattgefunden hat. Ich nenne das „die Geburt des mentalen Selbst“, habe dazu viele Gedanken entwickelt, unter anderem in dem Buch „Was die Erde will“ im Zusammenhang mit dem Erlösungsgedanken usw. Das will ich hier nicht im Einzelnen darstellen. Was aufschlussreich ist, dass diese revolutionäre Wandlung im abendländischen Denken im fünften vorchristlichen Jahrhundert zwei entscheidende Komponenten hatte, die auch in der Tiefe mit dem Mysterium von Eleusis zusammenhängen. Hermann Schmitz, der von mir geschätzte Kieler Philosoph, nennt diese beiden Komponenten: a) die Selbstermächtigung der Person, also eine Art Selbstergreifung, wie ich sage würde, des mentalen Selbst. Und der zweite Faktor [b] ist die Objektivierung der Außenwelt, die uns ja allen, ich habe das ja mehrfach gesagt, vollkommen selbst­verständlich erscheint. Jedem erscheint es wie die selbstverständlichste Sache von der Welt: Da draußen ist eine für sich seiende, existierende Objektwelt. Hier sind wir als Körper, und in der Brust des je Einzelnen gibt es eine Innenwelt, eine Innenpsyche, einen Innenraum und da draußen den gemeinsamen Außenraum.

Das kann man an zwei griechischen Begriffen sehr schön zeigen in der Gegen­überstellung, nämlich an den Begriffen „psyche“ und „thymos“ oder „thymo“. Psyche meint schon so etwas wie Selbst, schon so etwas wie eine Bewusstseinsfokussierung auf einen selbsthaften, ichhaften Kern. Und thymos ist ein Etwas, eine eigene Seinsqualität, die etwas zu tun hat mit Zorn, Zürnen, Liebe, Herrschen, frei sein, mit einer Art von Wildheit, auch häufig mit Eros, Liebe, Lust und so weiter übersetzt. Und man kann in dieser Zeit zeigen, dass es einen Antagonismus gibt zwischen Psyche, der Konstellierung des Einzelnen, häufig auch verbunden mit dem sogenannten Apollinischen, mit dem Gott Apollon, dem Ordnung stiftenden Prinzip, das immer auch mit Selbsthaftigkeit, Harmonie und Gleichmaß verbun­den ist und Thymos, dem eher dionysischen Element. Und das spielt hier hinein in die ganze Frage von Eleusis.

Nietzsche hat ja in seinem berühmten philosophischen Erstling „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ von 1872 einen Gegensatz aufgestellt bzw. eigentlich aufgegriffen von den Romantikern und Anderen, den er beschreibt als das Apollinische und das Dionysische; das Dionysische, das rauschhaft Wilde, in gewisser Weise auch Eksta­tische, ein ganz starkes Element in der griechischen Seele, und auf der anderen Seite das Apollinisch-Formhafte, das Gestalthafte, das selbsthaft Gestaltete. Die ekstatische Kompo­nente, die Rauschkomponente war im alten Griechenland ungeheuer stark. Man kann sagen, dass die Griechen Apollon so nötig hatten, weil sie in der Tiefe ganz stark geprägt worden sind von diesen archaischen, dionysischen, wilden, ekstatischen Strömungen, die sich unter anderen verbanden mit dem Namen „Dionysos“, der ja auch kein griechischer Gott ist. Wir begegnen dem Dionysos dann in verschiedenster Form, auch im eleusinischen Mysterium, nicht, als Iakchos tauchte er da auf. Manchmal allerdings wird er auch synonym verwendet mit Hades oder Pluto, und dann wieder hat er ganz andere Konnotationen.

Das ist überhaupt aufschlussreich für die griechische Götterwelt bis in die Myste­rienwelt hinein. Es gibt eine eigenartige Identitätsverschiebung. Im Kult geht es ja um Demeter und Persephone, also Persephone als Tochter von Demeter, die von Pluto entführt wird in die Tiefen der Erde. Aber in gewisser Weise ist Persephone als Tochter von Demeter auch Demeter selber, und sie ist auch ihre Schwester. Eigentlich sind sie beide identisch. Es geht also um ganz tiefes Mysterium ja auch von Erdentiefe, auch von pflanz­lichen Prozessen und Geburt und Tod und Wiedergeburt. Also letztlich um die Frage von Palingenese, was ja in Griechenland eine entscheidende Rolle gespielt hat außerhalb der antiken Religion. In der normalen, in der antiken Religion des Homer gibt es nicht den Gedanken von Tod und Wiedergeburt. Hades ist das Reich der Schatten. Wer da hinkommt, bleibt dort. Es gibt keine Wiederkehr im Sinne der klassischen griechischen Religion.

Also, was interessant ist und auch in die Mysterien hineinwirkt, ist die Frage des Ekstatischen, und das verbindet sich interessant und kaum bekannt etwa mit der Frage: Was war eigentlich in dem griechischen Wein? Dass der griechische Wein nicht der Wein war, den man heute kennt, ist klar. Alle Überlegungen, die wir kennen, alle Texte, alle Quellen, die wir heranziehen können, belegen das Eine: Der Wein im antiken Griechenland muss wie eine psychotrope Substanz gewirkt haben. Normalerweise wurde er nur verdünnt getrunken, dreiviertel Wasser, ein Viertel Wein, und er wurde ganz stark verbunden mit Trunkenheit, mit Ekstase bis hin zum Irrsinn. Das Moment des Wahnsinns, der Verzückung, der ekstatischen Verzückung, spielt ja in der griechischen Philosophie auch eine große Rolle, etwa bei Platon, unter anderem in dem Höhlengleichnis. Das wird ja von Platon auf eine andere Ebene gebracht. Bei sakralen Anlässen war der Wein stärker, und der aus­drückliche Zweck des Trinkens bestand darin, eine tiefere Trunkenheit herbeizuführen, in welcher die Gegenwart der Gottheit fühlbar wurde. Dionysos-Bakchos als der ekstatische Gott, der den Menschen in einen anderen Bewusstseinszustand hineinbringt, indem er dann ekstatisch überwältigt, eine höhere Wahrnehmung hat. Und das wurde häufig genug mit dem Wein verbunden. Unter dem Namen Dionysos heißt es hier in diesem Buch von Wasson/Ruck/Hofmann „Der Weg nach Eleusis“: „Überlebte der als Gatte der Mutter-Göttin assimilierte Zeus bis in die klassische Periode hinein. Sein Name weist ihn als Zeus von Nysa aus, denn Bios ist eine Form des Wortes Zeus. Nysa war nicht allein der Ort, wo Persephone geraubt wurde, es war der Name für jeden Ort, an dem jene mit der Passion von Geburt und Tod des Dionysos verbundene eheliche Begegnung aufgeführt wurde.“ Also der Hieros Gamos, der heilige Geschlechtsverkehr. „Wenn Dionysos seine Anhängerinnen, die Mänaden oder Bacchantinnen in Besitz nahm, war er synonym mit Hades, dem Herrn des Todes und Bräutigam der Göttin Persephone. Die Persephone sammelten auch die Mänaden Blumen, wir wissen das, weil ihr Emblem der Thyrsos war, ein mit Efeu-Blättern gefüllter Fenchel-Stängel. Derartige hohle Stängel wurden üblicherweise von Kräuter­sammlern als Behälter für ihre Ernte verwendet und der Efeu, mit dem die Stängel der Mänaden gefüllt waren, war dem Dionysos heilig und galt als psychotrope Pflanze.“

Also der Thyrsos als ein Stängel, ein Fenchel-Stängel, und innerhalb dessen der Efeu, „war dem Dionysos heilig und galt als psychotrope Pflanze. Dionysos konnte seine ekstatischen Bräute jedoch auch vermittels anderer Pflanzen besitzen, denn er lebte als vegetativer Gatte in allerhand Rauschmitteln, darunter offenbar auch in gewissen Pilzen. Deren Stiel wurde in Analogie zum Emblem der Mänaden ebenfalls ,Thyrsos‘ genannt. „Auch der Stiel der Pilze galt als Thyrsos, wobei der Pilzhut an die Stelle der psychotropen Kräuter trat.“ Gut.

Die Äußerungen, die wir haben über Eleusis sind voller Verzückung. Ich habe das schon angedeutet. Man muss das ernstnehmen, dass über einen so gewaltigen Zeitraum hinweg immer wieder hochkarätige Geister voller Verzückung, voller Ehrfurcht davon sprachen, was in Eleusis geschaut worden wäre [ist]. Das ist das Entscheidende, das kann man mit Sicherheit sagen. Es gab in diesem Mysterienkult in der entscheidenden letzten Nacht nach neun vorbereitenden Tagen eine Art von Schau. Es gab eine Art von visionärer Schau für alle Initianden. Im Höchstfalle handelte es sich um 3000, das muss man sich bitte mal überlegen. Ein Einweihungsgeschehen, wobei 3000 Menschen in einer riesigen Halle gemeinsam eingeweiht wurden, und alle 3000 haben das als eine der größten, vielleicht die größte Erfahrung ihres Lebens bezeichnet. Also, es ist gesagt worden, na ja, in dem Telesterion ist eine Art Mysterienspiel vorgeführt worden. Man hat dann festgestellt, das kann gar nicht sein, weil die Säulen, wenn man sich das genau betrachtet, einander verdecken. Man hätte nur von einem ganz kleinen Teil dieses Telesterion aus eine wie immer geartete Bühne sehen können. Das heißt, die meisten, die dort anwesend gewesen sind [waren], hätten die Bühne gar nicht sehen können. Also so kann es nicht gewesen sein.

„Dreimal selig, die dies geschaut haben, von dieser Gewissheit der Mysten sprechen mehrere Zeugnisse“, hier Marion Giebel, eine zeitgenössische Altphilologin in ihrem Buch „Das Geheimnis der Mysterien“. „Von dieser Gewissheit der Mysten sprechen mehrere Zeugnisse, die umso kostbarer sind, als sie nicht aus der Spätzeit oder von christlichen Schriftstellern stammen.“ Als die Christen die Macht ergriffen, haben sie sofort Eleusis diabolisiert. Unter anderem kam der Vorwurf auf, hier würden Orgien gefeiert. Orgia, das griechische Wort „orgia“ war ursprünglich nichts weiter als ein sakrales Geschehen, war der Vorwurf, Orgien würden gefeiert. Außerdem sei das Ganze eine satanische Perversion des christlichen Mysteriums.

„Im Demeter-Hymnus heißt es über die Weihen: ,Selig der Erde bewohnende Mensch, der solches gesehen, doch wer die Opfer nicht darbringt oder sie meidet, wird niemals teilhaftig solchen Glücks. Er vergeht in modrigem Düster.‘“ Immer kommt auch der Gedanke des Opfers heim, zum Beispiel ein Schwein wurde geopfert. Schwein haben, im Sinne von Glück haben, geht, viele wissen das nicht, aber es sei gesagt, auf den eleusi­nischen Demeterkult zurück. Der Dichter Pindar sagt, Zitat: „Glücklich, wer dies gesehen hat, bevor er unter die Erde geht, denn er weiß um das Ende des Lebens, und er weiß den gottgegebenen Anfang.“ Also er weiß das Ende, er weiß den Anfang, er weiß um die Geburt, er weiß um den Tod. Und bei Pindar, ganz eindeutig, das geht aus anderen Aussagen hervor, da geht es ja auch um die Wiedergeburt und im Sinne von orphischen Strömungen, auch um die Wirklichkeit einer jenseitigen, andersweltlichen Sphäre. Das war ja ein starkes Element aus den orphischen Kulten, das auch in die eleusinischen Mysterien eingeflossen war. Das war an sich ja auch der antiken Religion der Griechen wesensfremd. Nicht, in der Orphik geht es ja um eine, sagen wir mal, dualistische Sicht. Der Körper ist eine Art Grab eines seelischen Etwas, einer geistigen Essenz, die es in einem langen Läuterungsprozess aus der Verunreinigung des Körperlichen zu befreien gilt. Die orphischen Mysterien waren ja auch Versuche, den Menschen von der Körperlichkeit, von der Unreinheit des Leiblichen zu befreien, ganz im gnostischen Sinne, zugunsten einer höheren Geistwesenheit. Nicht, also der Mensch galt als ein Mischwesen, entstanden aus der Asche der Titanen, der dämonischen Kräfte, die Zeus‘ Blitze zerschmettert haben. Aber die Titanen haben kurz vorher den Dionysos, eine Manifestation des Dionysos, gegessen. Und insofern lebt im Menschen ein Element des göttlichen Dionysos und der titanischen Kräfte. Wir werden dem noch begegnen, dass das immer wieder in diesem Mysterium ungeheuer gewaltsam, blutig, wenn man das direkt nimmt, zugeht. Nicht nur Orpheus wird zerrissen von Bacchanten oder Mänaden, auch die verschiedenen Manifestationen des Dionysos, das erinnert natürlich auch an den Osiris-Mythos, werden immer wieder zerrissen, zerfetzt. Es geht immer wieder um Zerstörung und um dann anschließende Neugeburt. Bei Sophokles heißt es, also dem zweiten der großen griechischen Tragödiendichter: „Dreimal selig sind die unter den Sterblichen, die dieses geschaut haben, bevor sie zum Hades gehen. Nur für sie allein ist dort Leben. Für die Anderen aber ist alles dort schlimm.“ Auf einer in Eleusis gefundenen Inschrift ist zu lesen: „Wundervoll ist fürwahr das Mysterium, das uns von den seligen Göttern gegeben wurde. Der Tod ist für die Sterblichen nicht länger ein Übel, sondern ein Segen.“ Der Tod als Übergang zu einem anderen und höheren Bewusstseins­zustand, insofern [wird] das Einweihungsgeschehen als ein Todeserlebens [gesehen], das wird uns noch beschäftigen.

Der Kern des Mysteriums war die Initiierung eines Todeserlebnisses über ganz bestimmte rituelle Beeinflussung des Bewusstseins: Schlafentzug, Fasten, möglicherweise auch eine psychotrope Substanz, das sogenannte Kykeon. Darüber werden wir noch reden. Und es galt, die Initianden auch durch Schockeffekte in einen anderen Bewusstseins­zustand zu bringen. Ihnen wird, wie man es heute vielleicht sagen könnte, eine transpersonale Erfahrung verschafft. Aber gleichzeitig sollten sie erkennen, dass dies nicht getrennt war von den natürlich-kosmischen Prozessen, sondern in dieselben integriert war. Das heißt, das was im pflanzlichen, im jahreszeitlichen Rhythmus ständig passierte, wurde übertragen auf die Menschenwelt, also Werden und Vergehen im kosmisch-natürlichen Gesamtzusammenhang.

Der athenische Redner Isokrates, nicht Sokrates, sagt: „Die Eingeweihten haben bessere Hoffnungen in Bezug auf ihr Lebensende überhaupt für alle Zeit. Cicero spricht von den eleusinischen Mysterien, durch die wir die Anfänge, wie sie genannt werden, in Wahrheit oder die Grundlagen des Lebens kennengelernt haben, durch die wir nicht nur mit Freude zu leben, sondern auch eine bessere Hoffnung zu sterben gelernt haben.“ Man hat verschiedentlich gesagt, das ist bestimmt auch zum Teil richtig, dass auch die Platon­ische Philosophie stark von Eleusis beeinflusst war, denn Platon hatte ja in verschiedenen Dialogen ganz klar gesagt: Philosophie in seinem Sinne heißt Sterben lernen. Und die Ideenlehre Platons, also dass … die Sicht, dass der Mensch aus einer höheren Ideenwelt herabsteigt in die physisch-sinnliche Existenz, ist letztlich eine sowohl orphische als eleusinische Denkfigur, in gewisser Weise auch eine pythagoräische Denkfigur. Aber es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wer hier wen beeinflusst hat.

Wahrscheinlich ist die Orphik die älteste Strömung dieser Art, die zweitälteste, sind die Eleusinien und die drittälteste sind die Pythagoräer. Wahrscheinlich sind die Pytha­goräer ganz stark von den Orphikern beeinflusst, obwohl sich das historisch nicht ganz klar festmachen lässt. Es gibt manche Forscher, die behaupten das Gegenteil, die meinen, dass eigentlich die Orphik stark von den Pythagoräern beeinflusst ist. Aber wahrscheinlich ist die Orphik wesentlich älter.

Nun, es gibt, bevor ich jetzt auf den Kult eingehe, soweit wir überhaupt etwas darüber wissen ‒ und ein bisschen wissen wir, möchte ich Ihnen etwas anführen, was viele nicht wissen und woran viele auch nicht denken. Es gibt eine literarische Darstellung einer Einweihung in Eleusis von Goethe, im „Faust“. Das wissen viele nicht, dass der Gang zu den Müttern, den Goethe im „Faust II“ beschreibt, letztlich eleusinisch ist. Der Gang zu den Mütter ist letztlich der Gang zur Erdmutter Demeter. Und es gibt einige Indizien, die für meine Wahrnehmung recht eindeutig sind, die darauf schließen lassen, dass Goethe im „Faust II“, im ersten Akt, tatsächlich eine eleusinische Einweihung dargestellt hat. Es tauchen zwei Begriffe auf bei Goethe, einmal der „Mystagoge“. Mystagoge muss ich erklären; jeder der Initianden, der zunächst als „Neophyt“ bezeichnet wurde, im Anfang als Neophyt, dann als Myste, jeder der Initianden hatte einen eigenen Mystagogen, also einen Begleiter, der ihm half, der schon eingeweiht war, der eine Art Hilfsfunktion hatte. Hier heißt es bei Goethe im Zweiten Teil, Erster Akt. Ich lese mal eine kurze Passage vor, da werden Sie sehen, dass das im Grunde genommen das eleusinische Mysterium darstellt. Mephisto [und] Faust unterhalten sich darüber, wie man Helena heraufbeschwören kann in dieser furiosen Szene. Vielleicht haben einige ja die Inszenierung von Stein gesehen, im Fernsehen, von Peter Stein, vor einem Jahr. [Zitat Faust II, Finstere Gallerie – der nachfolgende Text folgt nicht genau der Rezitation sondern dem originalen Text]:

„Mephistopheles.
Und hättest du den Ocean durchschwommen,
Das Gränzenlose dort geschaut,

So sähst du dort doch Well’ auf Welle kommen,

Selbst wenn es dir vor’m Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne;

Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,

Den Schritt nicht hören den du thust,
Nichts Festes finden wo du ruhst.

Faust.
Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;

Nur umgekehrt. Du sendest mich in’s Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;

Behandelst mich, daß ich, wie jene Katze,

Dir die Kastanien aus den Gluthen kratze.
Nur immer zu! wir wollen es ergründen,

In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden.”

Nicht, dann gibt er ihm diesen Schlüssel. –


„Mephistopheles.
Ich rühme dich eh’ du dich von mir trennst,
Und sehe wohl, daß du den Teufel kennst;
Hier diesen Schlüssel nimm.

Faust.
Das kleine Ding!

Mephistopheles.
Erst faß ihn an und schätz’ ihn nicht gering.

Faust.

Er wächs’t in meiner Hand! er leuchtet, blitzt!


Mephistopheles.
Merkst du nun bald was man an ihm besitzt!
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
Folg’ ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.

Faust (schaudernd).
Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!

Was ist das Wort das ich nicht hören mag?


Mephistopheles.
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört?
Willst du nur hören, was du schon gehört?
Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge,

Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge.

Faust.

Doch im Erstarren such’ ich nicht mein Heil,

Das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil;
Wie auch die Welt ihm das Gefühl vertheure,
Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.

Mephistopheles.
Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige!

’s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen,

In der Gebilde losgebundne Räume;
Ergötze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;
Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe,
Den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe.

Faust.
Wohl! fest ihn fassend fühl‘ ich neue Stärke,
Die Brust erweitert, hin zum großen Werke.


Mephistopheles.
Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund,
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn,
Die einen sitzen, andre stehn und gehn,
Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur;
Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.
Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß,
Und gehe grad‘ auf jenen Dreifuß los,
Berühr ihn mit dem Schlüssel!


Mephistopheles.
So ist’s recht!
Er schließt sich an, er folgt als treuer Knecht;
Gelassen steigst du, dich erhebt das Glück,
Und eh‘ sie’s merken, bist mit ihm zurück.
Und hast du ihn einmal hierher gebracht,
So rufst du Held und Heldin aus der Nacht,
Der erste, der sich jener Tat erdreistet;
Sie ist getan, und du hast es geleistet.
Dann muß fortan, nach magischem Behandeln,
Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.


Faust.
Und nun was jetzt?

Mephistopheles.
Dein Wesen strebe nieder;
Versinke stampfend, stampfend steigst du wieder.

Faust.
(stampft und versinkt).

Mephistopheles.
Wenn ihm der Schlüssel nur zum besten frommt!

Neugierig bin ich ob er wieder kommt?”


Dann kommt die Szene, die es ganz eindeutig als ein Einweihungsgeschehen zeigt. Plötzlich nämlich taucht Faust auf der anderen Seite des Proszeniums auf. Und jetzt? Ein Sprecher wird hier ausgewiesen als Astrologe, sagt über Faust:

„Astrolog.
Im Priesterkleid, bekränzt, ein Wundermann,
Der nun vollbringt was er getrost begann.
Ein Dreyfuß steigt mit ihm aus hohler Gruft,
Schon ahn’ ich aus der Schale Weihrauchduft.

Er rüstet sich das hohe Werk zu segnen,

Es kann fortan nur glückliches begegnen.

Faust (großartig).
In eurem Namen, Mütter, die ihr thront
Im Gränzenlosen, ewig einsam wohnt,
Und doch gesellig. Euer Haupt umschweben

Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben.

Was einmal war, in allem Glanz und Schein,
Es regt sich dort; denn es will ewig seyn.
Und ihr vertheilt es, allgewaltige Mächte,
Zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte.

Die einen faßt des Lebens holder Lauf,

Die andern sucht der kühne Magier auf. (…)”

So, ganz eindeutig erfährt hier Faust eine Art eleusinische Einweihung. Nun, was wissen wir über Eleusis. ‒

Wir wissen ungefähr den äußeren Ablauf. Zunächst muss man sagen, dass die Haupt-Eleusinien im Herbst stattfanden, im Frühherbst, September, Oktober, die sogenann­ten großen Mysterien. Es gab aber auch kleine Mysterien, die einführenden, hinführenden Charakter hatten im Februar bzw. März. Marion Giebel hat in ihrem Buch „Das Geheimnis der Mysterien“ die Phasen zusammengestellt, die wir nennen können und was wir nennen können. Es zog ein Zug von Athen die 22 km nach Eleusis, eine einstmals heilige Straße zur Bucht von Salamis. Heute ist das furchtbar, heute ist es ein hochindustrialisiertes Gelände. Häufig genug sind Kriegsschiffe in der Bucht von Salamis. Sie wissen, dass es diese berühmte Bucht, wo 490 v. Chr. die Griechen gegen die Perser in der berühmten See­schlacht gewonnen haben. Sie haben sie in die Enge getrieben, die konnten da nicht mehr ausweichen und sind dann vernichtend geschlagen worden.

Marion Giebel hat 14 Phasen aufgeführt. Ich will das nicht alles nennen, ich will Ihnen nur die wesentlichen nennen, aus denen man interessante Schlussfolgerungen ziehen kann.

„Zunächst mal haben sich alle versammelt in der Frühe zu einer großen Prozession. Zunächst die Priester mit den Kultbildern, die Priesterinnen, die in Körben die heiligen Gegenstände des Kultus trugen.“ Das weiß man, was das war. Ein solcher Korb hieß „ciste“, als cista mystica, aus anderen Kulten bekannt waren. „Er war ein zylinderförmiges Gefäß mit Deckel, das die Priesterin auf dem Kopf trug. Ein archäologisches Zeugnis dieser Votiv-Tafel der … aus dem vierten Jahrhundert gibt uns einen Eindruck vom Zug der Mysten.“ Das hat man hier auf der Antiken-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau gesehen. Wer das sich angeschaut hat, weiß, es gab, weiß das vielleicht auch. Es gab eine eigene Abteilung zu diesem Erdmutterkult. „Jeder trug einen Stab, der mit Blumen, Rosetten und Myrten­zweigen umwunden war und an dem ein Bündel hing. Es enthielt Proviant und die neuen Gewänder, die man am Tag nach der Weihenacht anlegte, um zu bezeugen, dass man ein neuer Mensch geworden war.“ Also die Einweihung beinhaltete eine so radikale Trans­formation, dass man fortan nun ein Wissender war und einen neuen, in gewisser Weise einen neuen Namen trug, auch wenn man durchaus den alten Namen beibehalten hat. „Die Frauen balancierten auf dem Kopf ein Kykeon-Gefäß. Die Männer trugen kleine Kännchen. Viele Teilnehmer hatten auch noch den Kernos bei sich, eine Opferschale mit mulden­förmigen Vertiefungen für kleine Näpfchen.“ Und so weiter.

Nächste Phase, man kommt zu einem Fluss, dem Kephyssos. Hier passiert etwas Eigenartiges, psychologisch interessant. „Es ist die Phase der sogenannten Brückenspäße.“ Jetzt darf obszön, ja soll obszön und derb geredet werden, ganz bewusst, vor der eigent­lichen Weihe hat die Obszönität ihr Feld. „Das Aussprechen derber, ja obszöner Schelm- und Spottreden, die ganz bewusst gewollt war, diente ursprünglich der Abwehr des Bösen. Sieht man zum Beispiel bei Hochzeiten, [dass] das Brautpaar Spotten schlecht machte, damit es nicht dem Neid der Götter ausgesetzt war. Die Scherzreden bewirken gleichzeitig eine Entlastung von der emotionalen Hochstimmung. Zur Zeit der athenischen Polis-Demokratie machten sich die Bürger bei den Brückenspäßen von Eleusis Luft gegenüber prominenten Teilnehmern, die kräftig durchgehechelt wurden und es schweigend hin­nehmen mussten.“ Also die Brückenspäße waren bewußte obszöne, herabwürdigende Scherze, um die emotionale Hochspannung abzubauen. Sehr klug, psychologisch sehr klug. Also das Weihevolle, gewissermaßen Schreiten in den Gewändern, feierlich, erratisch, wurde gleichsam abgemildert, wurde kontrastiert durch Spott, durch Spaß, durch Witz, durch die Brückenspäße.

„Nun erhielten die Mysten im Bereich der eleusinischen Priesterschaft angelangt, einen roten Wollfaden um die rechte Hand und um den linken Fuß geschlungen.“ Das weiß man, dass es so war. „Sie waren damit gebunden und geheilt, zugleich wie ein Opfertier, das ganz der Gottheit angehört.“ Dann gibt es einen kollektiven Tanz, von dem wir nicht genau wissen, wie er sich zugetragen hat, das wäre die vierte Phase. „Und tanzten am Kallikomo-Brunnen“, der heute noch existiert, „und tanzen die Mysten in ihrer Freude eigentlich ange­kommen zu sein. Danach konnte man sich ausruhen. Der Brunnen befand sich noch im profanen, allgemein zugänglichen Bereich. Inzwischen war es dunkel geworden. Mit dem Erscheinen der Sterne wurde das Fasten gebrochen“, vorher wurde gefastet, „und der Kykeon getrunken, das einzige, was die Mysten vor der Einweihung zu sich nahmen.“ Das ist nun der Schlüssel vieler Überlegungen und Spekulationen: Was war dieser Kykeon? Man weiß es aus dem homerischen Hymnus, es war also eine Mischung aus Gerste und Minze. Aber was war da drin? Möglicherweise also eine mutterkorn-befallene Gerste? Das wäre ja eine psychotrope Substanz, die aber schwere Nebenwirkungen hat. Von diesen ist aber niemals die Rede. Und das ist ein Rätsel. Also der Kykeon wird hier getrunken. Ein Trank.
Die Entweihung des Mysteriums wurde mit dem Tode bestraft. Also eine radikale Maßnahme, den heiligen Bezirk zu schützen, vor Entweihung zu schützen. Insofern hat der Staat, hat die erzieherische Polis auch, den uralten, viel älteren Kult als die Polis unter seine eigene Schutzhoheit genommen. „Euch allen sag ich zum ersten Mal zum zweiten und dritten Mal sag ich’s: hebt euch alle hinweg vor dem mystischen Chor. Ihr anderen beginnt die Gesänge, beginnt die heilige Feier der Nacht geziemend dem Fest der Geweihten.“ So lässt Aristophanes den Priester sprechen.

Aristophanes hat das verspottet. Er war ein großer Spötter der antiken Welt, er hat unter anderem auch die Eleusinischen Mysterien verspottet, was er davon wissen konnte. „Durch die großen Propyläen“, die übrigens zum Teil auf den Baumeister Iktinos zurück­gehen, der Teile der Akropolis gebaut hat, unter anderem den Parthenon-Tempel, der berühmteste Baumeister der antiken Welt, also „durch die großen Propyläen zogen die Mysten nun, umgeben in den von einer hohen Mauer umgebenen, in den heiligen Bezirk ein. Ja, abends, die Fackeln der Priester dienten den Mysten nicht nur zur Erleuchtung, sie waren Werkzeuge der Reinigung. Demeter und Kore sind auf Vasenbildern oft mit Fackeln abgebildet. Nach der Reinigung durch die Luft, das Schwingen der Getreideschlegel, der Spreu vom Weizen sondert und im Wasser, ein Bad im Meer“, vorher gab es ein rituelles Bad. „In der Bucht folgt nun die Läuterung durch das Feuer.“ Das haben sie ja bis in die „Zauberflöte“ hinein, nicht, das Wasser und Feuer, Wasser- und Feuerprobe, … bis in die Freimaurer-Riten hinein, das geht ja darauf zurück. „Der Myste hatte mit verhülltem Haupt den folgenden Reinigungsritus zu ertragen, bei dem Fackeln gegen ihn gerichtet wurden. Blind, vorausgesetzt, lernt er sich loszulassen und mit sich geschehen zu lassen, was der Ritus erfordert und was ihn in eine größere Nähe zur Gottheit bringt. Dann durfte der Myste, noch verhüllt, unter dem Beistand seines Mystagogen die Hiera, die heiligen Gegenstände aus der cista mystica berühren.“

Ich mach mal eine kleine Pause und gehe dann auf die zentrale Komponente der eleusinischen Schau ein und auf die Frage, wie man das möglicherweise deuten kann und vielleicht fruchtbar machen kann in tiefenökologischer, geomantischer Hinsicht.

(Kleine Pause.)


Ich muss eine Ergänzung bringen, bevor ich jetzt dem Ablauf weiter folge. Ich hatte Ihnen ja gesagt, Marion Giebel stellt 14 Phasen dar. Ich bin denen jetzt gefolgt bis zur sechsten Phase. Ich muss aber noch einen kleinen Schritt zurückgehen, das habe ich vorhin schlicht und einfach vergessen bzw. vorausgesetzt, was man aber so nicht voraussetzen kann. Hier noch einmal kurz den Mythos von Demeter und Persephone darstellen, wie er in einem grundlegenden Text, im sogenannten homerischen Demeter-Hymnus dargestellt ist, der Grundlagentext für das, was wir überhaupt wissen können über diesen Mythos.

Da heißt es hier in einem der interessantesten Bücher zu den griechischen Mys­terien, geschrieben 1940 von einem der großen Altphilologen, Thassilo von Scheffer, „Hellenische Mysterien und Orakel“. Folgendermaßen, „Hellenische Mysterien und Orakel“, Thassilo von Scheffer, einer der bedeutendsten Altphilologen des 20. Jahrhunderts neben Walter Otto und wenigen anderen, schreibt hier über diesen Mythos. Das hätte an sich am Anfang stehen müssen vor dem Prozedere von Eleusis: „Nach dem Hymnos tanzte die zarte Jungfrau Persephone mit den Töchtern des Okeanos auf einer Wiese, die sich plötzlich, nicht ohne listige Mithilfe des Zeus, mit zauberhafter Blumenpracht bedeckte“, wie magisch sprießen plötzlich Blumen dort, wie die Blumenmädchen in Wagners Parsifal. „Andere erwähnen, dass gerade eine besonders schöne Narzisse Persephone anlockte“, Narzissen werden häufig mit psychotropen Elementen verbunden. Sie galt als Todesblume, „und so berauschte auch im Hymnos der Duft die Jungfrau Persephone so sehr, dass sie nicht merkte, wie plötzlich der Boden gähnend aufklaffte und wie der Kronos-Sohn und Zeus-Bruder Aidonios-Pluton oder auch Hades, der Gott der Toten in der Tiefe mit seinem schwarzen unsterblichen Rossen aus dem Spalt hervorstürmte und das jammernde Mädchen in sein Reich entführt.“

Das ist der Ausgangspunkt, also Persephone wird geraubt. Tiefe öffnet sich und Pluton zieht sie zu sich hinab, ganz eindeutig auch ein Todesmysterium. „Alle Götter blieben absichtlich taub gegen ihr Schreien. Außer der nächtigen Göttin Hekate und dem Sonnen-Helios am Himmel, der alles sieht was geschieht. Auch Demeter hatte von fernher den Jammer vernommen, aber als sie herbeistürzte, konnte sie keine Spur der heiß geliebten, im Boden verschwundenen Tochter entdecken. Verzweifelt raufte sie ihr Haar und durchirrte in zerrissenem Trauergewand, überall mit leuchtenden Fackeln umher­spähend, die Welt, ohne dass ihr jemand die Wahrheit künden wollte, bis ihr schließlich die mit Fackeln schwingende Hekate begegnete und sie zu Helios geleitete, der nun Demeter alles kundtat, besonders aber auch, dass ihr eigener Bruder Zeus das Mädchen dem anderen Bruder Aidonios zugespielt hätte. So erfuhr Demeter, dass ihre Tochter Herrin des Totenreichs werden musste“, die Gattin von Pluto oder Hades.

Wieder seltsam identifiziert, wir haben das schon angedeutet, mit Dionysos. Diese eigenartigen Metamorphosen dieser Göttergestalten. Die sind nicht einfach Gestalten mit klar abgrenzbarer Identität. „Da fasste sie wilder Zorn auf alle Götter. Demeter mied die Himmlischen.“ Demeter, auch Gemeter, also Erdmutter-Göttin, in gewisser Weise die Gestalt gewordene Erde in ihrer nährenden, fruchtbaren, alles umhüllenden, alles tragenden Form. „Demeter mied die Himmlischen und in Gestalt einer gramgebeugten Greisin irrte sie durch die Erde, besonders durch die Einöden von Arkadien, bis sie sich dann schließlich in Eleusis, dem Hause des dortigen Herrschers Keleos nahte. Dessen Töchter brachten sie, ohne in der Alten die Göttin zu erkennen“‒ sie hat also ihre Gestalt geändert, sie tritt als Greisin auf, gramgebeugt ‒ „ohne in der Alten die Göttin zu erkennen, zu ihrer Mutter Metaneira, damit sie dort den kleinen Sohn Demophoon betreuend aufziehen solle. Die sorgliche Markt Jambe suchte dort die tonlose Greisin, die nichts außer Mehl und Wasser genießen wollte, zu erheitern.“

Man muss noch sagen, dass alles Land verdorrt. Ihre Pilgerschaft in der Einsamkeit hat zur Folge, dass das ganze Land verdorrt. Dem begegnen wir ja wieder in Teilen der Gralsgeschichte, wo ja auch vom verwüsteten Land, vom „waste land“, die Rede ist, das alles verdorrt und darnieder liegt. „So zog nun Demeter den jungen Demophoon auf. Als sie aber dabei entdeckt wurde, wie sie ihn im göttlichen Feuer zur Unsterblichkeit zu läutern versuchte, erkannte die entsetzte Mutter nicht die heilige Absicht, und die in ihrem Tun gestörte Demeter verwandelte sich zürnend in ihre wahre göttliche Gestalt.“ Ganz typisch, diese Metamorphose in der griechischen Mythologie. Plötzlich also manifestiert sich die Göttin in strahlender, furchtbarer, gleißender, überwältigender Gestalt. Was immer das war. Das spielte ja in dem griechischen Mythos eine ungeheure Rolle. „Oh ihr verblendeten Menschen“, jetzt Zitat, Hymnos: „Ihr Törichten, ob euch ein gutes ob euch ein schlimmes Geschick beschieden, ihr könnt es nicht ahnen, in deinem Unverstand hast du dich unheilbar geschädigt. Der Götterschwur, bei der Styx unerbittlichem Wasser wisse: Ich hätte in ewiger Jugend unsterblich für immer deinen Sohn gemacht, ihm Ruhm auf ewig verliehen.“ Und dann: „Ich bin die hoch geehrte Demeter, die immer die größte Hilfe und Wonne war für Götter und sterbliche Menschen. Doch einen mächtigen Tempel mit einem Altar darunter soll mir das ganze Volk bei Stadt und Mauer errichten. Über Khalifaros Quelle weit hervorspringendem Hügel selber lehr ich euch dann die Weihen feiern, damit ihr sie heilig vollzieht und meine Seele besänftigt.“

Da hat man also den Ursprung der Mysterien. Demeter selber, „Ich bin die hoch­geehrte Demeter“, leitet also diese Mysterien an. „Hier vernehmen wir deutlich, dass der Hymnos dem Zweck dient, die Gründung der eleusinischen Weihen kundzutun. Die Dichtung wird also wohl in Eleusis selbst abgefasst sein. Forschungen haben ergeben, dass dies vor dem Anschluss von Eleusis an Athen stattgefunden hat.“ Und so weiter.

Und dann kommt es zu einem Kompromiss, wenn man so will .Sie kann ihre Tochter wiedergewinnen, aber nur für zwei Drittel des Jahres, für ein Drittel muss sie in der Tiefe bei Hades bleiben. Das wird häufig so gleichgesetzt mit den jahreszeitlichen Rhythmen, zwei Drittel freundliche, helle Jahreszeiten, in Griechenland wohlbemerkt. Bei uns ist ja eher umgekehrt. Und ein Drittel also, Winter. „Es würde im kreisenden Jahre ein Drittel die Jungfrau im dämmernden Dunkel verweilen, zwei aber bei ihrer Mutter im Kreis der übrigen Götter. Nun erst gehorchte Demeter dem Rufe des Göttervaters und ließ Frucht auf dem Acker sprießen, die Erde wieder in Blättern und Blüten prangen.“ Das war ja vorher wie ausgelöscht, erst für das wüste Land, öde Land, waste land, nicht, wie im Gralsmythos. Und dann folgen die berühmten, für die eleusinischen Laien so aufschlussreichen Verse. „Und zu den waltenden Herrschern begab sich die Göttin Demeter, um dem Keleos und dem mächtigen Eumolpos zu künden, der schön Singende, dem Triptolemos und dem Diokles reisiger Stärke ihren heiligen Dienst und lehrte alle die Weihen, den Triptolemos, Diokles auch, heilige Bräuche, die keiner verraten, verletzen, erforschen darf.“ Jetzt kommt die Geheimhaltung, das Geheimhaltungsgebot. „Denn heilige Scheu vor den Göttern bindet die Stimme. Selig, wer sie je von den irdischen Menschen gesehen, der aber unteilhaftig der Weihen, der findet ein anderes Schicksal, wenn er weilend verblichen im dumpfigen Dunkel.“ Zitat Ende Demeter-Hymnus.

Und dazu schreibt Thassilo von von Scheffer: „Diese ganze Auffassung baut nun die Mysterien von Eleusis mit der Absicht tiefer Einweihung in die geheimen Zusammenhänge solche Vorgänge weiter aus. Nicht nur, um zu belehren, sondern um tröstlich und erhebend mit solcher Erkenntnis zu wirken und eine Hoffnung der Gewissheit eines jenseitigen Lebens, einer Unsterblichkeit, wohl auch einer Wiedergeburt zu gewährleisten. Die Auffassung des Todes als Übergang zu neuem Leben, die Doppelseitigkeit ewiger Frucht­barkeit und des dadurch notwendigen Wechsels der Rhythmen, das ist in Kürze die Hauptbelehrung der eleusinischen Mysterien, womit der Nutzanwendung der Verpflich­tung zu einer solchen Erkenntnis rein und würdig zu sein und sie veredeln, in sich wirken zu lassen. Wahrlich ein Naturkultus von höchster Weihe und größter Bedeutung für jeden, der sich nun harmonisch verwoben fühlte mit dem ganzen kosmischen Geschehen überhaupt, den unentrinnbaren Gesetzen des Lebens im Besonderen.“ So Thassilo von Scheffer in diesem wunderbaren Buch aus dem Jahr 1940. Das also ist sozusagen der Hintergrund. Das musste ich nachtragen.

Jetzt versuchen wir unseren Blick wieder zu wenden zu dem eigentlichen Prozedere. „Die Fackeln der Priester werden angezündet. Dann gibt es die Feuerläuterung. Der Myste hatte mit verhülltem Haupt des vollen Reinigungsritus zu ertragen, bei dem Fackeln gegen ihn gerichtet waren, wie in Freimaurer-Ritualen. Auf diesen Ritus bezieht sich das von dem Kirchenschriftsteller Clemens von Alexandria überlieferte Passwort, das alle Mysten anschließend beim Einzug in die Weihehalle zu sprechen hat: Ich habe gefastet, ich habe vom Kykeon getrunken, ich nahm aus der Cista, hantierte damit.“ Und so weiter.

Jetzt ziehen alle in die Halle ein, vorher noch gibt es ein undeutliches Etwas, eine Art Schauspiel, ein visionäres Geschehen in Höhlen, die man heute noch sehen kann in Eleusis. „Die Prozessionsteilnehmer gelangten nun an einen weiteren mythischen Ort, der uns heute noch sichtbar ist, eine große Höhle mit zwei Kammern, die als Bezirk des Hades und als Eingang zur Unterwelt galt. Manche Zeugnisse über die eleusinischen Mysterien sprechen von furchterregenden Erscheinungen im Dunkel, die den Mysten in Schauder und Schrecken versetzten, bevor ihn dann helles Licht und die tröstliche Gewissheit göttlicher Gegenwart umgaben.“ Schon rätselhaft, was ist da passiert? War das, wie viele vermutet haben, eine Art Schauspiel, was da inszeniert wurde? Was waren diese furchterregenden Erscheinungen im Dunkel? Was wurde denn überhaupt wahrgenommen? Wir wissen nichts darüber.

Schließlich begeben sich alle jetzt in den zentralen Raum, der heute noch in seinen Umrissen in Eleusis und Elefsina, [als] das Museum, zu bewundern ist. Weihetempel, das Telesterion, Einzug in die Weihehalle, bis zu 3000 Menschen. Ich betone das noch mal, eine unvorstellbare Zahl. Gleichzeitig, das Heiligtum hieß Telesterion ‒ Weihehalle. „Im Gegen­satz zum Naos, dem üblichen griechischen Tempel, der nur das Kultbild des Gottes enthielt, dessen Verehrer sich vor dem Tempel um den Opferaltar scharten, war das Telestarion ein Innenraum, in dem sich bei den Weihen bis zu 3000 Menschen versammelten. Die heute sichtbaren Baureste stammen von einem Bau des Perikles von 440 vor Chr.“ Der perikleische Bau, habe ich schon gesagt, war 54 Meter lang und 52 Meter breit. Da mussten 3000 Menschen Platz finden. „Von 42 Säulen getragen und von acht Stufenreihen umzogen, die zum Teil in den Fels gehauen den Teilnehmern an den Weiheplatz zum Sitzen boten. Säulenstümpfe und Sitzreihen sind noch erhalten. Kultuszentrum des Tempels war das Anaktoron, Ort der Herren, Götterwohnung, eine kleine Kapelle von etwa 3 mal 12 Meter, das Allerheiligste.“

Nun die große Frage, bis heute nicht geklärt, konnte nie geklärt werden: Was passiert jetzt im Innersten, sogenannten Allerheiligsten, in der kleinen Kapelle, 3 mal 12 Meter. „Im Innern befand sich ein Rundherd, auf dem offenbar das heilige Feuer entzündet wurde. Dem Mythos zufolge war hier die Stelle, an der ursprünglich im Tempel die Göttin selbst einst gesessen hatte, und daher war dieser heilige Ort immer wieder in die verschie­denen Tempelbauten waren einbezogen worden.“ Jetzt müssen alle die Schweigever­pflichtung abgeben, den Eid der Geheimhaltung bei Todesstrafe. Was sie fortan sehen werden, dürfen sie niemals irgendjemandem sagen.

Nun kommt der entscheidende Punkt: Was wurde wahrgenommen? Nach allem, was wir sagen können, ist es eine visionäre Erfahrung gewesen. Irgendetwas wurde, so ist es in vielen Darstellungen zu lesen, gezeigt. Einige gesagt, es war ein Phallus-Symbol, ein Symbol der weiblichen Geschlechtsorgane. Andere sagten, es wurde nur ein Korn, eine Ähre gezeigt. „Nun hielt der Oberpriester aus dem ihm allein zugänglichen Anaktoron die Hiera, die heiligen Gegenstände, die dort nach der Prozession wieder aufbewahrt worden waren.“ Und dann wird ein Opfer, ein Widder wird geopfert, und dann wird etwas ‒ jetzt kommt der Punkt, der am allerrätselhaftesten ist ‒ jetzt kommt eine Art von Schau, eine visionäre, überwältigende Erfahrung, eine Manifestation der Persephone selbst. Verschiedentlich wird berichtet, dass sich der ganze Raum, das ist immerhin durchgedrungen, das findet man auch bei Platon, mit sogenannten Phantasmata erfüllt hätte, mit geisterhaften Erscheinungen. „Die Eingangshalle füllte sich mit Geistern, wie Pausanias uns in einem Bericht über einen in der Folge umgekommenen Eindringling in die Zeremonie wissen lässt. Das letzte und größte Geheimnis der Weihenacht aber, durch dessen Schau der Myste den höchsten Einweihungsgrad, dem des Epopten, des Schauenden erhielt, war die Epiphanie der Kore selber, also Demeter.“ Ja, was heißt das? Da sind vermutlich Schau­spieler angestellt worden. Die haben sozusagen, wie im Vorgriff auf die griechische Tragödie, hier dieses ganze Drama noch mal wie auf einer Bühne vorgestellt. Ich habe schon gesagt, dass das so nicht stimmen kann, weil das nur … diese Bühne, wenn es sie gegeben hat, nur von ganz wenigen Sitzen aus überhaupt einsehbar gewesen ist. „Zuerst herrschte tiefes Schrecken, erregendes Dunkel, dann plötzliche Helle durch ein gewaltig aufloderndes Feuer aus dem Anaktoron, dessen Rauch durch eine große Öffnung im Dach herausdrang und weithin sichtbar war. Die Göttin wird heraufgerufen mit einem fremd­artig uralten Namen, deren unterweltigen Charakter mit all den Schrecken des Dunkels und der Erdentiefe betont.“ Und dann heißt es, sie habe ein göttliches Kind, ein Kind geboren und dieses göttliche Kind manifestiert sich gleichfalls. Was wurde gezeigt, doch nicht etwa wirklich ein Kind? Was wurde präsentiert ? „Und sie bringt aus dem Dunkel der Tiefe das Kind heraus in strahlendem Licht, Leben aus dem Bereich des Todes.“ Als göttliches Kind immer wieder bezeichnet. „Ist dies ist das Geheimnis der Erscheinung, dass Kore zugleich Demeter ist, die Mutter, die sich neues Leben spendet, in der Tochter verjüngt im ewigen Kreislauf des Lebens? Wie sich dieses vor den Augen der Mysten vollzog, als kollektive oder individuelle Vision oder ob auch die Demeter-Priesterin göttlicher Gestalt auftrat, bleibt ungewiss. Es ist auch unerheblich, denn das Erlebnis bestand in der heiligen Schau, die zugleich Erkenntnis war, nicht einer Göttergestalt, sondern eines religiös-existentiellen Phänomens, der polaren Einheit von Tod und Leben. Der Tod als Durchgang zu einem neuen, anderen Leben und die Geborgenheit des Menschen in diesem Lebenszusammen­hang. Diese Erkenntnis bedeutete die Wiedergewinnung eines in der Olympischen Religion verlorenen Bewusstseins. Als Mysterienhandlung vergegenwärtigte sie das Wiederfinden der Unterwelt-Göttin, der Erdmutter als Mutter und Tochter.“

Vollkommen rätselhaft. Man muss sich, ich sag das noch mal, überlegen, dass es sich um eine Epiphanie einer Gestalt und eine Vision, Phantasmata, handelte, die über Jahr­hunderte, über viele Jahrhunderte immer wieder aufs Neue ihre überwältigende Wirkung ausgelöst haben, das kann man sich gar nicht vorstellen. Natürlich war es naheliegend zu vermuten, es ist allerdings relativ spät erst vermutet worden, zum ersten Mal 1964 durch Robert Ranke-Graves, der hatte als erster die Hypothese aufgestellt, es könnte doch sein, dass dieser Kykeon, den alle Initianden trinken mussten, ein Trunk war mit einer gewissen, auch sehr starken psychotropen Wirkung. Und dann gab es natürlich das große Rätsel­raten: Wenn das so war, was genau enthielt dieses Kykeon? In diesem Buch von Wasson / Hofmann / Ruck „Der Weg nach Eleusis“, das es leider seit Jahren nicht mehr gibt, 1984 erschienen, zum ersten Man englisch 1978, ist der Versuch gemacht worden, von drei hochkarätigen Forschern, dem Mykologen Wasson, Pilzkenner, dem weltberühmten Chemiker Albert Hofmann, Entdecker des LSD und dem Altphilologen Ruck, oder Ruck von mir aus, ist er Amerikaner, ich weiß nicht, wie er ausgesprochen wird. Es ist der Versuch gemacht worden, dieses Mysterium zu enträtseln. Ich glaube nicht, dass es diesen drei Autoren wirklich geglückt ist. Das behaupten sie auch nicht oder nur mit ganz großem Vorbehalt. Es wird in keiner Weise dogmatisch behauptet: So waren die Dinge. Es wird eine Hypothese vorgestellt, die immerhin, sagen wir mal, eine gewisse Plausibilität hat. Man kann sie nicht ganz von der Hand weisen. Nicht Schauspieler waren zu sehen, sondern Persephone. Ja, was ? Eine Schauspielerin, die das darstellte, immer wieder neu? Perse­phone, ein scema, irgendeine Form oder Erscheinung, die über dem Boden schwebte, wie eine Quelle erwähnt. „Platon bezeichnete das Gesehene“, habe ich schon erwähnt, „ausdrücklich als Phantasmata, als geisterhafte Erscheinung. Es wird deutlich, dass in der Eingangshalle eine halluzinatorische Wirklichkeit inszeniert wurde. Und da zeitweise bis zu 3000 Eingeweihte, mehr als die Einwohnerschaft einer gewöhnlichen antiken Stadt, alljährlich, programmgemäß einer solchen Vision teilhaftig wurden, scheint offenbar eine psychotrope Droge im Spiel gewesen zu sein“, was auch verwirrend ist übrigens in der Literatur, die ich mir in ganzer großer Breite angeschaut habe. Einige sagen, dieses Mysterium habe jedes Jahr stattgefunden. Einige behaupten, nur alle fünf Jahre, andere sagen alle vier Jahre. Also wie es nun wirklich war, kann ich nicht sagen. Die Quellen sind unterschiedlich. Es ist ja immer ein Unterschied: jedes Jahr oder alle vier oder alle fünf Jahre.

„Wie uns der Christ Clemens abschätzig enthüllt, waren die Hiera oder das Heilige in den mystischen Körben in Wirklichkeit bloß verschiedene Nahrungsmittel. Auf diese Weise konnten natürlich Alkibiades und die anderen Teilnehmer an den Profanierungen des Jahres 415 ohne Schwierigkeiten zu Hiera für ihre weltlichen Feste gelangen.“ Es wird nämlich gesagt, sie hätten das privat eingesetzt. Man vermutet, dass sie den Kykeon entwendet haben. Ganz platt könnte man sagen: Sie haben mitbekommen, da wird mit einer psychotropen Substanz gearbeitet, die ist geraubt worden und dann hat man sozusagen seine private Feier gemacht damit, [sich eine] private psychedelische Erfahrung zugeführt.

„Tatsächlich wissen wir, dass die Einnahme eines besonderen Trankes, des Kykeon, einen wesentlichen Teil des Mysteriums bildete. Die Ingredienzien dieses Tranks sind in der homerischen Hymne an Demeter erwähnt: Gerste, Wasser und Minze. Watkins, ein Pilzforscher, hat nachgewiesen, dass die Prozeduren und Zutaten für die Zubereitung solcher magischen und rituellen Getränke in den griechischen Quellen in ihrer Formu­lierung exakte Übereinstimmung mit dem vedischen Soma-Ritual zeigen. Und er kommt zu dem Schluss, dass diese Übereinstimmung nicht zufällig sein könne, sondern als Hinweis darauf betrachtet werden müsste, dass das griechische Muster auf den rituellen Trank der indo-arischen Religion zurückgeht.“ Letztlich zu tun hat das mit dem vedischen Soma-Ritual. Das weiß man ja auch bis heute nicht wirklich, was war dieses Soma, von dem in der alt-indischen Lehre viel gesprochen wird. „Jener Trank ist halluzinogen, aus verschiedenen Bestandteilen gemischt und wird immer von einer Frau zubereitet oder durch die Zugabe von Milch als weiblich markiert. Noch einmal Wasson / Hofmann / Ruck, ich lese das vor, denn Sie können das Buch leider nicht käuflich erwerben. Eben sagte mir jemand in der Pause, auch im Internet ist das nicht zu kriegen. Manchmal kann man ja im Internet noch Sachen bekommen, im Verzeichnis aller lieferbaren antiquarischen Bücher, aber offenbar ist das nicht der Fall. „Die antiken Schriftsteller geben einmütig an, dass im großen Telesterion, der Initiationshalle im Innern des Heiligtums, etwas zu sehen war.“ Das durfte man sagen, so viel war zu sagen erlaubt. Die Erfahrung war ein Gesicht, durch das der Pilger zum Sehenden wurde, zum Epopten. Die Halle war jedoch, wie man heute anhand archäologischer Überreste rekonstruieren kann, völlig ungeeignet für Theaterauf­führungen, und auch die epigrammatisch erhalten gebliebenen Rechnungsbücher für das Heiligtum führen keinerlei Angaben für Schauspieler oder Bühneneinrichtungen auf. Was man dort zu sehen bekam, war kein Spiel von Schauspielern, sondern Phantasmata, geisterhafte Erscheinungen. Außerdem begleiteten, wie viele berichtet haben, körperliche Symptome die Erfahrung.“ Das man weiß von Dutzenden von Schilderungen, die nicht das Mysterium erfüllt haben, aber die die Symptome gezeigt haben. „Furcht und ein Zittern in den Gliedern, Schwindel, Übelkeit und kalter Schweiß.“ Wird immer wieder berichtet. „Furcht, Zittern in den Gliedern, Schwindel, Übelkeit und kalter Schweiß. Dann kam die Vision, ein Gesicht und eine Aura von strahlendem Licht, das plötzlich durch die ver­dunkelte Kammer zuckte. Die Augen hatten nie zuvor solches gesehen. Und abgesehen vom formalen Verbot, das Geschehene zu erzählen, ist nie gesprochen worden.“ Ich sage es nochmal, eine Ungeheuerlichkeit. Kann sich ein moderner Mensch nicht mal in seinen kühnsten Vorstellungen vergegenwärtigen, dass das auch nur über zwanzig oder dreißig Jahre eingehalten wird, geschweige denn 2, 3, 400 Jahre oder 800 Jahre oder über 1000 Jahre, unvorstellbare Zeiträume. Auch die Griechen waren, sage ich mal bei allem Respekt, recht geschwätzig häufig, schon Vorläufer der heutigen.

„Aber auch sie haben das Mysterium nicht enthüllt, weil die Erfahrung selbst nicht mitteilbar [ist], denn es gibt keine Worte, die dem Ansinnen gerecht werden können.“ Es wird immer wieder auf die Unaussprechlichkeit verwiesen: Was geschaut wurde, ließe sich nicht in Sprache kleiden. Eine Überwältigungserfahrung, die nicht sprachlich vermittelt werden kann, außer dass es eine Art von Lichtphänomen gewesen sein müsste. „Auch ein Dichter konnte nur sagen, er habe den Beginn und das Ende des Lebens gesehen und erkannt, dass sie eins seien, etwas von Gott Gegebenes. Die Trennung zwischen Erde und Himmel zerschmolz zu einer Säule von Licht.“

Und dann wird hier sehr schön dargestellt, dass dieses Einweihungsgeschehen sich verbindet mit einem in gewisser Weise tiefenökologischen Geschehen des Kreislaufs der Pflanzen. Das ist ja das Faszinierende an diesem Mysterium, dass das synchron lief, ein Einweihungsmysterium, stark angereichert mit orphischen Elementen, aber gleichzeitig die Fokussierung auf einen Erdmutter-Kult. Das hat viele Interpreten völlig verwirrt. Übrigens auch Ken Wilber, der war ganz stark beeinflusst von C. G. Jung, von Erich Neumann und Joseph Campbell, der nämlich die eleusinischen Mysterien ausdrücklich deutet als ein chthonisches, archaisches Mutter-Mysterium, was so nicht stimmen kann. Das auf jeden Fall nur eine Facette ist, nicht unbedingt die wichtigste. Das ist viel zu kurz gegriffen, zu sagen, dass es bei dem eleusinischen Mysterium um ein chthonisches oder nur archaisches Mutter-Mysterium, dass wir ja nur ein Mutter-Mysterium vor uns hätten, im Sinne der Worte C. G. Jungs oder Erich Neumanns, dass das mentale Selbst nur durch Muttermord sich zu sich selbst hin gestalten kann. So Erich Neumann in seiner „Ursprungsgeschichte des Bewusstseins“.

Das hat natürlich auch ideologisch eine ungeheuere Diskussion ausgelöst im 20. Jahrhundert etwa im Feminismus, in den 70er, 80er Jahren. Kernthese war, in Dutzenden von Darstellungen: Eleusis sei letztlich ein Mutter-Mysterium, ein dionysisches Mysterium gewesen, das vom Patriarchat überformt worden sei.

Und in sehr vielen Darstellungen ist das nachzulesen. Das war auch ideologisch besetzt, mittlerweile haben sich ja diese Wogen geglättet. Aber die Frage bleibt rätselhaft offen. Auch ich kann das nicht lösen. Ich kann nur aus meiner jahrelangen Beschäftigung damit Ihnen einige Elemente vortragen und Ihnen das einfach an die Seele legen, Ihnen das vorstellen.

Man kann wirklich noch einmal hervorheben: Diese eleusinischen Mysterien sind bis heute ein Rätsel geblieben sind. Was passierte wirklich? Und warum war dieses Mysterium für ganz viele hochkarätige Geister die größte Erfahrung ihres Lebens? Wie ist das möglich? Es muss etwas gewesen sein, was einen überwältigenden Eindruck vermittelt hat. Und jetzt nochmal den Bogen gespannt auf die Frage: Wie kann man das heute denken? Dann könnte man ganz vorläufig sagen, ich habe das ja auch in meinem Buch „Was die Erde will“ unter anderem versucht. Man kann ganz vorsichtig sagen, dass das vielleicht Zukunftsweisende dieses Kultes darin bestehen könnte, dass hier ein tiefenökologisches Mysterium in Verbindung mit Pflanzenkreisläufen, mit jahreszeitlichen Kreisläufen, in diesem Sinne mit Gaia, mit Erdmutter, sich zusammenschließen lässt mit einem Einweih­ungsmysterium, mit einem transzendenten Geschehen, mit der GÖTTIN großgeschrieben, wie das Wilber macht. Da scheint etwas auf eine einmalige Weise zusammengegangen zu sein. Und das ist großartig. Da ist nicht diese Dichotomie, diese rabiate Trennung, sondern hier ist etwas zusammengeführt worden: ein Erdmutterkult, ein Fruchtbarkeitsmysterium und ein Einweihungsgeschehen, soweit wir das mit aller Vorsicht überhaupt anführen können.

Ich sehe an meiner Uhr, dass wir in fünf Minuten den Raum verlassen müssen. Ich werde in einer Woche einige Elemente nochmal aufgreifen und will dann sprechen über die Frage der Tiefenwirkung psychoaktiver Pflanzen. Und das wird uns nochmal mit Eleusis konfrontieren. Und ich will jetzt mal diese fünf Minuten nicht für Fragen öffnen, sondern Sie einfach bitten, dass Sie das mal auf sich wirken lassen, dass sich setzen lassen, weil alles, was jetzt gefragt werden kann, würde, glaube ich, in der Kürze der Zeit uns nicht weiterhelfen. Ich kann dann nur in knappster Form antworten und Sie können, wenn Sie noch weitere Fragen haben, das auch gerne noch in der nächsten Vorlesung dann hier vortragen, wenn es um die Frage der psychoaktiven Pflanzen geht, dann greife ich nochmal das Thema Eleusis auf.

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„Pflanzendevas“ – Was wissen die Pflanzen?

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 43

Transkript als PDF:


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Wir haben uns ja in drei Vorlesungen beschäftigt mit der Frage der Polarität von Licht und Schwere. Ich habe Ihnen ja einige Hypothesen dazu vorgestellt. Große Pulsation des Organismus der Erde im Zusammenhang mit der Frage: Warum wachsen die Pflanzen? ‒hier primär gemeint die Vertikale der Pflanzenwachstumsprozesse. Vor 14 Tagen habe ich den Versuch gemacht, Ihnen etwas darzustellen über den anderen, höheren Raum, wie ich das nenne. Einen Raum hinter dem Raum, hypothetisch, versuchsweise so formuliert, der kein mathematisch-spekulativer, abstrakt-fiktiver Raum ist, sondern zunächst einmal ein existenzieller Raum, der auch erfahrbar ist. Das ist wichtig für die gesamte Argumentation in diesem Semester. Man muss unterscheiden zwischen der Modellebene, der abstrakten Modellebene, der begrifflichen Ebene, auch der sprachlichen Ebene, der objektivierenden Ebene, die gemeinhin als wissenschaftlich und auch reduktionistisch gilt, und der erfahrungsmäßigen Ebene, der existentiellen Ebene. Und die spielt gerade bei diesem Thema eine zentrale Rolle. Man kann ja schlechterdings über diese Dinge nicht reden, ohne diese existenzielle Dimension einzubeziehen. Das heutige Thema macht es ganz deutlich, Was wissen die Pflanzen? ‒ zur seelisch geistigen und spirituellen Dimension des Pflanzen­wesens. Das kann man schlechterdings nicht in einem objektivierenden Verfahren, gleichsam monologisch, modellbildend, von außen behandeln. Das gehört zum Wesen des Bewusstseins überhaupt, dass Bewusstsein innen ist, Bewusstsein ist Innen-sein. Alles, was außen wahrgenommen wird, ist zunächst einmal für ein wahrnehmendes Subjekt Objekt. Und insofern die Frage, ob das Bewusstsein hat oder nicht, ob Pflanzen Bewusstsein haben oder nicht, ob Tiere Bewusstsein haben, ob gar ganze Gestirne Bewusstsein haben oder nicht, lässt sich nicht objektivierend beantworten. Man muss von vornherein eine andere Zugangsweise ins Spiel bringen.

Das versuche ich ja in den bisherigen Vorlesungen und werde das auch weiterführen. Eine Vorgehensweise, die man als eine integrale bezeichnen kann, wo die verschiedensten Aspekte, Zugangsweisen, musikalisch gesprochen: Motive, Themen, zusammenkommen, um dann als Ganzes eine Gestalt zu bilden. Mit einer monokausalen oder einer eindimensio­nalen Betrachtungsweise ist mit dem Thema überhaupt nichts gewonnen.

Die Frage nach dem anderen oder höheren Raum hat sich ja dann vor einer Woche verknüpft mit vorsichtigen Versuchen, die Frage zu beantworten: Wie können wir Form- und Gestaltbildungsprozesse von der Ursachenebene aus denken? Was ist die Ursache von Pflanzenformen, Pflanzengestalten? Und ich habe Ihnen erläutert, dass das erkenntnis­theoretisch, naturwissenschaftlich sowieso, aber auch philosophisch ein sehr schwieriges Problem ist, dass man kaum so im Schnellverfahren lösen kann. Es gibt viele Ansätze dazu. Nichts ist wirklich restlos befriedigend. Ich habe Ihnen versucht, eine Vorstellung zu entwickeln, wie man möglicherweise das denken kann, dass von einer archetypischen Ebene aus, jetzt mal in Anführungszeichen gesagt, aus einem anderen, höheren Raum heraus gewisse Prägekräfte tatsächlich formativ wirken; ich muss das nicht im Einzelnen nochmal alles wiederholen; und dass man von dort aus ein Verständnis gewinnen kann, wie solche Prozesse ablaufen.

In einem recht schönen Buch, das ich auch heute heranziehen werde, „Geist der Bäume“, heißt es hier über diese Formen nochmal resümierend, über diese schwierige Frage: „Obwohl jeder den Formenreichtum der Natur für selbstverständlich hält, ist Form ein absolutes Rätsel für die orthodoxe Wissenschaft, die erklären kann, was in oder mit einer Form geschieht, physikalische Gesetze, Stoffwechsel, aber vor der Form selbst steht wie vor einer Tür mit sieben Siegeln. Warum sind die Formen der Kronen von Bäumen und die ihrer Blätter, Knospen, Blüten und Früchte so verschieden? Warum hat Eichenlaub diese Einbuchtungen an den Blatträndern? Warum sind die Blätter der Eberesche, einem Mitglied der Rosenfamilie wie auch Apfel- und Birnbaum, gefedert, die der anderen Rosengewächse aber nicht. Die Botanik hat keine Antworten auf diese Frage.“

Aber wir werden weiter unten auf einige Hinweise stoßen. Dieser Frage haben wir uns genähert, auf, sagen wir mal, hypothetische Weise. Wir haben uns beschäftigt, auch mit Phänomenen der Resonanz, der möglichen Resonanz aus diesem anderen, höheren Raum heraus. Ich habe Ihnen verschiedene Vorstellungen vorgestellt, aristotelische, eher eine platonische und andere Vorstellungen.

Nun muss ich ganz kurz ergänzen zur Frage der Formen, was ich nur andeuten möchte, ohne dass ich das noch einmal eingehend Ihnen darstelle. Ich habe die … Ich habe bei der Frage der Formen nicht behandelt die zwei wichtigen Aspekte, die ein eigenes großes Thema wären, gewissermaßen auch eine eigene Vorlesung: die Frage der harmonikalen, auch der geometrisch-mathematischen Formbildungsprozesse im Pflanzen­werden, in der Blattform, in der Anordnung der Blätter an einem Stängel. Das sind ja faszinierende Dinge, die auch ganz gut erforscht sind, sagen wir mal phänomenologisch.

Und ich habe nicht behandelt oder nur andeutungsweise behandelt, die Frage der rhythmischen Prozesse, das habe ich nur angedeutet. Rhythmische Prozesse, die auch damit zu tun haben, die möglicherweise, was ja viele vermuten, alte Vermutungen, die schon auf die Antike zurückgehen, dass bestimmte Verwirbelungen bzw. Spiraltendenzen im Wachstumsprozess auch etwas zu tun haben könnten mit planetaren Bewegungen. Das habe ich nur zart angedeutet, da bin ich nicht eingehender reingegangen. Wen das interessiert, darüber gibt es eine reichhaltige Literatur und auch in den Büchern, die ich im Literaturverzeichnis habe, ist davon viel die Rede. Etwa in dem Buch [von] Wolf-Dieter Storl „Pflanzendevas“, auch in dem Buch „Geist der Bäume“ über mathematisch-harmonikale Formen, etwa der Goldene Schnitt, an den Stellen, an denen die Blätter ansetzen und so weiter. Das müsste man also gedanklich ergänzen.

Wenn wir nach Pflanzendevas fragen, dann greife ich damit einen Begriff ganz bewusst auf, der vor ungefähr 40 Jahren in Europa langsam, dann aber zunehmend in einer beachtlichen Breitenwirkung Karriere gemacht hat, wenn man es so nennen darf. Nicht nur in der sogenannten New-Age-Bewegung, nicht nur bei Esoterikern, auch generell kann man sagen, dass seit ungefähr 40 Jahren, seit 1962, ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass das Pflanzliche möglicherweise noch eine andere, höhere, kosmische oder spirituelle Dimension hat, die noch oberhalb der Frage angesiedelt ist, ob Pflanzen Bewusstsein haben, was ja nicht identisch ist. Man kann ja sagen, gut, bei Pflanzen vollziehen sich bestimmte Bewusstseinsprozesse. Eine ganz andere Frage [ist], wie das möglich ist, wo kein Nervensystem vorliegt. Nicht, das ist ja viel diskutiert, aber das kann man erst einmal auf sich beruhen lassen.

Eine wesentlich weitergehende Frage ist ja dann, was hat es mit den Pflanzendevas auf sich? Das sind ja traditionell, um das mal formelhaft zu verkürzen, gewaltige, gewisser­maßen makrokosmische Wesen, wobei die sinnlich-physischen Pflanzen nur Manifesta­tionen sind, nicht. Das ist ja eine alte mythologisch-indische Vorstellung, dass also Pflanzen eine kosmische Verankerung haben, dass sie also aus den Weiten des Kosmos herein wirken ins Irdische und in gewisser Weise auch das Licht, das höhere Licht, das kosmische Licht, wie immer, heruntertransformieren auf die Erde. Ich habe Ihnen das ja im Zusammenhang mit der Photosynthese auch erläutert, die ja rein reduktionistisch schwer wirklich zu erklären ist. Nicht, denken Sie an das, was ich Ihnen erläutert habe, mithilfe des Chemikers Hauschka.

Ich möchte Ihnen drei Zitate an den Anfang stellen, die als Motti gelten sollen, die alle drei einen Hinweis geben auf dieses Thema der Pflanzendevas und der Frage, haben Pflanzen Bewusstsein. Übrigens ist interessant, dass 1962, das war zeitlich parallel, das Buch von Rachel Carson erschien „The Silence Spring“. Das war der Anstoß, der Grundimpuls für die gesamte Ökologiebewegung, nicht, 1962, und das gleichzeitig, auch das ist nicht uninter­essant und wird uns ja noch in 14 Tagen beschäftigen, eine Wiederentdeckung der psycho­aktiven Qualitäten ganz bestimmter Pflanzen zu verzeichnen war. Es ist also eine interes­sante zeitliche Synchronizität, Anfang der 60er Jahre, also vor 40 Jahren.

Ich bin hier gestoßen auf ein Wort, das Beethoven zugeschrieben wird. Ich darf das mal zitieren: „Auf dem Lande ist es“, soll Beethoven gesagt haben, „als würde jeder Baum ,heilig heilig‘ zu mir sagen. Wer kann jemals die Verzückung der Wälder aus­drücken?“ Damit sind wir bei einem Punkt, der uns auch beschäftigen wird, die Frage der Sakralität der Pflanzen, der Bäume, der Sakralität, der möglicherweise vorhandenen Sakralität der Erde als Ganzes und kosmischer Prozesse. Ein schwieriger Punkt, gerade für profane Individuen, wie es ja erst einmal der sogenannte moderne Mensch ist. Das ist das Eine. Und ein zweites Zitat habe ich gerade heute Mittag entdeckt, stammt von dem Mönch Thich Nhat Hanh, der sich sehr schön äußert über die Frage von Pflanzen und Dharma. Thich Nhat Hanh schreibt: „Wir sind gefangen von jenem Denken, das nur annehmbare Bedingungen für unser kleines Selbst sucht, während wir gleichzeitig unser großes Selbst zerstören.“ Ich darf da erinnern an meine Ausführungen über das sogenannte Pflanzen-Selbst im Menschen. Das kann ich jetzt nicht alles noch einmal wiederholen, wie ich das verstehe, dass das eine doppelte Wirkungsrichtung hat, eine eher ins Organisch-Vegetative gerichtete und eine mit Richtung, mit Blickrichtung auf die planetare Intelligenz. „Wenn wir diese Situation verändern wollen, dann müssen wir damit beginnen, unser wahres Selbst zu leben. Das bedeutet, wir müssen der Wald sein, der Fluss und die Ozonschicht. Wenn wir uns als den Wald sehen, dann werden wir die Hoffnungen und Ängste der Bäume erfahren. Wenn wir dies aber nicht tun, dann werden die Wälder sterben und wir werden unsere Gelegenheit zum Frieden verpassen. Da wir mit den Bäumen interagieren, können wir wissen, dass mit ihrem Ableben auch wir selbst bald nicht mehr da sein werden.“ Und jetzt kommt die entscheidende Passage, gewissermaßen die Pointe: „Eine Eiche ist eine Eiche. Das ist alles, was eine Eiche tun muss. Wenn eine Eiche weniger als eine Eiche wäre, würden wir alle in Schwierigkeiten geraten.“ Sehr feinsinnig und treffend gesagt: „Wenn eine Eiche weniger als eine Eiche wäre, würden wir alle in Schwierigkeiten geraten. Deshalb können wir sagen, dass die Eichen das Dharma, die Wahrheit und Wirklichkeit lehren. Wir können das Dharma von einer alten Eiche lernen.“ Oder auch den Dharma, auf jeden Fall wir können das Gesetz der Dinge, die Lehre, die Wahrheit in gewisser Weise von den Eichen lernen.

Und eine letzte Aussage stammt von George William Russell. Da bin ich kürzlich darauf gestoßen, will ich Ihnen eben vorlesen in diesem Buch „Geist der Bäume“ von Fred Hageneder, was ich Ihnen sehr ans Herz lege, weil es einen umfassenden Überblick gibt über die naturwissenschaftlichen, naturphilosophischen und spirituell-meditativen Dimen­sionen im Umgang mit Bäumen. Der „Geist der Bäume“, George William Russell wird hier zitiert: „ … die mich mit Plato zum Glauben brachten, dass die Erde ganz und gar nicht das ist, was die Geographen annehmen, und dass wir wie die Frösche auf dem Grund eines Sumpfes leben und nichts von der vielfarbenen Erde wissen, die diejenigen, die wir kennen, überlegen ist, doch mit ihr zusammenhängt, wie die Seele mit dem Körper.“ Also unsere herrschende Bewusstseinsverfassung, wird hier verglichen mit den Fröschen auf dem Grunde eines Sumpfes, die nichts von der vielfarbenen Erde wissen, also eine eher unfreundliche, um es mal gelinde zu sagen, eine eher unfreundliche Kennzeichnung des herrschenden kollektiven Bewusstseins.

Man muss ja nicht viel Phantasie haben, man muss ja auch gar nicht allzu harsch mit dem modernen Bewusstsein ins Gericht gehen, um zu sehen, dass dies auf jeden Fall eine recht beschränkte, eine einseitige, eine abgespaltene Wahrnehmung ist. Ich spreche ja gerne und oft von der kollektiven Neurose, aber das ist ja auch hier in meinem Buch „Was die Erde will“ eingehend dargestellt, die moderne Bewusstseinsverfassung im Grunde als eine kollektive Neurose. Da sich alle darauf eingerichtet haben, fällt es vielen gar nicht mehr auf. Aber ganz tief innen, denke ich mal, wissen das sehr viele Menschen, dass diese kollektive Neurose in seiner Abspaltung wirklich existiert. Und zu dieser Abspaltung, Neurose ist ja eigentlich Abspaltung, gehört auch eine zunehmend rabiater werdende, Jahrhunderte zurückreichende Entsakralisierung der Natur. Das wissen wir alle. Das ist eine fast schon gängige Münze. Die Natur ist weitgehend, die Bäume, die Pflanzen sind bald weitgehend entsakralisiert worden. Das ist keineswegs nur durch das Christentum erfolgt, wie man in manchen Büchern lesen kann. Das geht wesentlich weiter zurück, aber das Christentum hat an dieser Entsakralisierung einen ganz entscheidenden Anteil.

Es ist übrigens interessant, das habe ich auch erst relativ spät erfahren, dass diese Entsakralisierung noch im Besonderen ins Werk gesetzt wurde vom Protestantismus im 16. Jahrhundert. Sozusagen die Reste, die noch im Katholizismus vorhanden waren, sind dann durch den Protestantismus weitgehend planiert worden. „Es, das Christentum, entweihte auch die Erde und verbreitete eine Philosophie, die den Menschen ermutigte, die Erde zu vergewaltigen. Eine Flut von Zerstörung und Schmerz ging innerlich durch die menschliche Seele, bevor sie auch äußerlich die Erde überzog.“ Das wissen wir im Grunde alle. „Etwas, das für hunderte von Generationen unvorstellbar gewesen war, konnte langsam in die Hirne der Menschen sickern. Eine zunehmend materialistische Sicht, die schließlich den Wald in Holzmasse verwandelte, und Heiligtümer in Fabriken. Der Kreuzzug der christ­lichen Kirche gegen Bäume“, sehr stark, sehr stark gesagt, aber berechtigt, „der Kreuzzug der christlichen Kirche gegen Bäume, besonders gegen heilige Bäume findet nicht seines­gleichen in der Geschichte. Auch in anderen Epochen wurden in Kriegszeiten in Einzelfällen heilige Haine verletzt, aber nirgendwo erscheint eine solch langanhaltende Besessenheit von Eifersucht und Hass.“ Und so weiter.

Das sind nicht ferne Prozesse, sondern Prozesse, die unser aller Bewusstsein entscheidend mitgeprägt haben. Das versuche ich hier auch immer wieder Ihnen zu zeigen, dass wir die Erben einer bestimmten Bewusstseinsentwicklung sind und große Schwie­rigkeiten haben erst einmal, durch dieses Erbe hindurch eine neue, eine andere, eine vertieftere Wahrnehmung der Pflanzenwelt, der Erde als ganze, der kosmischen Um- und Mitwelt zu erlangen. Das ist nicht naiv direkt möglich. Da widerspreche ich ganz vielen Ansätzen, die meinen, man könnte durch relativ einfache Rituale sozusagen, sich über all das hinwegsetzen. Ich meine, dass diese bewusstseinsmäßigen Tiefenverankerungen dessen, was ich die kollektive Neurose und die Absperrung nenne, ganz, ganz tief in die Psyche reichen. Das geht bis in die Sprache hinein. Und dass man da erst einmal ansetzen muss, um in das Dickicht, um in den Urwald gewissermaßen der eigenen geistigen Voraus­setzungen reinzugelangen und zu begreifen, wovon eigentlich ausgegangen wird. Es wird nicht damit abgehen oder wird nicht möglich sein, in einem naiven Sinne die Natur einfach zu resakralisieren oder wiederzuverzaubern, wobei das ein Grundimpuls ist, der durchaus berechtigt ist. Berühmtes Buch, kennen Sie vielleicht, „Reenchantment of the World“ von Morris Berman, einem amerikanischen Mathematiker, ein damals in den einschlägigen Szenen sehr bekanntes Buch „Reenchantment of the World“, „Wiederverzauberung der Welt“, anknüpfend an Max Weber „Entzauberung der Welt“.

Ich habe mich übrigens an zwei Stellen in diesem Buch „Was die Erde will“, ich will das kurz noch einmal erwähnen, zu dieser Frage geäußert, wie man das Heilige, das Sakrale überhaupt von unserem Bewusstsein aus neu denken kann, wie man überhaupt eine Zugangsmöglichkeit dazu finden könnte. Gibt es das Heilige, oder schaffen wir es? Ist das eine Projektion? Projizieren wir es in die Natur rein? Da ist gar nichts, was der Mensch anthropomorph projiziert, oder ist das vorhanden? Nehmen wir das auf? Wahrscheinlich gilt auf paradoxe Weise beides. „Wir geben, wir weisen zu, wir projizieren. Und zugleich entbirgt sich das Heilige in eigenster Substanz. Das Heilige manifestiert sich, indem es sich verbirgt. Es enthüllt sich, indem es sich zurückzieht. Es zieht an, und es stößt ab. So reißt sein Zauber nie ab.“ Denken Sie an das, was ich mehrfach gesagt habe über das rätselhafte Sichverbergen und Sichentbergen der natürlichen Phänomene. Die Natur liebt es, sich zu verbergen, sagt Heraklit bzw. Herakleitos. Dann muss man als letztes noch, um an diese Bewusstseinsformation noch genauer heranzukommen, feststellen, dass unser aller Bewusstsein ja zugestellt ist mit einer Unzahl von Phänomenen unserer eigenen technisch-mentalen Bewusstseinsform. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Ich habe eine ganz schöne Stelle gefunden beim Storl, der bringt das auf den Punkt. Eine kurze Passage mal, um das dann als Anknüpfungspunkt zu benutzen: „Allen vernünftigen Argumenten zum Trotz ist unbestreitbar, dass mit der zunehmenden Verödung der menschlichen Seelenlandschaft, die ist ja nicht zu leugnen, vollzieht sich ja ständig, auch die äußere Natur weniger vielfältig geworden ist, dass sie geradezu auf eine Apokalypse zusteuert. Mit jeder Pflanzen- und Tierart, die zerstört wird, die ausgelöscht wird, geht ein Stück Seelensubstanz verloren.“ Man kann sogar die These vertreten, dass das Eine, dass das Zweite primär und das Erste das Sekundäre, die Folge ist, dass also wir sozusagen innerlich verarmen und dass wir also auch das Äußere dann zerstören. „Wären wir in der Lage, die Götter und Geister, die Elfen und Zauberwesen in die Wüste, zu der unsere moderne Seele geworden ist, zurückzurufen, wären wir das, Konjunktiv, dann würden sicherlich auch die Wälder an diesen neu beseelt werden und erstarken.“

Na gut, sagt Storl hier, und das kann man erstmal auf sich beruhen lassen. Es ist eine recht archaische Annahme, dass unsere Einbildungskraft, unsere Imagination eine ganz reale Energie ist, die Wirklichkeit erzeugt, übrigens keineswegs eine archaische Annahme, sondern eine Annahme, an die man auch recht zeitgemäß denken kann. Auch davon war ja schon die Rede, über die Vorstellung der Felder, wo tatsächlich Wirkung möglich ist. Aber wie finden wir erneut den Weg? Es hat kaum Sinn, die oben beschriebenen alten Rituale einfach nachzuahmen. Der heutige Mensch ist schon durch seine übertriebene Kopf­lastigkeit dazu unfähig. Es fällt ihm schwer, mit den Devas zu kommunizieren. Was das ist, darüber sprechen wir gleich, weil er im Grunde genommen kaum an sie glauben kann, auch wenn er noch so gerne möchte. Tief innen sitzt im modernen Menschen der skeptische Kobold: Stimmt denn das wirklich, ist das nicht letztlich nur eine Fantasie? Ganz tief innen der rationalistische Kobold, der einem immer ein Schnippchen schlägt, den er erst mal austricksen muss, in gewisser Weise. „Naturgeister und Devas bleiben für ihn letztlich inhaltslose gedankliche Schemen. Ganz im Gegensatz dazu der Wilde, der diese Wesen­heiten noch ganz real erlebt. Der Zivilisierte hat gelernt, automatisch alle Phänomene, die nicht wissenschaftlich wäg- und messbar sind, aus dem Bereich der Realität zu verbannen.“ Das wissen wir. Das kann man auch tiefenpsychologisch begreifen. Man nimmt nur das wahr, was man weiß. Die Phänomene sind nicht einfach da. Wir können umstellt sein mit lebendigsten Phänomenen und sehen gar nichts. Das heißt, wir nehmen nach Maßgabe unseres Bewusstseins die Dinge wahr. Also „der Zivilisierte“, wir alle, „hat gelernt, automatisch alle Phänomene, die nicht wissenschaftlich wäg- und messbar sind, aus dem Bereich der Realität zu verbannen.“ Natürlich sind sie nicht weg. Sie kehren dann auf Umwegen zurück, rumoren in der Seele, schaffen also auch Individualneurosen schlimm­ster Art. „Eine verinnerlichte Zensur fängt schon auf vorbewußter Ebene an, das erlebte Andere dringt gar nicht erst ins Bewusstsein ein.“ Und jetzt ein ganz wichtiger Punkt. „Zudem überdecken und neutralisieren die Plastikbilder der Science-Fiction-Monster und Fantasy-Produktion der Massenmedien schon im Vorfeld das Wahrnehmen wirklich vorhandener trans-sinnlicher Wesenheiten.“ Ich sehe mir Star Wars nicht an, aber ich habe durch einen Freund, der sich das gerade angeschaut hat, erfahren, was da gemacht wird. Das ist eine so rabiate, eine so brutale Kolonisierung der Innenräume des Menschen. Die werden so rabiat imperialistisch besetzt und angegriffen und überwältigt, auch mit einem raffinierten Soundtrack wie häufig in diesem Film, eine Mischung aus Gustav Mahler und Richard Wagner. Dass der Einzelne schon in ersten Minuten kapituliert und dass seine ganze Vorstellungswelt der Seelenräume von vornherein okkupiert ist. Also der ganze Bereich der Anderswelt ist bereits technisch-projektiv belegt. Und das ist ja ungeheuer schwer, überhaupt erst mal eine Öffnung zu gewinnen, durch das alles hindurch sich eine freie Seele, einen freien Geist zu verschaffen, um überhaupt erst mal mit diesen Fragen umzugehen oder an diese Fragen heranzukommen.

Devas. Devas ist ein Sanskrit-Wort, meint zunächst nichts weiter als „die Glänzenden, die Leuchtenden, die Strahlenden“. Devas kann man nicht hundertprozentig mit Gott über­setzen. Das ist eine .., einerseits sind es .., Devas sind Götter, andererseits sind es höhere Wesenheiten, höhere Konfigurationen von Energie, von Bewusstsein, manchmal kosmisch gedacht. Auf jeden Fall Wesenheiten, die weit oberhalb unserer normalen Bewusstseins­ebene angesiedelt sind. Sind sie auch individuiert? Haben Sie einen personalhaften Kern? Das ist eine weitere Frage, die sofort generell ins Spiel kommt bei der Frage des Bewusstseins der Pflanzen. Wenn man, ich gehe nochmal auf die Ebene darunter, Bewusst­sein von Pflanzen … Kann man das überhaupt sinnvoll behandeln? Kann man überhaupt sinnvoll eine solche Frage stellen? Sie wissen das alle, dass das vor 30 Jahren ja populär geworden ist, durch diesen Bestseller, hunderttausendfach verkauft, „The Secret Life of Plants“, „Das geheime Leben der Pflanzen“, nicht, ein ungeheuer erfolgreiches Buch, was ja den Versuch gemacht hat damals, populär, in mancherlei Hinsicht auch unhaltbar, aber in vielen Punkten doch hochinteressant und auch vielfältig verifizierbar, dass Pflanzen als Lebewesen bestimmt werden können, die tatsächlich ganz enge seelisch-geistige, emo­tionale Kontakte mit Menschen gewinnen können, auch in einer Weise und einer Subtilität, die etwas Schwindelerregendes hat. Die, sagen wir mal, reduktionistische Wissenschaft, hat in den letzten Jahren auch auf ihre Weise den Versuch gemacht, der Frage sich zu nähern, ob man möglicherweise den Pflanzen ein eigenes Bewusstsein zusprechen kann. Das geht ja auch noch weit, da kann man dann der Materie Bewusstsein zusprechen. Ich bejahe das ja, auch der sogenannten anorganischen Materie kann man bis zu einem gewissen Grade auch Bewusstsein zusprechen. Ich habe auch hierzu in diesem Saal mich ja zu diesem Pfad eingehend geäußert.

Vor vier Jahren erschien im Spiegel mal eine Zusammenfassung des neuesten Standes, sage ich mal, dieser Forschungen anknüpfend an die Lichtrezeptoren bei Pflanzen und Tieren. Da wurde also der Versuch gemacht zu erschließen, jetzt wissenschaftlich, auch von den Molekularstrukturen aus, molekular-genetisch, ob möglicherweise Pflanzen ein eigenes Bewusstsein haben. Ich lese Ihnen mal ein paar Passagen vor, weil das interessant ist, weil das jetzt rein, sagen wir mal, von der wissenschaftlichen Ebene aus gedacht ist, gleichwohl aufschlussreich ist, wenn man das mal weiterdenkt. „Sensibles Grünzeug“ ist die Überschrift, typisch erst mal, das Grünzeug, für den modernen Menschen ist es das Grün­zeug, sowieso. „Sensibles Grünzeug“, kommt eine Überraschung raus, „sensibles Grünzeug. Auch Pflanzen können, sehen, schmecken, riechen, fühlen und hören. Sie nutzen diese Fertigkeiten vor allem, um sich gegen Insekten und konkurrierende Gewächse zu behaupten.“ Nun mal ein paar Passagen aus diesem ganz interessanten Artikel. „Die Erforschung der Sinne von Pflanzen hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Dass Pflanzen sensibel auf Einflüsse ihrer Umgebung reagieren, was immer behauptet worden ist, von vielen, unter anderem von Peter Tompkins, Christopher Bird und anderen, konnte nun auch mit den modernen Methoden der Molekularbiologie nachgewiesen werden.

Da muss man natürlich nicht in die Bewusstseinsdimensionen, kann ja gar nicht sein. Man kann mittels der Molekularbiologie kein Bewusstsein nachweisen, ist klar. Um es nochmal zu sagen, Bewusstsein muss innen sein. Das muss man schon gleich auseinan­derhalten. „Keineswegs tumb ist das Grünzeug“, na bitte. „Im Gegenteil, Pflanzen, so steht fest“, sagt hier die Autorin ganz anthropomorph, „Pflanzen, so steht fest, können, sehen, schmecken, riechen, fühlen und wahrscheinlich auch hören.“ Hier wird also schon im Grunde genommen ein Vokabular benutzt, was, ohne dass das direkt gesagt würde, den Pflanzen eine Bewusstseinsqualität im Sinne einer gestalthaften Bewusstseinsqualität zuspricht, indem man solche Vergleiche mit den Sinnesorganen der Menschen macht. „Im Saft ihrer Äste und Blätter schwimmen Phytohormone, die wichtige Botschaften übermitteln. In ihren Stängeln werden Erregungen geleitet wie in einem Nervensystem. Über Duftstoffe können Pflanzen mit anderen Pflanzen kommunizieren und gezielt nützliche Insekten anlocken. Möglich wurden die neuesten und die meisten Entdeckungen erst durch neue Arbeitsmethoden. Der wichtigste Trick der Molekulargenetiker“, jetzt kommt etwas typisch Reduktionistisches, methodisch ist das interessant, wie vorgegangen wird, damit kann man natürlich der Bewusstseinsdimension nicht nahekommen, das ist alles … strukturell geht das nicht. „Sie fertigen sogenannte Null-Mutanten an, Pflanzen, in denen bestimmte Gene ausgeschaltet sind. Fällt dann eine bestimmte Funktion aus, wissen die Forscher, welches die Aufgabe des ausgeschalteten Gens war. Mit diesen und anderen Kniffen konnten sie seit langem ungelöste Fragen beantworten, vor allem solche nach den molekularen Mechanismen, die den Sinnesreaktionen zugrunde liegen. Schon Charles Darwin hatte die These aufgestellt, dass Pflanzen in der Lage sein müssten, das für die Pflanzen-Photosynthese wichtige Licht auch wahrzunehmen.“ Davon war ja die Rede, das habe ich ja versucht Ihnen darzustellen, wie man diesen rätselhaften Prozess der Photosynthese verstehen kann, wenn man das daran beteiligte Licht, den Regenbogen übrigens, da einbezieht. Es gibt ja eine wunderbare Formulierung da, die ich damals zitiert habe, von Hauschka, dass sich sozusagen in der Photosynthese der Regenbogen in das Pflanzliche hineinbegibt. „Wie sonst ließe sich das bekannte Phänomen erklären, dass Zimmerpflanzen, die am Fenster stehen, zielstrebig zum Licht hin wachsen?“ Das finde ich nun etwas vordergründig schnell geschlussfolgert. Nicht, das ist eigenartig. Das ist wahr­scheinlich der journalistischen Methode hier zu verdanken, das ist ja .., das muss ja keineswegs so sein. „Der Rezeptor, der auch in anderen Pflanzen vorkommt, kann Licht im blauen Bereich des Spektrums absorbieren (kann man sehen). Die Kaskade, biochemischer Reaktionen, die daraufhin in den Zellen abläuft, bewirkt, dass der Stängel der Pflanze nur noch auf der dem Licht abgewandten Seite weiter wächst. Er krümmt sich, die Blätter wenden sich im optimalen Winkel den Sonnenstrahlen entgegen. Setzt man ein Hütchen auf die Spitze des Keimlings, kann er sich nicht mehr zur Sonne hin ausrichten, er ist blind geworden.“ Und so weiter.

Also das ist 1998 im „Spiegel“, kann man bestimmt übers Internet auch noch abrufen, diesen Artikel. Der ist auf jeden Fall sehr aufschlussreich, weil er zeigt, dass auch in der eher reduktionistischen Naturwissenschaft solche Gedanken tatsächlich wenigstens erwogen werden. Auch wenn man natürlich, das liegt in der Struktur der Methode, sich der eigentlichen Bewusstseinsfrage damit nicht annähern kann. Man muss annehmen, wenn man die Frage bejaht, dass es Bewusstsein gibt jenseits einer zerebralen Substanz, jenseits eines zerebralen Substrats. Denn wenn man Bewusstsein ausschließlich koppelt an ein zerebrales Substrat, ist natürlich die Frage, ob Pflanzen Bewusstsein haben, von vornherein gewissermaßen apodiktisch zu verneinen. Man muss annehmen, wenn man die Frage bejaht, dass die Bewusstseinsqualität der Pflanzen eine andere ist als über das zerebrale Substrat vermittelte. Denken Sie an diese unsägliche Titelgeschichte im letzten „Spiegel“ über den Ort im Gehirn, wo sich das Göttliche aufhält. Ich war doch erfreut über die Leserbriefe, die abgedruckt waren gestern und habe mich doch dann .., ich war dann doch in gewisser Weise beruhigt, dass also doch viele Leser das in dieser Simplizität, wie das da vorgeführt wurde, in diesem wirklich rabiaten Reduktionismus, nicht hingenommen haben.

Devas. Devas, habe ich gesagt, sind makro-kosmische Wesenheiten. In der indischen Mythologie wird immer wieder gesagt, dass der Mensch in der indischen spirituellen Entwicklung, dass der Mensch im traumlosen Tiefschlaf, traumlosen Tiefschlaf, eine Art Kontaktmöglichkeit habe mit den sogenannten Pflanzendevas. Pflanzendevas sind gewaltige oder werden als gewaltige Wesen imaginiert, die auch einwirken auf die menschliche Geschichte, die auf ihre Weise starke Impulse setzen in die menschliche Geschichte, die also eigene Wirkkräfte sind, eigene Wesenheiten. Die archetypische Pflanze verbindet das Oben und das Unten, das Licht und die Dunkelheit, das Jenseits mit dem Diesseits, die göttliche mit der menschlichen Welt, den Makrokosmos mit dem Mikrokosmos, sind also mediale Wesen. Und damit sind die Devas, im Sinne dieser Vorstellung wohl bemerkt, auch mediale Wesen, die transformieren kosmisch-formative Licht-Energien auf die Erde, in das Materielle hinein und vermitteln damit diese höheren Energien an das Irdisch-Sinnliche. „Als Heil- und Nahrungspflanzen können sie uns die Kräfte der Erde und des Sternenhimmels zukommen lassen, um es dadurch ganzheitlich und heil zu machen“, im Sinne dieser Vorstellung. Wir haben noch nicht die Frage behandelt: Können wir die Vorstellung übernehmen? Ist das legitim? Ist das akzeptabel? Man muss erst einmal die Vorstellung kennen. „Diejenigen Pflanzen, die unsere Ahnen kannten und verehrten, können uns die Inspirationen unserer Vorfahren als weise Ahnungen vermitteln, denn die Totenwelt steht ihnen offen.“ Das ist ein ganz entschei­dender Punkt. Die Totenwelt steht ihnen offen. Die Annahme, dass das Pflanzenwesen in diesem Sinne etwas zu tun hat mit dem, was in der keltischen Mythologie die Anderswelt genannt wird, also mit dem nicht-körperlichen Bewusstsein, mit dem Reich, mit der Sphäre, mit der … mit der kosmischen Zone des Nicht-verkörpert-Seins. Nicht, wir haben ja vor einer Woche, glaube ich, oder habe ich Ihnen vor einer Woche im Hinblick auf eine Frage, die mir gestellt wurde in der Vorlesung vor 14 Tagen, da habe ich Ihnen versucht zu erläutern, wie man das denken kann, den anderen Raum bezogen auf das Vorgeburtliche, nämlich nicht nur den intra-uterinen Raum, sondern auch einen möglicherweise existie­renden anderen, höheren Raum, von dem aus dann überhaupt der Inkarnationsprozess sich vollzieht. Und das kommt hier zusammen, dass gewissermaßen im Inkarnationsprozess ein sehr weites Wesen, ein kosmisches Weitewesen im Sinne dieser Vorstellung, sich rabiat verengt, sich durcharbeitet durch das Inkarniertsein, um sich dann im Tode wieder auszu­weiten. Das ist eine uralte spirituelle Vorstellung, die man in vielen Traditionen findet, auch in der abendländischen Tradition, etwa bei den Theosophen, bei den Anthroposophen und anderen, dass die sich entkörpernde, die sich exkarnierende Seelenwesenheit, wie immer, eine Expansion erfährt, eine Ausdehnung und damit in einen Bewusstseinsraum rein­kommt, der den Pflanzendevas entspricht. „Also diejenigen Pflanzen, die unsere Ahnen kannten und verehrten, können uns die Inspiration unserer Vorfahren als weise Ahnung vermitteln, denn die Totenwelt steht ihnen offen. Die entheogenen, psychotropen, psycho­aktiven, bewusstseinserweiternden Pflanzen können uns sogar im rauschhaften Erleben in die jenseitigen Reiche der Götter und Dämonen mitnehmen.“ Und das wird uns noch in 14 Tagen beschäftigen bei der Frage der psychtropen Substanzen bzw. Pflanzen.

„Jede Pflanzenart hat dabei ihre besondere Möglichkeit und Fähigkeit, die sie uns zur Verfügung stellt. Jede Pflanzenart bietet uns ihre Mitarbeit an. Die Entscheidung anzunehmen oder abzulehnen liegt bei uns. Jede Pflanzenart oder besser gesagt jeder Deva, mit dem wir uns einlassen, wird uns verändern, wird uns verwandeln, wird uns zu dem machen, was wir sein werden. Schließlich haben wir es in ihnen mit göttlichen Wesen zu tun.“, sagt Wolf-Dieter Storl, der neben Christian Rätsch wahrscheinlich bedeutendste Ethnobotaniker. Da ist seine innerste Überzeugung, die er mit viel Engagement, mit viel Verve hier vorträgt in seinen Büchern. Er und Christian Rätsch sind wahrscheinlich die profundesten Kenner der ethnobotanischen Dimension und auch dieser Art von Dimension.

„Wir wollen uns den Pflanzendevas zuwenden. Auf keinen Fall dürfen wir sie als winzige Blütenelfen oder neckische Waldfeen vorstellen, sind wahrlich göttliche Wesen von kosmischem Ausmaß. Es ist durchaus angebracht, sie als Devas, Sanskrit: die Leuchtenden, Strahlenden zu bezeichnen, denn sie wirken von den Sternen und Planeten auf die Erde herab.“ Natürlich [ist] hier das geozentrisch zunächst gedacht und die Erde im Mittelpunkt, sphärisch abgestuft gewissermaßen werden diese Kräfte heruntertransformiert in unsere Wahrnehmung. Das kann man auch kopernikanisch-heliozentrisch sehen, das muss man nicht gekoppelt bleiben lassen an die geozentrische Sichtweise. „Die Blumen auf den Wiesen und Feldern“, ein eigenartiger Gedanke, „die Bäume und Sträucher sind lediglich ihre Schatten“, also die physisch-sinnliche Gestalt, die wir wahrnehmen, sind lediglich ihre Schatten, „ihre mit Stoff gefüllten Abbilder, ihr kondensierter Atem ihrer auf Erden verwirklichten Gedanken.“ Also wir nehmen nicht nur ihre Manifestation im Sinne der Wirkung wahr, wir nehmen in gewisser Weise nur die Schatten wahr, was man wieder platonisch interpretieren kann, wie wir das ja auch schon versucht haben. Ja, diese ganze Urbild-Abbild-Problematik, die ja bei der Frage der Formen immer ins Spiel kommt, egal wie man das denkt, auch wenn man das ganz eng reduktionistisch denkt, kommt man gar nicht darum herum. Das habe ich ja auch Ihnen erläutert.

Noch ganz kurz vor der Pause. „Diese können wir zwar messen, analysieren, also die äußere Erscheinung“, was sicherlich auch interessant ist, das geschieht ja auch, „aber das Eigentliche der Pflanzen, das würden wir verfehlen. Wir könnten wie der auf Tatbestände bedachte Positivist nur von einem intelligenzlosen, durch natürliche Auslese zufällig entstandenen protoplasmischen Gebilde reden, und damit hätte es sich. Sicherlich finden in diesem protoplasmischen Gebilden höchst komplizierte, kybernetisch vernetzte,“ Mode­begriff, „energetische und biochemische Vorgänge statt. Auch sind sie zu diversen Reizreaktionen fähig, aber ein positivistischer Wissenschaftler würde sich weigern, ihnen Bewusstsein oder gar Selbstbewusstsein zuzusprechen. Seine Experimente scheinen diese Annahme zu bestätigen, und dennoch steht er in dieser Ansicht allein. Die Überlieferung aller Kulturen mit Ausnahme der gegenwärtigen berichten von fühlenden Seelen …“

… zu kontaktieren. Also eine Durchbrechung der ontologischen Barriere in gewissem Sinne ohne Regression. Das ist ja der entscheidende Punkt, den man immer dabei denken muss: Kann man eine solche Kontaktaufnahme realisieren, ohne dass wir uns als ich-hafte Bewusstseinswesen in gewisser Weise und damit notwendig regressiv zurücknehmen?

In Trancezuständen, schamanisch-trancehaften, in gewisser Weise regressiven Zuständen. Ich meine das wertneutral. Geht das oder geht das nicht?

*** Pause ***

Noch nochmal zwei Passagen zu den sogenannten Devas über das hinaus, was ich schon gesagt hatte. Ich will Ihnen das zunächst erst einmal darstellen. Wir können dann ja der Frage uns nähern, ob man das mitdenken, mitvollziehen, akzeptieren für sich verleben­digen kann. Das ist ja das Wichtige. Das ist natürlich schwierig, das hier sozusagen in diesem Hörsaal Ihnen gedanklich-meditativ vorzustellen. Dazu bedürfte es einer Art der Stille, die in der Sprache eben gerade nicht anwesend ist. Ich kann also Ihnen das nur mittels der Sprache als eine geistige Gestalt vorführen und kann dann oder muss dann appellieren an die Schritte, die dann kommen müssten. Die müssten sich in der Stille vollziehen, denn zum Wesen der Annäherung an Pflanzen gehört Stille. Das ist unabdingbar. Das Laute, das Gespräch, das Geschwätzige, auch die CD im Kopf, die immer läuft, ist hinderlich. Also man muss tatsächlich eine meditativ-gedankliche Annäherung vollziehen, auf verschiedensten Ebenen. Ich habe schon mal gesagt, Goethe ist ein sehr guter Lehrmeister dazu in der „Farbenlehre“, nicht, was gedankliches … Denkende Anschauung betrifft oder Anschauendes Denken.

Noch einmal zwei Stellen zur Frage der sogenannten Devas. „Nach Auffassung der esoterischen Tradition ist der Mensch ein voll inkarniertes Wesen. Das Seelenhafte findet sich nicht irgendwo draußen, sondern wirkt von innen her.“ Also wieder diese Einstül­pungsprozesse, die schon im Tierischen zu beobachten sind, nicht im Pflanzlichen. „Der Mensch hat seine eigenen persönlichen Sterne. Das macht ihn zum Individuum. Er ist aber ätherisch“ im Sinne dieser Tradition „als Lebewesen astralisch, als Seele und Geist, als Ich, stark an seine Körperlichkeit gebunden. Die Pflanze, die im Garten oder auf der Wiese wächst, ist dagegen nur physisch und ätherisch gegenwärtig.“

Ganz andere Frage, ob das überhaupt stimmt. Ich sage das jetzt nurmal im Sinne dieser Tradition, wie sie hier Storl beschreibt. „Während wir das Seelische und Geistige mehr oder weniger in unserer Leiblichkeit eingeschlossen mit uns herumtragen“ ‒ auch das ist die Frage, ob das überhaupt stimmt ‒ „bleiben sie beim Gänseblümchen oder bei der Zimmerlinde außerhalb der Physis.“ Das ist wesentlich im Sinne dieser Vorstellung. „Ihr Seelisch-Geistiges bleibt ewig ungeboren und unberührt, bewegt und gestaltet den phy­sischen Leib nicht von innen, sondern von außen“, sozusagen vom Kosmos her. Das liegt in dieser Vorstellung der Pflanzendevas drin. Eine sehr kühne Behauptung, dass ich sozusagen das Pflanzenwesen, das ich ja ganz bewusst so nenne und nicht einfach in „Pflanzen“ sage, dass das Pflanzenwesen sich nicht wirklich inkarniert, nicht wirklich materiell-physische Gestalt annimmt, sondern das eigentliche Pflanzenwesen bleibt jenseits davon, bleibt, wenn man das in meiner Sprache nennen will, im anderen, höheren Raum. „Pflanzen haben keine inneren Organe und entsprechend auch kein inneres seelisches Leben.“ Auch hier die Frage, ob das stimmt. Wenn man dem hier folgen darf, was Peter Tompkins und Christopher Bird hier behaupten, dann wäre das ja nicht so, dann hätten die Pflanzen sehr wohl auch eine astral-empfindungsmäßige Schicht. „Pflanzen habe keine inneren Organe, entsprechend auch kein inneres Leben. Deswegen schreien sie nicht oder rennen weg, wenn man sie pflückt.“ Gut. „Statt eines inneren Organkosmos wie der Mensch haben Pflanzen außer­leibliche Organe, und diese stehen mit den Planeten am Himmel in Verbindung. Deswegen kann man mit Recht sagen, dass Pflanzenwesen im Gegensatz zu dem in sich abgekapselten Menschen weltoffen, makrokosmisch, gigantisch sind.“ Sehr weitgehend hier, was hier behauptet wird über diese Pflanzendevas. „Diese Aussagen sind für den modernen Zeitgenossen ein recht starker Tobak“, gibt Storl zu, aber nicht nur für den modernen Zeitgenossen. „Um sie nachvollziehen zu können, muss er erst einmal den Wust des gewöhnlichen Schulwissens ablegen. Vorübergehend wenigstens. Aber wie ist es mit dem vorgeburtlichen Menschen, dem Fötus im frühen Stadium, der noch keine inneren Organe hat? Entweder hat er noch kein Seelen- oder Geistesleben, wie die Materialisten behaupten, oder seine Seele und sein Geist befinden sich außerhalb wie bei der Pflanze im Makrokosmos ausgebreitet.“ Da war ja schon von die Rede.

„Auch der Sterbende wird wieder makrokosmisch, wie die Pflanze. Seher berichten, dass er, wenn er die Leibeshülle verlässt, zuerst Zuflucht in der Vegetation, besonders in großen Bäumen sucht. Da der Baum aber mit den Erdtiefen und mit dem Himmel verbunden ist, wird er zugleich zur Himmelsleiter des Toten, auf der er in die kosmischen Weiten reist.“ Das ist mitgedacht bei der Vorstellung der Pflanzendevas. Das heißt, Pflanzen, so wird gesagt, sind in diesem Sinne makrokosmische Wesenheiten, die sich nicht wirklich inkarnieren. Das ist, ich sag’s nochmal, auch, nicht nur für den modernen Menschen, erst einmal schwierig. Auch ich habe da meine Zweifel. Allerdings sind die anderer Art.

Noch eine zweite Passage von Hageneder. Er bezieht sich hier auf die griechische Mythologie. Wenn man einen Blick nochmal auf Griechenland wirft, da gibt es ja nicht im engeren Sinne die Vorstellung der Devas. Aber es gibt andere Vorstellungen. Es gibt die Vorstellung, dass ganz bestimmte Bäume, ganz bestimmten Göttern heilig sind. So zum Beispiel die Eiche dem Zeus, dann bei den Römern, Jupiter, übrigens bei den Germanen, dann dem Thor bzw. Donar heilig. Und es gibt die Vorstellung, dass den Bäumen Nymphen­wesen entsprechen. Denken Sie an die … den Mythos von Daphne, den ich in ihrer zweiten Vorlesung vorgestellt habe, als die rätselhafte Verwandlung der Daphne in den Lorbeerbaum. „Die Devas von Bäumen sind diejenigen, die die alten Griechen, Dryaden oder Baumnymphen nannten. Das Zentrum ihres Bewusstseins befindet sich auf der Astralebene, und ihre Körper wurden wiederholt als strahlend, schillernd, pulsierend und sich verändernd beschrieben, als wirbelnde Massen von Energie und Lebenskraft, von denen, die für sich in Anspruch nahmen oder nehmen, diese rätselhaften, pulsierenden, fluktuierenden Schwingungen tatsächlich wahrzunehmen. Im Vergleich erscheinen menschliche Auren wie Wolken glühenden Gases, die der Devas aber wie wogendes Feuer. Sie, die Devas, leben als die Beseelung eines Baumes oder einer Baumgruppe. Und oft verdichten sie ihre Substanz, um einen ätherischen Körper zu formen, indem sie den Stoffwechsel der Bäume anregen können.“

Also einerseits bezogen auf den Einzelbaum, das heißt der einzelne Baum, die einzelne Buche, die einzelne Eiche, der einzelne Olivenbaum hat ein eigenes Geistwesen, was ihn repräsentiert, was seine Gestalthaftigkeit ausmacht. Auf der anderen Seite ist es die Art als ganze, eine Baumgruppe, die Art als ganze oder im Sinne der botanischen Klassifizierung auch die Gattung oder die Familie als ganze, die dann das einzelne Exemplar in sich greift. Das hat uns ja schon beschäftigt im Zusammenhang mit den Eichen, mit der Frage, der grundlegenden Frage: Wie ist es eigentlich mit dem Einzelexemplar und dem Ganzen? Ich hatte ja die These vertreten, dass der einzelne Baum, nehmen wir mal die Eiche, bleiben wir bei der Eiche, nicht nur die anderen Eichen repräsentiert, sondern ist. Ist, was etwas anders ist. Also „sie leben, als die Beseelung eines Baumes oder einer Baumgruppe und oft verdichten sie ihre Substanz, um einen ätherischen Körper zu formen, mit dem sie den Stoffwechsel der Bäume anregen können. Admiral Hodson, von dem berichtet wird oder behauptet wird, er habe diese Fähigkeit, das wahrzunehmen, sah eine Gruppe von Baumgeistern in den Kronen einer Gruppe junger Bäume, von wo aus sie eine kraftvolle Grundnote für die Schwingungen der Auren der ganzen Baumgruppe erzeugten, wodurch ihre fortwährende Anwesenheit notwendig wurde für die Erhaltung der lebens­spendenden, energetisierenden Kraft, die sie erzeugten.“ Und jetzt eine weitreichende Behauptung, die hier immer wieder aufgestellt wird, die aber plausibel ist, auch im Hinblick auf die formativen Potenzen im anderen Raum, von denen ich spreche: „Devas haben ein exaktes Wissen um den vollkommenen Bauplan einer Pflanze und auch wie sie ihn fließend an störende Einflüsse wie Wetter, Tiere oder andere Pflanzen anpassen können. Ihr Bewusstsein ist vollständig eins mit dem Baum und sie überwachen und dirigieren die Tätigkeiten der zahlreichen Blatt- und Elementargeister.“

Das wird jetzt hierarchisiert, Blattgeister, Elementargeister, dann die sogenannten Devas, darüber dann noch weitergehende kosmische Stufen. Das ist auch eine alte Tradition. Wichtig ist zunächst einmal, dass man begreift, dass es eine ganzheitliche Ebene gibt, die bei dem Einzelbaum, bei Baumgruppen, bei Bäumen überhaupt, Pflanzen über­haupt, kontaktiert werden kann, dass man da energetisch-seelisch Zugang gewinnen kann. Das kann man mit einigem Recht behaupten, dass das wirklich möglich ist. Das ist nicht eine nur hypothetische Behauptung, sondern das lässt sich bis zu einem gewissen Grade tatsächlich verifizieren. Natürlich ist die Frage, die immer auftaucht, dabei: Wie denn? Wie lässt sich das verifizieren? Mittels ganz bestimmter Messverfahren im Sinne dessen, was ich Ihnen vorgelesen habe, sicherlich nicht. Sicherlich nur mittels einer ganz bestimmten meditativ-gedanklichen Zugangsweise, die natürlich erlernt werden muss, die man nicht einfach hat, sondern die man erschließen, an die man sich möglicherweise erinnern muss. Denn das ist wichtig, dass man in diese Schicht von der Erfahrung her eindringt. Wenn das nicht gelingt, bleibt das Ganze nur Theorie, bleiben das letztlich nur Worte, bleiben das mehr oder weniger interessante Metaphern, bleiben das aber keine Wirklichkeiten. Wobei eine ganz andere Frage ist, ob diese Metaphern, ob diese Worte überhaupt treffend sind.

„Viele Menschen wären froh“, schreibt Fred Hageneder, „wenn es so etwas gäbe wie ein Rezept, Devas zu begegnen. Aber keine magische Abkürzung kann die jahrelange Übung und Ausbildung unseres Geistes und unserer höheren Wahrnehmungsorgane ersetzen.“ Das würde ich auch sagen. Es bedarf einer jahrelangen, intensiven geistigen Arbeit, die auch etwas zu tun hat mit geistiger Disziplin, um mal diesen Begriff zu benutzen, auch wenn er nicht populär ist, der etwas zu tun hat mit geistiger Disziplin. „Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass höhere Formen von Bewusstsein und Feinsinnigkeit das Geburtsrecht und das schlummernde Potenzial eines jeden von uns sind.“ Das ist ganz entscheidend, dass im Prinzip jeder die Möglichkeit hat, weil wir alle aus den gleichen kosmischen Zusammen­hängen stammen, da ja keiner eine andere Herkunft hat. Wir sind ja alle in diesem einen großen kosmischen Zusammenhang, und es ist nicht einzusehen, warum einer die Fähigkeiten schlechterdings gar nicht haben soll. Im Prinzip müsste jeder diese Fähigkeit haben, auch wenn sie verschüttet ist. Und natürlich ist es schwierig, durch diese Ver­schüttung hindurch diese Ebene zu erschließen, und das kann ja auf vielfältigste Weise geschehen. Es gibt ja auch in diesen Büchern hier eine ganze Reihe von Anregungen, sage ich mal, wie man sich dem nähern kann. Zum Beispiel gibt Storl am Ende seines Buches lange Überlegungen preis, praktische Übungen, wie man das machen kann. Auch Hageneder gibt interessante Hinweise, die man nachvollziehen kann, wenn man sich dann dieser Mühe überhaupt unterzieht oder unterziehen möchte, wenn man nicht von vornherein das Gefühl hat, das ist müßig. Wichtig ist erstmal, dass man eine grundlegende Bereitschaft, eine grundlegende Offenheit aufbringt, dass man still sein kann. Ich rede hier, und das ist auch richtig für diesen Hörsaal, aber dazu bedarf es einer Stille. Wie gesagt, die CD die im Kopf läuft, muss zur Ruhe kommen, und es bedarf einer ganz bestimmten Öffnung, die auf mehreren Ebenen sich vollzieht. Diese Öffnung ist auf der einen Seite eine sehr genaue Phänomenologie, überhaupt erstmal genau wahrnehmen, was ist. Das können ja viele Menschen gar nicht mehr. Viele Menschen haben ja die Fähigkeit vollkommen verlernt, überhaupt das wahrzunehmen, was da ist. Das heißt, die pure Sinnlichkeit, zu schweigen von Übersinnlichkeit, fehlt. Fundamental wäre es also, die sinnlich-gestalthafte Wahrnehmung ersteinmal, ich sag’s noch mal … und da kann Goethe, da kann Goethe in der „Farbenlehre“ sehr viel beitragen. Das sind wunderbare Gedanken, die da geäußert werden, auch praktische Handhaben, wie man genau beobachten kann.

Dann bedarf es eines ganz bestimmten Sich-Einschwingen. Wir haben ja schon gesprochen über die Raumqualitäten, die die Bäume haben nicht, die ja etwa bei der Kastanie eine ganz andere ist als bei einer Birke oder einer Buche oder einer Eiche. Das ist ja aufschlussreich, dem wirklich mal nachzuspüren, der Raumqualität, die hier vorliegt. Ist sie bergend? Ist sie beschützend? Wie weit reicht sie? Wo setzt eigentlich diese Raum­qualität an bzw. wo beginnt sie? In welcher Entfernung vom Baum oder von der Baumgruppe ist sie wahrnehmbar? Auch das ist zu erspüren, wenn man eine bestimmte Aufmerksamkeit da walten lässt. „Für denjenigen, der Zugang zu den Pflanzen sucht, können Yoga-Übungen hilfreich sein“, behauptet Storl, wobei er den Begriff des Yoga hier weiter fasst als im gängigen Sinne. „Vertiefungsmeditation, in die Pflanze hineingehen. Diese Meditation lässt sich am besten an einem sonnigen Vormittag in der freien Natur durchführen, wer vormittags Zeit hat. Der Meditant“, furchtbares Wort, also lieber Wolf-Dieter Storl, ein furchtbares Wort, also, „der Meditant sollte fasten oder wenigstens nur eine leichte vegetarische Mahlzeit zu sich nehmen, er trägt leichte Kleidung aus Natur­fasern, geht barfuß über die Wiese und durch den Wald, und er lässt die überflüssigen, alltäglichen Gedanken und Träumereien beiseite und zentriert seinen Geist. Bei einer Pflanze, die ihn besonders anzieht oder anspricht, macht er Halt. Er setzt sich zu ihr hin oder legt sich neben sie. Das Wort Nabelschau daran zu üben oder sich in die eigene Innerlichkeit zu versenken“, jetzt wichtig, „geht er völlig in seine wachen Sinne hinein.“ Also keine, in dem Sinne, keine Nabelschau, sondern die wache Sinnlichkeit. „Er konzentriert sich ganz und gar auf die Pflanze und kümmert sich nicht um irgendetwas anderes, betrachtet die Pflanze genauestens, die Form der Blätter, die Farben, die Textur, den Glanz, nichts entgeht ihm, nichts lenkt ab, verschwendet auch keine Energie, um eventuelle Störungen auszublenden. Nach einer Weile sieht der Meditant Aspekte der Pflanze, die der flüchtige Blick sonst nie wahrnimmt. Er sieht zum Beispiel Käfer, Raupen oder Ameisen, die zur Ganzheit des Erscheinungsbildes dieser Pflanze gehören.“

Die Sinnlichkeit zu steigern bedeutet, wenn man das wirklich verfeinert und auch mit einer gedanklichen Meditation verbindet, auf diesem Wege tatsächlich in ein Stück Übersinnlichkeit hineinzugeraten. Ich unterscheide ja gerne, ich greife das auf aus dem 19. Jahrhundert, zwischen Übersinnlichkeit und Untersinnlichkeit. Die reduktionistische Weise, gegen die Natur anzugehen, wie die herrschende … ist untersinnlich. Sie geht ins immer Kleinere, ist reduktionistisch, analytisch. Sie untersteigt, sie unterhöhlt in gewisser Weise die Sinnlichkeit und versucht von dort ja dann die Sinnenwelt aufzubauen, was nie gelingen kann. Ganz anders die andere Vorgehensweise, die der Sinnlichkeit ihr Recht lässt und über eine verfeinerte, eine gedanklich-meditativ konzentrierte Sinnlichkeit den nächsten Schritt zu tun. Das kann man von Goethe lernen, dass man dann in dem Sinnlichen eine Ahnung gewinnen kann über das, was darin oder dahinter, an sogenanntem Übersinnlichen sich aufhält. Insofern kann man wirklich hier eine Art der gedanklich-meditativen Einstimmung praktizieren. Also wen das interessiert, der sollte tatsächlich dieses Buch hier sich anschauen. Auch die Übungen, die hier angegeben sind, auch Hageneder und andere Autoren zu diesen Themen geben natürlich Übungen an, wie das geschehen kann. Interessant übrigens an dem Buch von Hageneder ist, dass er die in unseren Breiten gängigen Bäume durchgeht und an jedem einzelnen Beispiel, etwa an der Eiche oder auch an der Ulme, an der Buche, an der Erle, am Ahorn und so weiter exemplifiziert, wie diese neue und andere Betrachtungsweise aussehen kann. Er geht immer von der äußeren Erscheinung, die sehr genau beschrieben wird ‒ wie ist der Stamm aufgebaut, wie ist die Formation der Zweige, wie ist die Krone gebaut, wie ist die Gesamterscheinung ‒ und geht dann in die Mythologie rein aus den verschiedensten Traditionen, auch in die indische Mythologie, germanische Mythologie oder griechische Mythologie und versucht dann, auch unter Heranziehung etwa der berühmten Bachblüten, eine vertieftere Betrachtung dieses Baumwesens, auch in den kosmischen Dimensionen. Beispiel Eiche. Das ist eine uralte Tradition, die auf die Antike zurückgeht, im Mittelalter verbreitet war, dass man zum Beispiel die Eiche mit dem Gestirn Mars in Verbindung bringt. Warum? Zunächst könnte man sagen, das hat eine, hat doch mit dem Anderen überhaupt nichts zu tun. Eine Begründung dafür, die angegeben wird, die eine gewisse Plausibilität hat, besteht darin, dass der Mars eine gewisse Exzentrizität im Hinblick auf die Position zur Erde aufweist. Er kann relativ nahe sein, wenn Sonne, Mars und Erde in einer Linie stehen und kann ganz weit entfernt sein, also in Opposition. Und dieses gewissermaßen Exzentrische der Relation der Gestirne soll sich, so wird in mehreren Büchern behauptet, widerspiegeln in dem eigentümlich Bizarren der Astformationen der Eichen, nicht, die ja doch eigenartig bizarr und wild wuchernd manchmal in den Raum hineingreifen, wodurch ja die Gesamteiche eine eigenartige Form annimmt. Wenn man mal darauf achtet und hat sich mal einen Blick dafür erworben, dann stellt man das immer wieder mit Erstaunen fest, dass tatsächlich die äußere Erscheinung einer Eiche eine völlig andere Gestalt hat als etwa die einer Buche.

Und worin besteht die Andersartigkeit? Das kann man dann auch ganz genau sich vergegenwärtigen. Das ist hochinteressant. Gleichwohl muss ich das mit einer gewissen Vorsicht sagen, weil mich überzeugt diese Zuordnung nur bedingt. Obwohl sie in vielen Büchern angeführt wird, hat sie mich so bisher noch nicht überzeugt, obwohl ich es interessant finde und das als Arbeitshypothese durchaus gelten lassen möchte. Zum Beispiel heißt es hier über die Eiche, um noch einmal bei der Eiche zu bleiben: „Die Untersuchungen der elektrischen Ströme von Bäumen haben gezeigt, dass die Eiche tatsächlich ein ganz besonderer Baum ist. Ihre Lebenskraft ist bei Weitem größer als die irgendeines anderen Baumes ihres Klimagebietes. Die Eiche drängt mit gewaltiger Kraft ins Leben. Mit ihrer einzigartigen Pfahlwurzel ‒ es gibt ja mehrere Wurzeltypen, das ist also der eine Wurzeltyp, die Pfahlwurzel ‒ mit ihrer einzigartigen Pfahlwurzel steht sie im Boden wie ein von den Göttern in die Erde gerammter Speer.“ Astrologisch, ja klar, natürlich jetzt astrologisch gesehen ist das Mars. Aber hier wird primär zunächst nicht astrologisch argumentiert, sondern wird astronomisch argumentiert. Das ist interessant, aber gut, das habe ich schon gesagt. „Und sie befindet sich dort, um schöpferische Urkraft zu bringen, das Grundwasser damit aufzuladen und sie über die Erde und all ihre Bewohner zu verteilen. Es ist Geist, der sich in der Eiche verkörpert, die Lebenskraft in die Schöpfung einsprüht. Während die Eibe“, interessant, „ein Ausgang ist, eine Tür von dieser Welt zurück ins Geistige.“ Übrigens soll die Weltenesche, die ja eine Esche ist, in der germanischen Mythologie ursprünglich eine Eibe gewesen sein, was etwas vollkommen Anderes ist. Bis vor kurzem dachte ich immer, das war eine Esche. Dann hab ich gelesen [es] war ursprünglich eine Eibe, die eine ganz andere Bewusstseinsqualität ausstrahlt. „Der Geist der Eiche trägt uns in die Welt, nicht in die Phase der Geburt, [wie die] Birke, sondern in die der vollen Blüte. Und wieviel Kraft hat sie somit tatsächlich den Menschen gegeben?“ Jetzt kommt das: „Die Eiche hat eine reale rhythmische Verbindung zum sich schnell bewe­genden dynamischen Planeten Mars als auch zum astrologischen Mars. Diese schöpferische männliche Kraft steht in der Vergangenheit“, da war der Mars nicht einfach ein Kriegsgott, wie heute viele glauben, „der keltische Mars besaß vor allem eine schützende und behütende Aufgabe. In Mitteleuropa stand er mit verschiedenen Kulten des Heilens in Zusammenhang.“

So, also ich möchte, dass wir noch ein bisschen ins Gespräch kommen, ich habe an meinem Stichzettel [gesehen], das ich [mir] viel zu viel für diese Folge vorgenommen hatte. Ich muss einfach mal hier einen Schnitt machen, damit wir noch ein bisschen reden können. Ich will noch eine Abschlussbemerkung machen. Die Frage nach dem Bewusstsein der Pflanzen und eine Stufe weiter nach den möglicherweise kosmischen Bewusstseins­qualitäten der Pflanzen ist nicht zu trennen von der Frage nach Bewusstsein überhaupt und von der Frage nach dem Bewusstsein und nach der Lebendigkeit des Erdganzen.

Das heißt, eine lebendige, bewusstseinserfüllte Pflanzenwelt ist nur zu denken in einer lebendigen, bewusstseinserfüllten Erde, auf einer lebendigen, bewusstseinserfüllten Erde. Und das führt uns natürlich schon in die nächste Vorlesung dann, wo ich ja am Beispiel des griechischen Demeter-Kultes Ihnen darstellen möchte, wie hier eine einzig­artige Verbindung entstanden ist zwischen Erdmutter-Kult, Getreide-Kult, Rituale, die mit Ackerbau und Anbau zu tun haben und der anderen, sagen wir, Anderswelt-Dimension der Einweihungsvorgänge im Sinne von Mysterienkulten. Es war vollkommen einmalig, was sich da vollzogen hat, über anderthalb bis zweitausend Jahre in Griechenland, faszinierend, menschheitsgeschichtlich in dieser Form singulär und in vielerlei Hinsicht rätselhaft. Das soll uns nächstes Mal beschäftigen. Also man muss letztlich die Frage stellen nach der Bewusstseins-Dimension der Erde als Ganzes. Man kann das nicht abkoppeln und landet letztlich bei der Frage: Was wissen die Pflanzen ‒ zur seelisch-geistigen Dimension des Pflanzenwesens? Was weiß die Erde? Was sind überhaupt die kosmischen Bewusstseins­wesenqualitäten des Gestirns, auf dem wir leben und des Kosmos, in dem wir leben? Letztlich mündet das in die Frage nach dem Kosmos. Man kann ja nicht einfach von der kosmischen Dimension der Pflanzenwelten reden, ohne dann auch [die] kosmische Dimension überhaupt einzubeziehen, die Frage nach Bewusstsein und Leben im Kosmos generell.

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Vom Ursprung der Formen in der Natur

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff

Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 42

Transkript als PDF:


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Ich habe Ihnen in der letzten, schon in der vorletzten Vorlesung gesagt, dass diese drei Vorlesungen heute, vor einer Woche und vor 14 Tagen in gewisser Weise eine Einheit darstellen, das heißt, thematisch ganz eng miteinander verflochten sind und aufeinander verweisen, sich ineinander spiegeln. Ich hatte Ihnen ja vor 14 Tagen zu erläutern versucht, wie man das Aufsteigen der Säfte in den Pflanzen, etwa in den Bäumen, Wachstums­prozesse jetzt mal vertikaler Art überhaupt deuten kann als eine große Pulsations­bewegung des Gestirns Erde; Levitation, Gravitation und so weiter, vermittelt über das kosmische Licht. Und in der letzten Vorlesung ging es um die Frage eines anderen oder höheren Raumes. Wir haben uns unterhalten über einen sogenannten prädimensionalen Raum im Sinne der Leibphilosophie von Hermann Schmitz, festgemacht vor allen Dingen an der Polarität von Enge und Weite, dem zunächst einmal bekannten vertrauten dimensio­nalen Raum und einem sogenannten transdimensionalen Raum. Der Begriff „transdimen­sionaler Raum“ hat nichts zu tun mit mathematisch-physikalischen Spekulationen über höhere Raumdimensionen. Das habe ich mehrfach angedeutet, und ich lege auch hier noch einmal Wert darauf, das festzuhalten, als [dass] es auf diesem Gebiet primär um die existenzielle, um die empirische, um die wirklich erlebbare Dimension geht. Und das ist immer grundsätzlich etwas Anderes als eine modellmäßig fassbare, in diesem Sinne objektivierbare, wissenschaftlich beschreibbare Schicht der Dinge.

Jemand hat mich nach der letzten Vorlesung, nicht im Plenum, aber hier vorne dann gefragt, wie man in diesem Zusammenhang dessen, dass ich ausgeführt hatte, die Vor­stellung einbeziehen oder einordnen kann, was denn der Mensch im vorgeburtlichen Raum sei? Also die Frage des vorgeburtlichen Raums. Ich will versuchen, weil die Frage von grundsätzlichem Interesse ist, darauf kurz einzugehen.

Nun kann man vorgeburtlichen Raum in zweierlei Weise begreifen. Man kann das zunächst einmal begreifen als den vorgeburtlichen Raum im Mutterleib, also den soge­nannten intra-uterinen Raum, wie das gemeinhin genannt wird. Und dann die Frage stellen: Wie empfindet der Embryo bzw. Fötus den Raum, in den er mittels einer Flüssigkeit eingelagert ist? Und was bedeutet das für seinen Bewusstwerdungs-, Ichfindungs-Prozess?Sie wissen vielleicht, dass über diese Dinge sehr eingehend geforscht hat der kürzlich verstorbene französische HNO-Arzt und Pionier psycho-akustischer Grundlagenforschung, Alfred Tomatis. Ich habe ja hier vor zwei Jahren, am Ende des Sommersemester über diese Dinge auch ausführlich gesprochen. Und Alfred Tomatis hat hierzu sehr viel gesagt. „Klangraum Mutterleib“ zum Beispiel als eines seiner Bücher. Er hat versucht, diesen intra-uterinen Raum existenziell, in gewisser Weise ontologisch, wenn man das so nennen will, zu fundieren als eine Art Ur-Raum des Menschen, den dieser in seiner Individuation während einer biographischen Entwicklung immer wieder zurückzugewinnen sucht, auch im sozialen Bereich. Das heißt also, alle sozialen Ordnungsgebilde interpretiert Alfred Tomatis als den Versuch des Menschen, letztlich wieder in diesen Ur-Raum zurück­zufinden.

Nun kann man aber auch den vorgeburtlichen Raum anders deuten. Es gibt ja genügend Hinweise und Forschungen in diese Richtung, dass damit ein Raum gemeint ist, der kein physisch fassbarer, in diesem Sinne kein dimensionaler oder auch prädimensionaler Raum ist, sondern ein Raum, aus dem die sich dann inkarnierende Individualität hineinkommt, durchdringt in ihre eigene Körperlichkeit. Es gibt da faszinierende Forschungen, etwa in Mitte der 80er Jahre das berühmte Experiment der Psychologin Helen Wambach, die die Frage gestellt hat 850 oder 750 Probanden Probanden in der Hypnose, ob sie sich erinnern können an diesen vorgeburtlichen Raum. Da gab es sehr interessante Durchgaben und Aussagen, die Helen Wambach zunächst einmal phänomenologisch auf sich beruhen ließ, ohne sie vorschnell zu deuten, etwa psychologisch-reduktionistisch oder nun gleich esoterisch. Einfach phänomenologisch ist das hochinteressant, was die Probanden sagten.

Sie hätten sich zu einem erstaunlichen Teil als eigene Entitäten, als individuierte Entitäten in einem anderen Raum befunden und seien dann erst ganz allmählich in die Materialität eingestiegen und hätten dann im fötalen, embryonalen Zustand unterschied­liche Grade der Verbindung mit dem Fötus bzw. Embryo gehabt, also immer noch existierende Freiheitsspielräume.

Das wäre die andere Komponente der Frage nach dem vorgeburtlichen Raum. Wenn man das für wenigstens hypothetisch möglich hält, ja dem einen gewissen ontologischen Wirklichkeitsstatus zuspricht, ist natürlich die Frage nach dem vorgeburtlichen Raum eine völlig andere. Dann könnte es, mal versuchsweise gesagt, so aussehen, als gäbe es diesen anderen, höheren Raum, den ich ja in gewisser Weise mit dem Weltseele-Raum identi­fiziere, als die eigentliche Heimat, in Anführungszeichen, als den Quellgrund des mensch­lichen Seins überhaupt. Nicht, dann ist man in einem ganz anderen Bewusstseinsraum. Man hätte ganz andere Koordinaten. Das muss nicht den intra-uterinen Raum in diesem engen Sinne ausschließen. Das wäre bloß eine erweiterte, eine in diesem Sinne alternative Vorstellung, die man parallel betrachten könnte. Das führt auf faszinierende Fragen, die nur angedeutet werden können. Das kann ich hier im Rahmen dieser Vorlesung gar nicht ausführlich behandeln. Da müssten Sie dann einfach nachforschen, zum Beispiel in meinem Buch was in Kürze erscheint, mein neues Buch „Die Anderswelt ‒ Eine Annäherung an die Wirklichkeit. Die innere Kosmologie von Raum, Zeit und Selbst“ wo ich auf diese Fragen sehr eingehend eingegangen bin. Die Frage des anderen und höheren Raums auch im Zusammenhang mit meditativen Bewusstseinspraktiken, also ein Buch letztlich auch über Bewusstseinsforschung eigener Art. Und es bleibt natürlich die Frage, die in vielen Tradi­tionen gestellt wird in diesem Zusammenhang nach der Ausdehnung der eigenen Selbstheit, der eigenen Ichheit, von mir aus auch auf einer anderen Ebene, der eigenen feinstofflichen Leiblichkeit. Also wie ausgedehnt sind wir? Wie weit greifen wir in diesen Raum hinein?

Der Ausgangspunkt in der letzten Vorlesung war ja, zu verstehen oder dem nachzu­spüren, was Bäume an Raumqualitäten entbergen, was sie gewissermaßen abstrahlen, Raumqualitäten, in die sich der Mensch hineinbegeben kann, die er seelisch, geistig, meditativ und auch leiblich erspüren kann. Nicht, darüber haben wir gesprochen, dass man da ganz andere Raumqualitäten spüren kann bei der Eiche, bei der Erle, bei der Pappel usw. Diese Fragen sind spannend und hochinteressant. Das wird uns noch in der nächsten Woche beschäftigen, wenn wir uns mit der Frage der seelisch-geistigen Dimension der Pflanzen überhaupt beschäftigen, dann kommt noch einmal diese Frage der Raumqualität verschiedener Pflanzen ins Spiel, etwa auch der Bäume, die ja häufig genug als Übermittler, als gleichsam mediale Wesen zu der, keltisch-mythologisch gesprochen, Anderswelt, fungiert.

Die zweite Komponente, die ja im Plenum noch kurz behandelt wurde, will ich nochmal aufgreifen, weil das wichtig war. Zwei von Ihnen hatten ja gefragt, völlig zu Recht: Was könnten wir oder was gewinnen wir, was können wir wieder gewinnen, was gewinnen wir dann wieder, was gewinnen wir zurück, was haben wir also verloren, oder in welchem Grade gewinnen wir eine neue, andere, bewusstseinsmäßige Qualität, die menschheits­geschichtlich noch nie in einem größeren Kollektiv existiert hat? Also die Frage, haben wir etwas verloren, was wir wiedergewinnen müssten?

Das habe ich ja angedeutet mit meiner Formel von der Raumblindheit des modernen Menschen, auch in gewisser Weise von der Weltseele-Blindheit des modernen Menschen. Oder müssten wir uns zu dem Gedanken bequemen, den ja mit gewissen Einschränkungen Ken Wilber in seiner evolutionären Psychologie entwickelt hat, dass diese Stufe der Integration in eine Weltseele-Ebene der individuellen und kollektiven Bewusstheit etwas ist, was noch nie erreicht worden ist, bislang, außer von Einzelnen. So heißt es etwa, ich habe das nochmal rausgeschrieben, in seinem wichtigsten Buch „Sex, Ecology, Spirituality“ am Ende, „Eros, Kosmos, Logos“, die letzten Sätze dieses Buches handeln davon und Wilber benutzt auch den Begriff der Weltseele, „world soul“, nur in einem etwas anderen Sinne als ich. Das muss ich einfach sagen, damit kein Missverständnis auftaucht. Da heißt es am Ende dieses dicken, also wirklich umfangreichen, aber grundlegenden Buches von Ken Wilber: „Da also stehen wir jetzt im Raum der Rationalität und auf der Schwelle zu transrationaler Wahrnehmung, zu einer scientia visiones“ ‒ also einer Wissenschaft des visionären Bewusstseins, wenn man das so nennen will ‒ „die Menschen aller Art und überall und immer wieder mal und mit wachsender Klarheit Ahnungen vom wahren Abstieg der alles durchdringenden Weltseele zuträgt.“ Also „ …descend of the … world soul“.

Dies, was Wilber hier ganz eng anlehnt an den Gedanken der „over soul“, der Überseele von Ralph Waldo Emerson, als Weltseele bezeichnet, ist nicht unbedingt iden­tisch mit dem, was ich mit diesem Begriff bezeichne, ohne dass ich jetzt sagen würde, das ist etwas vollkommen Anderes. Die Fokussierung ist ja eine andere. Ich habe das ja versucht zu zeigen, dass für mich Weltseele mehr oder weniger identisch ist mit diesem anderen und höheren Raum und dass ich der Auffassung bin, dass individuiertes Bewusst­sein und die Kommunikation der Bewusstseine untereinander und miteinander nur möglich ist, wenn es ein alles verbindendes Bewusstseinsfluidum gibt, auf den verschie­densten Ebenen des Seins und dass dieses Fluidum als Weltseele bezeichnet werden kann. Also die Einzelseele, die individuierte Seele, wird getragen von diesem Weltseele-Fluidum, von diesem Grundwesen, das den Raum ausmacht. Eine wichtige Komponente dieses Weltseele-Raums in meinem Verständnis ist, dass dieser Weltseele-Raum in gewisser Weise von den dreidimensionalen Anschauungsformen aus beurteilt paradoxe Eigen­schaften hat. Das heißt, was wir üblicherweise als Nähe und als Ferne empfinden, ist dort anders. Ferne ist in gewisser Weise Nähe. Das heißt, was wir als sehr weit weg empfinden, ist auf dieser Seinsebene des Weltseele-Raums nah, auch wenn das unvorstellbare Entfernungen sind. Also eine nicht-perspektivische Form der Raumwahrnehmung spielt hier hinein. Und das führt natürlich auf eine zentrale Frage nach der Räumlichkeit von Bewusstsein. Das habe ich auch angedeutet. Das will ich noch kurz erwähnen, dass ja idealistische Philosophen immer gesagt haben, das Seelisch-Geistige des Menschen ist in seinem Grundwesen jenseits von Raum, Zeit, Kausalität und so weiter. Es ist also nicht räumlich.

Ich habe gerade am Wochenende, war ich auf einem Kant-Symposion, auf einer Privat-Akademie und musste da drei Vorträge über Kant halten. Da ist mir nochmal deutlich geworden, wie Kant das sieht, der die Wesenheit des Menschen eigentlich ansiedelt jenseits von Raum und Zeit. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Seele in der Tiefe räumlich ist. Bloß sie ist sicherlich nicht einfach ein Element des dreidimensionalen Anschauungsraums. Das sicher nicht. Das sind hochinteressante, spannende Fragen, denen man nachgehen kann, die auch weiterführen, wenn man sie meditativ-gedanklich angeht. Das wird uns ja noch in verschiedenen Zusammenhängen beschäftigen, das wollte ich ergänzen. Also, Wilbers „to transcend and include“, überschreiten und einschließen, gilt auf der einen Seite sicherlich. Frühere Stufen werden überschritten und eingeschlossen, gilt aber nicht so streng, wie das manchmal in seinen Schriften erscheint, meiner Überzeugung nach, in dem eine neue Stufe, etwa die mentale, die mythische Stufe ablöst, denken Sie an die Vorlesung, an die zweite Vorlesung dieses Semesters, dann verliert häufig genug in diesem Ablösungs­prozess das mentale Selbst auch ganz bestimmte Grundqualitäten dieser mythischen Stufe und nimmt sie keineswegs mit in die neue Stufe hinein. Häufig genug ist es eine Dissoziation, und es geht etwas verloren, was vielleicht gar nicht hätte verloren werden dürfen. Das ist eine Frage, die man hier gar nicht erörtern kann. Aber es sind spannende Fragen.

Gut, jetzt zu der Frage, die heute angesprochen werden soll, die daran unmittelbar anknüpft: Felder, Seelen, Formungskräfte, Überlegungen zum Ursprung der Formen in der Natur, hier speziell zum Ursprung der Formen, Gestalten in der Pflanzenwelt, Formungs­kräfte, formative Kräfte. Die Anthroposophen und auch Theosophen reden von Bilde-Kräften, ätherischen Bilde-Kräften. Es ist gar nicht jetzt so wichtig, sich an einen Begriff hier festzuhalten. Die Frage ist grundsätzlich: Gibt es formative Kräfte, Bilde-Kräfte von mir aus, die das Organische in seiner lebendigen Gestaltganzheit letztlich formen, dass es auch halten … , dass die Verbindung aufrechterhält zwischen der Erscheinungswelt und dem anderen und höheren Raum. Und wenn es diese Bildekräfte, diese Formungskräfte gibt, sind wir berechtigt, hier, wie es ja viele tun, etwa Sheldrake und andere, Vorstellungen von Feldern hineinzunehmen, das ist ja in den 20er Jahren schon gemacht worden, die morpho­genetischen Felder sind ja keine Erfindung von Rupert Sheldrake. Das sind ja auch Vorstellungen von russischen und deutschen Biologen aus den 20er Jahren, also morpho­genetische Felder. Ist es berechtigt, hier den Feldbegriff einzubeziehen, oder führt das eher in die Irre? Ist es nicht sinnvoller, dann gleich zu sagen: Haben wir es mit seelischen oder seelisch-geistigen Formungskräften zu tun? Wobei dann eben der Begriff des Feldes vielleicht eher in die Irre führt.

Sie kennen vielleicht einen Buchtitel, einen Gesprächsband von Matthew Fox, dem amerikanischen Dominikaner und Ökologen mit Rupert Sheldrake. Der trägt im Deutschen den seltsamen, aufschlussreichen und zugleich fragwürdigen Titel „Die Seele ist ein Feld“. Nicht, da wird eine Gleichsetzung vorgenommen, die Seele ist ein Feld. Das kann man ja anders, kann man ja in verschiedenerlei Hinsicht deuten. Man kann sagen, die Seele kann man auch als ein Feld bezeichnen, oder reduktionistisch betrachtet kann man sagen, die Seele ist eigentlich nichts weiter als ein, könnte man jetzt ergänzen, möglicherweise auch physikalisch fassbares Feld. Und da sind wir in einem interessanten Grenzbereich ange­langt, der für unsere Frage zentral wichtig ist. Es ist ja schon angedeutet worden, dass der andere, höhere Raum, den einige als Äther-Raum bezeichnen, möglicherweise die Quelle ist, der Quellgrund dieser Formungskräfte, dass also im Sinne dieser Polarität, die ich Ihnen versucht habe darzustellen, dass also aus den Weiten des Weltalls, vermittelt über das kosmische Licht, Formungsprinzipien, Formungsenergien, Formungskräfte, vielleicht sogar ganz lebendige gestalthafte Wesenheiten diese Morphogenese, diese Entstehung der Formen der lebendigen Welt, eben auch der Pflanzen, organisieren, bestimmen und halten.

Was sind Felder? Ich muss das ganz kurz nochmal Ihnen vor Augen führen. In meinem Buch „Räume, Dimensionen, Weltmodelle ‒ Impulse für eine andere Natur­wissenschaft“ gibt es einen größeren Passus über Felder. Den will ich Ihnen nicht als Ganzes vorlesen, nur einen kleinen Teil daraus, weil er bezeichnend ist, damit man weiß, worüber redet man, wenn man von Feldern redet, denn der Begriff des Feldes ist noch nicht so alt in der Naturphilosophie, etwa anderthalb Jahrhunderte. Und dass er eine solche erstaunliche Karriere gemacht hat, ist nicht selbstverständlich gewesen. Viele haben im Ansatz schon diesen Begriff kritisiert als einen letztlich leeren Begriff, der überhaupt keinen Erklärungswert hat. Das geht bis heute. Da heißt es in einem Abschnitt „Was also ist die Schwere, vom Sinn der Felder zur Genesis und Reichweite des Feldbegriffs“. Ich darf das Ihnen mal kurz vorlesen, diese eine Passage, weil das vielleicht noch einmal verdeut­licht, dass der Feldbegriff keineswegs selbstverständlich ist: „Als Felder gelten immaterielle Wirkungszonen im Raum,“ wichtig ist: immaterielle Wirkungszonen im Raum, „im Fall der Physik Wirkungszonen, deren Vorhandensein physikalisch bestimmbar und messbar ist.“ Also in der Wirkung sind diese Felder messbar, unterliegen sie der Messbarkeit bis zu einer gewissen Grenze. „Diese Wirkungszonen sind offenbar so eng mit dem Raum verbunden, dass sie oft mit ihm gleichgesetzt werden.“ Der von mir hier angedeutete Begriff der Raumenergie, denken Sie an das, was ich vor 14 Tagen gesagt habe, geht ja in die Richtung. „Felder haben eine bestimmte Ausdehnung, ohne dass ihre Grenzen scharf bestimmbar wären. Im Prinzip sind Schwerkraftfelder genauso unendlich wie elektromagnetische Felder, unendlich wie der Raum, dem sie eingelagert sind. Ihre radiale Form, Abnahme der Intensität mit dem Quadrat der Entfernung, hat zur Folge, dass die ausgelösten Wirkungen irgendwann so schwach werden, dass sie quasi nicht mehr existent sind bzw. überlagert werden. Zwar müsste das irdische Schwerkraftfeld noch im Andromeda-Nebel spürbar sein, um von ferneren Galaxien abzusehen, aber faktisch wird es keine Rolle spielen. Wo der eine Körper ist, kann nicht zugleich ein anderer Körper sein. Bei Feldern ist dies anders. Sie können sich überlagern und durchdringen.“

Sie können in vielfältiger Weise ja wechselwirken miteinander. Sie können auf verschiedenen Ebenen gelagert sein. Nicht, ich habe das ja angedeutet mit der Vielzahl der sogenannten Informationen, Millionen an der Zahl, etwa elektromagnetisch hier im Raum. Das schließt ja nicht aus, dass auch ganz andere, nicht-elektromagnetische Felder hier eingelagert sind, die nicht unbedingt interferieren müssen, die auch keine Kollisionen gewissermaßen haben müssen mit diesen Feldern. Zitat Sheldrake: „Dieses Schwerkraftfeld ist vom elektromagnetischen Feld durchdrungen, mithilfe dessen wir uns gegenwärtig sehen können und das auch von Radiowellen, Fernsehübertragungen, kosmischen Strahlen, ultravioletten und infraroten Strahlen und allen möglichen Arten unsichtbarer Strahlung überlagert ist. Und diese stören sich gegenseitig nicht. Radiowellen stören sich gegenseitig nur, wenn sie die gleiche Frequenz haben. Aber alle Radio- und Fernsehprogramme der Welt können koexistieren, wenn sie sich im gleichen Raum durchdringen, ohne sich gegenseitig auszuschließen oder einander zu leugnen. Selbst wenn wir nur die Felder betrachten, die die Schulwissenschaft derzeit erkennt, Quantenfelder, elektromagnetische Felder, Schwerkraftfelder durchdringen sie sich alle.“ Zitatende.

„Die hier angesprochene Fähigkeit der Felder, sich gegenseitig zu durchdringen, ist im Grunde mysteriös. Warum gibt es diese Durchdringungsfähigkeit? Die herrschende Physik hat keine plausible Erklärung dafür, zumal völlig unbekannt ist, was diese Felder überhaupt sind.“ Also die Frage der Ontologie dieser Felder ist völlig rätselhaft, spielt jetzt auch für unser Thema der formativen, möglicherweise formativen Felder eine zentrale Rolle. „Man muss immer unterscheiden zwischen den Wirkungen, den registrierbaren Wirkungen solcher Felder und ihrer ontologischen Qualität, die man nicht unbedingt bestimmen können muss, die man bis zu einem gewissen Grade auch auf sich beruhen lassen kann. „Entgegen der herrschenden Überzeugung sei hier die Behauptung aufgestellt, die aus dem an anderer Stelle Gesagten schon implizit hervorgeht: dass die Radialfelder der Gestirne diese Schwerewirkungen auslösen, sich nicht vollständig durchdringen.“ Und so weiter, das muss ich hier nicht im Einzelnen ausführen.

Also Felder sind immaterielle Wirkungszonen im Raum. Das ist wichtig. Sie sind auf eine rätselhafte Weise in den Raum eingelagert, vielleicht auch in das Vakuum eingelagert, ohne dass sie in einem direkten Sinne nun gleichzusetzen wären mit dem Raum. Das führt auf Theorien, die immer auch eine gewisse, sagen wir mal, vordergründige Vereinfachung darstellen, wenn man sagt: Weil diese Felder in den Raum eingelagert sind, sind sie in gewisser Weise dieser Raum selbst.

Jetzt die Frage also, was ist die Ursache dieser Formen? Wie kann man das denken? Es hat im Laufe der geistigen Entwicklung verschiedene grundlegende Ansatzpunkte gegeben, wie man das denken kann. Ganz vereinfacht gesagt zunächst mal am Anfang, hat es folgende Alternativen gegeben, die auch heute noch keineswegs überholt sind und keineswegs nur jetzt philosophische Denkprinzipien wären, sondern die auch praktisch- existenziell relevant sind. Man kann sagen, alle Formen, etwa die Pflanzenformen, einschließlich der Gestaltprinzipien der Morphogenese, sind in gewisser Weise Abbilder eines hinter oder in ihnen wirkenden Urbildes, also platonisch verstanden oder auch platonistisch. Man kann also sagen: Es gibt immaterielle, höhere Wirkprinzipien, im Sinne Platons, gewissermaßen Ideen, die alle physisch-materiellen Gestalten, etwa auch die Formen der Pflanzen bestimmen, die sie tragen und die sie durchdringen. Wenn man jetzt einen heute, ein bisschen, sagen wir mal, modisch beliebten Begriff anführen möchte, dann könnte man sagen: Das sind in gewisser Weise auch Attraktoren. Wir kennen das ja vielleicht aus der Mathematik. In der Kosmologie redet man von den großen Attraktoren, also ungeheure Ballungen von Materie, die im Sinne dieser üblichen kosmologischen Fiktionen und Hypothesen also Schwerkraftwirkungen auslösen oder auslösen sollen. Also Attraktoren. Das bringt natürlich auch eine zeitliche Dimension ins Spiel, denn diese übersinnlichen, überirdischen, häufig ja auch als unwandelbar gedachten Ideen, die nun die irdischen Gestalten formen sollen, da muss ja in irgendeiner Form auch die Zeitdimension reinkommen. Diese Gestalten wandeln sich ja. Es gibt ja einen Prozess der Metamorphose, der besonders bei Pflanzen sehr eindrucksvoll ist. Denken Sie an das, was ich Ihnen erzählt habe über den eigenartigen Raum, der am Scheitel der Stiele in Blüten erkennbar wird, wie das ja Gerhard Adams sehr eindrücklich geschildert hat. Ich habe Ihnen ja diese Stelle vorgelesen. Also wie kommt die Zeitdimension hinein?

Man kann sagen, was in der Zeit in unserer irdisch-sinnlichen Erfahrung sich entfaltet, in einem Nacheinander, ist im Grunde genommen auf dieser anderen, platonisch gesprochen: Ideen-Ebene, nebeneinander oder ineinander. Dann wäre also die physisch-sinnliche Welt, einschließlich der Formung der Gestalten, eine Entfaltung des Eingefalteten, Explikation zu Implikation, von mir aus, mit Nikolaus von Kues gesprochen, kommt hier jetzt nicht so sehr auf feste Begriffe an, im Gegenteil, es ist fasst eher zunächst fruchtbarer, die Begriffe in eine bestimmte fluidale Form zu bringen, sie zu verflüssigen, sie nicht zu schnell festzuzurren, weil durch diese allzu festgezurrten Begriffe geht die Lebendigkeit dieser Vorgänge wieder verloren. Also das kann man denken. Man kann …, das hat man immer gedacht. Es hat immer eine, wie das Sheldrake ganz schön formuliert in diesem Buch „Das Gedächtnis der Natur“ auch eine platonische Biologie gegeben, wie es auch in gewisser Weise eine platonische Chemie, eine platonische Physik gibt. Letzter Abkömmling etwa der platonischen Physik ist ja die Vorstellung unwandelbarer, ewiger Naturgesetze, die sich nicht also ändern im Laufe langer Zeiträume, sondern die Ewigkeitscharakter haben. Das ist ja ein ganz wesentliches Element, das stellt übrigens Rupert Sheldrake ausgezeichnet in diesem Buch dar, das habe ich hier auf der Literaturliste. Da muss man gar nicht unbedingt jetzt die Sheldrakesche Lehre von den morphogenetischen Feldern jetzt hier ins Zentrum rücken, diese Neufassung, Adaption dieser alten Lehre aus den 20er Jahren, aber das ist sehr klug und auch kenntnisreich, materialreich dargestellt, die Frage der Philosophie der Form, die uns noch hier beschäftigen wird. Ich werde hier noch einige Passagen dann auch mal vorlesen.

Also, das kann man platonisch sehen. Das ist interessant, auch fruchtbar, hat aber auch Nachteile, weil die Zeitdimension dabei unterzubringen schwierig wird. Nicht, das ist schwierig. Wie soll denn die Zeitdimension da ins Spiel kommen? Das in Zahlen sich entfaltende Abbild des Einen, nannte Platon die Zeit. Gut.

Dann kann man das im Sinne seines Schülers und Dissidenten Aristoteles ganz anders deuten, die Frage der formativen Prinzipien. Das wissen Sie bestimmt, der Begriff der Entelechie, nicht, den Aristoteles geprägt hat, den dann im 19. Jahrhundert der Embryologe, Biologe und Naturphilosoph [Hans] Driesch wieder aufgegriffen hat. Also die Frage der Entelechie. Da ist das Wort Telos drin, das heißt so viel wie Ziel, also eine Zielvorstellung, Entelechie. Ein Organismus hat immanent dieses Telos in sich, also nicht dualistisch gesehen. Wenn man Platon dualistisch sehen will, das muss nicht so sein. Das kann man aber so interpretieren. Aristoteles hat es so gesehen, hat seinen Lehrer Platon genau deswegen kritisiert. Aber man kann Platon auch anders deuten, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Also wenn man das jetzt nicht dualistisch sieht, dann kann man sagen, dass diese Formprinzipien etwa im Pflanzenwachstum immanent sind. Sie sind also im sich entwickelnden und gestaltenden Pflanzenwesen enthalten. Wie sind sie enthalten? Sind sie immer anwesend? Man kommt ja auch wieder auf die Frage, wenn es eine Entelechie ist, dann ist ja auch die Vorstellung des Telos drin enthalten, der Teleologie. Und dann bleibt die Frage sofort, kommt sofort auf: Wo ist denn dieses Telos, die vollendete Gestalt im Ursprung? Ist sie in irgendeinem geistig-seelischen höheren Raum bereits enthalten und zieht sie gewissermaßen, um nochmal den Attraktor-Begriff anzuführen, zieht sie gewissermaßen die organische Gestalt einschließlich vielleicht des vertikalen Längenwachstums in diese Richtung, auch evolutionär auf der Zeitlinie, der rhythmisch zu verstehenden Zeitlinie gedacht? Das ist auch zu denken, also als platonische Idee, höhere Ebene, physisch-materielle Ebene, das kann man dualistisch denken und als Entelechie, von innen heraus.

Da bleibt natürlich genauso die Frage nach der Realität, auch nach der ontologischen Wirklichkeit dieser Entelechie. Erschöpft sich die Entelechie einer Pflanze in der letztlich dann erreichten Form, wenn es diese überhaupt gibt, da es ja eine ständige Metamorphose ist? Man kann ja auch sagen, es ist nur die Blüte, nur die Blüte. Anthroposophen z.B. sagen, nur in der Blüte zeigt sich in einem kurzen Moment, eine gewisse Phase, unterschiedlich lang, das eigentlich Seelische, das Seelisch-Geistige der Pflanzen. Was bedeutet dann in diesem Prozess das Blühen? Also das sind Fragen, die sind dann naheliegend und müssen in gewisser Weise auch gestellt und beantwortet werden. Also Entelechie. Und dann kann man natürlich sagen, das hat ja die reduktionistische Naturwissenschaft immer gemacht, seit Darwin sowieso, man kann sagen, das ist einfach genetisch zu erklären. Das ist nur aus den organischen Ursprungskräften zu erklären. Da gibt es überhaupt kein Telos, kein Ziel. Das ist die herrschende Linie formal in der Biologie. Faktisch sieht es völlig anders aus. Man führt ja durch die Hintertür all die teleologischen Forschungen sowieso wieder ein. Man spricht von Teleonomie, und man kommt im Grunde, das stellt Sheldrake sehr schön da, gar nicht aus, ernsthaft, wenn man ernsthaft mit dem Thema sich auseinandersetzt, man kommt gar nicht aus ohne die Vorstellung in irgendeiner Form eines Telos, eines Ziels. Das ist einfach unredlich geistig, wenn man von vornherein sagt, das darf nicht sein. Faktisch ist die moderne Biologie längst teleologisch orientiert, kann gar nicht anders. Selbst die Vorstellung, sagen wir mal, die ja in dem modischen verflachten Sprachgebrauch im genetischen Code angelegt ist, ist ja nichts weiter, wenn man das genau analysiert, was da drinsteckt, ein versteckter Dualismus. Auf der einen Seite wird also die Software, eine Art platonische Idee, verstanden als Computer-Software quasi der Biologie und dazu dann die Hardware, das genetische Programm, ist eine reine Konstruktion, zumal man dann ja auch erklären müsste, was ist denn das überhaupt, was ist denn dieses genetische Programm? Ist das nicht letztlich ein Geistprinzip? Wird damit nicht ein formativer Geist wieder in die Biologie, in die lebenden Organismen eingeführt? Genau das wird abgestritten. Aber wenn man das genauer in seiner Argumentationsstruktur analysiert, stellt man fest, dass es letztlich dualistisch ist, dualistisch, und dass man hier letztlich von der Eigenexistenz, von der Wirkkraft des Geistes ausgeht, obwohl man es reduktionistisch leugnet. Das ist ein eigenartiger Zirkel, den man überall in der Biologie beobachten kann, übrigens auch in der Neurophysiologie.

Dann gibt es natürlich die Vorstellung, die mit dem Entelechie-Gedanken eng verbunden ist, die mit dem Schlagwort „Vitalismus“ verbunden ist. Nun gilt der Vitalismus als widerlegt. Die Biologen, die werfen nur, wenn man das Wort „Vitalismus“ auch nur anspricht, lehnen sich sozusagen hochmütig zurück. Das gibt sozusagen nichts, was widerlegter wäre. Das ist auch sehr vordergründig gedacht, denn der vitalistische Grund­gedanke ist nicht so ohne Weiteres aus den Angeln zu heben. Der vitalistische Grund­gedanke sagt ja nichts weiter, als dass es ein Lebensprinzip gibt in der physisch-materiellen Welt, was die organischen Gestalten entstehen lässt, was sie am Leben erhält, was sie durchträgt, was überhaupt das Lebendige ermöglicht, und das, nachdem es sich getrennt hat von der physisch-sinnlichen Materie, dann auch den Tod bewirkt, die Dissoziation. Das ist ja kein dummer Gedanke, auch kein oberflächlicher Gedanke, kein primitiver Gedanke, sondern zunächst einmal ein sehr naheliegender Gedanke. Das kann man ganz verschieden deuten. Ich meine Hans Driesch, der ja als der Begründer des modernen Vitalismus gilt, hat das überhaupt nicht metaphysisch oder mystisch gedeutet. Der meinte, dass seien sozusagen natürliche Kausalfaktoren in den Dingen selber, der hat das immanent gedeutet. Das ist eigentlich nicht dumm.

Im Übrigen gibt es ohnehin eine Renaissance des Vitalismus. Ich habe hier vor vier Jahren auch in einer Vorlesungsreihe im Sommersemester, wenn ich es richtig im Kopf habe, über diese Renaissance auch des Vitalismus gesprochen. Ich glaube auch kaum, dass man ernsthaft an diese Fragen herangehen kann, ohne bis zu einem gewissen Grade auch vitalistische Prinzipien heranzuziehen. Man kann das ausklammern, man kann sagen Entelechie, platonische Idee, Vitalkräfte oder gar Bildekräfte ̶ das sind alles Konstrukte menschlicher Phantasie, anthropomorphische Spekulationen, die man in die Natur hineingibt? Das ist zu billig. Denn wenn man tiefer fragt, dann kommt man, wenn man nicht in einem heillosen projektiven Zirkelschluss sich befinden möchte, kommt man ohne diese Prinzipien gar nicht aus. Also, insofern kann man mit gutem Recht diese Dinge wieder aufgreifen.

Und ja, das war ungefähr das, was ich auch gedacht habe. Jetzt ist es Neun. Ich will nach der Pause Ihnen versuchen zu zeigen, wie man das weiterdenken kann, wie man möglicherweise auch diese platonische, aristotelische, vitalistische, andersweltliche Dimen­sion im Wachstumsprozess der lebendigen Organismen zusammendenken kann. Ich glaube nämlich, dass diese verschiedenen Ansätze im Kern, in der Substanz, auf das Gleiche zulaufen und letztlich genauer betrachtet mit ganz ähnlichen Erklärungsprinzipien auch arbeiten, das ist gar nicht so verschieden voneinander. Und das führt noch mal auf die Frage des anderen und höheren Raumes. (…)

Ich habe vorhin noch etwas vergessen, was ich mit vorlesen wollte, was ich jetzt tue, zum Feldbegriff. „Feld, englisch „field“, ist in der ältesten erkennbaren Wortbedeutung eine offene Ackerfläche, ein genau abgegrenzter Bezirk landwirtschaftlicher Aktivität, wie ein Kornfeld oder ein Reisfeld angelegt wurde, [ers] war nicht Wildnis oder Wüste. Im Feld wurde die als lebendig geachtete Natur aufgerufen, ihre schöpferische Potenz in den Dienst des Menschen zu stellen. Das Feld war die Fläche, die man abschreiten und ausmessen konnte, also ein sichtbares, greifbares Stück Erdoberfläche. Zugleich aber war dieses Stück Erdoberfläche, das den Samen aufnahm und keimen ließ, ausgestattet mit der ganzen Potenz und Kreativität der Erde überhaupt. Jedes Feld war gleichsam ein Stück praktizierter Demeter-Kult, war gezielte Anrufung der großen Kraft der Erdmutter. So war das Feld nicht nur Fläche und damit messbare Materie, sondern zugleich immaterielle Form und Gestaltungskraft, also Kraft der Demeter.“ Das ist der Ursprung von „field“. Erstaunlich, dass dieser Begriff dann so eine Karriere gemacht hat, wie gesagt.

Schon zu Faradays Zeiten, also vor 150 Jahren, war diese ursprüngliche Bedeutung überschritten und weitläufig ausgedehnt worden, ohne sich jedoch, und das ist ganz wichtig, gänzlich zu verlieren. Und noch der physikalische Begriff des Feldes enthält Restbestände der Ursprungsbedeutung, und zwar bis heute. Nur weil dies so ist, konnten Naturphilosophen wie Helmut Friedrich Krause oder Rupert Sheldrake auf je verschiedene Weise den Feldbegriff neu beleben und ihn gegen den herrschenden Abstraktionismus ins Feld führen. Auf meine Weise verfolge ich ein ähnliches Anliegen. Auch in meinem Verständnis von Feld ist Demeter und der Demeter-Kult mitgedacht, was schon indirekt deutlich geworden ist in meinen Überlegungen zur Bewusstseinsqualität des Radialfeldes der Erde. Das wird uns ja noch beschäftigen, die Frage des Demeter-Kultes. Das nur als Ergänzung.

Also Feld im Sinne von „field“, ursprünglich tatsächlich ein lebendig-organisch bezogener Begriff, der dann zunehmend erst einmal seines Lebens verlustig ging und heute eine abstrakte Größe ist, die beliebig verwendet und eingesetzt werden kann und erst einmal erneut mit Leben gefüllt werden muss, damit man diesen Begriff in der Biologie fruchtbar machen kann.

Ich darf noch einmal erinnern, ich hatte Ihnen die verschiedenen Ansatzmöglich­keiten vorgestellt, wie man die organische Form, wie man auch die pflanzliche Form einschließlich des Pflanzenwerdens verstehen, wie man das denken kann. Und ich hatte angedeutet, dass man möglicherweise diese verschiedenen Ansätze, also die platonische, die aristotelische, die vitalistische, die spirituell-andersweltliche, um das mal so zu nennen, zusammendenken kann. Es ist interessant, dass die viel geschmähten Scholastiker, noch rückgreifend auf die antike Philosophie, vier verschiedene Arten von Ursachen kannten, die man hier auch heranziehen könnte. Sie werden das wahrscheinlich wissen, ich sage es trotzdem nochmal: Die Scholastiker unterschieden die causa efficiens, das war die Wirkursache, also das, was zeitlich gesehen, genetisch, einem Prozess, einem Geschehen, einem Ding zugrundeliegt, also zeitlich gesehen dahinter liegt. Causa efficiens, Wirkursache, das [ist] im Wesentlichen die Ursache, die die Naturwissenschaft anerkennt, an der [sie] sich orientiert. Dann gab es die causa materialis, das war der Stoff, aus dem etwas entstand. Dann gab es, und das wird interessant, deswegen führe ich das an, eine eigene Ursache, causa formalis, eine Form-Ursache, also eine causa materialis, eine causa formalis, unterschieden also von Stoff und Form, was ja, wie Sie wahrscheinlich wissen, zu einer endlosen Debatte geführt hat: Gibt es auch Stoff ohne Form und Form ohne Stoff, die ganze Frage nach dem Substrat, dem materiellen und auch feinstofflichen Substrat und den formativen Energien. Nach allem, was wir wissen, nach allem, was wir empirisch feststellen können und nach allem, was wir auch in höheren Bewusstseinsschichten erschließen können, muss es tatsächlich diese Zweiheit geben, ohne dass man sie unbedingt dualistisch deuten müsste. Ein Substrat, also Substrat-Ebene und eine formative Ebene. Und dann hatten die Scholastiker, auch jetzt zurückgreifend auf die alte Philosophie, auch noch eine causa finalis, also eine Ziel-Ursache oder Zweckursache. Damit kam also die Frage des Telos, der Teleologie ins Spiel, oder um noch einmal diesen mathematischen Begriff zu benutzen, die Frage des Attraktors. Ich meine, der ist mathematisch abstrakt, aber so schlecht ist der Begriff gar nicht. Er transportiert doch ein Stück weit auch etwas an Einsicht. Das kann man ja auch räumlich verstehen. Der Attraktor im Sinne der angedeuteten Levitationstendenz in diese vertikale Richtung, also Entlastung in die kosmischen Weiten hinein, formative Prozesse vermittelt über das kosmische Licht. Das ist eine Bedeutungsschicht, das kann man dann genauso zeitlich, evolutionär verstehen. Also Attraktor des evolutiven Prozesses. Das heißt: Was ist der Attraktor des evolutiven oder evolutionären Prozesses? Beide Adjektive sind ja möglich. Was ist der große Attraktor? Ist es ein höheres Bewusstsein, ein möglicherweise Atman-Bewusstsein, ein kosmisches Bewusstsein, und alle anderen sind nur stufenmäßige Hinführungen daraufhin, oder hat jede Stufe ihre eigene Würde? Jede Stufe ist im Sinne von Leopold von Ranke, jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, jede Stufe ist unmittelbar zu Gott, nicht nur einfach eine Stufe.

Die These, die ja Sheldrake aufgestellt hat vor 20 Jahren, womit er weltberühmt geworden ist, muss ich hier nicht im Einzelnen darstellen. Mir geht es jetzt nur um einige Aspekte, die ich für meinen Ansatz fruchtbar machen kann. Sheldrake hatte ja aus den 20er Jahren einen Gedanken aufgegriffen, der damals nicht weitergeführt wurde. Das war der Versuch der Biologie, einiger Biologen in den 20er-Jahren, die Vorstellung des Feldes, die man aus der Physik kannte, für die Biologie fruchtbar zu machen. Also zu sagen, es gibt in allen lebendigen Organismen, um alle lebendigen Organismen herum, quasi Felder, formative Felder und auch Felder, die die einmal erreichte Gestalt aufrechterhalten und diese dann auch weiter transportieren an die nachfolgenden Generationen, in Anführungs­zeichen. Hier wird von der Annahme ausgegangen, dass diese Felder, die schon damals morphogenetische Felder genannt worden sind, physikalisch real sind, und zwar in dem Sinne wie auch die Felder der Physik. Es wird angenommen, [Aron] Gurwitsch und andere haben das auch schon angenommen vor 80 Jahren, dass jede Art von Zellen, Geweben, Organen und Organismen ihre eigene Art von Feldern hat. Was schon ein eigenartiger Gedanke ist, der ist einerseits interessant, andererseits ist er auch wieder eine Schwäche dieser Vorstellung, dass tatsächlich alle Arten von Zellen, Geweben, Organe, Organismen eigene Felder haben soll. „Diese Felder gestalten, organisieren die Entwicklung von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren und stabilisieren die Form des ausgewachsenen Organismus. Dies können sie aufgrund ihrer eigenen räumlich-zeitlichen Organisation. Das neue an der Hypothese der Formbildungsursachen, wie er das nennt. besteht in der Idee, dass die Struktur dieser Felder“ ‒ jetzt kommt der entscheidende Punkt, den ich dann als Ansatzpunkt nehmen möchte ‒ „dass die Struktur dieser Felder“, also was er dann mor­phische oder morphogenetische Felder nennt, das wird oft synonym verwendet, ist aber nicht das Gleiche, morphogenetische Felder sind eine Unterart der morphischen Felder, das Neue an der Hypothese der Formenbildungsursache besteht in der Idee, „dass die Struktur dieser Felder nicht von transzendenten Ideen oder zeitlosen mathematischen Formeln bestimmt ist, also nicht platonisch, sondern sich aus den tatsächlichen Formen ähnlicher Organismen der Vergangenheit ergibt. Das heißt, dass diese Felder existieren, und damit sie ihren Zweck, in Anführungszeichen, erfüllen können, muss es bereits die Gestalt, die Form geben. So werden etwa die morphogenetischen Felder von Fingerhutpflanzen durch Einflüsse geformt, die von früheren Fingerhutpflanzen ausgehen. Sie bilden eine Art kollektive Erinnerung dieser Art. Jedes Exemplar der Art wird von den Artfeldern geformt, gestaltet selbst aber auch diese Artfelder und beeinflusst damit künftige Exemplare seiner Art.“ Das Buch heißt im englischen Original „The Presence of the past“, also die Gegenwart der Vergangenheit, was eigentlich noch treffender ist als das Gedächtnis der Natur.

Das heißt, ein wesentlicher Ansatz liegt hierin, dass gesagt wird: Die formativen Prozesse der Natur laufen über das Gedächtnis. Das heißt, diese Felder speichern in gewissen Maßen diese formative Kraft, transportieren sie weiter. Wie könnte dieses Gedächtnis wirken? Naheliegende Frage, wie wirkt das überhaupt? Die Hypothese der Formenbildungsursachen postuliert, dass es eine Art von Resonanz, die wir morphische Resonanz nennen, [gibt]. Resonanz-Phänomene spielen in vielfältigen Feldern, auch in der modernen Naturphilosophie, eine wichtige Rolle. Sheldrake hat schon vor zwanzig Jahren den Begriff der morphischen Resonanz geprägt, der ein fruchtbarer Begriff ist, mit dem man wirklich arbeiten kann. Das ist also ein quasi Schwingungs-Phänomen, auch ein musikalisches Phänomen, wenn man das so nennen will, das auf Resonanz beruht. „Morphische Resonanz wiederum beruht auf Ähnlichkeiten. Je ähnlicher ein Organismus früheren Organismen ist, desto stärker die morphische Resonanz. Und je mehr solche ähnlichen Organismen es in der Vergangenheit gegeben hat, desto stärker ist ihr kumulativer Einfluss. Eine sich entwickelnde Fingerhutpflanze steht in morphischer Resonanz mit zahllosen früheren Pflanzen ihrer Art und diese Resonanz formt und stabilisiert ihr morphogenetisches Feld.“

Nun, ist das natürlich .., Sheldrake behauptet, das würde ohne Energietransfer ablaufen, dass sie nicht mit einem Energietransfer von einem System auf das andere verbunden sind. Dann behauptet er weiter eine sehr weitreichende und kühne Hypothese, die naturgemäß sich nicht verifizieren lässt, dass diese morphische Resonanz eine Art Fernwirkung eigener Art bedeutet, die sich nicht abschwächt mit der Zeit und mit der räumlichen Distanz, also keine Abschwächung erfährt, sondern ungebrochen in ihrer Wirkkraft erhalten bleibt. Nun ist das eine, Sie wissen das, eine viel diskutierte Hypothese, mittlerweile ja schon fast im Sprachgebrauch nicht nur des New Age, sage ich mal, morphogenetische Felder, das ist so wie eine Münze, die so herumgereicht wird, wird ständig verwendet, auch sehr unreflektiert und oberflächlich, aber das ist fast jedermann geläufig.

Nun hat das natürlich .., es ist auch erst einmal interessant und suggestiv, hat natürlich, wirft eine schwierige Frage auf, die Sheldrake natürlich kennt und die er unbeantwortet lassen muss. Die Frage stellt sich sofort: Wenn das tatsächlich so ein Feld ist, was die Form über lange Zeiträume transportiert, was sich nicht abschwächt, was zurückgeht auf bereits existierende Gestalten ̶ wie entsteht dann überhaupt Neues? Das ist ja eine Frage, die sich sofort stellt, die er aufstellt und unbeantwortet lässt. Er sagt, diese Frage kann er nicht beantworten.

Nun ist die Frage natürlich eine Schlüsselfrage dieser Art von Gedankengängen: Wie entsteht Neues? Man kann natürlich sagen, es entsteht gar nichts Neues, es gibt nichts Neues unter der Sonne. Alles ist nur eine ständige Metamorphose bereits vorhandener Grundstrukturen. Das, was wir als das Neue empfinden, ist gar nicht neu. Es ist nur das ewig Alte. Das kann man auf der einen Seite sehr, sagen wir mal, begrüßen und frohgemut darüber reden. Auf der anderen Seite hat das natürlich auch etwas Erschreckendes, dass gar nichts Neues entsteht, dass es eigentlich immer nur ein Sich-Ausfalten des Alten darstellt. Das läuft ja letztlich dann doch auch wieder in einen platonischen Gedankengang hinein. Das meint er aber nicht. Also wie entsteht Neues? Die Frage ist ungeklärt. Ich habe noch keinen, noch niemanden, ich betone, kein Biologen, kein Naturphilosophen, kein Naturwissenschaftler hat jemals eine wirklich überzeugende Antwort auf diese Frage gegeben, wie Neues entsteht. Alles, was ich bisher gelesen habe, sind nichts weiter als Vermutungen, Spekulationen, Gedanken, waghalsige Behauptungen. Eine der … und häufig genug nichts weiter als ein Spiel mit Metaphern. Das muss man auch kritisch dazusagen, häufig genug werden einfach Metaphern benutzt, die wenig Inhalt transportieren.

Eine dieser Metaphern, die gerne benutzt wird in dem Zusammenhang, das werden Sie wissen, wenn Sie die Literatur ein bisschen kennen, ist Emergenz. Emergenz, selbst organisierende Systeme, auch so ein wunderbarer Modebegriff, der nach meiner Überzeu­gung auch weniger transportiert, als es zunächst erscheint. Selbstorganisierende Systeme sollen emergieren, sollen von einem bestimmten Komplexitätsgrad dann in einem Sprung das Neue schaffen oder etwas Neues. Natürlich ist es nur eine Behauptung. Das kann, wenn man die ungeheuere Vielfalt der lebendigen Welt, die erschütternde Vielfalt, die Farbigkeit, die Fülle auch der Dinge sich anschaut, dann mutet das zumindest eigenartig an, dann hat man doch, sagen wir mal, fast möchte ich sagen, naiv die Vorstellung, dass es mit den Formen in der Natur noch eine andere Bewandtnis haben müsste, dass sie verweisen auf Formprinzipien dahinter, die einen wesentlich tieferen Sinnzusammenhang haben, mit uns übrigens auch, mit dem Menschen. Das würde dann auch erklären, warum wir spontan, auch ästhetisch, emotional und spirituell auf diese Formen reagieren, was wir ja tun, was jeder Mensch in irgendeiner Form ganz elementar, auch wenn er das gar nicht reflektiert, tut. Was sind diese immer wieder neu und doch auch neu-alt entstehenden Formen? Man kann sagen, dass wahrscheinlich im Gesamtzusammenhang diese Formen nur erklärt werden können, das möchte ich mal als jetzt nicht weiter zu stützende Hypothese in den Raum stellen, wenn man davon ausgeht, dass kosmische Systeme grundsätzlich Organismen sind. Ich habe ja oft gesagt, auch in diesem Hörsaal, und sage es auch jetzt wieder, dass ich nicht glaube, dass aus unorganisch-materiellem, rein immanent, physikalisch, chemisch, biolo­gisch Erklärbarem in irgendeiner Form Leben entstehen kann. Ich glaube, dass, und dafür spricht viel, dass das Lebendige, das Leben überhaupt das Grundprinzip, die Basis in gewisser Weise das Alpha und Omega der gesamten Entwicklung ist und auch organisch-lebendig beseeltes Leben, das heißt Leben, was auch in den evolutionären Prozess auf höheres Bewusstsein zielt, Träger höheren Bewusstseins ist, dass die Welt in toto organisch ist.

Einer der Denker, die das wunderbar vor über 200 Jahren auf den Punkt gebracht hat, war Schelling, der, das muss man nicht so übernehmen, wie er das damals formuliert hat, aber er hat auf eine wunderbare Weise gezeigt, dass man die Vielfalt der organischen Welt oder dass man sich der Vielfalt der organischen Welt am sinnvollsten annähert, wenn man von dem kosmisch, von den kosmischen Systemen als einem Total-Organismus ausgeht, und dass man … dann muss man auch unterstellen, dass es in einem in toto lebendigen Kosmos natürlich auch Wechselwirkungsphänomene gibt, vielleicht auch Resonanzphänomene, vielleicht wirklich Attraktoren gibt, die aus anderen Gestirnen und anderen Planetensystemen, Sternensystemen sozusagen im Sinne dieses Attraktors auch die Formen schaffen. Dann wäre es möglich, rein hypothetisch, dass die Formen, die hier entstehen, nicht einfach neu sind, auch wenn sie uns neu erscheinen, sondern dass sie uralt sind, lange vorgeprägt im kosmischen Gesamtzusammenhang und sich sozusagen ent­wickeln im Sinn des Attraktors, zu einer Form gezogen werden oder Erinnerungsvorgänge sind, dass sich sozusagen aus einem Erinnerungsvorgang heraus die Form neu schafft. Damit ist man dann bei einem vollkommen anderen, … bei einer vollkommen anderen Dimension.

Das muss man Sheldrake immerhin zugute halten, es gibt bei ihm Überlegungen in diese Richtung, dass auch er …, er vertritt auch gelegentlich die Auffassung, dass es eine morphische Resonanz in kosmischer Größenordnung geben könnte und dass von dort her die Formen erklärt werden könnten. Mal eine kleine Passage nur von Schelling. Ich lese Ihnen das mal vor, weil der Text wird Ihnen sonst nicht geläufig sein. Und das ist in der Sprache der Philosophie der damaligen Zeit geschrieben, aber auf eine wunderbare Weise bringt er diese Dinge hier auf den Punkt. Ich lese das mal vor, eine kleine Passage, Schelling, 1797: „Im Zweckmäßigen durchdringt sich Form und Materie, Begriff und Anschauung. Eben dieses ist der Charakter des Geistes, in welchem Ideales und Reales absolut vereinigt ist.“ Das hat die Menschen damals kolossal bewegt, die intellektuelle Elite bewegt. Wie ist das möglich? Die Fragen sind heute, werden heute gestellt, sie sind auch damals gestellt worden. „Daher ist in jeder Organisation etwas Symbolisches, und jede Pflanze ist sozu­sagen der verschlungene Zug der Seele.“ Das ist echt poetisch, metaphorisch, buchstäblich in Anführungszeichen. „Jede Pflanze ist sozusagen der verschlungene Zug der Seele, da in seinem Geist ein unendliches Bestreben ist, sich selbst zu organisieren.“ Interessant ist, dass der Begriff der Selbstorganisation bei Schelling schon auftaucht. „So muss auch in der äußeren Welt eine allgemeine Tendenz zur Organisation sich offenbaren. Das Weltsystem ist eine Art von Organisation, das sich von einem gemeinschaftlichen Zentrum aus gebildet hat. Die Kräfte der chemischen Materie sind schon jenseits des bloß Mechanischen. Selbst rohe Materien, die sich aus einem gemeinschaftlichen Medium scheiden, schießen in regelmäßigen Figuren an. Der allgemeine Bildungstrieb der Natur verliert sich zuletzt in einer Unendlichkeit, welche zu ermessen selbst das bewaffnete Auge nicht mehr fähig ist. Der stete und feste Gang der Natur zur Organisation verrät deutlich genug einen regen Trieb, der mit der rohen Materie gleichsam ringend, jetzt siegt, jetzt unterliegt, jetzt in freieren, jetzt in beschränkteren Formen sich durchbricht. Es ist der allgemeine Geist der Natur, der allmählich die rohe Materie sich selbst anbildet. Vom Moosgeflecht an, in dem kaum noch die Spur der Organisation sichtbar ist, bis zur veredelten Gestalt, die die Fesseln der Materie abzustreifen zu haben scheint, herrscht ein und derselbe Trieb, der sie nach einem und demselben Ideal von Zweckmäßigkeit zu arbeiten, ins Unendliche fort und dasselbe Urbild, die reine Form unseres Geistes auszudrücken bestrebt ist.“

Das ist der entscheidende Punkt. Die reine Form des Geistes ̶ das ist das Telos, gewissermaßen. „Es ist keine Organisation denkbar ohne produktive Kraft. Ich möchte wissen, wie eine solche Kraft in die Materie käme, wenn wir dieselbe als ein Ding an sich annehmen“, also wenn sie nur Außenwelt wäre im Sinne Kants. „Es ist hier kein Grund mehr, in Behauptungen vorsichtig zu sein. An dem, was täglich und vor unseren Augen geschieht, ist kein Zweifel möglich. Es ist produktive Kraft in Dingen außer uns. Eine solche Kraft aber ist nur die Kraft eines Geistes. Also können jene Dinge keine Dinge an sich, können nicht durch sich selbst wirklich sein. Sie können nur Geschöpfe, Produkte eines Geistes sein. Die Stufenfolge der Organisationen und der Übergang von der unbelebten zur belebten Natur verrät deutlich eine produktive Kraft, die erst allmählich sich zur vollen Freiheit entwickelt. Es ist also notwendig Leben in der Natur, so wie es eine Stufenfolge der Organisationen gibt, so wird es eine Stufenfolge des Lebens geben.“ 1797, müssen Sie bedenken, ist das formuliert. „Nur allmählich nähert sich der Geist sich selbst an, denn nur das Leben ist das sichtbare Analogon des geistigen Seins.“ Und so weiter.

Also sehr tiefsinnige, großartige und weitreichende Überlegungen, die hier der damals 22-jährige Schelling in seiner naturphilosophischen Reflexion anstellt. Also die Frage, wie Neues entsteht, lässt sich mit den bisherigen Mitteln des Denkens nicht beantworten. Es ist ein Mysterium und kann auch ruhig als ein solches erst einmal in das Bewusstsein aufge­nommen werden. Es ist etwas, was einer Erklärung und nicht nur einer reduktionistischen Erklärung sich weitgehend entzieht. Es ist ein Rätsel. Wenn wir das in einem höheren evolutionären Kontext sehen, dann ist es wahrscheinlich, dass sich in der Stufenfolge der Wesen, um jetzt nicht den tausendfach abgenutzten Begriff „Evolution“ zu verwenden, der schon wenig mehr aussagt, also in der Stufenfolge der Wesen und ihrer vielfältigen Organisationen sich ein großer Attraktor bemerkbar macht, gewissermaßen der einem Telos zustrebt, was zu tun hat mit Geist; Annäherungsstufen des Geistes an seine eigentliche Gestalt, wobei diese Stufen nicht nur Stufen zu dem Höchsten hin, sondern auch unmittelbar zu Gott im Sinne von Leopold von Ranke sind.

Also, die Gestalten nach meiner Überzeugung, vorsichtig formuliert, die Gestalten­fülle der Natur, die Pflanzen, bei denen sind wir ja, damit beschäftigen wir uns ja in diesem Semester, das sind Formprinzipien, die meiner Überzeugung nach aus diesem höheren oder anderen Raum wirken. Da sind Formprinzipien, die nicht im engeren Sinne, im Anschauungsraum, im dreidimensionalen Anschauungsraum wurzeln, die in diesem ande­ren höheren Raum wurzeln und aus diesem anderen Raum heraus in den physisch-sinnlichen Raum, in die physisch-sinnliche Welt, hineinwirken. Ob das ein Reservoir von Archetypen ist, die kosmischen Ursprungs sind, ist zu vermuten. Das weiß ich nicht. Es ist möglich. Es ist wahrscheinlich, dass wir es hier zu tun haben mit einem ungeheuren Reservoir an kosmischen Archetypen. Das kann man nicht letztgültig beweisen und muss es auch gar nicht. Man kann ruhig an dieser Stelle mit einiger, sagen wir mal, ruhig mal Bescheidenheit und Zurückhaltung sagen: Diese Phänomene müssen sich gar nicht einem reduktionistischen Zugriff erschließen. Alles spricht dafür, dass das in sich unmöglich ist. Man kann diesen Phänomenen und man muss diesen Phänomenen sich grundsätzlich anders nähern.

Und das will ich Ihnen ja auch immer wieder nahelegen, indem was ich sage, das habe ich ja auch schon getan, in der letzten Stunde etwa, will das auch in der nächsten Vorlesung wieder machen, wenn ich Ihnen dann versuche darzustellen, wie man die geistig-seelische Dimension der Pflanzen verstehen kann, wie man sie auch in ihrer mög­licherweise kosmischen Dimension verstehen kann und wie man sich bewusstseinsmäßig diesen Schichten auch annähern kann, ohne dass man nun Techniken nennt, die zu schnellen Ergebnissen führen. Also, das habe ich auch schon mal im Scherz gesagt, ohne dass ich das lächerlich machen will: Setze dich in einer Vollmondnacht unter eine Buche, habe ich, glaube ich, gesagt, und gucke was dann passiert. Das ist auch gut, das zu tun. Ich sage nicht, dass das schlecht ist, aber man muss einfach wissen, dass man dann in einem sehr subtilen und sehr zarten Bereich sich befindet, wo alle Schematismen eher hinderlich sind. Nicht, Sie erinnern sich an meine vorsichtige Kritik an dem Schematismus etwa des Geomanten Stefan Brönnle in seinem Buch „Paradiesgarten“. Nicht, der hatte ja das am Beispiel von Sanssouci entwickelt, habe ich Ihnen ja erzählt. Und dann gibt er eine Zuordnung, und das mündet in einen Schematismus. Und das ist schade, weil das zu einer falschen und letztlich vereinseitigenden Sichtweise führt. Das berühmte Ganzheitliche, von dem so gerne geredet und auch fabuliert wird, geht dabei einfach verloren. Also das versuche ich ja gerade zu erhalten, soweit es jetzt einmal durch Sprache, durch das, was ich hier selbst vortrage, möglich ist. Das ist ja immer nur begrenzt, aber immerhin. Man kann durch die Sprache etwas in den Raum stellen, Gestalt werden lassen, und wer dann das mit vollziehen möchte, der kann es mitvollziehen, wenn er sich da einschwingt. Ich rede ja nicht nur über die Dinge, sondern ich versuche ja, das habe ich ja mehrfach auch gesagt, sozusagen die Sache selber in diesem Moment, in dem ich hier stehe und rede, zur Erscheinung zu bringen. Ich rede nicht von außen darüber, das ist uninteressant, sondern ich versuche es sozusagen in dem Moment von innen her zu verdeutlichen. Und wenn man das mitvollzieht, wenn man das mitvollzieht, konditional, dann hat man ein Stückchen von dem begriffen, worum es mir geht.

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Warum wachsen die Pflanzen? – Licht & Schwere im Pflanzenreich

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 41

Transkript als PDF:


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Ich habe versucht, in der letzten Vorlesung Ihnen relativ ausführlich und breit, und ich meine auch differenziert, vielleicht auch subtil, wie immer, darzustellen, was ich unter dem so genannten Pflanzen-Selbst verstehe. Ich habe Ihnen Beispiele gegeben, wie man das denken kann, wie man das in Zusammenhang bringen kann mit Vorstellungen, auch in verschiedenen Traditionen, etwa die Lehre von den Koshas habe ich erwähnt, der Hüllen, der feinstofflichen Hüllen des Menschen bzw. des menschlichen Körpers. Und ich habe Ihnen versucht zu erläutern, dass da eigentlich zwei Aspekte in meinem Verständnis drinstecken. Einerseits ist das Pflanzen-Selbst eine Art integraler Teil der menschlichen Gesamtwesenheit. Die Anthroposophen würden vielleicht von Wesensglied sprechen, ein pflanzlich-vegetatives Wesensglied des Menschen, das man auch anders bezeichnen könnte. Und auf der anderen Seite ist das Pflanzen-Selbst eine mediale Zone in der menschlichen Existenz und Gesamtheit, mittels derer er Zugang gewinnen kann zu dem, was ich mit vielen anderen „die planetare Intelligenz“ nenne. Das habe ich Ihnen ausführlich dargestellt, und da möchte ich anknüpfen und möchte versuchen, den nächsten Schritt zu vollziehen.

Die nächsten drei Vorlesungen, heute, in einer Woche und in zwei Wochen gehören in gewisser Weise zusammen, sind der nächste Block, die Frage: Warum wachsen die Pflanzen? Polarität von Licht und Schwere im Pflanzenreich, dann: Die Pflanze, das Licht und der Raum in einer Woche ‒ gibt es einen höheren oder anderen Raum? Und dann die Frage nach dem Ursprung der Formen, nach der Morphogenese: Felder, Seelen, Formungs­kräfte ‒ zum Ursprung der Formen in der Natur.

Am Ende der letzten Vorlesung bat mich ein Zuhörer, einen kleinen Irrtum zu korrigieren, der mir unterlaufen sei im Hinblick auf die Frage des Wirkstoffes in dem Kaktus Peyote. Sie werden sich erinnern, wir hatten am Ende eine Diskussion über Peyote, weniger über den Aspekt der psychoaktiven Wirksamkeit von Peyote, das wird uns noch beschäftigen in einer späteren Vorlesung, 18.6., „Pflanzen der Götter“, als um den chemisch destillierbaren, herausdestillierbaren Bestandteil, das ist also nicht, wie ich gesagt habe, Psilocybin sondern Meskalin. Das ist korrekt, ich bin darauf angesprochen worden. Ich hatte Psilocybin gesagt. Also dieses Psilocybin als Alkaloid ist im mexikanischen Zauber­pilzen enthalten und offenbar nicht in den Kakteen. Ich habe das nochmal in einem Spezial­buch darüber nachgelesen. Also der Betreffende, der mich darauf angesprochen hat und mich bat, dass ich das korrigiere, hat Recht. Ich war im Moment unsicher und habe das nochmal also nachgeschlagen.

Nun ist die Frage, die ich als Leitfrage für heute Abend formuliert habe ‒ warum wachsen die Pflanzen? ‒ ja eine Frage, die sehr komplex, sehr vielschichtig, sehr fein gebaut ist. Es geht ja nicht nur um die Frage, warum wachsen Pflanzen in die Höhe? Das ist ja die eine Wachstumsrichtung, die Pflanzen wachsen ja genauso sehr Richtung Erdmittelpunkt, verzweigen sich in die Tiefe. Übrigens vorzugsweise nachts und auch in die Breite. Es geht natürlich auch um die Frage, wie solche Prozesse überhaupt zu verstehen sind. Und deswegen sagte ich, dass die drei Vorlesungen zusammengehören. Denn in 14 Tagen will ich auch sprechen über die Frage der Morphogenese, Überlegungen zum Ursprung der Form in der Natur. Und da werden wir nochmal diese Fragen besprechen, wie es überhaupt möglich ist, dass sich aus kleinsten Ursachen so ungeheure Wirkungen entfalten können, was im Letzten ein Mysterium darstellt. Soweit ich die Literatur kenne, ist das nicht letztgültig erklärt und verstanden. Das ist letztlich immer noch ein großes Mysterium, warum überhaupt diese Wachstumsprozesse erfolgen, wie wir sie ja zum Beispiel jetzt im Frühling erleben, was ja eine eigenartige, sagen wir mal, Befindlichkeit in uns auslöst. Denken Sie an das, was ich in der ersten Vorlesung gesagt habe über die kollektive Verlegenheit, die bei Menschen generell entsteht, wenn die Gerüche sie durchwalten und durchweben und wenn Schönheit so elementar, so tief anrührend aufbricht, dann gibt es eine Hilflosigkeit im Menschen. Was macht er damit? Ein tumbes Staunen oder ein kurzes Angerührtsein, und dann ist man schon wieder bei den eigentlich wichtigen Dingen seiner eigenen Existenz oder Biografie.

Die Polarität von Schwere und Licht ist auch immer die Polarität von Schwere und Leichte, in Anführungszeichen, oder Leichtigkeit. Eine Grundpolarität, in der wir uns als Leibwesen ständig befinden, in der wir uns bewegen, die wir in gewisser Weise als Leibwesen sind. Der bedeutende Denker über Fragen des Leibes und der Leibesphäno­menologie Hermann Schmitz hat ja die Leibphänomenologie aufgeteilt in die zwei Pole der Weite und der Enge, also leibliche Existenz als eine ständige Pulsation von Weite und der Enge. Und er hat das auch am Beispiel der Schwere und der Leichte, um mal dieses Substantiv zu verwenden, was es eigentlich gar nicht gibt, plausibel gemacht, was nicht identisch ist mit der Frage, ob das kosmische Licht tatsächlich eine Art antigravitativen Effekt auslöst, in gewisser Weise also schweremindernd wirkt, also die Gravitation ein­schränkt, herabsetzt, vermindert. Das ist nicht das Gleiche, aber es sind zwei Phänomene, die ganz eng miteinander zu tun haben. Ich habe mal eine kleine Stelle rausgesucht aus diesem Buch, Büchlein von Hermann Schmitz „Der Leib, der Raum und die Gefühle“, Sie wissen, ich schätze es sehr, und ich will Ihnen mal eine kleine Stelle vorlesen, wo er auf eine wunderbare Weise dieses polare Wechselspiel von Schwere und Leichtigkeit in der Leibesphänomenologie zeigt. Ich sage das nochmal: Das ist nicht identisch mit der Frage, ob Licht, kosmisches Licht, einen antigravitativen Effekt auslöst. Dies ist hier eine Frage der Empfindung. Denn das muss nicht unbedingt da draußen in der Welt objektiv oder objek­tivierbar ein Korrelat haben. Man kann sich schwer fühlen, sehr schwer, bleischwer, drückendschwer, auch eine Atmosphäre kann drückendschwer sein und [es] kann trotzdem die messbare Gravitation sich nicht verändert haben. Es gibt Empfindungen, Empfindungslagen, wo die Schwere [be]lastend wird.

Eine der eindrucksvollsten Stellen dieser Art, die ich hier gelesen habe, die Literatur stammt aus dem „Weltkrieg II-Tagebücher“ von Ernst Jünger, wo er schildert, wie er gezwungen war, einer Erschießung beizuwohnen. Da schreibt er also suggestiv, wie er immer schwerer wurde. Dieses Grauen dieses Momentes, das mitansehen zu müssen, weil er war als Offizier abgeordnet, hat ihn sozusagen in den Erdboden reingedrückt. Und das wird so suggestiv dargestellt, dass man, wenn man das liest, das nachvollziehen und mit vollziehen kann. Hermann Schmitz „Der Leib, der Raum und die Gefühle“, Gefühle über Schwere und Leichte. Ich lese mal diese Passage vor, ehe wir dann den nächsten Schritt machen. „Gefühle sind räumlich, aber ortlos ergossene Atmosphären.“ Das ist eine Grund­prämisse von Hermann Schmitz, dass Gefühle räumlich sind und nicht einfach nur in der Brust des je Einzelnen. Das sind Atmosphären, die den Raum erfüllen, das wird uns noch beschäftigen im Sinne von Hermann Schmitz, eine Art prädimensionalen Raum, etwas Fluidales, nicht nur subjektiv oder psychologistisch zu erklären, das ist wichtig.

„Diese These wird man für einige Fälle leicht zugeben können, wenn man sich mit den Differenzierungen der Räumlichkeit genügend vertraut gemacht hat und nicht nur für alles, was räumlich ist, einen bezifferbaren Dimensionsgrad, Lagen, Abstände und eine messbare Größe oder Figur erwartet.“ Das nennt Schmitz den Ortsraum. Das ist der mathe­matisch abstrakt-geometrische Raum, der ist nicht der wirkliche Raum, nicht der Raum der Leibeserfahrung, das wird uns noch ausführlich beschäftigen, diese ganzen Fragen. Es gibt sozusagen einen prädimensionalen Raum, den dimensionalen Raum und einen trans­dimensionalen Raum. „Die bereits skizzierte Eigenart der Räumlichkeit des Leibes wird darauf vorbereitet haben. Andere Beispiele liefern die Räumlichkeit des Schalls oder auch die seines Gegenteils, die Stille.“ Wunderbare Aussagen über die Stille. „Eine feierliche oder zarte morgendliche Stille ist weit, eine drückende, lastende, bleierne Stille dagegen eng und dumpf. Beides sind leibverwandte, synästhetische Charaktere.“ Nicht, das erschließt er ja für die Philosophie neu, das war ja bis dato ‒ mit wenigen Ausnahmen ‒ Ludwig Klages und anderen ‒ mehr oder weniger ein Feld der Psychologie, der Befindlichkeit, der Subjek­tivität. Er erschließt das ja für die Philosophie, für das Denken in diesem Sinne also auch für das atmosphärisch Ganzheitliche. „In solcher Weise, wie die ausgeprägte Stille und natürlich nicht als physikalisch interpretierbare Gebilde, sind auch Gefühle räumlich. Für kollektiv zugängliche Atmosphären unter Menschen, ein Beispiel, die Verlegenheit, in die man nichts ahnend hineinplatzt, so dass ihm das Wort auf den Lippen erstirbt, die Albern­heit oder Feierlichkeit eines Festes, die Bedrücktheit, Angespanntheit oder Aufgeregtheit, die sich bei entsprechenden Herausforderungen über Menschen legt und für optisch klimatische Atmosphären, Abendstimmung, Gewitterstimmung dürfte das einleuchten. Es trifft aber auch auf private Atmosphären zu, wenn sie nur einen ergreifen. Ein gutes Beispiel ist die Freude, die den Glücklichen hüpfen oder gar, wie man sagt, in Seligkeit schweben lässt, als ob die Schwere keine Rolle mehr spielte. Es liegt nahe, diese Leichtigkeit und Schnellkraft auf ein gesteigertes leibliches Kraftgefühl, mit dem der Frohe die Gravitationskraft zu überspielen meint, zurückzuführen. Aber diese Erklärung genügt nicht. Das leibliche Befinden, das durch Freude angeregt wird, kann von vielerlei, sogar von gegensätzlicher Art sein.“ Und wo dieses Element, was angesprochen wurde, sicherlich auch hineinspielt, also eine größere Elastizität und Schnellkraft, gesteigertes leibliches Kraftgefühl. „Zwar gibt es die kraftvolle, expansive, hochgespannte Art, sich zu freuen, aber auch die weiche Freude, in die man sich fallen lässt. Und auch die kann dem Ergriffenen das mühelose Angehen gegen die Schwere eingeben. Es ist also nicht die kraftvoll angefachte Leiblichkeit, sondern die Freude selbst als eine Atmosphäre ganz entscheidend, in die der Frohe leiblich spürbar hineingeraten ist.“ Sehr weitgehend, was allem widerspricht, was auch alltags, im Alltagsbewusstsein so gehandelt wird. „Die für sein leibliches Empfinden die drückende Schwere löscht. Wie durch einen Zauberschlag sind alle niederdrückenden Vektoren umgedreht, so dass der Mensch von einer Atmosphäre, die es ihm erlaubt, sich über die Schwere hinwegzusetzen, gleichsam mitgezogen wird. Physikalisch hat sich dadurch natürlich nichts geändert, aber der Mensch kann eben nicht nur als Körper unter dem Einfluss des Schwerefeldes der Erde oder der Schwerelosigkeit kommen, sondern auch als Leib unter den Einfluss einer Atmosphäre des Gefühls von Schwere oder Leichtigkeit anderer, nicht physikalisch messbarer Arten“.

Das hatte ich gesagt, das sind zwei verschiedene Dinge, obwohl beides natürlich ineinander greift, ineinander spielt. Das würde uns noch beschäftigen. Es ist nicht in einem absoluten Sinne zu trennen. Leibesphänomenologisch, Atmosphäre, Schwere, Leichte, nicht vollständig zu trennen von jenem anderen Phänomen. „So verhält es sich auch bei der zur Freude konträren Depression oder Gedrücktheit, in Kummer, Trauer oder Schwermut. Dabei handelt es sich um keine gesteigerte körperliche Empfindlichkeit für die Gravitation, überhaupt nicht um eine auf einzelne Körper verteilte Schwere, sondern um eine ganz­heitliche atmosphärische Schwere von der Art, wie man von drückendem Wetter spricht, das Menschen trübe und missmutig stimmt.“ Und so weiter.

Also eine wunderbare Passage, die man im Grunde zwei-, dreimal lesen, mitdenken, mitspüren müsste, um sie vollgültig zu verstehen. Ich denke aber, zumindest atmosphä­risch ist deutlich geworden, worum es geht. Das ist also eine Komponente aus unserer eigenen Leiblichkeit, die wir auch in Verbindung bringen können mit den Wahrnehmungen der Pflanzen. Und jetzt tun wir den nächsten Schritt. Die Frage ist ja, warum wachsen die Pflanzen ‒ die Polarität von Licht und Schwere im Pflanzenreich.

Ich habe in der ersten Vorlesung am 23. April einen kurzen Satz Goethes zitiert, den ich mir zu eigen machen möchte. „Je älter ich werde, je mehr vertraue ich auf das Gesetz, wonach die Rose und Lilie blüht.“ Das würde ich auch für mich in Anspruch nehmen und sagen, auch vertraue ich auf das Gesetz, wonach die Bäume wachsen, wonach die Jahreszeiten gestaltet werden, wonach überhaupt die Dinge der lebendigen Natur leben und sind. Auf dieses Gesetz vertraue ich immer mehr, je älter ich werde. Und ich staune immer mehr, gerade jetzt wieder erneut in diesem Frühling, ich staune immer mehr und wundere mich, was ich früher alles nicht gesehen habe. Das ist ja, wenn man mal eine Fokussierung vornimmt, eine Wahrnehmungsveränderung in einer bestimmten Richtung, zum Beispiel, welche Wuchsform haben eigentlich Bäume, wie wachsen sie eigentlich? Wie treten die Zweige aus dem Stamm heraus? Hat das was zu tun mit der Frage, ob ein Baum allein steht, ob er in einer Gruppe steht? Hat das was zu tun mit der Himmelsrichtung? Wie sieht es mit der Südseite aus, mit der Nordseite? Hat das was zu tun mit ganz bestimmten Gruppierungen anderer Bäume um ihn herum? Oder wie sind die Blätter gestaltet? Was für eine Atmosphäre löst dieser Baum oder jener Baum, diese Baumgruppe aus? Warum zum Beispiel werden Kastanien gerne bei Restaurants mit Stühlen im Freien gepflanzt? Warum fühlt man sich auf eine eigenartige Weise geborgen unter Kastanien? Warum stehen da nicht Pappeln oder Birken oder Weiden zum Beispiel? Oder Erlen? Wenn das möglich wäre vom Boden her. [Es] stehen eben aus gutem Grund Kastanien [dort]. Und was löst eine Eiche in mir aus? Was lösen Buchen in mir aus? Eine Esche in ihrem hellen .., wenn der Himmel, ein blauer Himmel, durch das Blätterwerk hindurchstrahlt. Eschen sind ja unvorstellbare Bäume. Angeblich, so hab ich es irgendwo gelesen, sollen es die größten Bäume sein, die es gibt. Die eine tasmanische Bergesche soll 91 Meter hoch werden, was ja enorm ist. Da erhebt sich sofort die Frage, wie ist es möglich, dass die Säfte aus dem Erdboden gegen die Gravitation eine so ungeheure Höhe hinauf transportiert werden? Am Tage wohlbemerkt, nachts gibt es eine gegenläufige Bewegung.

Ich habe hier festgestellt, bzw. der Marco Bischoff hatte mir das schon am Telefon gesagt, dass hier ein gewisser Georg Schauberger auch tätig ist. Vermute mal, der Enkel von Schauberger, und sein Großvater Viktor Schauberger hat sich ja mit diesen Fragen sehr intensiv beschäftigt. Wie kommt es zum Beispiel, diese .., wie kommt diese polare Bewegung in den Bäumen in der Kambiumschicht vor allen Dingen zustande, das ist ja ein hochspannendes, hochinteressantes Phänomen, was auch zu tun hat mit der Frage der Photosynthese, diese merkwürdige Fähigkeit, wie kommt das überhaupt, dass aus H2O Wasser, dann Kohlendioxid, wie kann sich da der Chlorophyll bilden? Was geschieht da eigentlich? Wie wird das Licht hier reingezogen? Nicht, der Sauerstoff wird ausgeatmet, von den Pflanzen, Kohlendioxid eingeatmet. Das sagt sich schnell, man kann die chemische Formel überall nachlesen. Das kann man auch als Nicht-Chemiker einigermaßen verstehen. Aber die Frage ist: Was ist das wirklich? Was steckt wirklich dahinter? Was steckt hinter dieser Formel, die man in jedem Chemiebuch oder einem Biologiebuch da nachlesen kann? Also diese Fragen sind kolossal interessant und aufschlussreich.

Ich sage nochmal, was ich vor 14 Tagen auch gesagt habe: Die Empfindungen, die zum Beispiel Bäume im Menschen auslösen, sind nicht der nur subjektiven Seite zuzu­schlagen, die man abgrenzen könnte von dem angeblich allein Objektiven. Das versuche ich Ihnen auch schon in den früheren Vorlesungen klarzumachen. Das versuche ich ständig zu vermitteln, zu überbrücken und verständlich zu machen, dass die Gesamtgestalt der Wirklichkeit immer eine Subjekt-Objekt überschreitende ist. Das habe ich Ihnen gleich am ersten Tag, am 23. April, versucht zu verdeutlichen, dass diese schroffe Trennung, hier sind wir, hier ist unsere subjektive Befindlichkeit, da ist die Außenwelt, so gar nicht möglich ist. Sie ist abstrakt. Sie ist eine Konstruktion unserer Kultur. Eine Konstruktion unserer Kultur, und wir haben es aber trotzdem, und gerade weil es so ist, sehr schwer, in diese Voraussetzung, in das Dickicht dieser Voraussetzung hineinzugehen. Ich habe mal aus ei­nem Buch, was nicht im Literaturverzeichnis ist, weil ich wollte das nicht überfrachten, eine Stelle rausgesucht über die Frage, was Bäume mittels Photosynthese leisten können. Das ist ein Buch, was ich Ihnen wärmstens empfehlen kann, von einem Autor namens Callum Coats, „Living Energy“, auf Deutsch „Natur-Energien verstehen und nutzen ‒ Viktor Schaubergers geniale Entdeckung“.

Vorab will ich sagen, das wird uns noch ausführlicher später beschäftigen, dass ich grundsätzlich von einer planetaren Pulsation ausgehe, von einer planetaren Pulsation, die etwas zu tun hat mit dem Wechselspiel der Verstrahlungsenergie der Gestirne. Ich habe das in verschiedenen Zusammenhängen in diesem Hörsaal hier dargestellt, vor allen Dingen im Wintersemester 1999/2000 und 2000/2001 in einer sehr breiten, ausführlichen Form, auch im Zusammenhang mit der Kritik an der Mainstream-Kosmologie. Das will ich hier nicht tun noch einmal, das würde viel zu weit führen. Aber diese Dinge werden wir ansprechen, immer wieder ansprechen.

Also, in diesem Buch „Natur-Energien“ wird auf eine sehr anschauliche Weise die unvorstellbare Leistungsfähigkeit dieses mysteriösen Vorgangs Photosynthese dargestellt. Hier wird ein Beispiel gegeben, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, obwohl ich relativ selten so eine, sagen wir mal, gleichsam ein Stakkato von Zahlen Ihnen serviere, weil ich immer das Gefühl habe, dass damit das Wesentliche weggeht. Deswegen benutze ich grundsätzlich keine Folien. Ich habe das jetzt wieder auf dem Kongress erlebt, dass alle Vortragenden jagen die Folien durch. Das finde ich einfach absurd, weil das eine Objekti­vierung darstellt, die genau dem Thema der Subjekt-Objekt-Überschreitung widerspricht. Denn wenn man glaubt, man hat ein Diagramm an der Tafel, und glaubt man hätte irgendwas ‒ man hat gar nichts, man hat nichts weiter als ein Gerippe. Eine Beschreibung, die im besten Falle präzise ist, im schlechtesten Falle ist sie extrapoliert und sehr ungenau und wird häufig noch mit ganz waghalsigen Interpretationen versehen. Deswegen mache ich das nicht. Nicht, dass ich es nicht kann, das ist nicht der Punkt, das ist nämlich sehr einfach.

Ich will Ihnen trotzdem mal ausnahmsweise eine Schilderung vorlesen, die mich beein­druckt hat. Zum Beispiel hat mich immer die Frage schon als Kind manchmal beschäftigt, wie viel Blätter hat eigentlich so ein Baum? Habe ich geschätzt. Und Sie können ja auch mal schätzen, zum Beispiel eine ausgewachsene Buche. Was schätzen Sie? Sie werden nicht darauf kommen. Ich wusste es nicht. Ich lese, das sollen sieben Millionen Blätter sein, sieben Millionen Blätter, eine ausgewachsene Buche. Da sind 1,47 Hektar Verdunstungs­fläche. Das ist enorm, das ist wirklich enorm. Eine Birke soll es nur auf 200, 300, 400 000 Blätter bringen. Hier heißt es bei Callum Coats in dem Buch „Natur-Energien“: „Ehe wir die Bäume und ihr Wachstum nach den oben genannten Kriterien näher untersuchen, wäre es wohl angemessen, noch etwas besser zu verstehen, welchen besonderen Beitrag Bäume für die gesamte Umwelt leisten. Dazu verwenden wir das Beispiel eines 100-jährigen Baumes, dessen enorme Leistung Walter Schauberger, der Sohn von Viktor Schauberger, der auch mittlerweile verstorbene Walter Schauberger in den 70er-Jahren für die durchschnittliche Stoffabgabe europäischer Baumarten ermittelt hat. Ich lese Ihnen das mal vor, ausnahms­weise mal jetzt ein kleines Stakkato von Zahlen. Das hat mich doch beeindruckt. „Ein hundertjähriger Baum, der an reinem Kohlenstoff C etwa 2500 Kilogramm enthält, hat im Laufe seines Lebens eine Kohlendioxid-Menge, die in rund 18 Millionen Kubikmeter natürlicher Luft enthalten ist, verarbeitet. In den 100 Jahren seines Lebens 9100 kg CO2 und 3700 Liter H2O photochemisch umgesetzt, etwa 23 Millionen Kilokalorien eingespei­chert, eine Wärmemenge, die in rund 3500 kg Steinkohle enthalten ist, 6600 kg Sauerstoff O2 der Atmung von Mensch und Tier zur Verfügung gestellt. Nicht, die Pflanzen atmen ja quasi den Sauerstoff aus, den wir einatmen. Sie atmen Kohlendioxid ein und Sauerstoff aus, genau reziprok. Innerhalb dieser 100 Jahre hat dieser Baum außerdem mindestens 2500 Tonnen Wasser aus dem Wurzelraum bis in die Krone entgegen der Schwerkraft angeho­ben und in die Atmosphäre verdunstet. Nicht, diese enorme Zugkraft, die mit osmotischen Saugbewegungen, wie es in vielen Biologie-Büchern steht, keineswegs letztgültig erklärbar ist. Diese ungeheure Kraft, mit der die Säfte gewissermaßen aus den tiefsten Tiefen der Erde hinaufgezogen werden, bis in die feinsten Verästelungen der Zweige hinein. Und dann nachts geschieht eine Gegenbewegung, das muss man wissen, dass Pflanzen ja auch zunächst mal nach unten wachsen. Eine Pflanze könnte ja nicht nach oben wachsen, wenn sie nicht im Boden erst einmal verwurzelt wäre. Ein schönes Beispiel übrigens überhaupt für alles Nach-oben-Streben. Es bedarf der Erdung. Da könnte der Mensch wirklich von den Pflanzen viel lernen. Er müsste auch erst einmal nach unten wachsen, ehe er nach oben wachsen kann oder will. „Jeder Baum ist somit eine Wassersäule. Fällt man so eine Säule, die die Atmosphäre kontinuierlich wieder mit Wasser versorgt und auflädt, so geht diese Wassermenge unwiederbringlich verloren.

Doch nun weiter im Wald der Schauberger-Berechnung“, also der Vater dieses jungen Schauberger und Sohn von Viktor Schauberger, dieses großartige Naturforschers, der wirklich genial war. „Dabei wird eine Wärmemenge entsprechend dem Heizwert von rund 25 000 kg Kohle gebunden. Dieser Baum hat einen Wohlstandsbürger mindestens 20 Jahre beatmet. Das lag in der Natur dieses Baumes, dass er, je älter er wurde, umso mehr Sauerstoff produzierte. Wer möchte angesichts solcher Leistungen einen Baum in Zukunft nur nach seinem Holzwert beurteilen? 30000 Kilometer gleich hundertjährige Sauerstoff-Produktion. 20 Jahre versorgte er also einen Menschen neben allen anderen Dingen mit Atmungsstoff. 100 Liter Benzin verzehren [beim Verbrennen] rund 230 Kilogramm Sauer­stoff. Das heißt nach kaum 30000 km Autofahrt [mit] 9,6 Liter Benzin pro 100 Kilometer ist die hundertjährige Sauerstoff-Produktion dieses Baumes vertan.“ Sehr interessant, sich dieses, mal einen Moment sozusagen auf der Zunge zergehen zu lassen. „Will ein Bürger drei Jahre atmen oder 400 Liter Benzin verfahren oder 400 Liter Heizöl oder 400 Kilo­gramm Kohle verbrennen, so ist die Produktion von einer Tonne Sauerstoff O2 durch Photosynthese notwendig.“ Also O2, das abgegeben wird an die Atmosphäre „und dann die photosynthetische Produktion von einer Tonne Sauerstoff erfordert, dann Aufbau von 0,935 Tonnen C4H12O6.“ Und so weiter.

Also mal ein kleines Stakkato von Zahlen, das aber immerhin einen zarten Hinweis gibt auf die unvorstellbaren Fähigkeiten dieser rätselhaften Wesen, die wir Bäume nennen. In dieser unvorstellbaren Ruhe, Souveränität, ja Heiterkeit, Majestät, kann man auch sagen, sind diese rätselhaften Wesen ständig tätig auf eine Weise, die sie mit der planetaren Intelligenz verbindet. Sie nehmen über das kosmische Licht Energie auf, strahlen sie in den Erdboden hinein, nehmen auf dem Erdboden auch Erd-Energie auf, und das Ganze ist ein ständiges Wechselspiel von kosmischem Licht und Reagieren auf die gravitativen Kräfte. Jetzt zur Photosynthese nochmal eine kleine Passage aus diesem sehr schönen Buch von Callum Coats „Natur-Energien verstehen und nutzen“: „Wie die Gezeiten reagieren auch die Pflanzenkräfte mit Ebbe und Flut auf die Anziehung von Sonne und Mond.“ Man kann die Gezeiten auch anders deuten. Ich habe das versucht mit Schwergewicht auf der Sonne, nicht auf dem Mond. Das sei hier nur am Rande erwähnt. Ich halte die herrschende These für schlecht gestützt. Es gibt gute Gründe, die Sonne als primären Verursachungs­faktor hier ins Spiel zu bringen. Man muss nur die ungeheuren Trägheitskräfte der Wassermassen, die um den Globus geschoben werden, anders ins Spiel bringen. „Manchmal wirken die Kräfte beider Himmelskörper zusammen, zu anderen Zeiten aus entgegenge­setzten Richtungen. Dieses Fluktuieren von oben nach unten und wieder zurück, entspricht der Vorstellung von der nach innen gerichteten Ying-Bewegung und der nach außen gerichteten Yang-Bewegung sowie den Grenzbedingungen für ihr Ausklingen. Die Natur arbeitet pulsierend, sie atmet ein und aus.“

Ich habe auch von der Pulsation schon gesprochen. Auch ich bin der Meinung, dass die Erde ein ständiges Pulsationsgeschehen durchwaltet, durchwirkt, dass alle Dinge, alle lebenden Lebewesen, alle es-haften Dinge tatsächlich am Tage eine Idee, eine Winzigkeit leichter sind als in der Nacht. „Die Natur arbeitet pulsierend. Sie atmet ein und atmet wieder aus.“ Schon das Bewusstsein im Übrigen, das möchte ich gleich an dieser Stelle nochmal bemerken, ist eine ganz starke antigravitative Kraft. Das wache Bewusstsein mindert in der vertikalen Ausrichtung des Leibes die gravitative Wirkung bis dahin, dass sie kaum gespürt wird. „Wenn die Sonne am Himmel emporsteigt, werden die mit Spurenelementen und Gasen aufgeladenen Säfte in Folge der energetischen Anregung bzw. Information durch den wachsenden Sonneneinfluss aufwärts gezogen, geschoben zum Teil auch, um dadurch, dass sie Mineralien und so weiter bereitstellen, die Photosynthese-Prozesse zu unterstützen. Die Photosynthese wiederum ist eng mit der Menge und der Qualität des vorhandenen Lichts verknüpft. Wenn der Lichteinfall abnimmt oder wenn etwa aufgrund von Luftverschmutzung nicht das volle Lichtspektrum bei der Pflanze ankommt, gehen auch Wachstum, Photosynthese und Chlorophyll-Produktion zurück, wie bekannt. Dadurch wird weniger Sauerstoff erzeugt und an die Atmosphäre abgegeben. Bei der Photosynthese wird ein gewisser Anteil des aufwärts strömenden Wassers bzw. Saftes in Kohlenhydrate umgewandelt. Das verbleibende Wasser benutzt die Pflanze für die Verdunstung, also zu Kühlungszwecken. Kühlung ist hier allerdings ein Prozess der Konzentration oder Spannung zur Erhöhung von Energie, die nichts mit der technischen thermodynamischen Verdampfung zu tun hat“.

Dann wird hier sehr schön gezeigt, für Chemiker ist das interessant oder für chemisch Interessierte, dass das Chlorophyll eine starke Ähnlichkeit hat mit dem Hämoglobin. Auch interessant, am Rande erwähnt, dass das Chlorophyll-Molekül gerade aus 137 Atomen besteht. Eine interessante Primzahl und vielleicht auch zahlensymbolisch aufzuteilen auf die 13, auf die 7, Zahl auch der Feinstrukturkonstante. Das sind Elemente, die ich hier nicht weiter ansprechen möchte. Ich habe im letzten Sommersemester ja zu harmonikalen Strukturen auch im Tier- und Pflanzenreich einiges gesagt. Das ist hochinteressant. Nur im Falle von Hämoglobin wird also hier Magnesium durch Eisen ersetzt. Und so weiter. Also dieser Vorgang ist jedermann bekannt, mehr oder weniger vertraut, aber ist im Letzten ein Mysterium.

Ich habe gerade den Punkt erreicht, den ich auch erreichen wollte bei der Pause. Meine Stimme ist noch so ganz gut in Schwung, mal sehen, wie weit sie noch vorhält. Wir machen mal eine kleine Pause und dann versuche ich nach der Pause dann die Schlussfolge Ihnen zu erläutern, wie ich das deute im Zusammenhang mit meinen Überlegungen zu dem der Pulsation von Schwere und kosmischem Licht. Sie können gerne die Bücher, die hier vorne liegen, einsehen.

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Das Tor zur Seele der Pflanzen

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 40

Transkript als PDF:


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Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser dritten Vorlesung im Sommersemester. Gerade dachte ich wieder mal, wie übrigens öfter, hier vorne vor dem Senatssaal gucke ich um mich und sehe diese Ehrfurcht gebietenden Köpfe von Celebritäten, die hier an der Humboldt-Universität gelehrt haben, gewirkt haben. Und ich denke, wie schon so oft: Wie vielem von dem, was diese Männer hier gelehrt haben, muss ich widersprechen! Und die … , meine, sagen wir mal, Ehrerbietung, hält sich in Grenzen, und vieles von dem, was ich hier sage, wird wahrscheinlich oder würde das Missfallen dieser strengen Herren finden. Das nur [als] ein kleines gefühlsmäßiges Aperçu.

Ich möchte zwei Dinge ergänzen zur letzten Vorlesung. Wir haben am Ende in der Diskussion ja eine Frage aufgeworfen, wie es kommt, dass Menschen gelernt haben, giftige von nicht giftigen Pflanzen zu unterscheiden. Sie kennen die herrschende These des Durch­probierens, die in dieser Form mir schlecht gestützt erscheint. Dann hat eine Dame, die hier das letzte Mal war, ein Beispiel gebracht von Tieren, die mittels der Selbstmedikation ganz bestimmte Pflanzen zu sich nehmen, um zu gesunden. Und dann habe ich verwiesen auf einen Artikel vom letzten „Spiegel“, der genau davon handelt. Ich will ihn nicht hier ganz vorlesen. Ich will Sie nur darauf hinweisen, letzter „Spiegel“, [Artikel]„Heilkräuter im Vogelnest“. Nur eine kurze Passage, ein sehr interessanter Artikel. „Brüllaffen schützen sich mit Fruchtstielen vor Karies, Elefanten fressen Dreck gegen Verstopfung, Stare stärken ihr Immunsystem mit Blumen. Zoologen entdecken, wie kranke Tiere sich selbst kurieren. Können die Tierarzneien aus dem Pflanzenreich auch den Menschen helfen?“ Und dann fängt der Text an. „Jäger lauern dem Hasen meist am Waldrand auf. Dort wachsen wilder Majoran, Pfefferminze und Kamille. Diese Heilkräuter mümmeln die Feldtiere angeblich besonders gern, weshalb Waidmänner auch über die Hasenapotheke spötteln. Michael Boppré hält die seltsame Angewohnheit der Hasen nicht für Jägerlatein. Der Freiburger Zoologe vermutet, der Hase bekämpft mit den Kräutern lästige Parasiten in seinem Magen und Darmtrakt. Als Indiz wertet der Forscher eine Tragödie, die sich derzeit auf deutschen Wiesen abspielt. Seit Jahren schon beobachten Biologen ein mysteriöses Sterben des Ostertieres. Äußerlich scheinen die Hasen wohl ernährt und kerngesund. Dennoch werden sie vielerorts immer weniger. Mit den einfallsreichsten Hypothesen hat man ihren Rückgang zu erklären versucht, sogar damit, dass sie wegen des Klimawandels häufiger Regen abbekommen und an Unterkühlung zugrunde gehen. Nun glaubt Boppré“, also dieser Biologe, der hier angeführt wurde, „die wahre Ursache gefunden zu haben.“ Und das hängt ganz dicht zusammen mit unserem Thema. „Gift und Dünger aus der industriellen Landwirtschaft zerstören den Kräutergarten der Hasen und damit ihren natürlichen Schutz gegen Parasiten. In den nächsten Wochen will Boppré den wissenschaftlichen Beweis für seine Vermutung antreten. Dafür wird er Hasen mit Parasiten infizieren und sie dann, bewährtes Verfahren, vor verschiedene Futtertröge setzen. Schlagen sich die kranken Hasen häufiger den Bauch mit Heilkräutern voll als gesunde Artgenossen, so Boppré, hätten wir einen weiteren Beweis, dass auch Tiere Arzneimittel schlucken.“ Und so weiter.

Ich muss das nicht im Einzelnen hier ausführen. Diese Art von Versuchsanordnung ist bestimmt bedenklich. Das hat viele Komponenten, die ich hier dahingestellt sein lassen möchte. Wen das interessiert, kann das gerne dann im „Spiegel“, wenn er ihn noch zur Verfügung hat, nachlesen. Sehr aufschlussreich die Frage: Wie kommt diese Wahrnehmung der Tiere für bestimmte Pflanzen, für bestimmte Kräuter zustande?

Dann wird hier ein wenig erklärungsstarkes Wort benutzt, was ja immer herhalten muss, wenn man es nicht genau sagen kann, dass sei eben der Instinkt, und was ist der Instinkt? Darüber habe ich im letzten Sommersemester im Zusammenhang mit dem Tier-Selbst ausführlich gesprochen, ein Mysterium eigentlich, was ist überhaupt der Instinkt? Ein erklärungsschwaches Wort [dazu].

Zweite Ergänzung. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung zu dieser Vorlesung habe ich ein Buch entdeckt, das ich mir vor zwei Jahren gekauft hatte. Das ist das letzte Buch des berühmten Joachim-Ernst Berendt kurz vor seinem tragischen Unfalltod im Februar 2000. Sie wissen, er ist durch einen Unfall in Hamburg ums Leben gekommen. Und er hat kurz vor seinem Tode noch ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Es gibt keinen Weg, nur Gehen“. Interessant für unser Thema an diesem Buch ist, dass der Großteil dieses Buches sich beschäftigt mit der Frage Mensch und Pflanze, genauer mit der Frage Mensch und Baum. Mehr als die Hälfte des Buches ist diesem Thema gewidmet, unter der Überschrift „Bäume und Menschen“ trägt Berendt in langen Jahren gemachte Beobachtungen ein über Bäume, über das Verhältnis des Menschen zu den Bäumen. Sehr interessant, hochinteressant, auch für unser Thema essenziell. Ich bin auf eine Passage gestoßen, die ich Ihnen kurz in Auszügen vorlesen möchte mit dem Titel „Heilige Bäume“. Sie erinnern sich, ich hatte Ihnen ja in der letzten Vorlesung anhand des Daphne-Mythos, genauer der Oper von Richard Strauss, versucht zu zeigen, wie in der mythischen Weltbefindlichkeit, in dem mythischen In-der-Welt-sein, das Mensch-Pflanze-Verhältnis konstelliert war. Das war ja der Ausgangspunkt der ganzen letzten Vorlesung, also Mensch und Pflanze im sakral-mythischen Raum. Die Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, das habe ich ja als Ausgangspunkt genommen. „Heilige Bäume“ heißt es hier in einem Unterabschnitt des großen Kapitels „Bäume und Menschen“ in dem Buch von Joachim-Ernst Berendt „Es gibt keinen Weg, nur Gehen“. Hermann Hesse, Zitat am Anfang: „ ,Ein Baum spricht. In mir ist ein Kern, ein Funke, ein Gedanke verborgen. Ich bin Leben vom ewigen Leben. Einmalig ist meine Gestalt und das Geäder meiner Haut, einmalig das kleinste Blätterspiel meines Wipfels und die kleinste Narbe meiner Rinde. Mein Amt ist“ ‒ immer noch Hermann Hesse ‒ „dem ausgeprägten Einmaligen das Ewige zu gestalten und zu zeigen. Ich vertraue, dass Gott in mir ist, vertraue, dass meine Aufgabe heilig ist, aus diesem Vertrauen lebe ich.‘ Hesse-Kenner Volker Michels weiß zu erzählen, dass der Dichter die ihm Heimat gewordene Casa Camuzzi in Montagnola, oberhalb des Luganer Sees, hauptsächlich der beiden Bäume wegen, in deren Laub Balkon und Wohnung verborgen waren, wie der Horst eines Vogels bezogen hat. Als die Bäume während seiner Abwesenheit gefällt worden waren, verlor er sein Heimatgefühl, malte noch einmal das alte Gemäuer und zog aus. Dass Bäume heilig sind, dieses Bewusstsein gibt es in den meisten Kulturen der Menschheit. Indianer, Germanen, Kelten, Afrikaner, die Völker Sibiriens, Inder, Malaien, Poly- und Mikronesier verehrten Bäume.“ Und so weiter, und hier ist von heiligen Linden, von heiligen Buchen die Rede, vom Weihnachtsbaum als einem letzten Relikt der Sakralität des Baumes. Ein urheidnisches, in gewisser Weise kosmisches Mysterium, was ins Christentum auf eine eigenartige Weise integriert worden ist. Das am Rande nur erwähnt. Ich kann Sie sehr auf dieses Buch hinweisen, da gibt es sehr viele wunderbare, präzise, zarte, poetische Beobachtungen zu Bäumen.

Mir fällt etwas ein, das ich vergessen habe zu erwähnen, das hole ich jetzt nach. Das gehört noch nicht zum eigentlichen Thema. Ich habe noch einmal Prospekte mitgebracht über die Bahro-Gedenkveranstaltung, hier nun auch in der vollständigen Form. Außerdem, das möchte ich erwähnen, habe ich eine kleine Werbung mitgebracht über ein Musik-Seminar, was ich an der Lessing-Hochschule veranstalte, über Mozart, Klang und Verwandlung, Annäherung an Mozart, 8. Juni und 9. Juni. Die Daten stehen drauf, auch was es kostet, was wir machen wollen. Wen das interessiert, der möge bitte dort an der Lessing-Hochschule anrufen, fragen und so weiter. Ich habe Ihnen das mal mitgebracht. Sie können das dann sich nehmen. 8. und 9. Juni, Klang und Verwandlung, Annäherung an Mozart, ein Musik-Workshop eigener Art, wie ich ihn seit vielen Jahren, ich glaube mittlerweile seit 12 Jahren, immer wieder veranstalte.


Nun, ich habe das heute genannt: „Gibt es ein Pflanzen-Selbst im Menschenwesen? Überlegungen und Thesen zu einem nicht-reduktionistischen Menschenbild.“ Das muss ich einleitend erklären, weil das zentral ist für die Art meines Zugangs überhaupt. Sie wissen, das müsste Ihnen deutlich geworden sein, schon aus den beiden ersten Vorlesungen, mein Zugang ist ein nicht-reduktionistischer, ein integraler, wenn man so will. Ein Versuch, verschiedenste Aspekte zusammenzuschließen zu einem Ganzen und dieses Ganze als Gestalt aufscheinen zu lassen und dieses Ganze als Gestalt auch in dem Moment des Vortragens in gewisser Weise wirklich werden zu lassen. Wenn ich zum Beispiel vor einer Woche den Richard Strauss herangezogen habe, seine Oper „Daphne“, im Zusammenhang mit der Mensch-Pflanze-Frage, dann ist das ein Verfahren, was im üblichen reduktio­nistischen Denken abwegig erscheint, wie etwas Poetisch-Metaphorisches, etwas Zusätz­liches, etwas, was auf gar keinen Fall zentral zum Thema gehört, nicht nur für einen Botaniker oder für einen Biologen oder sicher auch für die meisten Naturphilosophen. Für mich ist das nicht so. Für mich ist diese Dimension, in diesem Falle des Dichterisch- Musikalischen, eine legitime Dimension zum Verständnis des Mensch-Pflanze-Verhält­nisses. Das ist eine Facette in diesem integralen Ganzen, das uns dazu verhelfen kann, tiefer zu verstehen, wer oder was wir selbst sind, und wer oder was die Pflanzen sind.

Was ist Reduktionismus? Das ist nicht selbstverständlich. Ein Begriff, der ständig verwendet wird, in der Naturwissenschaft, auch übrigens in anderen Wissenschaften, der der Erklärung bedarf. Zunächst einmal: Reduktionismus ist das Bemühen des Wissen­schaftlers, ein Phänomen auf einer bestimmten Ebene des Seienden durch ein anderes zu erklären, was dadrunter liegt, im Normalfall durch ein Etwas, ein Phänomen, ein Ding, Energie, Materie, wie immer, was dadrunter liegt, was in gewisser Weise als das wirk­lichere gilt. Also der Materialist würde sagen: Alles ist nur Materie oder Materie, Energie, wie immer, das eigentlich Wirkliche hinter allen Phänomenen der sinnlich-physischen Welt sei die Materie. Dann wäre [das] ein materialistischer Reduktionismus, der versucht, alle Phänomene letztendlich zurückzuführen auf materielle, energetische Phänomene. Im Fall des Abstraktionismus dann auf mathematisierbare und mathematisierte Phänomene. Da gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Arten von Reduktionismen, das muss man auch dazusagen, damit kein Missverständnis auftaucht. Es gibt einen ontologischen Reduktionismus und einen methodischen Reduktionismus. Ontologischer Reduktionismus meint Folgendes: Wenn ich die Dinge reduziere auf das, was an ihnen, wirklich oder angeblich, vorgeblich, real ist, in gewisser Weise wirklicher als die Erscheinung, also wenn ich das tue, dann lande ich bei der Wirklichkeit. Dann ist das nicht nur ein methodischer Trick, dann ist es nicht nur ein Verfahren, das mir hilft zum Verständnis oder zur Beschreibung der Phänomene. Dann bin ich ein Stück tiefer in der Wirklichkeit. Das ist ontologischer Reduktionismus, in dem ich die Dinge also zurückführe, berühre ich die Wirklichkeit, zum Beispiel die atomare oder subatomare oder molekulare Welt, wie immer. Ontologischer Reduktionismus, Ontologie, Lehre vom Sein jetzt hier vereinfacht gesagt, ontologischer Reduktionismus, also ein Versuch, Wirklichkeit zu erfassen.

Methodischer Reduktionismus ist viel bescheidener. Ein methodischer Reduktionismus benutzt das reduktive oder reduktionistische Element nur als ein Verfahren, um versuchs­weise ein Stück weit die Dinge zu erkennen und zu erfassen. Normalerweise im wissen­schaftlichen Diskurs gibt es eine Art Reduktionismus nach unten, nicht einen Reduktio­nismus nach oben. Es gäbe ja auch theoretisch einen Reduktionismus nach oben. Schelling zum Beispiel sagt einmal, der Tod, der physische Tod sei eine reductio ad essentiam, eine Zurückführung in die Essenz. Das wäre ein Reduktionismus nach oben. Das heißt, das eigentlich Wirkliche ist die Essenz, essentia, die Wesenhaftigkeit, der eigentliche Wesens­kern des Menschen. Der kommt nach dem physischen Tode, so Schelling 1809 in einer Zeitschrift, zu sich selber. Das wäre ein Reduktionismus nach oben. Normalerweise benutzt man einen Reduktionismus nach unten.

Die beste Definition, die ich überhaupt kenne zum Reduktionismus, will ich Ihnen vorstellen. Ich habe das hier vor anderthalb Jahren, glaube ich, schon mal im Saal vorgelesen die Stelle, ich finde sie fulminant, brillant, scharfsinnig und sehr erhellend. Ich greife noch mal auf dieses Büchlein zurück von Hermann Schmitz, dem Philosophen aus Kiel, „Der Leib, der Raum und die Gefühle“, und er schreibt hier, wie er Reduktionismus versteht. Und das muss man verstehen, damit man dann sich nähern kann der Frage, was ist denn ein nicht-reduktionistisches Menschenbild? Was ist denn ein nicht-reduktio­nistisches Bild der Pflanzen? Wie kommen wir überhaupt weiter? Denn das habe ich Ihnen ja schon das letzte Mal versucht zu erläutern, dass es wichtig ist, unverzichtbar für uns, in das Dickicht gewissermaßen unserer eigenen Voraussetzungen einzugreifen. Das ist schwer, das ist wie der Schmitz sagt: „vielmehr muss man sich durch den Urwald durch­schlagen, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen und in hin­länglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzungen zu werden.“ Sehr schwer, sich durch das Dickicht der eigenen Voraussetzungen durchzuschlagen. Das brauchen wir, um uns dem Thema zu nähern, denn das können wir nicht. Wir können nicht naiv direkt zumar­schieren auf das Thema. Da sind die Pflanzen, da sind wir. Wir brauchen das alles nicht. Wir brauchen nicht die Reflexion … Sehr wohl, wir brauchen diese Reflexion. Nur so kommen wir überhaupt weiter. Also Hermann Schmitz schreibt über den Reduktionismus in einer wunderbaren Passage, die ich Ihnen vorlesen möchte und auch erläutern, die ist essenziell.

„Der Reduktionismus besteht in der Abschleifung der Außenwelt schlechthin.“ Abschleifung der Außenwelt schlechthin, „das heißt der Außenwelt nach Abzug aller Innenwelten.“ Ja, wichtig, das ist wichtig für den Reduktionismus. Also, was jeder Einzelne für sich und in sich ist, die gesamte Subjektivität, seine Gefühle, seine Emotionen, seine Gedanken, das Geheimste seines Seins, was er in der Brust verschlossen hält oder auch nicht, das alles schließt sich [der Reduktionismus] nicht mit ein. Also, „Abschleifen der Außenwelt schlechthin, bis auf wenige Klassen besonders leicht identifizierbarer, mani­pulierbarer und quantifizierbarer Merkmale, die an der Oberfläche fester Körper abgelesen werden können.“ Ganz einfach, „Abschleifung der Außenwelt. Dann werden identifizier­bare, manipulierbare und quantifizierbare Merkmale abgelesen.“ Das ist ja ein Ingredienz von Wissenschaft überhaupt, die Quantifizierbarkeit, „die an der Oberfläche fester Körper abgelesen werden können und noch heute die gesamte Abstraktionsbasis der Physik bilden. Nach Aristoteles und Demokrit handelt es sich um Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage und Anordnung, die später sogenannten primären Sinnesqualitäten.“

Also Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage und Anordnung. Nicht Gefühl, nicht Farbe, nicht Atmosphäre, nicht psychische Verbundenheit, all das fällt raus und wird sozusagen mit weggeräumt, wird abgeschliffen, gilt als privat, als subjektiv legitim, aber letztlich als wissenschaftlich irrelevant. „Ihnen wird zum Ersatz für die Einbettung in vielsagende Eindrücke, die bei der Abschleifung zerschlagen worden sind, das Anhängen an Träger, die nach Art fester Körper vorgestellt werden, sogenannte Substanzen, gewährt.“ Muss ich jetzt nicht im Einzelnen erläutern, würde zu weit führen. „Die Introjektion“ ‒ also einflößend ‒ „die Ablagerung des vom Reduktionismus abgeschnittenen Abfalls in der im Dienst der Selbstbemächtigung bereitgestellten Innenwelt.“

Das heißt, was da abgeschliffen wird, ist ja nicht verschwunden. Es bleibt ja da, es bleibt ja vorhanden. Alles das ist ja da, das Atmosphärische, das Gefühlsmäßige, das Farbige, das Ganzheitliche, das Psychische und so weiter. Nur, es wird jetzt sozusagen hineingestoßen und hermetisch eingeschlossen in die je eigene Innenwelt des Einzelnen. „Situationen, darunter die erwähnten vielsagenden Eindrücke und Atmosphären werden zerschlagen.“ Nicht, das Atmosphärische als eigene Kategorie auch des Denkens, das ganzheitlich Fluidale, kann man sagen, was die Existenz immer bestimmt, was ja auch uns schon beschäftigt hat.

Sie erinnern sich vielleicht an das Ende der letzten Vorlesung, als ich gesprochen habe über die Ätherisierung des Bewusstseins durch Pflanzen, also die eigentümliche fluidale Form, die das Bewusstsein annehmen kann und dadurch seine Schärfe, seine Trennwände in gewisser Weise verliert oder diese durchlässiger werden. Also, „Situatio­nen und Atmosphären werden zerschlagen. Ihre Bedeutsamkeit, die in einer nach außen ganzheitlich abgehobenen, innen aber diffusen und nicht durchgängig vereinzelten Mannigfaltigkeit von Sachverhalten besteht, wird subjektiviert.“ Nicht, das sagte ich ja schon, wird subjektiviert. „Also Aggregate von Gedanken, Urteilen, Entschlüssen in der Seele, Ungeduld, Atmosphären, die den Menschen leiblich spürbar ergreifen, werden in private Gefühle umgedeutet oder wie im Fall des Wetters in einen psychischen Anteil und einen physikalischen Zustand der Luft, eines der Lebenserfahrungen konstruktiv unter­legten Gases, zerrissen. Der spürbare Leib wird ganz vergessen.“

Das ist wichtig. Die Naturwissenschaft, die reduktionistische Naturwissenschaft ist ja nicht nur subjektblind, was ich ja seit vielen Jahren immer wieder sage, sondern auch in gewisser Weise, sagen wir mal, Veränderung in den letzten 15, 20 Jahren … auch leibvergessen. „Der spürbare Leib wird ganz vergessen oder, soweit man Restbestände wie den Schmerz nicht vergessen kann, wenn ein Zustand der sezierbaren Körper“ ‒ im Sinne des reduktionis­tischen Menschenbilds ‒ „und eine unausgedehnte Empfindung in der Seele, es gibt auch andere Namen wie das Gemüt, the mind oder das Bewusstsein erhält, aufgelöst.“

Also, eine wunderbar klare und scharfsinnige Definition der sogenannten Reduktio­nismen. Also, die Abschleifung, jetzt nochmal vereinfacht gesagt, der Phänomene auf ihre quantifizierbaren und manipulierbaren Merkmale unter Ausschaltung, unter Eliminierung alles dessen, was Menschsein in seiner lebendigen Ganzheitlichkeit, in seinem atmosphä­rischen Eingebettetsein, eben auch in die Pflanzenwelt, überhaupt ausmacht.

Nun will ich versuchen, Ihnen etwas darzustellen, was schwierig ist, was ich, das Pflanzen-Selbst im Menschen nenne. Das ist ein Begriff, der natürlich notwendig eine Unschärfe enthält, kein Begriff, der in irgendeiner Form eindeutig, wissenschaftlich präzise gefasst werden könnte. Es ist ein Begriff, der auf etwas deutet, der etwas andeutet, der etwas mitschwingen lassen kann, wie auch der Begriff Tier-Selbst, den ich vor einem Jahr hier in diesem Saal ausführlich erläutert habe. Pflanzen-Selbst ganz vereinfacht, erst einmal näherungsweise gesagt, ist jener Pol im Menschen, jene Schicht, jene Fakultät im Menschen, wie immer, jener Pol im Menschen, der dem Vegetativ-Pflanzlichen bewusst oder unbe­wusst also verbunden ist, wahrscheinlich immer verbunden bleibt, sozusagen der Pflanzen-Mensch im mentalen Menschen. Ein Pol im Menschen, der, wenn er aktiviert werden kann, wenn er vitalisiert werden kann, wenn er verlebendigt werden kann uns dazu verhilft, uns in das Pflanzenwesen auf eine nicht unbedingt mentale, nicht unbedingt rationale Weise einzuschwingen. Also der, sozusagen der pflanzlich-vegetative Pol im Menschen.

In diesem sehr schönen Buch, was ich ja mehrfach schon erwähnt habe von Wolf-Dieter Storl, einem der ganz bedeutenden Pflanzenkenner unserer Zeit, von dem ich ungeheuer viel lernen kann, in diesem Buch „Pflanzen-Devas“ stellt er auch die Frage nach dem vegetativen Pol des Lebens und zeigt, dass es auch bei Pflanzen einen vegetativen Pol gibt und einen eher tierischen Pol. Er unterscheidet hier zwischen Naturpflanzen, dem vegetativem Pol, Gewürze, Heilpflanzen, dann Gifte, durch … und dann Drogen oder psychoaktive Pflanzen, die eher dem physischen Pol zugehören. Da gibt es eine schöne Passage, die will ich Ihnen mal vorlesen von diesem wirklich großartigen Pflanzenkenner Wolf-Dieter Storl „Pflanzen als autonome Macht“. Vielleicht haben einige von Ihnen das gesehen, dass Wolf-Dieter Storl und Renate Künast mal vor einigen Monaten, es war im letzten Jahr im Fernsehen eine Diskussion hatte über Fragen der Natur generell. Ich habe es nur kurz sehen können, habe mich da ganz kurz eingeblendet. „Pflanzen als autonome Macht“ heißt es hier, in einer sehr schönen Passage aus diesem Buch „Pflanzen-Devas“: „Vor dem inneren Auge eines Ernst Jünger“, schreibt Wolf-Dieter Storl, er, genau wie ich, weiß, dass Ernst Jünger ein ganz großer Pflanzenkenner ist bzw. war. „Vor dem inneren Auge eines Ernst Jünger, der immerhin auf ein ganzes Jahrhundert intensiver Lebens­erfahrung und Erforschung der Natur zurückblicken kann, erscheinen diese stillen Genossen als mit nahezu göttlichen Kräften ausgestattet.“

Das wird uns noch beschäftigen, diese Frage: Haben die Pflanzen ein höheres, gar ein kosmisches Bewusstsein, was viele vermuten. Es gibt Indizien dafür, das kann man erst mal in der Schwebe lassen. „Obwohl selber kaum beweglich“, schreibt Jünger, „zwingt die Pflanze das bewegte Leben in ihren Bann.“ Zitat Ernst Jünger beim Storl: „So wie die Pflanze Geschlechtsorgane bildet, um sich mit den Bienen zu begatten, vermählt sie sich auch mit den Menschen. Und die Berührung schenkt ihm Zugänge zu Welten, in die er ohne sie nicht eindränge.“ Zitat Ende Jünger, und dann Storl weiter. „Einige Pflanzen nähren, kleiden und wärmen den Menschen wie fürsorgende Mütter, andere aber erobern sich den Menschen, verführen ihn, nehmen ihn gefangen wie eifersüchtige Liebhaber. Jünger sieht den Rausch, den der Mohn, das Coca-Blatt oder der Hanf entfesselt als Zitat jetzt noch mal: „einen Siegeszug der Pflanze durch die Psyche, so nährt uns die gewaltige Familie der Nachtschatten nicht nur physisch, sondern auch im Traum.“

Das wird uns noch beschäftigen, dass in vielen kulturell-spirituellen Traditionen, dass der schlafende Mensch in gewisser Weise der Pflanzen-Mensch ist, also im Schlaf wird der Mensch zu einem quasi pflanzlich-vegetativen Wesen. Also noch einmal Jünger: „Als ein Siegeszug der Pflanze durch die Psyche, so nährt uns die gewaltige Familie der Nacht­schatten nicht nur physisch, sondern auch im Traum.“ Noch mal Jünger: „Wenn wir die Pflanze als autonome Macht erkennen, eintritt, um Wurzeln und Blüten in uns zu treiben, wächst wunderbar, entfernen wir uns um einige Breitengrade von der schiefen Perspek­-tive, die wähnt, der Geist sei das Monopol des Menschen und existiere nicht außer ihm.“ „Also wenn wir die Pflanze als autonome Macht erkennen, dann, die eintritt, um Wurzeln und in uns zu tragen, dann entfernen wir uns von der schiefen Perspektive, die Welt der Geister, das Monopol des Menschen und der Tiere nicht außer ihm.“ Das wissen wir, ich habe Ihnen ja in der letzten Vorlesung etwas erzählt, darzustellen versucht, über den Bruch, der passiert ist, ungefähr im fünften vorchristlichen Jahrhundert, ein Bruch in der Herauskristalisierung des rationalen mentalen Selbst, der auch dazu geführt hat, dass das Pflanzenreich, weit gefasst, entsakralisiert wurde. Natürlich hat es Restbestände immer gegeben. Sie waren nie völlig zerstört, auch durch das Christentum nicht. Es gibt sie bis heute. Aber was den überwältigenden Strom, die überwältigende geistige Richtung des Abendlandes anbelangt, so sind die Pflanzen weitgehend entsakralisiert worden, was sich schwerlich leugnen lässt. „Jünger stellt fest, dass die Zeit am animalischen Pol schneller, am vegetativen langsamer verläuft.“ Eigenartig. Zeitdimension, das kann man hier mal stehen lassen. Manchmal frage ich mich ernsthaft, wie langsam oder schnell empfinden zum Beispiel Bäume den Jahreszeitenwechsel? Ist das für Sie ein Augenaufschlag, ein Fingerschnipsen? Ist er für sie eine winzige Zeitspanne, oder ist er für sie endlos gedehnt? Sicherlich, wenn überhaupt hier von Zeitempfindung die Rede sein kann empfinden diese rätselhaften Wesen, die wir Pflanzen nennen, in diesem Falle Bäume, die Zeit anders im Jahreszeiten-Rhythmus, anders, als wir es tun. „Unter den Pflanzen selber gibt es solche, die mehr zum animalischen Pol tendieren, und solche, die abgesehen vom gelegentlichen Blühen und Fruchten ganz im dumpfen grünen vegetativen Seinsmodus verharren. Die animalischen Pflanzen bezeichnet Rudolf Steiner als astralisierte Pflanzen.“

Immer wieder erwähnt er hier Steiner, er ist kein Anthroposoph, hat auch nur Distanz zur Anthroposophie, aber er hat viele Gedanken aufgegriffen von Steiner, manchmal etwas unkritisch, wie ich finde, aber trotz alledem will ich das hier nicht bekritteln. „Die animalischsten Pflanzen kennzeichnet Rudolf Steiner als astralisierte Pflanzen. Es sind jene mit absonderlichen Düften, bizarren Wachstumsgesten und atypischen, vom Sonnenrhythmus abgekoppelten Biorhythmen. Oft erregen ihre knallig bunten Farben und befremdenden geometrischen Muster die Aufmerksamkeit von Mensch und Tier. Sie werden von tierhaften Signaturen geprägt, indem sie ansatzweise Hohlorgane, aus der Tiefe Kelchschlünde bilden und eine Fähigkeit besitzen, Substanzen zu syntheti­sieren, die der Stickstoffsynthese des tierischen Stoffwechsels ähnelt. Wenn man sie einnimmt, greifen diese Substanzen schnell in die menschliche Physis oder Psyche ein.“ Das sind die eigentlichen psychoaktiven Pflanzen. Giftige Pflanzen, die also eine tierisch animalische Komponente haben, gewissermaßen Einstülpungen haben, die nor­malerweise die Blüte der Pflanzen nicht hatten, wie ja zum Licht hin öffnen, gibt es Einstülpungsvorgänge. Das wird ja hier schon in dem Text deutlich, „ansatzweise Hohlorgane, etwa tiefe Kelchschlünde und eine Fähigkeit, gewisse Substanzen zu syntheti­sieren. Die animalischen Pflanzen kommunizieren ihr Wesen schneller als der Großteil der Vegetation. Sie sind meist stark giftig oder sie dämpfen, verwirren oder illuminieren Gedanken und Sinneswahrnehmungen. Viele nicht-westliche Völker, vor allem in Südamerika, haben solche schnellen Pflanzen in den Kult oder die Rituale der Visionssuche integriert. Die meisten Pflanzen sprechen jedoch viel langsamer zu uns. Von modernen Zeitgenossen, der seinen Lebensrhythmus an Maschine und Elektronik anpassen muss, werden sie kaum vernommen. Er weiß gar nicht einmal, dass Pflanzen-Devas sprechen können.“ Und so weiter.

Storl verweist in diesem Buch an mehreren Stellen immer wieder auf die seelische Befindlichkeit, auf den seelischen Zustand, das psychische Feld gewissermaßen, das die Voraussetzung dafür ist, dass man überhaupt in der Lage ist, das eigene Pflanzen-Selbst zu aktivieren, also in diese Schicht reinzukommen. Das verlangt eine besondere Art des Stillwerdens, des nicht mental-rational Trennens, Analysierens, Abstrahierens. Nun, Pflanzen-Selbst, was heißt das?

Ich habe in meinem Buch „Was die Erde will“ an mehreren Stellen ausführlich über das sogenannte Pflanzen-Selbst gesprochen. Ich muss jetzt etwas ausholen, um verständ­lich zu machen, wie ich versuche, den Menschen überhaupt zu definieren, in Anführungs­zeichen, denn die Frage nach dem Pflanzen-Selbst ist natürlich die Frage nach dem Menschen überhaupt. Was ist denn der Mensch überhaupt in der Natur, auf dieser Erde, im Kosmos? Was ist denn dieser Mensch überhaupt für ein rätselhaftes Wesen? Ist er ein primär biologisches Wesen? Ist er ein höherer Bio-Computer? Ist er ein kosmisches Wesen? Was ist der Mensch in der Tiefe?

Ich habe am Ende des Buches, das will ich vor der Pause sagen, die wir um Neun machen wollen, die zentralen Thesen zusammengefasst. Und da heißt es im Zusammen­hang auch mit dem Pflanzen-Selbst, ich darf Ihnen mal diese Passage vorlesen, und werde versuchen sie zu kommentieren. „Der Mensch trägt Erde, Pflanze und Tier in sich. Erden-Selbst, Pflanzen-Selbst und Tier-Selbst sind integrale Teile seiner Ganzheit.“ Pflanzen-Selbst nicht nur als vegetativer Pol im Menschen, sondern [als] ein integraler Teil seiner Ganzheit, ein Stück weit ist jeder Mensch auch dieses Pflanzen-Selbst. Eine andere Frage ist, ob dieses Selbst eine Art Ich-Kern hat, einen Bewusstseinskern, das wird uns noch beschäftigen. „Wir müssen zentral beim Menschen ansetzen. Eine wirklich ganzheitliche Anthropologie zeigt den Menschen als holarchisch gestuftes oder geschichtetes Wesen.“ „Holarchisch“ stammt aus der Systemtheorie, meint eigentlich hierarchisch, nicht im politischen Sinne natürlich gemeint, „als holarchisch gestuftes oder geschichtetes Wesen. So scheint er auch in allen relevanten spirituellen Traditionen. Der Mensch ist ein Mesokosmos, mittlerer Kosmos, der Erde und Himmel als Kosmos verbindet bzw. integriert. Die Seele des Menschen ist das Formprinzip.“ Das geht auf Aristoteles zurück, auf die griechische Philosophie. „Die Seele des Menschen ist das Formprinzip, die Formkraft der menschlichen, auch organischen Gestalt. Deren bewusster Teil ist das Ich, das wiederum Anteil hat am alles durchdringenden medialen Geist oder Logos. Der Mensch ist gleichsam Gott, Tier und Tiergott (Plotin), eingehängt zwischen Erde und Kosmos. Es gibt offenbar auch feinstoffliche Hüllen oder Körper, die den physischen Körper umgeben oder durchdringen. Dies ist auch jenseits esoterischer Spekulationen“, das muss man sagen, „auch dem vorurteilsfreien Denken und der vorurteilsfreien und vertieften Selbstbeob­achtung abzuleiten.“ Das es wichtig, dass man das nicht verdinglicht, wie das viele sogenannte Esoteriker tun, als ob es einfach Dinge wären, die man behandeln könnte wie Dinge etwa, wie den Ätherleib oder Lebensleib oder Astralleib. „Dies ist auch jenseits esoterischer Spekulation aus dem vorurteilsfreien Denken und der vorurteilsfreien und vertieften Selbstbeobachtung abzuleiten. Das Ich selbst ist das größte Rätsel, ein Paradox, weil es seine eigene Überschreitung schon in sich trägt. Am Ich entscheidet sich alles. Ohne ein Verständnis des Ich oder Selbst kommen wir keinen Millimeter weiter. Eine wirklich ganzheitliche, das heißt alle Ebenen, Dimensionen der menschlichen Existenz entschiedene Anthropologie ist der Schlüssel zum Verständnis von Natur und Kosmos. Jeder Reduktionismus, insbesondere der naturwissenschaftlich-technische, ist Teil und Symptom der Katastrophe, auch der ökologischen Krise.“

Wenn man das mal erwähnen darf, mittlerweile tun ja viele so, als gäbe es die ökologische Krise gar nicht. Da fragt man. Was war das noch mal? Ein ökologische Krise, hat man irgendwie davon gehört, vielleicht nicht mehr schnell, was war das noch? So ist es ja mittlerweile. Der Ökonomismus herrscht so total, dass das wie absonderlich erscheint, wenn man das Wort erwähnt. „Der Mensch, der ganze ungeteilte oder integrale Mensch ist der Schlüssel und die Achse der Weltentwicklung.“ Im letzten Sommer war jemand da, der das in mehreren Briefen an mich, diese und ähnliche Passagen kritisiert hat als Anthro­pozentrismus. „Der Mensch, der ganze ungeteilte oder integrale Mensch ist der Schlüssel und die Achse der Welt.“ Ich würde damit, anders, subtiler, umfassender, möglicherweise intelligenter, aber doch im Kern ähnlich argumentieren wie das, was ich kritisiere, was zur ökologischen Krise geführt hat: den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das ist eine Frage, die ich hier zunächst mal auf sich beruhen lassen möchte, die Frage des Anthropozentrismus überhaupt.

Wenn ich hier vom Menschen ausgehe, dann ist das nicht im platten Sinne anthropozentrisch. Dann ist das erst einmal phänomenologisch unverzichtbar und meint wirklich den ganzen Menschen. Es ist einfach verlogen, wenn wir glauben, wir könnten unser eigenes Menschsein gewissermaßen geistig eliminieren, abschleifen und dann die Dinge einfach so spielen wie sie sind. Ganz absurd. Das ist das berühmte Repräsentations­paradigma nach dem Muster: Wir sind Spiegel und spiegeln die Welt wie sie ist. Das tun wir eben nicht, sondern dieser Spiegel hat seine Eigenarten. Er spiegelt die Welt ja in einer bestimmten Weise und damit sich zu beschäftigen, wie möglicherweise dieser Spiegel die Dinge verändert, das ist ein großes Thema, auch im Zusammenhang mit den Pflanzen und dann auch dem Pflanzen-Selbst im Menschen. Also jetzt vor der Pause nochmal plakativ verkürzt gesagt: Das Pflanzen-Selbst ist ein Etwas im Menschen, ein integraler Teil einer holarisch gestuften Ganzheit des Menschen, ein integraler Teil, der zu aktivieren, der zu verlebendigen und der auch mit Bewusstsein zu durchdringen ist, der kontaktiert werden kann und nur über dieses sogenannte Pflanzen-Selbst, nehmen Sie einfach mal den Begriff in seiner Unschärfe, ist es möglich, eine nicht-reduktionistische, nicht-analytische, in diesem Sinne integrale Form der Wahrnehmung des Pflanzenwesens zu erhalten. Das wiederum ist notwendig, um überhaupt irgendetwas zu verstehen, was nicht nur im Außen bleibt, das dann nicht nur als Dekor, als ein Wesen da draußen [gilt] – ich bin hier, da sind die Pflanzen ‒ sondern als eine Art von Verbindung, die allerdings keine simple ist, die man auch nicht mit simplen Verfahren einfach so herstellen kann, wie das manche zu glauben scheinen. (…)

Ich war gefragt worden nach dem Buchtitel nochmal von dem Joachim-Ernst Berendt. Dieser Titel ist nicht im Literaturverzeichnis. Als ich das Literaturverzeichnis aufgeschrieben hatte, war mir der im Moment nicht gegenwärtig. Im Übrigen ist dieses Literaturverzeichnis nur eine ganz kleine Auswahl. Der Titel heißt, also Joachim Ernst Berendt „Es gibt keinen Weg. Nur gehen“. Das ist nicht im normalen Buchhandel [erhältlich], nur im Verlag ZweitausendEins (in der Kantstraße 47). Das ist das letzte Buch, was er veröffentlicht hat 1999. Sie wissen, dass er im Januar [Februar 2000] durch einen Autounfall, er war überfahren worden, in Hamburg ums Leben gekommen ist. Kurz vor seinem Tode hat er mir noch geschrieben und daher weiß ich das überhaupt mit diesem Buch. Und ich habe mir das dann auch gekauft. Also: Das Zentrum des Buches ist eigentlich eine große Reflexion über Mensch und Baum mit dem Titel „Bäume und Menschen“, also sehr interessant, über viele Jahre gesammelte Überlegungen: Was sind Bäume? Wie kann man Bäume verstehen? Wie kann man Bäume beobachten? Wie kann man ein anschauend- integrales Gefühl entwickeln für die Eigenart dieser Bäume, die ja sehr weitgehend ist. Also das lohnt sich schon, sich das anzugucken. Man muss da nicht zu viel erwarten, Berendt ist kein Poet, und er ist auch kein Philosoph, das will auch gar nicht sein. Es sind aber hochinteressante Überlegungen zu Mensch und Baum.

Noch einmal kurz zu Wolf-Dieter Storl. Ich hatte schon angedeutet, dass der schlafende Mensch in gewisser Weise der Pflanzenmensch ist, der Mensch im Pflanzen-Selbst, wobei man einen Moment die Frage unberücksichtigt lassen kann: Hat der im Tiefschlaf befindliche, nicht träumende Mensch, der einfach da so liegt, vegetativ-pflanzlich, auch ein Bewusstsein, an das er sich möglicherweise erinnern kann? Eine schwierige Frage, die man kontrovers behandeln kann. Gibt es also ein Tiefenbewusstsein im traumlosen Tiefschlaf, ein Bewusstsein, an das sich der Einzelne dann auch nach dem Aufwachen erinnern kann? Sie wissen, dass in vielen Überlieferungen, etwa auch in der altindischen Advaita-Lehre die These vertreten wird, dass der Mensch in diesem Zustand sich in einem ganz hohen Bewusstsein befindet und dann auch kommunizieren kann mit diesen als makrokosmische Wesen vorgestellten Pflanzen im Sinne dieser mythologischen, auch spirituellen Vorstellung, die auch Storl immer wieder heranzieht. „Die Wenigsten von uns sind Heilige, denen es vergönnt ist, bei klarem Bewusstsein mit den Devas, Pflanzenwesen­heiten zu kommunizieren. Dennoch können die Devas auch uns notwendige Botschaften zukommen lassen. Sie tun [es], wie Bill Talbol erklärt“, ein Schamane, auf den er sich hier öfters bezieht, „indem sie uns im Traum erreichen. Wenn wir schlafen, sind wir am pflanzenähnlichsten, wo immer wir dann auch unterwegs sein mögen. Wir liegen, als seien wir festgewurzelt. Wie bei der Pflanze sind alle vitalen Funktionen, Atem und Stoffwechsel intakt, aber das bewusste Wahrnehmen, Fühlen, Denken ist ausgeschaltet. Unser Geist und unsere Seele befinden sich in anderen, nicht mehr physischen Regionen“, sagt er. Das können wir so lassen. „Wenn sich unsere Seele im Schlaf vom Körper löst, kann sie durchaus in eine Pflanze hineingehen, kann sich mit ihr austauschen, kann Botschaften aufnehmen.“ Das ist sehr weitgehend. „Jede Nacht, derweil wir ohnmächtig im Bett liegen, besuchen wir also die Innenseite der Natur, in Anführungszeichen. Wir durchwandern Elfenwelten und klettern die Planetenleiter, den Schamanenbaum empor, wo wir den Devas begegnen. Auf der langen Reise durch die Anderswelt wird die Seele sehr durstig, ist der Durst nach dem diesseitigen Leben. Auf dem Weg zurück überqueren wir Lethe, einen mythologischen Fluss des Vergessens, der das Diesseits vom Jenseits trennt. Unweigerlich wird da die dürstende Seele trinken, bis auf einige konfuse Traumfetzen, mit denen das Tagesbewusstsein wenig anzufangen weiß, wird dieser Trunk alle Erinnerungen an das geistige Abenteuer löschen. Nur ein großer Yogi oder Schamane ist fähig, die Traumbot­schaft der Götter und Pflanzendevas im Bewusstsein zu bewahren.“ Dann noch: „Das Erträumen des Heilkrauts war in den Isis-Tempeln im alten Ägypten und in askletischen Kultstätten im alten Griechenland lange vor Hippokrates zur erfolgreichen Therapie ausgebaut worden. In den Tempeln, die an heiligen Quellen oder Grotten errichtet wurden, opferten die Patienten zuerst einen Hahn, dann wurden sie gebadet, mit duftenden Kräutern massiert und schließlich unter dem Bildnis der Göttin von dem Zaubergesang der Priester in einen dreitägigen Schlaf versetzt. Hunde und Schlangen, die dem Äskulap geweiht waren und sich frei im Tempelgelände bewegten, hielten böse Einflüsse fern. So konnte die Seele des Kranken ungehindert in die Geistigkeit,“ ‒ auch Sakralität ‒ „die die Natur durchflutet, eintauchen und das heilende Mittel im Traumgesicht empfangen.“ Usw. Man kann das auch jenseits dieser mythologischen Vorstellungen verstehen. Man muss dazu nicht unbedingt die Vorstellung heranziehen, dass die Pflanzen tatsächlich makrokosmische, gewaltige Wesenheiten sind, deren sozusagen letzte Emanation dann das physisch-sinnliche Pflanzenreich darstellt. Das muss man so in dieser Form gar nicht akzeptieren oder in sein Bewusstsein aufnehmen. Das kann man als eine Denkmöglich­keit erst einmal so stehen lassen. Auf jeden Fall kann man begreifen, dass wir in einen anderen Zustand hineinkommen müssen, um dieses Pflanzen-Selbst in gewisser Weise zu kontak­tieren. Wie kann man sich das jetzt im Gesamten vorstellen?

Ich habe schon vor der Pause ja diesen Satz zitiert: „Der Mensch, der ganze ungeteilte oder integrale Mensch, ist der Schlüssel um die Achse der Weltentwicklung.“ Der Mensch, nicht in diesem bekannten religiösen Sinne als Krone der Schöpfung, aber als ein Wesen, das offenbar im evolutionären Prozess der Dinge, im kosmisch-evolutionären Prozess angelegt ist. In diesem Sinne kann man den Prozess als eine teleologische, eine vom telos, vom Ziel, bestimmten Prozess verstehen. Der Mensch also angelegt in dieser Entwicklung, insofern auch alle früheren Stufen in sich tragend, weitertragend, sie integrierend.

„In seinen Grundlagen tibetischer Mystik, stellt Lama Anagarika Govinda das Fünf-Körpersystem einer alten indischen Überlieferung dar, außerhalb des Buddhismus.“ Das wird hier zitiert und dann von mir kommentiert. Das gehört in dieses Thema. „Wir haben es hier mit einem Parallelismus körperlicher und seelischer Funktionen zu tun. Dieser Parallelismus“, es gibt ganz viele Modelle dieser Art, auch Ken Wilber äußert sich immer wieder zu diesen Vorstellungen, „dieser Parallelismus kommt anschaulich in der Lehre von den fünf Hüllen, kosha, des menschlichen Bewusstseins zum Ausdruck, die es in wachsender Verdichtung um oder aus dem innersten Kern unseres Wesens kristallisieren. Die wichtigste und äußerste dieser Hüllen ist der aus Nahrung gebildete physische Körper annamaya kosha. Die nächste ist die diesen Körper durchdringende, atmende und genährte, aus dem Prana gebildete feinstoffliche Hülle pranamaya kosha, die wir als pranischen oder ätherischen Körper bezeichnen können. Die nächstfeinere Hülle ist die durch unser aktives Denken gebildete Persönlichkeit, unser Gedankenkörper manomaya kosha. Die vierte Hülle ist der über unser aktives Denken hinausgehende, die Gesamtheit unserer geistigen Fähigkeiten umfassende potenzielle Bewusstseinskörper vijnanamaya kosha. Die letzte und feinste, alles vorhergehende durchdringende und zugleich innerste Hülle ist der von Freude, ananda, genährte, aus Freude geborene Körper des höchsten universellen Bewusstseins andamaya kosha, der nur im Zustand der Erleuchtung oder hohen Stufen der Meditation erlebt wird. Diese Hüllen“ ‒ noch immer Govinda ‒ „sind also nicht als aufeinanderfolgende getrennte Schichten, die sich um einen festen Kern ansetzen, zu verstehen, sondern als sich gegenseitig durchdringende Prinzipien vom feinsten, allseitig leuchtenden, alles durchstrahlenden Bewusstsein bis zum materialisierten Bewusstsein als Körper in sichtbare Erscheinung tritt. Die jeweils feineren Hüllen erfüllen und schließen die gröberen in sich ein.“

[Das] finden Sie in ganz vielen spirituellen, religiösen Traditionen dieser Erde, ähnliche Modelle, Stufenmodelle, holarchische Modelle ineinander verschachtelter Hierarchien, Holarchien, von Schichten, Stufenebenen der menschlichen Gesamtwesenheit. Zitat Ende.

„Der zweite Körper, der als pranischer oder ätherischer Körper bezeichnet wird, hat in den siebenstufigen Modellen eine etwas engere oder eingeschränktere Bedeutung. Er gilt für die pflanzliche Ebene des Organischen als ätherischer Körper oder Lebenskörper, Vitalseele, ist der Mensch quasi ein pflanzliches, ein bloß vegetatives Wesen.“ Jetzt kommt die Stelle, wo in diesem Buch zum ersten Mal der Begriff Pflanzen-Selbst eingeführt wird. „Wenn man in bewusster Unschärfe den Begriff ,Selbst‘ hier einführt, kann man dem Lebenskörper auch als das Pflanzen-Selbst des Menschen bezeichnen.“ Kann man. Ich hab das ja vorhin schon einschränkend gesagt, das ist ein Hilfsbegriff, den man nicht verding­lichen sollte. Davor möchte ich warnen. Man kann und soll nicht diesen Begriff zu einem Ding, zu einem Etwas machen, es ist eine Hilfsvorstellung, um etwas sehr subtiles, sehr schwer zu Greifendes in das Wort zu bringen.

Also: „Wenn man in bewusster Unschärfe den Begriff Selbst hier einführt, kann man den Lebenskörper auch als das Pflanzen-Selbst des Menschen bezeichnen, den physischen Körper als das Stoff-Selbst, da folgt auf das Pflanzen-Selbst das Tier-Selbst, also das, was im 7er-Modell als der astralische Körper, Astralleib seinerseits gilt oder als der animalische Empfindungs- und Gefühlskörper. Auf dieser Stufe und als diese Stufe ist der Mensch Tier, sind Materies-Selbst und Pflanzen-Selbst eindeutig präpersonal, das heißt vor jeder Ich­haftigkeit, Personalität, so tauchen auf der darauffolgenden Stufe Ansätze von Ichhaftigkeit auf. Fraglos haben höhere Tiere, etwa Katzen oder Hunde, eine Art von Ich-Gefühl. Das Tier-Selbst steht mit einem Fuß im Präpersonalen, mit dem anderen, dem schwächeren schon im personalen Bereich. Pflanzen-Selbst und Tier-Selbst sind Ausdrucksformen der Seele, und zwar im Sinne wie an anderer Stelle gegebenen Bestimmung als Formkraft oder Formprinzip des Organischen. Mentale Ichhaftigkeit als wirkliche Fähigkeit zur Selbst­reflexivität taucht erst auf der Stufe mit dem eigentlichen Verständnis menschlichen Selbst auf. Mental-Selbst gleich ichhaftes Menschen-Selbst. Die Ich-Stufe ist die des Mentalkörpers oder Gedankenkörpers. Hier ist der Mensch er selbst und er trägt die drei anderen Selbste, Materie, das Pflanzen- und Tier-Selbst, als integrale Teile in sich. Wenn diese drei Selbste als Natur gelten, dann ist die so verstandene Natur ein Teil des Menschen und nicht umgekehrt.“ Auch Ken Wilber, in verschiedenen seiner Bücher, stellt das immer wieder dar. Dass es hier also eine holarchisch geschichtete Ordnung gibt, wobei die jeweils höhere Ebene die niederen Ebene einschließt und gleichzeitig überschreitet, „to transcend and include“, das trifft auch hierfür zu.

Eine ganz andere Frage ist, ob dieses Pflanzen-Selbst, das habe ich vorhin als Frage formuliert, eine Art Bewusstseinskern hat, einen Ich-Kern. Das kann man sehr schwer entscheiden. Wir rühren damit an eine Frage, die uns auch noch immer wieder beschäfti­gen wird, die Frage nach einem vor-ichhaften Bewusstsein. Das wird uns ja noch in 14 Tagen beschäftigen oder in drei Wochen: Haben Pflanzen, können Pflanzen eine Art von Bewusstsein haben, das ja nicht ein zerebral, über ein Nervensystem vermitteltes Bewusstsein ist, sondern das ja ein anderes Bewusstsein sein muss, ein gleichsam elementareres Bewusstsein jenseits des zerebralen, jenseits des Nervensystems. Also ist das möglich? Ist das denkbar? Ist das vorstellbar? Und wenn ja, können wir uns da in irgendeiner Form über unser sogenanntes Pflanzen-Selbst einklinken?

Ich muss noch einen anderen Gedanken hier anführen, der auch zu dem Pflanzen-Selbst gehört. Auf der einen Seite ist das Pflanzen-Selbst in meiner Vorstellung ein integraler Teil der höheren Ganzheit Mensch, in gewisser Weise ein Teil, der in der höheren Ganzheit aufgehoben ist, auch im Sinne Hegels auf einer höheren Stufe bewahrt ist, nicht zerstört, also im Sinne auch Hegels der Bewahrung. Auf der anderen Seite aber ist das Pflanzen-Selbst auch der Kontakt, die Verbindung mit dem, was ich mit vielen anderen die planetare Intelligenz nenne. Das heißt, die Pflanzenwesenheit hat Anteil an dem, was ich die planetare Intelligenz nenne, die in gewisser Weise, ich sagte das ja schon vor 14 Tagen, eine Art kosmisches Bewusstsein darstellt, mit aller Vorsicht gesagt. Eine kleine Stelle noch einmal aus „Was die Erde will ‒ was wissen die Pflanzen“, da heißt es, ein längerer Abschnitt:

„Zweifellos gibt es eine planetare Intelligenz.“ Viele sagen das, ich sage das auch. Es gibt sehr viele Argumente, die man dafür anführen kann, das im Einzelnen will ich nicht vertiefen. Das habe ich in der Vorlesung im Sommersemester 2001 sehr ausführlich getan, die Frage der Erd-Organismus-Vorstellung, die uns dann noch beschäftigen wird am 11.6. im Zusammenhang mit dem Demeter-Kult. „Fraglos gibt es eine planetare Intelligenz, und wahrscheinlich hat auch das, was wir als pflanzliche und tierische, ja wohl auch menschliche Intelligenz verstehen, hier ihren Nährboden und Quellgrund. Die Pflanzen-Intelligenz etwa, scheint die gesamte Oberfläche des Planeten zu umspannen. Pflanzen sind die eigentlichen Katalysatoren des Lebendigen. Die Fähigkeiten der Pflanzen grenzen ans Wunderbare, und ganz offenbar verfügen sie über Empfindungs- und Wahrnehmungskräfte rätselhafter Art. Rätselhaft insofern, als hier kein Nervensystem vorhanden ist als materielles Substrat oder Korrelat für diese Bewusstheitsvorgänge. Schon Charles Darwin hat dieses Problem beschäftigt, also ein Mann, der als Gründervater des biologischen Reduktionismus gelten kann und der rigoros alles Seelische und Geistige, alles Teleo­logische, aus seiner Theorie verbannt hat. Und doch schreibt er, Charles Darwin, am Ende seines letzten Buches ,Das Bewegungsvermögen der Pflanzen’“, Zitat Charles Darwin, erstaunlich: „Die Behauptung, dass die Enden der Würzelchen einer Pflanze wie das Gehirn eines niederen Tieres funktionieren, dürfte wohl kaum eine Übertreibung sein.“ Erstaunlich, hätte man von Darwin so nicht erwartet. „Die Behauptung, dass das die Enden der Würzelchen einer Pflanze wie das Gehirn eines niederen Tieres funktionieren, dürfte wohl kaum eine Übertreibung sein. Das Gehirn empfängt die Eindrücke der Sinnes­organe und steuert die zahlreichen Bewegungsabläufe.“

Also, diese Frage wird uns noch eingehend beschäftigen. Wir wollen diese beiden Aspekte im Blick behalten, das Pflanzen-Selbst als ein integrierter Teil der menschlichen Gesamtheit, quasi als der Pflanzen-Mensch, als der vegetative Pol der menschlichen Gesamtheit, in der Gesamtholarchie und gleichzeitig, nicht alternativ sondern komple­mentär: das Pflanzen-Selbst als Anteil, als Teilhaber an dem, was ich die planetare Intelligenz nenne. Also beides. Ich finde, es ist beides, Pflanzen-Selbst im Menschen und gleichzeitig die Stelle, an der auch ein Anteil an der planetaren Intelligenz, repräsentiert über die globale Form der Pflanzenwesens, möglich ist.

Eine Frage will ich abschließend noch anschneiden, bevor wir vielleicht noch ein paar Fragen klären können. Die Frage, die hier notwendig hingehört: Wie ist es zum Beispiel mit einem Werkstück, einem Instrument, einem Möbelstück oder Ähnlichem, wenn es nun durch menschliche handwerkliche Tätigkeit bearbeitet, für Menschen funktional vorhanden ist ‒ ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Gestühl, ein Schrank, wie immer? Wie ist es in diesem Falle mit der Pflanzenwesenheit? Sind die Pflanzen in ihrer eigenen Struktur und Tiefe da quasi funktionalisiert, dem Menschen dienstbar gemacht, oder transportieren sie doch noch etwas von ihrem eigentlichen, ihnen eigenen Wesen, also der Eichenschrank oder Eichentisch: Transportiert er noch etwas von dem, was wir als Eiche auch im Sinne dieser ganzheitlichen Vorstellung wahrnehmen, oder nicht? Ich würde sagen, das tut er bis zu einem gewissen Grade, das ist wirklich so.

Das wird uns auch noch in mehreren Zusammenhängen beschäftigen, und dann muss man sagen, was die Eigenart dieser rätselhaften Wesen ausmacht, ist, dass ja in gewisser Weise jedes Exemplar immer das Ganze nicht nur repräsentiert, sondern ist. Jede Eiche repräsentiert nicht nur alle anderen Eichen, sondern sie ist es in gewisser Weise. Jede Eiche ist alle Eichen. Und das ist ein Punkt, der, wenn man darüber mal nachdenkt oder das meditativ gedanklich verfolgt, zu aufschlussreichen Schlussfolgerungen führen kann, wenn man sich das klarmacht, dass es hier nicht um Repräsentanz geht, sondern tatsächliche ontologische Identität: Die einzelne Eiche repräsentiert nicht nur die anderen Eichen, sie ist alle anderen Eichen. Insofern kann über das Einzel-Exemplar das Ganze kontaktiert werden.

So, das wollte ich Ihnen heute in großen Zügen vorstellen. Bevor wir noch ein paar Fragen klären, will ich etwas sagen zum nächsten Mal. Ich möchte dann in der nächsten Vorlesung die Frage behandeln. Warum wachsen Pflanzen? Polarität von Licht und Schwere im Pflanzenreich. Die ganze Frage nach Licht-Finsternis, Polarität Licht-Finsternis, Licht-Gravitation, Wachstums-Vorgänge, die ja wie Sie vielleicht wissen, nicht unbedingt linearer Natur sind, sondern spiralförmig. Es gibt die eine eigentümliche Spiraltendenz, wie Goethe das nannte, im Pflanzenwachstum. Also hochinteressante Fragen, die auch zu tun haben mit dem Licht überhaupt, das uns dann immer mehr auch beschäftigen wird, das hat ja bisher eine erst geringe Rolle gespielt, die Frage nach dem Licht und die Frage nach dem Zusammenhang des kosmischen Lichtes mit solchen Wachstumsprozessen. Wie kann man das denken? Wie kann man das gedanklich vergegenwärtigen in einer nicht-reduktio­nistischen Weise, ohne in allzu spekulative und nicht mehr abzustützende [Ideen] zu gelangen? So, das wollte ich Ihnen heute vorstellen.

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Pflanzen im Bewusstsein der Menschen

Vorlesungsreihe:

Der Mensch, das Licht und die Pflanzen
Naturphilosophie und tiefenökölogische Perspektiven

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2002
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 39

Transkript als PDF:


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Ich habe das heute genannt, „Die Pflanzen im Bewusstsein der Menschen ‒ zur Phänomenologie und Geschichte einer Grundkonstellation“. Ich will einleitend ein kleines, heiteres Aperçu, wenn man das so nennen will, Ihnen vorstellen mit Blick auf die vor uns liegende Nacht, die sogenannte Walpurgisnacht. Sie wissen, die Nacht vom 30. April zum 1. Mai ist die sogenannte Walpurgisnacht, wo allerlei geschieht oder geschehen kann, absonderliche Dinge, siehe Goethe, „Faust I“, aber nicht nur dort. Eines der Bücher, das ich im Literaturverzeichnis aufgenommen habe, das ich für sehr ergiebig halte für die ganze Thematik Mensch und Pflanze stammt von Wolf-Dieter Storl, ein exzellenter Pflanzenkenner … es gibt diese Pflanzen-Devas. Und heute Nachmittag stieß ich auf zwei Stellen hier, die sich beziehen auf die Walpurgisnacht. Das möchte ich Ihnen kurz, ich sage es noch mal, als heiteres Aperçu vorlesen, vielleicht als kleine Anregung für diese Nacht oder auch wie immer. Da heißt es in dem Abschnitt über Philanthropen, es geht um echte Heilpflanzen und Nahrungspflanzen. Da ist in Abschnitt Zwei, Nachtschattengewächse: „Ihnen verdanken wir Nahrungspflanzen wie Kartoffeln, Tomaten, Eierfrucht, Aubergine, Gewürze wie Paprika und Cayenne-Pfeffer und auch Genuss- und Rauschgifte wie Tabak, Bilsenkraut, Stechapfel oder Tollkirsche. Letztere sind richtige Zauberpflanzen. Ohne Tabak wagte kein Indianer den Geistern nahezutreten. Bilsenkraut und Tollkirsche, bekanntlich Bestandteil der Hexensalben, lockern die Seele vom Leib und lassen sie“ ‒ hier ist jetzt, was die Walpurgisnacht-Geschichten schildern ‒ „in der Astralwelt herumflattern. Dieser Familie wurde der Name ,Nachtschattenʻ gegeben, weil die giftigsten unter diesen Pflanzen der Seele Augen verleihen, mit denen die Schatten oder Schatten der Nacht sichtbar werden.“

Darüber werden wir noch sprechen, dass bestimmte Pflanzen, eingenommen, wie immer, auch in der Lage sind, Grenzzustände des Bewusstseins zu induzieren, die sogenannten „psychoaktiven Pflanzen“, auf die er sich hier bezieht, in diesem Falle auf Bilsenkraut, Tollkirsche und Stechapfel. Eine zweite Stelle: „Acht Liliengewächse, Lilienzwiebeln, Knoblauch, Lauch, Porree und Schnittlauch sind vitaminreich und stärken unsere Abwehrkräfte. Zudem sollen sie böse Geister vertreiben. Jeder Dracula-Fan weiß, hält Knoblauch die Vampire fern, und wer zu Walpurgis eine kräftige Bärlauch-Suppe isst, dem wird keine Hexe ein Leid antun können.“ Also das wäre sozusagen das Antidot dazu, die Bärlauch-Suppe. Das zuvor, ein Buch, was ich immer wieder heranziehen werde und Ihnen wirklich wärmstens ans Herz oder an die Seele lege, „Pflanzen-Devas“, hier noch in der alten Ausgabe von 1997, ich habe es im Literaturverzeichnis angegeben unter der neuen Ausgabe von 2001 mit einem geringfügig veränderten Titel „Pflanzen-Devas ‒ die geistig-seelischen Dimensionen der Pflanzen“.

Ich habe vor einer Woche ein Element unseres kollektiven Bewusstseins heute hervorgehoben, das ich genannt habe, „die kollektive Verlegenheit“ im Hinblick auf den jetzt aufbrechenden, aufquellenden, uns vielfältig durchströmenden und durchwaltenden Frühling. Wahrnehmungen dieser Art ergreifen viele Menschen, durchfluten sie gewissermaßen, aber es gibt eine Scheu, eine Hilflosigkeit auch, ein sprachliches Unvermögen, sich diesen Phänomenen auf eine adäquate Weise zu stellen, d. h. sie im sozial verbindlichen Raum wirklich zur Sprache zu bringen. Das ist der Punkt, das wissen wir alle, dass es diese Art kollektive Verlegenheit gibt, und allein das ist ein Zeichen für ein tiefgreifend gestörtes, neurotisch abgespaltenes Verhältnis zu diesen rätselhaften Wesen, die auf dieser Erde sich anfinden, nämlich den Pflanzen.

Ich habe eine Stelle gefunden heute Nachmittag in einem ganz anderen Buch, das auch noch einmal diesen Punkt anklingen lässt, mit einer anderen Sprache, aus einer anderen Perspektive. Das ist von Rupert Sheldrake „Wiedergeburt der Natur“ von 1991, da äußert er sich auch zu diesem Punkt. Ich darf das mal kurz vorlesen: „Auch moderne Städter möchten nicht ganz ohne Pflanzen und Tiere sein. Millionen von Menschen halten sich Hunde, Katzen und andere Haustiere. In Großbritannien kommen unzählige Tauben-Narren hinzu, die häufig eine sehr enge Beziehung entwickeln zu den Tieren, die sie selbst züchten und in die Wettkämpfe schicken. Millionen von Haushalten verfügen über liebevoll gepflegte Gärten und Gärtchen, und Topfpflanzen gibt es fast überall.“ Das wissen wir, man könnte zunächst einmal vordergründig von einer sehr intensiven seelisch-geistigen Beziehung des Menschen zu den Pflanzen sprechen, wenn man das als Maßstab nähme. „Zu Darwins Zeiten wurde nicht so scharf getrennt zwischen ernsthafter wissenschaftlicher Forschung und der eher von Amateuren betriebenen Naturgeschichte. Darwin selbst war solch ein Naturkundler. Er lebte als Privatgelehrter ohne akademische Stellung. Die Professionalisierung der Biologie, die Ende des vorigen Jahrhunderts begann, also des 19. Jahrhunderts, hat jedoch inzwischen eine tiefe Kluft entstehen lassen zwischen den akademischen und sehr auf ihre Karriere bedachten Naturwissenschaftler einerseits und den Naturkundlern, die einfach aus Liebe zur Sache forschen, andererseits. Beim Amateur geht man generell davon aus, dass seine Kenntnisse und Erkenntnisse an die der akademischen Wissenschaft nicht heranreichen.“ Das ist Konsens allgemein, Du weißt nichts, der Experte weiß alles. „Mir scheint das Gegenteil zuzutreffen. Die Erkenntnis des Naturkundlers, die aus einer innigen Beziehung zur Natur erwächst, ist tiefer und wahrer als die Fakten, die man mittels distanzierter mechanistischer Analyse gewinnt. Im Idealfall ergänzen und erhellen die unmittelbare Erfahrung des Naturliebhabers und die systematischen Forschungen des professionellen Wissenschaftlers einander. So hat sich bei der Erforschung des Vogelzugs eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Amateur-Ornithologen ergeben. Erkenntnis, die wir aus der Erfahrung von Pflanzen und Tieren gewinnen, ist nicht etwa ein minderwertiger Ersatz für wissenschaftliches Faktenwissen, sondern das Eigentliche und Primäre. Nur direkte Erfahrung führt uns über das rein intellektuelle Verstehen hinaus zu einem intuitiven und praktischen Erfassen der Dinge, an denen nicht nur der Verstand, sondern auch Herz und Sinne beteiligt sind.

Auf dem Land, im Wald, in den Bergen, an der See, irgendwo in der Natur finden wir manchmal eine direkte Verbundenheit mit der Lebendigkeit der Welt, und es ist wichtig, diese unmittelbare Naturerfahrung zur Kenntnis zu nehmen. In seltenen Fällen hat dieses Gefühl tiefer Übereinstimmung die Kraft mystischer Erfahrung voller Licht, Staunen und Freude. Sobald wir aber in den Alltag zurückkehren, sind wir versucht, solche Erfahrungen als bloß subjektiv ad acta zu legen, als etwas, das nur in uns selbst stattfand, aber keine reale Teilhabe an einem größeren Lebensganzen darstellte. Wir sollten dieser Versuchung widerstehen. Unsere intuitive Naturerfahrung ist realer und direkter als alle Theorien, die mit der Mode kommen und gehen.“ Und so weiter.

Das wird [uns] noch immer wieder beschäftigen, dass eine wesentliche Dimension in dem Bemühen, so etwas wiederzugewinnen wie eine authentische Beziehung mit den Pflanzen, dass da die eigene ganzheitliche, integrale Erfahrung zentral ist. Das heißt nicht, dass die Theoriebildungen, Modelle unwichtig wären, aber das Primäre ist zunächst einmal die unmittelbare, ganzheitliche Erfahrung, die den Einzelnen auch unmittelbar betrifft, die ihn unmittelbar ergreift als ganzen Menschen. Das wird uns immer wieder hier beschäftigen.

Es gibt ein berühmtes Fragment des griechischen Philosophen Herakleitos bzw. Heraklit, das sehr bekannt ist und das ich hier anführen möchte: „Die Natur liebt es, sich zu verbergen.“ Natur hier verstanden, gedacht als Physis. Ich habe Ihnen das erläutert, was Physis im Altgriechischen bedeutet, nicht das im engeren Sinne, was heute Natur ist. „Die Natur liebt es, sich zu verbergen.“ Hierzu findet sich eine ganz interessante Passage bei Gernot Böhme, diesmal nicht aus dem Buch „Phänomenologie der Natur“, das ich das letzte Mal erwähnt habe, sondern aus einem anderen Buch „Natürlich Natur ‒ über Natur und Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“. Er greift diesen Satz des Heraklit auf und gibt ihm eine für unseren Zusammenhang sehr aufschlussreiche signifikante Wendung. Gernot Böhme schreib: „Eine der frühesten Formulierungen der von uns betrachteten Art ist wohl der Ausspruch des Heraklit ,Die Natur liebt es, sich zu verbergenʻ. Dieser Satz enthält eine innere Spannung, um nicht zu sagen einen Widerspruch, weil Natur, das griechische Wort ist Physis, ja selbst das Aufgehende, das Hervortretende meint.“ Das griechische Wort „Physis“ kommt von „phyain“, „blühen“, das hatte ich erwähnt, „aufgehen“. Das lateinische Wort „Natur“ von „nasci“, „geborenwerden“. „Diese innere Spannung ist von Heidegger auch an einem anderen Spruch des Heraklit nachgewiesen worden, der da lautet ,Wie könnte sich einer vor dem niemals Untergehenden verbergen?ʻ, bestimmt zusammen mit der Grundauffassung des Heraklit von der Natur, dass sie nämlich eine Harmonisierung von Gegensätzen sei. In seinem Spruch ,Die Natur liebt es, sich zu verbergen.ʻ bringt er eine solche Grunderfahrung mit der Natur zum Ausdruck, dass sie nämlich in ihrem überwältigenden, Sich-zeigen“ ‒ und jetzt der entscheidende Satz ‒ „dass sie nämlich in ihrem überwältigenden Sich zeigen zugleich dunkel bleibt und das Eigentliche häufig verschließt. [Was] für eine eigenartige Paradoxie: auf der einen Seite ein ungeheureres Sich-zeigen, wie ja jetzt auf eine überwältigende Weise im Frühjahr, dieses Sich-zeigen ist aber zugleich dunkel und verschließt das Eigentliche. Auch hier handelt es sich offenbar um die Nennung eines Charakterzuges der Natur, der zugleich die Summe von Erfahrung zieht, von einer Maxime zur Untersuchung der Natur darstellt.“

Das kann man generell zeigen, dass Pflanzen als ein wesentliches Element dessen, was wir auch alltagssprachlich als Natur bezeichnen, auf der einen Seite sich entbergen und gleichzeitig auch verbergen. Das Entbergen ist immer auch ein Verbergen. Das ist einerseits zeitlich, im zyklisch-rhythmischen Ablauf des Jahres, der Jahreszeiten, jedermann geläufig. Aber das gilt auch grundsätzlich, prinzipiell, für jedes Phänomen, für die Knospe, für die Blüte, für das Blatt und vieles mehr. Immer ein Entbergen und ein Verbergen. „Geheimnisvoll offenbar“ nannte das Goethe mit einer sehr treffenden Formulierung, nicht, „geheimnisvoll Offenbares ist offenbar jedermann zugänglich, phänomenologisch erschließbar. Zugleich deutet es auf etwas, was nicht zur Erscheinung kommt.“

Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson, stark beeinflusst von der deutschen Philosophie, hat Mitte des 19. Jahrhunderts in einem großen Essay „Nature“ diesen Punkt ganz zentral herausgehoben. Natur enthüllt sich, verspricht, kündigt gewissermaßen etwas an, aber verbirgt sich dann, taucht dann wieder ab in das Rätsel, in das Mysterium, in das nicht Offenbare. Sie ist Erfüllung und Versprechen gleichzeitig, sie erfüllt sich niemals selbst, sie regt im Menschen etwas an, was sie gewissermaßen übersteigt, was sie gewissermaßen transzendiert.

Nun wollte ich heute sprechen über den Zusammenhang von Pflanzen im Bewusstsein der Menschen und Bewusstseinsgeschichte. Das ist ein so riesiges Thema, dass man sich beschränken muss auf einige Aspekte, die ich auch bringen will. Ich will mich beschränken auf den Zusammenhang bzw. auf den Bruch, wenn man das so nennen will, des mythischen Bewusstseins, am Beispiel der Pflanzen, hin zum mentalen, zum rational ichhaften Bewusstsein. Das kann man sehr schön zeigen an einem weltberühmten Mythos, den Richard Strauss zu einer Oper gefasst hat, geformt hat, das habe ich letztes Mal schon angedeutet, nämlich zu der Oper „Daphne“. In dieser „Daphne“ geht es ja zentral um einen mythischen Stoff. Dazu gleich mehr. Daphne ist eine Nymphe, die in der Flucht, in der Flucht vor Apollon, der ihr nachstellt, sich verwandelt in einen Lorbeerbaum, also [es geht] um eine Verwandlung eines nichtmenschlichen Wesens, aber auch nicht rein göttlichen Wesens, die Nymphen sind halbgöttliche Wesen, in diesem Falle eines Baumwesens. Das Baumwesen flieht vor Apollon und verwandelt sich in einen Lorbeer.

Zunächst zu den Nymphen. Ich habe mich da noch einmal ein bisschen sachkundig gemacht, um das Ihnen möglichst umfassend darzustellen. Zu den Nymphen. Karl Kerényi, der große große Mythenforscher, äußert sich in seinem Buch „Griechische Mythologie“ zu den Nymphen. Das ist ganz zentral wichtig für das Mensch-Pflanze-Verhältnis in der mythischen Sphäre. Darauf will ich jetzt primär eingehen, auf die mythische Sphäre und dann den Schritt machen zu jenem rätselhaften Bruch vom Mythischen zum Mental-Ichhaften, einem Bruch, dem wir ja letztlich als Bewusstseinswesen entstammen und, von dem wir tief beeinflusst und durchdrungen sind. Nymphen, das Wort „Nymphe“ bedeutet „ein weibliches Wesen“, sagt Kerényi, durch das ein Mann zum Nymphios, das heißt zum Glücklichen, am Ziel seiner Männlichkeit angelangten Bräutigam wird. Die Bezeichnung gebührte einer großen Göttin ebenso wie einem sterblichen Mädchen, [es] wurde aber von einem Wesen nur gesagt, dass es eine Nymphe sei, und selbst wenn es ausdrücklich Göttin und Tochter des Zeus hieß, so war darin die Unvergänglichkeit der großen Götter noch nicht mit einbegriffen. Ewig waren zum Beispiel die Nereiden, die den Nymphen am nächsten standen, ewig wie das Meer, ihr Element. Doch jene unter den Wassernympfen, Najaden oder Najades, die zu Quellen und nicht zu größeren Gewässern gehören, waren ebenso wenig unvergänglich wie die Quellen selbst. Noch weniger waren es die Nymphen, die mit Wald und Wiese, besonders mit einzelnen Bäumen verbunden waren, wie die Dryaden oder Hamadryaden, die Eichen-Nymphen.
… und der Gedanken, die in vielerlei Hinsicht heute in den letzten 20, 25 Jahren wieder ins Bewusstsein gezogen werden, gerade im Zusammenhang mit den Bemühungen, diese tiefere Dimension der Pflanzen, unter anderem auch der Bäume, wiederzufinden. „Sie starben mit ihren Eichen. Es gab eine alte Berechnung der Lebensdauer der Nymphen.“ ‒ kann ich jetzt auslassen ‒ „ähnlich hieß es schon in der Erzählung von Aphrodite und Anchises, wo die große Göttin ihren sterblichen Sohn den Nymphen des Ida-Gebirges, tiefbrüstigen Göttinnen anvertraute, denn häufig als Mütter waren die Nymphen Ammen der Götter und Helden, Stellvertreterinnen der Mutter und deren Doppelgängerin. Sie sind weder Menschen noch Unsterbliche, so lautete es in jener Erzählung. Sie leben lang, nähren sich von Ambrosia und tanzen mit den Göttern ihren Reigen. Mit ihnen treiben die Selene und Hermes das Liebesspiel in den Winkeln der lieblichen Grotten. Fichten und Eichen begannen zu wachsen bei ihrer Geburt und gediehen wie sie. Mächtig stehen die Bäume, Götterhaine nennt man sie, weil die Sterblichen hüten sich, sie mit Eisen zu berühren. Doch wenn das Schicksal ihnen den Tod bringt, verdorren zuerst die schönen Bäume. Sie verlieren ihre Rinde, die Zweige brechen ab, und damit verlässt auch die Seele der Nymphen das Sonnenlicht.“

Also wenn die Nymphen sterben, dann manifestiert sich das für das sterbliche Auge als das Sterben der Bäume. „Man ersieht aus diesen Worten, wie die Nymphen zuerst mit den Bäumen der Götterhaine in Verbindung traten, vor allem mit Bäumen, die einer größeren Göttin lieb waren und auch deren Leiden, so wurde erzählt, der Göttin selbst weh taten. Früher wie später erschienen die Nymphen auch ganz für sich schönen Angesichts mit langen Gewändern bekleidet, von Hermes angeführt, meist drei an der Zahl.“ Im Daphne-Mythos ist nun … Karl Kerenyi, der berühmte Mythen-Jugendforscher und Freund Thomas Manns, der sich ja mit dem griechischen Mythos intensiv beschäftigt hat in seinem Buch „Griechische Mythologie“, schreibt dies über die Nymphen.

Nun erzählt die Oper von Richard Strauss ja einen ganz spezifischen Mythos, in dem es um die Nymphe Daphne geht, die, wie ich schon gesagt habe, sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, eine magische Metamorphose in die Pflanze, in den Baum. Dazu heißt es, auch das habe ich mir noch mal rausgeschrieben aus dem „Lexikon der antiken Mythen und Gestalten“ von Michael Grant und John Hazel über Daphne. Das muss ich vorabschicken, um dann den Bogen zu spannen von der von Richard Strauss behandelten Geschichte, die mir dann den Anhaltspunkt gibt, um das Mensch-Natur-Verhältnis im Mythos abzugrenzen zum Rational-Mentalen. „[Daphne ist eine] Nymphe, Tochter des thessalischen Flusses Peneios, eine jungfräuliche Jägerin, die 18 ist. Es gibt zwei Geschichten über Daphne. In der ersten verliebte sich Leukippos in sie. Da er doch ihre Unerbittlichkeit erkannte, verkleidete er sich als Mädchen, um in ihrer Nähe sein zu können. Sein Haar ließ er ohnehin lang wachsen zu Ehren des Flusses Alpheios. Nun nannte er sich Oino und bat mit Daphne zusammen jagen zu dürfen. Sie willigte ein. Der eifersüchtige Apollon gab ihren Gefährten den Gedanken ein, zu baden und als der als Oino verkleidete Leukippos nicht mitbaden wollte, entkleideten sie ihn. Als sie sein Geschlecht entdeckten, brachten sie ihn für seinen Betrug um.

Nach der zweiten bekannteren Geschichte über Daphne vermochte auch Apollon selbst nicht, sie zu gewinnen. Weil der Eros, den Gott der Liebe, verspottet hatte, musste sich Apollon in Daphne verlieben. Eros schoss zwei Pfeile vom Parnass ab. Der eine durchbohrte Apollons Herz mit seiner vergoldeten Spitze und machte ihn wahnsinnig in Liebe nach Daphne. Der andere Pfeil war stumpf und hatte eine Spitze aus Blei und machte Daphne für jeden Liebhaber unzugänglich. Apollon verfolgte sie durch die Wälder, bis er sie an den Ufern von ihres Vaters Fluss Peneios beinahe eingefangen hätte.“ Jetzt kommt die entscheidende Szene, die ja letztlich das Ganze aufbaut. „Sie schickte ein Stoßgebet um Rettung zu dem Flussgott, schlug augenblicklich Wurzeln und verwandelte sich in einen Lorbeerbaum, dem sie ihren Namen gab. Apollon musste sein Werben aufgeben, aber als Gott der Musik und des Bogens bestimmte er, dass künftig ein Lorbeerkranz seine Leier, seinen Köcher und das Haupt der Sänger zieren sollte.“ Diese Oper, übrigens läuft sie immer noch in der Deutschen Oper, seit drei Jahren, ein wunderbares musikalisches Werk von Richard Strauss und einer gelungenen, suggestiven, magisch schwirrenden Musik, sehr zu empfehlen, weil Richard Strauss hier den Versuch macht, der gelingt, ein Verwandlungsmysterium eines menschenähnlichen Wesens, in diesem Falle der Nymphe, auch in Musik zu versetzen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, wenn diese Oper eine Unterzeile hätte oder tragen könnte, dann könnte diese auch lauten: „Der Mensch, das Licht und die Pflanzen“, denn es geht letztlich um den Menschen, in diesem Falle um Loikippos, es geht um das Licht Apollon, der auftritt, es geht um den Lorbeerbaum, in den sich Daphne verwandelt. Am Ende gibt es diese wunderbare Verwandlungsmusik, übrigens interessant, sie steht in Fis-Dur, nur eine kleine musikologische Randbemerkung.

Vielleicht kennen einige die berühmte Aussage von Franz Schubert, der Ton Fis repräsentiere die Farbe Grün. Das ist viel umrätselt, man hat viel darüber spekuliert, was meint Schubert damit? Wieso sagt er, die Note Fis sei grün oder repräsentiere Grün? Ist das ein Aperçu? Liegt dem ein tieferes Ahnen zugrunde? Wir können dazu direkt nichts sagen. Auf jeden Fall, die Verwandelungsmusik am Ende ist in Fis-Dur. Also Apollon verfällt in Liebe zu Daphne. Leukippos liebt Daphne. Diese beiden Männer werden Rivalen. Der Gott und der sterbliche Mensch. Beiden verweigert sie sich. Sie flieht. Apollon ist auch gleichzeitig das Licht und schließlich flieht sie, Leukippos wird getötet, und in ihrer Verzweiflung verwandelt sie sich in diesen Lorbeerbaum. Und dann gibt es diese eigenartige, rätselhafte Musik am Ende, die im Werk von Richard Strauss eine Einmaligkeit darstellt. Ich habe hier mal das Programmheft mitgebracht der Deutschen Oper. Da wird diese Musik am Ende wunderbar beschrieben: „… in der Singstimme mit einzelnen solistisch behandelten Instrumenten, vor allem der Holzbläser, konzertiert. Hier sind behutsame Regungen und Stimmungen der Naturverbundenheit in Klänge gefasst, die man nicht so leicht vergisst. Wo findet sich bei Strauss ein Klangbild, das sich mit dem eigentlichen Croma des stillen Naturfriedens von Daphnes Verwandlung in den Lorbeerbaum vergleichen ließe? Wie sich diese Metamorphose musikalisch in schleierzartem Fis-Dur vollzieht, der Klang aus dem reinen … immer mehr in das vielverästelte Farbenflimmern der geteilten Streicher, der Harfe und der übrigen Instrumente sich aus- und auflöst, schließlich aufgenommen und fortgesponnen in den vogelhaft zwitschernden Koloraturen des freischwebenden Soprans. Das ist Empfindung, die Empfindung Gleichnis der großen Offenheit der Natur in meisterlicher Formgebung.“ Und so weiter. Auf jeden Fall ein faszinierendes Beispiel, wie künstlerisch, musikalisch ein solches Verwandlungsmysterium dargestellt ist, anhand eines Stoffes aus dem antiken Mythos.

Und nun muss man grundsätzlich sich erst einmal im Klaren werden: Was ist eine solche Pflanze? Was sind Pflanzen überhaupt in der griechisch-mythologischen Vorstellung, um dann den entscheidenden Bruch zu verstehen, der sich abgezeichnet hat hin zum Mental-Rationalen.

Ich habe eine Stelle gefunden, die ich Ihnen vorlesen möchte von Hermann Schmitz, die zunächst einen ganz anderen Zusammenhang hat. Hier ist nicht von Pflanzen die Rede, nicht von Natur im engeren Sinne, aber hier ist von diesem Bruch die Rede, der sich vollzogen hat, von der mythischen Welt, von dem Mythischen In-der-Welt-sein, das eine ganz eigene Beziehung auch zum Pflanzlichen beinhaltet, das Pflanzliche immer als beseelt, immer als selbstlebendig. Das ist zentral wichtig. Die Natur, die Pflanzen in der mythischen Welt, ist immer das Selbstlebendige, das ist niemals das Draußen, niemals das Objekthafte für die Subjekthaftigkeit des Menschen, das ist immer das dialogisch mit dem Menschen Kommunizierende, das Andere seinerselbst in einem lebendigen Wechselspiel, also das Selbstlebendige. Sehr schön hat das, bevor ich den Schmitz vorlese, Wolfgang Schadewaldt mal in einem seiner Bücher formuliert. In seinen „Tübinger Vorlesungen“, 1978, schreibt er dazu: „Entscheidend müssen wir nur hervorheben, dass auch für diesen nüchternen griechischen Denker ‒ selbst noch für eher rational geprägte Denker ‒ die Natur immer das lebendige Handeln ist, nie Objekt wird, sondern immer ein Du, nicht bloß ein Es. Die Pflanzen als ein Du, als ein lebendiges Gegenüber, mit dem es zu einer lebendigen seelisch-geistigen Interaktion kommt. Kein Es, das abstrahierend oder objektivierend da draußen hingestellt werden könnte. Sie, die Natur, auch die Pflanzen, wird als göttlich verstanden. Nicht einfach, dass sie ein Gott sei. Dazu ist sie zu unbestimmt. Sie ist ein Prinzip, und das nennen die Griechen nicht Gott. Aber neben den Göttern gibt es andere fruchtbare Aspekte auf das Seiende hin, indem wir das Ganze des Seienden unter diesem Aspekt sehen, als ein sich entfaltenes Wachsen und Walten, das heilig und göttlich ist, haben wir die Naturvorstellung, die bei den Griechen gültig bleibt bis zum Ende der Antike und damit auch die mythische Vorstellung.“ Also selbst bei den Philosophen, die das Mythische im engeren Sinne überschreiten, finden sich noch Restbestände des mythischen Bewusstseins, was die Natur und die Pflanzen betrifft. „Der größte Unterschied des modernen Naturbegriffs von dem antiken liegt darin, dass sie nun säkularisiert wird im christlichen Bereich, zumal bei Descartes mit seiner Trennung von res extensa und res covitans, wo der denkende Geist des Menschen gegenübergestellt wird der ganzen übrigen Welt, zusammengefasst in dem großen abstrakten Begriff der Ausdehnung. Das große, treibende Wesen, bei dem Form und Leben vielmehr zusammengehört wird jetzt zur Materie unter dem Aspekt der Ausgedehntheit, noch dazu nicht mehr göttlich durchwaltet, sondern nur Schöpfung.“ Und so weiter.

Was für uns Heutige das so schwierig macht, uns in eine Bewusstseinsform auch mehr versuchsweise hinein zu verlieren, allenfalls vielleicht im Künstlerisch-Musikalischen, liegt darin, dass wir Erben einer geistig-seelischen Entwicklung sind, die wir kaum noch als solche infrage stellen und kaum noch als solche überhaupt durchschauen. Man muss erstmal diesen Punkt begreifen, um dann in tiefere Schichten vorzudringen. „Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur“, schreibt Hermann Schmitz in diesem wunderbaren kleinen Buch „Der Leib, der Raum und die Gefühle“, „verstehe ich“ ‒ schreibt er ‒ „die zähprägende Schicht vermeintlicher Selbstverständlichkeiten zwischen der unwillkürlichen Lebenserfahrung einerseits, den Begriffen, Theorien und Bewertungen andererseits den Filter bilden, der in jedem Bewusstsein zunächst erstmal vorhandenen ist, ein geschichtlich bedingter und geprägter Filter.“ Ein Filter, der jede Naturwahrnehmung, jeder Pflanzenwahrnehmung tagtäglich ständig bestimmt. „Die Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was so wichtig genommen wird, das durch Worte und Begriffe Eingang in Theorien und Bewertungen findet. Die Abstraktionsbasis einer Kultur wird teilweise durch die Suggestionskraft sprachlicher Strukturen, zum anderen durch epochale geschichtliche Prägung bestimmt.“ ‒

Jetzt sehr schön ‒ „Wir stecken gleichsam in einem Urwald geschichtlicher Vorprägungen, der nicht durch den bloßen Entschluss zur Unbefangenheit in freies Feld verwandelt werden kann.“ Das geht so naiv im Schnellverfahren nicht. Also der bloße Entschluss, hier unbefangen zu sein allein, führt so zunächst nicht weiter. „Vielmehr muss man sich durch den Urwald durchschlagen, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen und in hinlänglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzungen zu sein.“ Was schwer ist, weil das moderne Denken, unser aller Denken bis zu einem gewissen Grade ja genau auf diesen Voraussetzungen basiert. Die ganze neuzeitliche Naturwissenschaft, auch die Biologie basiert ja zunächst einmal auf diesen geschichtlich geprägten Voraussetzungen. „Deswegen ist Phänomenologie nur im Zusammenhang mit kritisch-historischer Einstellung sinnvoll. Diese muss für die Zwecke der Neuen Phänomenologie“ ‒ sagt er jetzt hier ‒ „ohne auf Pflanzen und Natur sich zu beziehen“ ‒ kann man trotzdem für unseren Zusammenhang fruchtbar machen ‒ „diese muss für die Zwecke der Neuen Phänomenologie hauptsächlich den für die prägende Dominanz in der europäischen Intellektual-Kultur entscheidenden Paradigmenwechsel bei den Griechen in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts ins Auge fassen.“

Da ist eine Schlüsselstelle. Grob gesagt, ein halbes Jahrtausend vor der Zeitenwende bemerkt man einen Bruch. Das kommt leider nicht genügend deutlich in der Antiken-Ausstellung, die jetzt im Martin-Gropius-Bau [Ausstellungsort in Berlin] zu sehen ist, zum Ausdruck, kommt implizit heraus, wird aber nicht klar genug artikuliert in den Exponaten und in den jeweiligen Erklärungen. Also wenn Sie die Ausstellung vielleicht gesehen haben, werden Sie das nachvollziehen. Dieser Bruch kommt nur implizit heraus. „Die meisten Versuche, sich durch das Labyrinth der Verkünstelungen des Denkens und Wollens historisch zurückzutasten, brechen viel früher ab, nämlich bei den großen Barockdenkern des 17. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Hobbes, Galilei, Descartes und Leibniz. Diese Denker haben keine neue Abstraktionsbasis gelegt, sondern auf der ererbten weitergebaut, um durch Formulierung des Prinzips und der Methode der Weltbemächtigung“ ‒ den Begriff hat er von Heidegger übernommen ‒ „das in der längst etablierten Perspektive schlummernde Potenzial in der folgenden Explosion des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts zu befreien. Indem man sich davon mitreißen ließ, ist die Verkünstelung inzwischen so weit gediehen, dass das Denken den Spezialisten der Computermanipulation und das Zeugnis vom Sichbefinden und Zumutesein der Menschen dem nahezu ausgestorbenen Volk der Dichter überlassen werden muss. Diese Scherung ist gefährlich, weil es unter der Oberfläche der Rationalisierung die ungesichtete Dynamik des affektiven Betroffenseins staut und irgendwann unkontrolliert durchbricht, zum Beispiel in Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus.“

Interessant, seine These hier, kann man hier nur am Rande mal berühren. Dass gerade weil in der herrschenden Abstraktionsbasis diese ganzheitlich-leiblichen, integralen Momente unterpflügt worden sind, dass gerade dadurch diese Elemente in der Tiefe, tiefenpsychologisch gesprochen, neurotisieren und dann ein gefährliches Aggressionspotenzial darstellen. „In der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, kurz vor Platon und Aristoteles, ereignet sich im europäischen, das heißt hier griechischen Denken, ein Bruch, durch den sich an die Stelle eines archaischen Paradigmas für das menschliche Welt- und Selbstverständnis, ein neues Paradigma setzt, das seither die dominante europäische Intellektual-Kultur bestimmt. Das alte Paradigma bezeichne ich als archaischen Dynamismus. Seine Abstraktionsbasis besteht in vielsagenden Eindrücken, die typisiert und in einem polarisierten Schema von Kräften und leiblich gespürter Grundlage geordnet werden.“ Wichtig ist, dass in dieser mythischen Weltbefindlichkeit, in diesem mythischen In-der-Welt-Sein, das rationale Ich, die mentale Ichhaftigkeit noch nicht jene Stufe erreicht hat, die dann dazu führte, dass das sich quasi selbst ergreifende, zu sich selbst ermächtigende Ich sich nun als getrennt empfindet. Das ist ja eine magische Stelle in der Geistesgeschichte, zu sehen, wo das Ich sich herauskristallisiert, das mentale Selbst sich zu sich selbst hin ermächtigt und dann in gewisser Weise ein Schnitt passiert, eine Abtrennung und dann solche Vorstellungen, wie zum Beispiel eine magische Metamorphose von Wesen ineinander, im Sinne des Daphne-Mythos praktisch unmöglich wird. Das ist also eine ganz entscheidende Stelle, dass man das zunächst einmal grundlegend versteht.

Das Mythische In-der-Welt-sein ist ein Welt-Sein, ist ein In-der-Welt-Sein, was nicht primär rational, mental, ichförmig geprägt ist. Und in diesem Zusammenhang spielen auch die Pflanzen herein. Die Pflanzen sind nicht selbst Götter, aber sie sind göttlich. In ihnen und hinter ihnen webt und waltet ein Göttliches, das Göttliche, zum Beispiel in der Mittagshitze, wenn die Sonne senkrecht steht, das eigentümliche Erscheinen des Pan, das den einzelnen in einen panischen Schrecken versetzen kann und ihn jäh die numinose, sakrale Kraft der Natur erkennen lässt. Alle Pflanzen sind in diesem Sinne göttlich, sie sind sakral, sie sind seelisch-geistig, primär seelisch-geistig. Ihre physisch-sinnliche Erscheinungsform ist nur in gewisser Weise die Auswirkung, das Epiphänomen. Dahinter wirkt ein seelisch-geistiges Prinzip. Das muss man zunächst einmal verstehen. …

In-der-Welt-sein. Jetzt blickt [man] auf das gegenwärtige in-der-Welt-sein, das im mental-ichhaften Bewusstsein. Dann erhebt sich natürlich sofort die Frage, die uns auch immer wieder beschäftigen wird in diesem Sommersemester: Ist es möglich, dass der Mensch in seiner mentalen Ichhaftigkeit, die er im Laufe eines langen Prozesses erworben hat, trotzdem eine tiefe, eine integrale, ja geradezu eine kosmische Rückbindung an die Pflanzen gewinnen kann? Oder ist das, was ich häufig die ontologische Barriere nenne, zwischen Mensch und Pflanze, unübersteigbar?

Einige werden sich daran erinnern, dass ich das im Zusammenhang mit Mensch und Tier gesagt habe: Es gibt eine ontologische Barriere, die uns erst einmal grundsätzlich durch unsere Ichhaftigkeit, durch unsere Mentalstruktur den Zugang zu Bereichen vor dieser Ichhaftigkeit verwehrt. Wir haben zunächst einmal kein genuines bewusstseinsmäßiges In-ein-Tier- oder In-eine-Pflanze-Eindringen. Sicherlich gibt es in Grenzzuständen des Bewusstseins das immer wieder, das wird ja auch berichtet in den verschiedensten mystischen Zusammenhängen, auch im Zusammenhang mit psychoaktiven Pflanzen. Das ist richtig, aber wir haben keinen, wir haben kaum eine Möglichkeit, diese ontologische Barriere grundsätzlich zu überschreiten. Und da liegt der entscheidende Punkt bei diesem Thema: Ist es möglich, bei Aufrechterhaltung der mentalen Ichhaftigkeit trotzdem tiefere Schichten des Pflanzlichen zu erschließen, als sie sich erschließen können in einer abstraktionistischen von-außen-Betrachtung, die wir ja kennen, einer analytischen, antagonistischen Sichtweise, die ja die herrschende ist. Daneben diese subjektiven Räume, die wir auch kennen, die jeder auf seine Weise erschließt, poetisch, mystisch, schwärmerisch, auf jeden Fall unverbindlich, kollektiv sozial unverbindlich. Das habe ich ja auch schon gesagt. Diese Räume sind subjektive Innenräume, sie haben keine sozial verbindliche Gestalt, und es fehlt eine sozial verbindliche Sprache, die sich in einer Hilflosigkeit bekundet. Auch was die Schöne, das Schöne betrifft.

Das hat zum Beispiel auch Gernot Böhme in seinem Buch hier dargestellt, in einem eigenen Essay über Natur-Ästhetik. Einer der Wenigen heute in Deutschland, die sich um diese Fragen Gedanken macht. Gibt es das naturästhetisch Schöne? Könnte das wiederbeleben, ohne dass es peinlich wird oder dass es obsolet ist? Dass es einfach nicht adäquat ist. Ich will Ihnen kurz eine Ergänzung bringen zu dem Verwandlungsmysterium. Natürlich gibt es Verwandlungsmysterien ganz ähnlicher Art, wenn auch anders gebaut, auch in magischen Bewusstseinsformen, in archaischen Bewusstseinsformen weltweit, auch in anderen mythischen Zusammenhängen. Ich bin heute Nachmittag auf einen Punkt gestoßen, den ich Ihnen kurz darstellen will. Der betrifft den Stechapfel, Datura, wo auch ein ähnliches Verwandlungsmysterium, vollkommen anders dargestellt wird. Hier wird ein Mensch in eine Pflanze zurückverwandelt, also kein halbgöttliches Baumwesen wie die Daphne. Wolf-Dieter Storl schreibt in seinem Buch „Pflanzen-Devas“: „Die Zigeuner sehen sich als Kinder des Stechapfel-Deva.“ Deva, darüber sprechen wir noch hier, jetzt einmal nur verstanden als das seelisch-geistige, gleichsam kosmische Wesen, was hier Storl unterstellt für die Pflanzenwelt, als Hypothese erst einmal. „Viele Ethno-Botaniker glauben, der Stechapfel, datura stramonium, sei im Mittelalter mit den Zigeunern nach Europa gelangt. Der Pflanzenkenner Ritter von Perger vertritt die Ansicht, dass alle Künste der Zigeuner auf der genauen Kenntnis der Säfte des Stechapfels beruhen. Eine von Zigeuner-Forscher Heinrich von Wlislocki wiedergegebene Sage erzählt vom Ursprung der Zigeuner.“ Jetzt kommt dieses Verwandlungsmysterium, ganz anders als das von Daphne. „Einst heiratete ein heilkundiger Zauberer eine Frau unter der Bedingung, dass sie ihm ohne Widerspruch gehorche.“ ‒ Soll vorkommen. ‒ „Ständig war der Mann unterwegs, um den Kranken zu helfen. Einmal kehrte er spät in der Nacht, erschöpft von einem Krankenbesuch heim. Er bat seine Frau, ihn am nächsten Morgen rechtzeitig zu wecken, da er einen weiteren Patienten besuchen wollte. Da er aber besonders tief schlief, brachte es die Frau nicht übers Herz, ihn zu wecken, sondern ließ ihn bis Mittag ausschlafen. Dieser Ungehorsam erboste ihn so sehr, dass er sie verfluchte und mit diesen Worten in eine Stechapfel-Pflanze verwandelte, jetzt sein Fluch: Werde nun eine Pflanze, von Tieren und Menschen gemieden, die in ihrer Frucht so viele Körner enthält, als sie Kinder auf die Welt gebracht hat. Deine Kinder sollen die ganze Welt durchwandern und dich überall hin führen. Hierauf verschwand der Magier und aus der Frau entstand der Stechapfel, den ihre zahlreichen Kinder mit sich in die Welt führten und überall verbreiteten. Man sagt, die Zigeuner stammen von den Kindern dieses Ehepaares ab.“

Der Igel … habe ich mit Überraschung gelesen. Der Igel ist den Zigeunern heilig, weil er stachelig wie ein Stechapfel ist. Er ist der Datura-Deva in Tiergestalt. Derart gibt es ganz viele solcher Verwandlungsmysterien menschlicher Wesenheiten in Pflanzenwesenheiten, übrigens auch umgekehrt, in beiderlei Richtung. Das lässt auf eine im Frühbewusstsein der Menschheit vorhandene, ganz tiefe, seelisch-geistig-stoffliche, feinstoffliche wie immer, Verbindung schließen, die zwischen Mensch und Pflanze besteht. Wenn man davon ausgeht, dass diese Verbindungen letztlich zu tun haben mit einer Instanz im Menschen, mit einer Qualität im Menschen, mit einer Fakultät im Menschen, die ich das Pflanzenselbst nenne. Darüber möchte ich das nächste Mal sprechen. Sie wissen, dass ich davon ausgehe, dass es eine Art Tierselbst im Menschen gibt. So gibt es auch ein Pflanzenselbst. Über das Pflanzenselbst, das uns noch beschäftigen wird, kann man, so meine ich, dass man das plausibel machen kann, auch in der ichhaften Bewusstseinserfahrung in einer tieferen Schicht das Pflanzliche kontaktieren. Und doch, und das ist wichtig, nicht im Sinne einer Regression, denn das ist ja der entscheidende Punkt: Müssen wir gewissermaßen regredieren oder können wir das in die wachbewusste Ichhaftigkeit, auch in die ganze Dimension der Freiheit rücken?

Storl scheint sich auch mit diesen Fragen beschäftigt zu haben, wenn auch nur ansatzweise. Er zitiert hier einmal ein Wort Friedrich Schillers wie folgt: „Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren.“ ‒ Jetzt die entscheidende Zeile ‒ „Was sie willenlos ist, sei du es wollend. Das ist’s. Was sie willenlos ist, sei du es wollend. Das ist’s.“ Leicht poetisch, metaphorisch dahingesagt, aber was heißt das konkret, was heißt das in der lebendig gelebten Wirklichkeit? Was sie willenlos ist, sei du es wollend. Das ist’s. Also, über dieses Pflanzenselbst werden wir uns noch eingehend unterhalten. Die Frage wird uns immer wieder beschäftigen: Ist das möglich? Oder ist es eine Fiktion? Das müssen wir immer zumindest in Erwägung ziehen, ob es vielleicht dann doch nur eine Art Fiktion ist, eine Phantasmagorie und keine Wirklichkeit. Wenn es die ontologische Barriere dann wirklich so gibt in dieser radikalen Form, dann kommen wir letztlich aus unseren eigenen Projektionen, auch was die Pflanzen betrifft, nicht hinaus.

Wer mehr darüber forschen und nachdenken möchte, den möchte ich verweisen, ohne dass ich im Einzelnen das hier darstellen möchte, auf dieses Buch: „Was die Erde will“, wo ich die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit auch im Zusammenhang mit dem angedeuteten Sprung vom mythischen Verbundensein zum Rational-Ichhaften dargestellt habe. Übrigens auch ein großes Kapitel hier über Pflanzen: „Was wissen die Pflanzen?“ Ich habe hier einen Zusammenhang hergestellt zwischen den Pflanzen und der planetaren Intelligenz und die These vertreten und die auch bis zu einem gewissen Grade, denke ich mal, begründet, plausibel gemacht, dass es des Menschen Aufgabe sein müsste, das quasi kosmische Bewusstsein, in Anführungszeichen, der Pflanzen, übermittelt über die planetarische Intelligenz, in die eigene Ichhaftigkeit zu überführen. Also eine sehr weitreichende und man kann auch sagen kühne, schwierige These, den Pflanzen eine Art kosmisches Bewusstsein zuzuweisen und nun anzunehmen, der Mensch könne über seine mentale Ichhaftigkeit und auch über die Dimension der Freiheit diese Schicht für sich erschließen und dadurch in gewisser Weise, mit aller Vorsicht gesagt, erst das Pflanzliche, jetzt in Anführungszeichen gesprochen, erlösen. [Das sind] ganz weitreichende, im Grunde äußerst subtile und schwierige Gedanken, die hiermit angesprochen werden.

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Neue Phänomenologie: Raum des Leibes, Raum der Physik

Vorlesungsreihe:

Das lebende Buch der Natur, Teil III
In-der-Welt-Sein, Im-Leib-Sein. Zur Philosophie und Phänomenologie des Leibes

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2000
Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 53

Transkript als PDF:


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Das ist der dritte Teil einer vier-semestrigen Reihe, eines vier-semestrigen Zyklus mit dem Titel „Das lebende Buch der Natur“. Und wie generell in den letzten drei, vier Jahren kehre ich in gewisser Weise aus dem Kosmos zurück auf die Erde im Sommer. Ich habe die letzten drei Wintersemester, im weiten Sinne, Fragen der Kosmologie behandelt, Mensch, Erde, neue Naturphilosophie, neue andere Kosmologie und in den letzten drei Sommersemestern weit gefasst Fragen von Ökologie, von Geomantie, von Polarität in der Erfahrung hier auf der Erde, eben auch in der Leiberfahrung. Insofern ist die Frage des Leibes uns immer wieder schon begegnet. Ich habe heute zum mal zum ersten Mal seit vielen Jahren die Leibfrage jetzt in den Mittelpunkt gerückt.

Also das lebende Buch der Natur, Teil 3 heißt jetzt: „In-der-Welt-Sein, Im-Leib-sein ‒ zur Philosophie und Phänomenologie des Leibes“. „In-der-Welt-sein“: Das ist ja ein Begriff, ein Terminus, der auf Heidegger zurückgeht. In seiner Zeit 1927 taucht er auf und meint, kurz gesagt, kurz gefasst, eine elementare Grundgegebenheit der Existenz. Der Mensch ist nicht einfach im Nirgendwo. Er hängt nicht in einem Irgendwo, sondern er hat einen konkreten Ort. Der Mensch ist nicht ortlos, er ist nicht weltlos, sondern er hat einen Ort in der Welt, ja, er ist seinem Wesen nach, ein Wesen, das sich bestimmt durch das In-der-Welt-sein. Das mag sich fast banal anhören, ist aber keineswegs banal. Denn die traditionelle Philosophie hat diesen Sachverhalt, der sich auch, wie wir sehen werden, über die Leiblichkeit vermitteln lässt, in großen Teilen ausgeklammert. Das In-der-Welt-Sein wurde weitgehend eliminiert. Also In-der-Welt-sein: Ich spreche eher und vielleicht präg­nanter noch in meinem Kontext vom In-Sein des Menschen. Also der Mensch ist ein In-sein-Wesen. Seinem Wesen nach ist er immer innerhalb absoluter und relativer Zusammen­hänge. Es gibt ein Darin des Menschen, und dieses Darin ist unter anderem der Raum und der Kosmos. Der Mensch ist ein Im-Kosmos-sein-Wesen. Das ist wichtig.
Philosophie und Phänomenologie des Leibes. Was heißt das? Phänomenologie ist ein Begriff, das will ich kurz erläutern, der nicht selbstverständlich ist. Er geht auf die griechische Philosophie zurück und bezieht sich auf die Phänomene, auf das, was erscheint, also ein Phänomen ist etwas, was erscheint. Der Begriff „Welt der Erscheinungen“ als ein Begriff für die phänomenale Welt, „die Welt der Erscheinung“ geht auf Kant zurück. Kant hat den Begriff erfunden, der bis heute übrigens auch in der Naturwissenschaft verwendet wird, „die Welt der Erscheinungen“. Ein sehr schwieriger, ein auch missverständlicher, ja geradezu diffuser Begriff, denn er wirft sofort Fragen auf. Wenn diese Sinnenwelt eine Welt der Erscheinungen ist, dann stellt sich sofort die Frage: Was erscheint da? Was ist dieses Erscheinende und für wen erscheint es? Und das hatte ja Kant ziemlich eindeutig beant­wortet: Diese Welt ist eine Welt der Erscheinungen für ein bestimmtes Subjekt, für das, was er das „transzendentale Subjekt“ nannte. Also nicht unbedingt für den je Einzelnen, sondern für das transzendentale Subjekt, was jeder Einzelne in sich trägt und ist. Und das hat große Verwirrung und ungeheuer viel Diskussion ausgelöst. Was erscheint da eigent­lich? Und was verbirgt sich in dieser Erscheinungswelt? Und das wird uns also beschäftigen.

Und Phänomenologie des Leibes bezieht sich auf das In-der-Welt-Sein im Hinblick auf die Frage, welche leiblich erfassbaren, leiblich erfahrbaren Phänomene lassen sich in einen konsistenten philosophischen Zusammenhang bringen? Das setzt voraus, dass man überhaupt diese Phänomene erkennt, dass man sie überhaupt zulässt und dass man eine Sprache dafür hat. Das ist ja nicht selbstverständlich, dass man eine Sprache findet für das eigene Im-Leib-sein, das eigene In-sein auch als Leibwesen. Und wenn man die Philoso­phiegeschichte sich anschaut, dann stellt man fest, dass die Sprache, was diesen Bereich betrifft, eher unterentwickelt ist. Dass sie also erst einmal, in erster Lesung, weitgehend nuancenlos ist, dass viele bedeutende Philosophen oder die als solche gelten, kaum etwas ausgesagt haben über die ungeheure Differenzierung, die unvorstellbare Subtilität, der Leiberfahrung. Das findet man eigentlich erst in Ansätzen bei Schopenhauer, vorher fast überhaupt nicht. Bei Schopenhauer, bei Nietzsche und dann bei anderen, Husserl, Heidegger und anderen, auch Sarte zum Teil, findet man also den Versuch, die Leib­erfahrung auch sprachlich auszudifferenzieren.

Am extremsten und faszinierendsten bei einem zeitgenössischen Philosophen, der in diesem Semester eine große Rolle spielen wird, bei dem Philosophen Hermann Schmitz, einem mittlerweile emeritierten ehemaligen Philosophieprofessor aus Kiel, der in einem riesigen Werk wie kein anderer Leib-Philosophie betrieben hat, die er „Neue Phänome­nologie“ nennt und wie kein anderer an einer ungeheueren Breite und auch sprachlicher Differenzierung und einem ungeheuren Nuancenreichtum Dinge philosophisch quasi in die Sprache, überhaupt in die philosophische Dignität gehoben hat, die bis dahin gar nicht sprachlich-philosophisch in Erscheinung getreten war. Also faszinierend bis in Kleinig­keiten hinein, bis in das Spüren der Gliedmaßen, das Spüren von Atmosphäre. Also das ist ein ganz wichtiger Punkt im Kontext dieser Phänomenologie, und das will ich in diesem Semester versuchen zu entwickeln, dass wir ja alle, wenn wir erfahren, auf eine ganzheitliche Weise immer in bestimmten Psycho-Atmosphären stehen, auch in diesem Raum zum Beispiel, in diesem Moment. Wir sind ja immer in bestimmten Psycho-Atmosphären. Das hat die Philosophie weitgehend unbeachtet gelassen. Die Naturwissen­schaft auch, weil Psycho-Atmosphären sind kein Gegenstand der objektivierenden, exakten, der mathematisierenden Naturwissenschaften. Das ist sozusagen nur subjektiv, in Anfüh­rungszeichen.

Und da spiegelt sich eine uralte Trennung, die desaströs gewirkt hat, dass man auf der einen Seite das sogenannte Objektive, das Mathematisierbare, das technisch Umsetz­bare vollkommen abgespalten hat von dem sogenannten Subjektiven, von dem sogenann­ten subjektiven Fühlen, von dem gesamten Bereich der Subjektivität überhaupt. Sie kennen ja alle wahrscheinlich die berühmte Lehre von John Locke über die primären und sekun­dären Sinnesqualitäten. Da wurde ja gesagt, die primären Sinnes-Qualitäten, das eigentlich Objektive sind die Dinge in ihrer Gegenständlichkeit, in ihrer Ausdehnung, Raum-Zeit­lichkeit, in ihrer Bewegung, in ihrer Substanzhaftigkeit, in ihrer Materialität. Der Rest, Farben z. B., Empfindungen für Phänomene, ganzheitliche Zusammenhänge usw. Gefühle, all das ist subjektiv. Insofern ist es grundsätzlich nicht objektivierbar. Das hängt ja auch mit den Antinomien zusammen, wie das immer behauptet worden sind, zwischen Männlichem und Weiblichem, die Frau, das Weibliche, und die Frau hat das Gespür für die Psycho-Atmosphären, spürt intuitiv raus, was los ist, welche Atmosphäre vorherrscht, während der Mann in diesem eher objektivierenden Sinne eigentlich die Psycho-Atmosphäre von Vor­gängen eher draußen vor lässt.

Und das ist ein spannender Punkt, und das will ich auch versuchen in diesem Semester darzustellen. Das Klima, die Aura, die Psycho-Atmosphäre unserer Leib-Erfahrung ist tatsächlich konstituierend für Erfahrung überhaupt. Das geht bis in feinste Wahrnehmungen, auch jetzt im meteorologischen Sinne klimatischer Zusammenhänge, auch geographischer Zusammenhänge. Und das alles spielt in die Wahrnehmung von Welt [oder Selbst] ganz entscheidend mit hinein, also die Atmosphäre. Ich will mal ein konkretes Beispiel nennen, wo mir das besonders deutlich geworden ist, was psychische Atmosphäre auch im wissenschaftlichen Apparat bedeutet. Damit ist man jetzt an einem konkreten Beispiel. Es war am 5. April in der Urania eine große Diskussion im Jahr der Physik, 2000 gilt als Jahr der Physik. Sie wissen es vielleicht. Die Urania hat ein großes Happening, kann man sagen, gemacht mit hochkarätigen Physikern. „Reise zum Urknall“, die Urania war voll mit Schaubildern, mit Physikern, die den Laien erklärt haben, wie das Weltall funktioniert in ihrer Sicht. Und dann gab es da eine Podiumsdiskussion an diesem 5. April mit Top-Physikern über den Urknall. Ich saß mit auf dem Podium. Ich war eingeladen, Humboldt Saal, 600 Leute im Saal. Was ich sagen will, ist Folgendes: Im Vorfeld saßen wir in einem Raum zusammen, das war eine Art Vorbesprechung über diese Fragen, und ich spürte psycho-atmosphärisch, sage ich mal, eine ganz dichte, schwierige Atmosphäre, was das Thema betrifft, denn ich spürte sofort, das wusste ich auch theoretisch, intellektuell, also mental, aber ich spürte es auch wirklich fast physisch, dass ein vollkommenes Einver­ständnis herrschte in diesem Kreise der Physiker über die Faktizität dieses ominösen Urknalls. Nun bin ich bekannt dafür, dass ich den Urknall für eine Fiktion halte und für schlecht gestützt. Und ich spürte also eine … , sozusagen einen physischen, fast physischen Druck in dieser Gruppe und spürte auch, dass das mich beeinflusste, im Vorfeld dieser Diskussion also eine merkwürdige Aura herrschte. Ich wusste auch, die würde im Saal herrschen, weil vorne die ersten Reihen waren besetzt mit Physikern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und viele, auch aus dem Wissenschaftsministerium, waren anwesend, es war ja eine Co-Produktion der Deutschen Physikalischen Gesellschaft mit dem Wissenschaftsministerium. Und es bedurfte sozusagen einiger kontemplativer Übungen, um dann diese Psycho-Atmosphäre soweit abzustreifen, dass ich dann mit einer relativen Freiheit die Dinge dann wirklich sagen konnte, die nach meiner Überzeugung zu sagen waren. Und das gilt generell für solche Zusammenhänge.

Es gibt auch in den großen Wissenschaftsapparaten, gibt es immer ganz bestimmte Psycho-Atmosphären,die bis in die Resultate der Experimente hineingehen. So weit geht das. Es gibt also nicht nur einen Gruppendruck, dass ganz bestimmte favorisierte Theorien bestätigt werden müssen, wenn dann Messwerte auftauchen, die sie widerlegen, dann wird es schwierig. Nein, es gibt auch ein gesamtes Klima, und das ist nicht Thema von Wissen­schaft. Das wird überhaupt nicht im eigentlichen Sinne philosophisch und wissenschaftlich thematisiert. Also um diese Fragen soll es gehen. Phänomenologie des Leibes.

Was ist Leib? Ich habe ganz bewusst diesen Begriff benutzt, der ja nicht Körper ist und will mal versuchen einleitend, das überhaupt klar zu machen. Körper im Sinne der Physik ist ein Etwas, ein raumzeitlich, dingliches Etwas. Der Tisch ist ein Körper. Dieses Gestühl, das sind Körper. Wir, als Gestalten, als Leib-Wesenheiten sind auch, sofern wir physisch-sinnliche Körper sind, Körper, wir sind Körper, wie andere Körper auch, der Gravitation unterworfen und damit der Gesamtheit dessen, was die physisch-sinnliche Welt physikalisch bestimmt. Das sind wir auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber sind wir gleichzeitig, mal unabhängig von der Frage, was wir als Seele sind, was wir als Geist sind, sind wir als Leib-Wesen nie identisch mit dem Körper. Das kann man mit einer ganz einfachen Grundwahrnehmung sich vergegenwärtigen, wenn man mal den Versuch macht, bei geschlossenen Augen in den eigenen Körper hineinzuspüren. Was nimmt man wirklich wahr?

Es ist erstaunlich, kann Ihnen das ja mal als sozusagen als meditative Denkübung quasi nahelegen. Man staunt, wenn man sich mal dieser Erfahrung überlässt, was man wahrnimmt, auch das, was man nicht wahrnimmt. Es ist nämlich verblüffend, dass man in keiner Weise sich selber in Gänze als Körper wahrnimmt. Man nimmt sich selber von innen als Leib eher undeutlich wahr. Das Ganze ist ein undeutliches Etwas, ein fast fließendes Gebilde, ein fluktuierendes Gebilde der Innenwahrnehmung, in dem sich, wie das Hermann Schmitz sagt, verschiedene sogenannte Leibes-Inseln befinden. Sie können das wirklich meditativ in der Selbsterfahrung versuchen herauszuspüren. Sie haben große Schwierig­keiten, eine klare Topografie ihres eigenen Körpers zu finden nur vom leiblichen Spüren aus. Auf der anderen Seite haben sie eine Leibempfindung, eine Spürfähigkeit, die weit über den physischen Körper hinausreicht. Sie sind sozusagen leiblich immer viel mehr, sind viel weiter, sind viel ausgedehnter als der physische Leib, anders als der physische Leib, als der Körper, andererseits wiederum weniger, zum Beispiel die ganze organische Innenaus­stattung des Menschen, die inneren Organe sind im Normalfall nicht bewusstseinsfähig. Der Mensch läuft also gewissermaßen, um das mal etwas plakativ zu sagen, als Hohlraum durch die Welt. Innen ist er vollkommen hohl in der Selbstwahrnehmung. Das ist wichtig.

Es geht hier um Bewusstseins-Phänomenologie. Es geht nicht um Anatomie. Es geht nicht um Physiologie. Es geht nicht um Medizin. Es geht um die Selbstwahrnehmung. Und das hat der Hermann Schmitz auf eine wunderbare Weise in seinen Büchern zum Ausdruck gebracht, wie kein anderer. Also Leib ist Wahrnehmung, spürende Wahrnehmung von innen, die natürlich Berührungspunkte hat mit der physisch-sinnlichen Körperlichkeit. Aber das ist nicht deckungsgleich. Sie können das beobachten, etwa ein Schmerz, ein Kopfschmerz. Wo sitzt der Kopfschmerz? Sie können sagen, gut das ist Pochen, das ist Ziehen, das ist bohrend. Sie können versuchen, diesen Kopfschmerz zu beschreiben. Sie werden aber feststellen, dass Sie immer in eine gewisse diffuse Form der Wahrnehmung hineinkommen, dass Sie Mühe haben, das Ganze streng organisch-sinnlich zu lokalisieren. Ganz zu schweigen davon, Traurigkeit ‒ ist ja eine Gefühlsqualität, ist ja kein Wahn. Der Traurige ist ja wirklich traurig. Wo sitzt die Traurigkeit? Was ist eine Bedrücktheit? Was ist eine freudige Erregung? Was ist eine erotische Erregung? Wo sitzt das? Das ist immer ganz leiblich und gleichzeitig sehr schwer im Einzelnen wirklich zu festzumachen. Man ist da also in einem schwierigen Bereich, der wirklich bis vor Kurzem überhaupt nicht philosophiefähig war. Die Philosophen haben es überhaupt nicht für wert befunden, über diese Fragen ernsthaft nachzudenken. Das fanden sie überhaupt kein Thema, was sich lohnt, intellektuell-theoretisch zu behandeln.

Das ist schade. Denn es gibt da sehr, sehr viel Faszinierendes zu entdecken. Ich bring mal ein kurzes Zitat aus einem Büchlein von Hermann Schmitz, ist auch auf der Litera­turliste drauf, wo er in wunderbar knapper Form seine Definition des Leibes nennt. Also ich habe ja plakativ gesagt, Leib ist der Körper von innen, ist einerseits mehr als der physische Körper, auf der anderen Seite weniger als der physische Körper. Nicht, das geht ja bis in die Frage, das kennen Sie ja diesen Punkt, der Phantomgliedmaßen hinein. Phantomgliedmaßen, etwa nach Amputationen, werden ja wie reale Körperteile empfunden, ganz real empfunden, obwohl sie physisch-sinnlich nicht vorhanden sind. Also der Leib, Hermann Schmitz, „Der Leib, der Raum und die Gefühle“. Zitat Hermann Schmitz: „Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und des perzeptiven Körperschemas, das heißt des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsgebildes vom eigenen Körper zu stützen.“

Das perzeptive Körperschema ist die ganzheitliche Körperempfindung, die jeder hat von sich selber. Jeder von uns hier im Raum hat eine ganzheitliche Grundvorstellung, wie er aussieht, wie er im Raum ist. Das haben übrigens zum Teil auch Tiere, denken Sie an das ganze Phänomen der Mimikry, also offenbar in irgendeiner Form ein Körperschema, das nennt Hermann Schmitz das perzeptive Körperschema. Also, der eigene Leib ohne dieses perzeptive Körperschema und ohne die fünf Sinne. „Der Leib ist besetzt mit leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteilbar, flächenlos ausgedehnt.“ ‒ Das will ich noch im Einzelnen erläutern … und wenn ich Schmitz behandle … flächenlos … Dieser innere Leib hatten im engeren Sinne keine klar definierbare Flächen, keine Außenflächen. Er endet nicht bei der Hautoberfläche, gar nicht. „Er ist unteilbar flächenlos ausgedehnt und als prädimen­sionales, das heißt nicht bezifferbar dimensioniertes, d. h. nicht dreidimensionales Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt.“

Also das wird uns ja noch beschäftigen mit dem Raum. Dieser Raum des Leibes ist nicht im eigentlichen mathematisch-geometrischen Sinne oder euklidischen Sinne ein dreidimensionaler Raum. Das ist wichtig. Er ist, wie das Hermann Schmitz sehr schön sagt, vordimensional. Er ist also eine Art Raum … , entsteht aus einem Raumgefühl vor der euklidischen Dreidimensionalität. „Man macht sich das leicht am leiblich spürbaren Einatmen klar. Es wird in Gestalt einer Insel in der Brust und auch Bauchgegend gespürt, in der simultan Engung und Weitung konkurrieren, wobei anfangs die Weitung und später gegen Ende des Einatmens die Engung überwiegt.“ Kontraktion, Expansion. „Diese Insel ist voluminös, aber weder von Flächen umschlossen, noch durch Flächen zerlegbar und daher auch nicht dreidimensional, die ist nicht teilbar.“ Das ist wirklich eine Ganzheitlichkeit, „da Drei als Dimensionszahl nur aufsteigend von der Zwei her sinnvoll eingefügt werden kann. Solch ein dreidimensionales Volumen kommt auch in anderen Erfahrungsbereich vor, etwa im Wasser für den Schwimmer, der nicht auf die Oberfläche blickt und als Schall-Volumen, das beim schrillen Pfiff scharf, spitz und eng ist, beim dumpfen Gong oder Glockenschlag aber ausladend, weit und weich. Der Leib ist fast immer, außer zum Beispiel im heftigen Schreck, von solchen Leibes-Inseln besetzt, ein Gewoge verschwommener Inseln, die sich ohne stetigen Zusammenhang meist flüchtig bilden, umbilden und auflösen, in einigen Fällen aber auch mit mehr oder weniger konstanter Ausrüstung beharren. Dies besonders im oralen und analen Bereich und an den Sohlen.“

Also erstaunlich, der erste Philosoph der Geschichte, der auch die anale Empfindung für philosophiewürdig hält. Erstaunlich. „Solche Leibes-Inseln kommen auch außerhalb des eigenen Körpers vor, z. B. als Phantomglieder der Amputierten. Seine Einheit erhält der Leib nicht durch einen stetigen Umriss. Seine Haut kann man besehen und betasten, aber nicht am eigenen Leib spüren. Die Weckung von Aufmerksamkeit auf die eigene Haut in der Vorstellung anhand des perzeptiven Körperschemas kann allerdings die Sensibilität für das Spüren von Leibes-Inseln steigern. Die Einheit des Leibes ist einerseits dynamisch durch die Gebundenheit an die Enge in Gestalt einer Engung oder Spannung, die entweder aktuell gespürt wird, oder in Abwesenheit indirekt aufdringlich.“ Also, und so weiter.

Also, Sie haben in dem, was hier als Leib bezeichnet wird, eine innerleibliche Erfahrung des Spürens. Diese ist nicht, ich sage es noch mal, im euklidischen Sinne drei­dimensional und auch nicht mathematisch-geometrisch zu fassen. Es hat eine Unschärfe. Wenn Sie das versuchen, werden Sie immer große Schwierigkeiten haben, dieses Volumen in irgendeiner Form räumlich präzise zu bestimmen. Warum das wichtig ist, warum solche Fragen überhaupt wichtig sind, ist naheliegend. Wenn man mal einen Blick wirft auf die geistige Gesamtsituation und auf das, was man seit 20, 25 Jahren als ökologische Krise bezeichnet, dann ist das ganz eindeutig. Es ist ja in den letzten zwanzig Jahren unendlich viel diskutiert und geschrieben worden über die Frage: Was ist eigentlich diese sogenannte ökologische Krise? Wie kommt es eigentlich, dass der Mensch, das tut er ja offenbar, unaufhaltsam seine sogenannten natürlichen Lebensgrundlagen zerstört? Er tut es, unaufhaltsam, Tag für Tag. Er mag als Einzelner das ablehnen, ja geradezu moralisch verurteilen. Aber das Gesamte, die gesamte sogenannte Megamaschine rollt, wie man vermuten muss, vollkommen ungebremst weiter, und alle Bemühungen, das zu verstehen oder gar zu modifizieren oder zum Stoppen zu bringen, sind bislang gescheitert. Man hat den Verdacht, dass etwas fundamental gar nicht verstanden worden ist, dass wir offenbar gar nicht verstanden haben, was wirklich passiert. Und es ist ja eine von vielen Interpretationen, die immer mit einigem Recht auch gegeben worden sind, zu sagen: Der Mensch hat eine Abspaltung vollzogen. Und wenn von Abspalten die Rede ist, dann wird häufig ins Spiel gebracht, ich habe das ja auch in verschiedenen Zusammenhängen gesagt, eine Abspaltung auch von der eigenen Leiblichkeit.

Wenn [es] seit ebenfalls 20, 25 Jahren einen ungeheuren Boom sogenannter Körper­therapien gibt, dann ist das ja ein Symptom dafür, dass eine zunehmende Zahl von Menschen einfach begreift, dass es darum geht, was Ken Wilber sagt, „Reown the body“, den Körper in gewisser Weise wiederzugewinnen. Also Körpertherapie als Versuch in diesem Sinne den Leib oder den Körper bzw. den Leib zurückzugewinnen. Ich spreche im Zusammenhang mit der ökologischen Krise von einer kollektiven Neurose, einer kollek­tiven Abspaltung, die passiert ist, und zwar eine kollektive Abspaltung in doppelter Hinsicht. Ich will das nicht im Einzelnen hier ausführen, ich werde das in vierzehn Tagen nochmal darstellen im Zusammenhang mit der Entstehung des mentalen Selbst. Im Zuge der Entwicklung, der Genesis, der Evolution des mentalen Selbst hat sich ein Ich herausgebildet, das erst einmal weitgehend von allem Leiblichen sich frei wähnt, ja seine eigentliche Würde darin zu finden glaubt, wo der Leib nicht ist. Nicht, wenn man Natur im allgemeinsten Sinne als das verstehen möchte, was von sich aus ist, im Sinne auch einer anerkannten antiken Definition, also der Natur als das von sich aus Seiende. Das ist ja ein Problem des Menschen als Natur und Leibwesen die Frage: Wo ist das von sich aus Seiende im eigenen Leib? Sind wir … , wie kommen wir, wenn wir denn Ich-Wesen sind, quasi leiblose Ich-Wesen, wie kommen wir denn hinein in diese konkrete Leiblichkeit?

Das ist ja eine Frage, die in der ganzen Evolution des Ichs eine ungeheure Rolle gespielt hat und auch natürlich hineinspielt in die ganze Frage von männlich-weiblich. Nicht, das habe ich in meinem Buch „Was die Erde will“ ja eingehend dargestellt. Die Entwicklung also auch der ganzen Geschlechter-Problematik in dem Zusammenhang. Auf jeden Fall ist eine Abspaltung passiert, was ich eine kollektive Neurose nenne. Eine ganz andere Frage ist, ob das notwendig war, ob das vermeidbar war, ob das ein Irrweg war, eine Fehlentwicklung, das kann man auf sich beruhen lassen. Fakt ist, es ist passiert, und es hat eine ganz bestimmte Form des In-der-Welt-Sein des Menschen ausgelöst, an deren Folgen wir heute, an den ungeheuren Trägheitskräften dieser Folgen wir heute alle leiden. Und das ist ein wesentlicher Punkt, warum natürlich die Frage wichtig ist: Wie steht es eigentlich mit dem, was ich das In-Sein des Menschen nenne? Worin ist der Mensch in seiner eigentlichen existenziellen Wesenheit? Und das ist natürlich dann auch eine Frage, was der Mensch überhaupt ist. Und das spielt ja auch in diese ganze Thematik mit hinein. Was ist der Mensch? Ist der Mensch, als der er ja generell von vielen gesehen wird, ein höheres Tier? Ist er letztlich so zu definieren, oder ist er anders und von einer höheren Ebene aus zu definieren und zu bestimmen? Das ist ganz zentral wichtig, die Frage: Was ist der Mensch? Ist der Mensch ein höheres Tier? Was eine mögliche Betrachtungsweise ist, oder ist der Mensch eine Geist-Seele-Gestalt, eine Geist-Seele-Leib-Gestalt in einem ganzheitlich verstandenen Kosmos, der ihn trägt, bestimmt und ermöglicht? Allerdings mit der Freiheit, sich auch geistig-mental von all dem zu trennen, denn das muss als Möglich­keit ja im Menschen liegen, sonst würde es nicht passiert sein. Da kommt das Mysterium der Freiheit ins Spiel. Der Mensch hat immer die Freiheit, die Möglichkeit, sich auch gegen das Ganze zu entscheiden. Die Größe und auch die Tragik des Freiseins im Menschen.

Diese Entwicklung, was ich die kollektive Neurose nenne, geht bis in die feinsten Verzweigungen auch der Sprache hinein und hat unsere gesamte Begrifflichkeit in entscheidender Weise mitgeprägt. Und das muss man wissen, um überhaupt eine Wahrnehmung dafür zu gewinnen, was hier an Terrain wiederzugewinnen ist, wenn von Leib die Rede ist, was an ungeheuerem Nuancenreichtum wiederzugewinnen ist. Auch hier noch einmal kurz ein Zitat von Schmitz aus diesem Büchlein „Der Leib, der Raum und die Gefühle“. Er nennt seine Sichtweise „Neue Phänomenologie“ und grenzt sie ab zu Heidegger und Husserl, also Neue Phänomenologie. Er schreibt hier ganz am Anfang: „Die Neue Phänomenologie widmet sich der Aufgabe, die Abstraktionsbasis der Theorie und Bewertungsbildung tiefer in die unwillkürliche Lebenserfahrung hinein zu legen. Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe ich“ ‒ Hermann Schmitz ‒ „die [die] zäh prägende Schicht vermeintlicher Selbstverständlichkeiten zwischen der unwillkürlichen Lebenser­fahrung einerseits, den Begriffen, Theorien und Bewertungen andererseits den Filter bildet. Die Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was so wichtig genommen wird, dass es durch Worte und Begriffe Eingang in Theorien und Bewertungen findet. Deshalb sind gegensätzliche Theorien und Bewertungen derselben Abstraktionsbasis möglich. Die Abstraktionsbasis einer Kultur wird teilweise durch die Suggestionskraft sprachlicher Strukturen, zum anderen Teil durch epochale geschichtliche Prägung bestimmt.“

Wir wissen das oft gar nicht mehr, wie sehr wir ganz zentral durch epochale Prä­gungen der Sprache, der Begrifflichkeit auf suggestivste Weise geprägt sind, dass wir einen Filter, wie ein Bewusstseinsfilter aufhaben, was überhaupt ein bewusstseinswürdiges Phänomen, ein denkwürdiges Phänomen und was wird von vornherein ausgeblendet in den Nebelraum bloßer Subjektivität. Nicht, das ist ja … , viele Menschen fühlen sich ja heute in diesem technisch-abstraktionistischen Gesamtsystem ihrer eigenen leiblichen Form und ihrem subjektiven in der Weltsein völlig alleingelassen. Sie haben das Gefühl, das zählt überhaupt nicht. Es gilt nichts. Es hat keine Würde. Es ist letztlich geistig-philosophisch nichts wert. „Wir stecken gleichsam in einem Urwald geschichtlicher Vorprägungen, der nicht durch den bloßen Entschluss zur Unbefangenheit in freies Feld verwandelt werden kann.“ Das geht nicht. Man kann nicht sagen, ich möchte das jetzt, ich will das ‒ das ist harte geistige Arbeit, das wirklich zu leisten, man muss ganz tief auch in die Begriffe reingehen und versuchen zu zeigen: Woher stammt das, in welchem geschichtlichen Kontext ist das entstanden, und was heißt das für hier und jetzt? „Vielmehr muss man sich durch den Urwald durchschlagen, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen, um in hinlänglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzung zu werden.“ Was sehr schwer ist, weil jeder von uns natürlich selbstverständlich in einer Fülle von Voraussetzungen steckt. Jeder Einzelne von uns steckt wirklich in dieser Art Urwald von Prämissen, dem, was wir ständig unhinterfragt voraussetzen. Viele wissen das gar nicht mehr, was sie ständig voraussetzen. Das kann man aber hinterfragen. Da kann man nachfragen. Und es ist hochinteressant und ein Punkt, der mich seit vielen Jahren immer wieder beschäftigt, die Frage: Was setzen Menschen voraus, ohne darüber nachzudenken? Viele im normalen Sprechen stellen Theorien auf, sind Anhänger von Theorien, von Weltanschauungen, von religiösen Überzeugungen und so weiter und sind sich oft über­haupt nicht darüber im Klaren, was sie bis in die Feinheiten ihrer Begrifflichkeit ständig schon voraussetzen. Also das ist ein ganz entscheidender Punkt, der hier bedacht werden muss. Setze ich also voraus, dass ich ich bin, dass ich eine eigene, gleichsam metaphysische Entität bin, oder gehe ich von vornherein davon aus, dass das ich bin, eigentlich keine Rolle spielt? zum Beispiel.

Und das wird uns auch beschäftigen im Zusammenhang mit dem Leib ist das entscheidend wichtig, die Ich-Frage. Was ist das Ich? Wo sitzt das Ich? Im Kopf, in der Brust, in den Beinen? Oder ist es hinten, ergreift mich quasi von außen? Wo ist das Ich? Auch das ist eine Frage, die, wenn man dem mal versucht, auf den Grund zu gehen, abgründig ist. Wo ist der ontologische Ort des Ich? Hat es solchen Ort? Gibt es den Ort des Ich? Oder ist das Ich quasi ortlos, raumlos? Gleichsam auch weltlos? Also, die Frage ist auch für diese ganze Thematik zentral wichtig: Wo sitzt eigentlich das Ich? Da ist übrigens Hermann Schmitz sehr radikal. Man kann auch sagen zu radikal, weil in gewisser Weise einseitig, weil er versucht, erst einmal, diese Ichhaftigkeit des Menschen und die, was er die „Innenwelt-Hypothese“ nennt, von Seele, Geist und Bewusstsein zu demontieren. Er versucht konsequent phänomenologisch bei dem zu bleiben, was tatsächlich wahrge­nommen wird, ohne nun noch ein ichhaftes Substrat dahinter, eine sogenannte Seele, ein Geist, ein Gemüt, wie Kant sagt, ein Bewusstsein zu unterstellen. Das ist nicht konsequent durchführbar, meine ich, und da verwickelt sich auch Schmitz in Widersprüche und Zirkelschlüsse. Aber das kann im Moment mal außen vor bleiben. Wichtig ist auf jeden Fall die Ich-Frage: Wo ist der Ort des Ich? Der ontologische Ort aber der auch der leibliche Ort? Sind wir identisch als Leib mit dem Ich? Kaum, also kaum einer wird ernsthaft behaupten, dass er in Gänze als physisch-sinnlicher und von innen gespürter Leib dieses Ich ist.

Wir haben ja bis in den Sprachgebrauch des Alltags hinein die Vorstellung, dass der Einzelne einen Körper, womit ja eigentlich eher Leib gemeint ist, einen Körper hat und nicht dieser Körper ist. Auch wenn in einigen Ansätzen der modernen Körpertherapie bis in Buchtitel hinein anderes behauptet wird, etwa ein Buchtitel ist mir mal vor Augen gekommen: „Ich bin mein Körper“. Ein absurder Satz, natürlich, ein Satz, der ganz bewusst sich wendet gegen eine Abspaltung, die damit demontiert werden soll, als lebensfeindlich denunziert. Hier ist das Ich, ein abstraktes Gebilde, ein Geistwesen, das von oben herab irgendwie in die Niederungen des Physischen, Leiblichen sozusagen hinab schaut und von oben das Ganze steuert. Also ganz konsequent und radikal zu sagen: Ich bin mein Körper, also ich bin identisch mit alledem. Das würde bei einer vertieften philosophischen Reflexion unmöglich sein, also diese Identität ist so nicht möglich. Also die Frage: Wo ist das Ich?, ist zentral wichtig. Wo ist der Geist, der ja nicht unbedingt das Ich selber ist? Wo ist die Seele und wo ist der Wille? Oder sind das alles nur Begriffsungetüme, mit denen wir letztlich überhaupt keinen konkreten Wahrnehmungsinhalt verbinden können? Auch da ist es sinnvoll, mal wirklich in die Tiefen reinzugehen und nicht von vornherein mit Begriffs­hülsen zu operieren, als ob das Selbstverständlichkeiten seien. Insofern ist es wichtig: Was wird vorausgesetzt? Was ich gerne und oft auch in meinen Büchern und vielen Vorträgen immer wieder als Subjektblindheit der Naturwissenschaft bezeichne, berührt ja diesen Fokus.

Jede Wahrnehmung von Welt, jedes Reden über Welt, jedes Theoretisieren, jedes Disku­tieren, jede Wissenschaft, jede Kunst, was auch immer, setzt das lebendige Subjekt voraus. Sozusagen dieses lebendige Subjekt ist immer der Hase, der schon da ist. So sehr der Hase sich auch abstrampelt, um den Igel zu überholen, er kommt am anderen Ende an und der Igel, in diesem Falle die Frau des Igels, die aber genauso aussieht wie er, insofern kann er es nicht unterscheiden, sitzt schon da. Das heißt, das lebendige Subjekt ist im Grunde genommen der Igel, der immer schon da ist. So sehr der Hase sich auch halbtot und schließlich wirklich tot läuft, weil das ist das nicht Hintergehbare, weil alles Denken, Forschen, Meinen, Diskutieren, Streiten, wie immer setzt lebendige Subjekte voraus. Und es war eine Tragödie in gewisser Weise, dass in der neuzeitlichen Denkbewegung, vor allen Dingen in den Naturwissenschaften, das Subjekt vollkommen eliminiert wurde. Natürlich gab es das Subjekt. Es gab nicht nur die einzelnen Forscher-Subjekte mit ihren ganz speziellen und spezifischen, auch emotionalen Befindlichkeiten, auch ihrem Geltungsdrang, ihrem Bedürfnis nach Preisen und Anerkennung durch Andere usw. Es gab auch natürlich immer das Über-Subjekt, das unberührte Über-Subjekt, was das Ganze wie von außen betrachtet.

In Physik-Lehrbüchern, schauen wir in ein normales Physik-Lehrbuch rein: man nehme, man tue, man mache, es ist immer ein anonymes „man“. Sie oder ich, der Einzelne in seiner je anderen Spezifik wird überhaupt nicht angefragt, sondern das anonyme „man“, das anonyme Subjekt ist gefragt, und weil dies so ist, kann man auch von allen Subjektivitäten abstrahieren. Das macht einen Teil des ungeheuren Erfolges auch dieser Art von Subjektheitblindheit aus. Denn dieser Erfolg ist immens. Das muss man einfach sehen. Dieser Erfolg ist immens. Es war ein ungeheuer erfolgreiches Projekt, das Subjekt erst einmal auf diese Weise zu eliminieren. Das Subjekt, das hier einbezogen wird in den Vorgang der Beobachtung, [ist] ja nicht das konkrete, lebendige Subjekt, sondern ebenfalls ein anonymes „man“, letztlich eine Art Es-haftes Subjekt, nicht der lebendige Einzelne, um den geht es genauso wenig wie auch sonst. Also „vielmehr muss man sich durch den Urwald durchschlagen“, noch einmal kurz zurück zu Schmitz, „ … um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen und in hinlänglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzung zu werden.“ Sehr schwer. Ich sage es nochmal, das ist wirklich harte Denkarbeit, um dieser Voraussetzungen Herr zu werden. Wenn das überhaupt der richtige Begriff ist, wenn das überhaupt rein mental geht. Wahrscheinlich geht das gar nicht. „Deswegen ist Phänomenologie nur im Zusammenhang mit kritisch-historischer Einstel­lung sinnvoll. Diese muss für die Zwecke der Neuen Phänomenologie hauptsächlich den für die Prägung der dominanten europäischen Intellektualkultur entscheidenden Paradigmen­wechsel bei den Griechen in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhundert, ins Auge fassen.“ Das ist naheliegend, es wird immer wieder gemacht, das tue ich in anderem Zusammenhang auch. „Die meisten Versuche, sich durch das Labyrinth der Verkünste­lungen des Denkens und Wollens zurückzutasten, brechen viel früher ab, nämlich bei dem großen Barock-Denkern des 17. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Hobbes, Galilei, Descartes und Leibniz. Das ist kurzsichtig. Diese Denker haben keine neue Abstraktionsbasis gelegt, sondern auf der ererbten weitergebaut und durch Formulierung des Prinzips und der Methode der ,Weltbemächtigung’“ ‒ ein Begriff von Heidegger, der hier nicht in Anführungszeichen steht ‒ „in der Methode der Weltbemächtigung, das in der längst etablierten Perspektive schlummernde Potenzial zu der folgenden Explosion des natur­wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu befreien, indem man sich davon mitreißen ließ“ ‒ Heidegger spricht von Fortriss ‒, „indem man sich davon mitreißen ließ, ist die Verkünstelung inzwischen so weit gediehen, dass das Denken den Spezialisten der Computer-Manipulation und das Zeugnis von ,sich befinden‘ und ,zumute sein‘ der Menschen dem nahezu ausgestorbenen Volk der Dichter überlassen werden muss. Diese Scherung ist gefährlich“ ‒ das ist ein sehr schönes Argument, starkes Argument von Schmitz ‒ „diese Scherung ist gefährlich, weil sich unter der Oberfläche der Rationali­sierung eine ungesicherte Dynamik des affektiven Betroffenseins staut.“ ‒ Notwendig, staut sich, weil sie muss ja sich Raum schaffen. Sie ist ja eine Bewusstseinqualität, eine Gefühls­qualität, sie muss ja ihren Raum haben ‒ also „staut und irgendwann unkontrollierbar durchbricht, zum Beispiel in Deutschland unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Deswegen ist die Neue Phänomenologie darum bemüht, die klaffende Spanne zwischen Begreifen und Betroffensein durch Gedanken zu durchleuchten, der unwillkürlichen Lebenserfahrung mit genauen und geschmeidigen Begriffen zu füllen und dadurch das Betroffensein der Besinnung anzueignen.“

Ein sehr starkes Argument, finde ich, weil Schmitz sagt mit einigem Recht, dass gerade weil das sogenannte affektive Betroffensein, der ganze Bereich der sogenannten Gefühle in dem Wissenschaftsklima, was von Objektivität und Abstraktion bestimmt ist, praktisch keine Rolle spielt, aber trotzdem da ist als lebendige Wirklichkeit jedes Einzelnen, neigt es natürlich dazu, sich zu stauen, weil es ja keinen Raum findet. Beobachtungen haben ja keinen Wert. Einwände aus der elementaren Leiberfahrung etwa gegen eingefahrene, etablierte Theoriegebäude werden ja schnell abgebügelt als irrelevante, letztlich ignorante Beobachtung. Das ist wichtig, und das finde ich einen kolossal entscheidenden Punkt hier in diese Wahrnehmung wieder ein Stück Geist und philosophischer Würde reinzubringen. Und das setzt, das habe ich vorhin schon gesagt, Genauigkeit in der Wahrnehmung voraus und an der mangelt es überall. Das kann man sehen. Ganz Wenige, die diese, sagen wir mal, diese Genauigkeit der Selbstwahrnehmung, was das sogenannte leibliche Befinden betrifft, haben, sind die Homöopathen, nicht, weil in der homöopathischen Arzneimittelprüfung zum Beispiel oder auch in der Beschreibung von Zuständen, von Krankheitsbildern eine ganz präzise Form gefunden werden muss. Wann verstärken sich die Schmerzen, bei Feuchtigkeit, bei Kälte, morgens oder abends, nachts oder mittags usw. Da wird eine genaue Beobachtung vorausgesetzt und kann auch geschult werden. Also das geht. Man kann tatsächlich, wenn man mal den Schlüssel gefunden hat für diese Zusammenhänge überhaupt, erstaunlich weit kommen in der Beobachtung dieser Vorgänge. Vielen geht schon von einem bestimmten Punkt an, sage ich mal, die Differenzierung verloren, weil Begriffe fehlen, weil Kategorien fehlen, weil man überhaupt gar nicht weiß, wie man das irgendwie, sprachlich, geistig überhaupt fassen soll, was da passiert. Das ist ein sehr schwieriges Feld.

Ich glaube, ich habe mal eine kleine Pause und ein paar Minuten und Sie können sich in der Zwischenzeit mal hier auch noch das Literaturverzeichnis holen. Wenn es nicht schon ganz herumgegangen ist, machen wir mal mal 6, 10 Minuten Pause.


Das hier ist schön [gesagt]: „Phänomenologie ist das Bestreben, durch systematische Abschälung aller vom Belieben abhängigen Annahmen den harten Boden der Phänomene freizulegen, nämlich der Sachverhalte, die man jeweils als Tatsachen anerkennen muss, weil man sie nicht im Ernst bestreiten kann.“ Das ist wichtig. Es geht wirklich um den harten Boden der Phänomene und den kann man nur erschließen durch eine große Genauigkeit der Beobachtung und durch eine hohe Differenzierung in der Sprache. Es ist nicht willkürlich, nicht beliebig. Gerade das ist es nicht. Es ist nur nicht üblich, ist nicht verbreitet. Es wird häufig nicht für würdig befunden, überhaupt in die philosophische Reflexion einzugehen. Noch kurz, weil es wichtig ist für die gesamte Vorlesung. Ich habe das genannt: „Die Fragen des Leibes ‒ wie lässt sich Naturphilosophie als Leib-Philosophie betreiben?“ Weil das immer wieder gefragt wird, nach dem grundlegenden Zusammenhang auch von Naturphilosophie, wie ich sie verstehe, und Naturwissenschaft. Ich will das nochmal ganz kurz sagen, obwohl ich das in verschiedenen Zusammenhängen auch immer wieder angedeutet habe. Im strengen Sinne einer vertieften Betrachtung von Natur lassen sich Naturwissenschaft und Naturphilosophie überhaupt nicht voneinander trennen. Punkt Eins. Nicht zufällig, auch das sage ich hier öfter, hat sich einer der bekanntesten Naturforscher, nämlich Newton, primär als Naturphilosoph bezeichnet, nicht als Physiker. Das ist also im Grunde gar nicht streng zu trennen. Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied, der sich geschichtlich gesehen zuweilen darin gezeigt hat, dass Naturwissen­schaftler mit einer gewissen Freude und Inbrunst verkünden, sie seien eben keine Philosophen. Das kann man im Gespräch, oder das habe ich häufig in Gesprächen mit Naturwissenschaftlern, Physikern usw. festgestellt. Von einem bestimmten Punkt an kommt der Rückzieher in die Rede: Ja, ich bin kein Philosoph, also das kann und will ich in der Form nicht durchdenken.

Hat die Naturphilosophie überhaupt einen eigenen Anspruch, oder ist sie nicht letztlich nur eine Art Magd der Naturwissenschaft, wie das früher war, Naturwissenschaft als Magd der Theologie. Muss nicht die Naturphilosophie letztlich immer ein Augenmerk richten auf das, was in den Naturwissenschaften passiert und dadurch natürlich ihre eigene Würde, ihren eigenen Zugang vernachlässigen? Ja und nein. Ich will das mal an einem Zitat eines Naturwissenschaftlers erläutern, [Bernulf] Kanitscheider, sein Buch „Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum“. Er streitet ausdrücklich, das ist eine Position, die man häufig hören kann, den Eigenanspruch der Naturphilosophie, der Philosophie als eigener Welterfahrung überhaupt ab. Kanitscheider schreibt: „Die Idee einer autonomen philosophischen Welterfahrung“ ‒ die ich ja letztlich auch voraussetze ‒ „die genuine Erkenntnisse der Realität jenseits der wissenschaftlichen Rationalität hervor­bringt, ist eine Illusion. Es gibt kein einziges Beispiel eines absolut analyse-resistenten Sachverhalts, der durch unmittelbar erlebte Erfahrung gewonnen wurde. Wir haben nur die historische Abfolge von Theorien und ihren verschiedenen Repräsentanten der Natur und ihre Bewährungsgrade zur Verfügung. Was wir vernünftigerweise als existierend ansehen, ist der Objektbereich, über den die zum gegenwärtigen Zeitpunkt besten Theorien sprechen. Es gibt keine spezielle philosophische Erkenntnisquelle, die diese ontologische Relativität durchbrechen kann.“

Also vollkommen eindeutig eine Zurückweisung eines eigenständigen philoso­phischen Anspruchs. Wenn man dann die Argumentation sich im Einzelnen anschaut, dann weiß man auch, warum das so ist. Das wird ja hier auch schon in dem kurzen Zitat deutlich. Die Grundrichtung der Naturwissenschaft ist eine reduktionistische. Sie versucht ständig Phänomene, Qualität zu reduzieren, zurückzuführen auf jeweils das, was ihnen als das eigentlich Reale zugrunde liegt. Die Naturwissenschaft ist im Grunde genommen immer das, was Max Planck mal genannt hat, die Suche nach dem endgültig Realen. Das heißt, immer weiter zurückführen auf das, was in den Erscheinungen den letzten Grund darstellt, den zu fassen. Und dieser letzte Grund ist in weiten Bereichen der modernen Natur­wissenschaft einfach die mathematische Form, die Auflösung des Stofflichen bis hin zur mathematischen Form, also eine Mathematisierung und eine Reduktion. Und wenn man das absolut setzt, kann natürlich der philosophischen Betrachtung etwa des Leibes gar keine Eigenwürde zugesprochen werden. Dann ist das, was Hermann Schmitz macht, und andere machen in dem Punkt oder was auch in diesem Falle der Vorlesung versucht wird, letztlich naturwissenschaftlich-reduktionistisch gesehen, nichts weiter als qualitatives Reden auf einer bestimmten Ebene der Phänomene, die letztlich nicht weiter reduziert werden, weil man noch nicht dahin gelangt ist. Man wird und kann es, aber man soll es auch. Das glaube ich nicht.

Nun kann man da das mit aller Vorsicht sagen. Man muss keine Rückzugsgefechte führen, das ist immer schwierig, wenn das philosophische Denken sich im Rückzugsgefecht behaupten muss. Rückzugsgefechte sind ja, werden ja geführt, wenn die Schlacht eigentlich schon verloren ist. Man kann aber feststellen, dass diese Phänomenologie des Leibes tatsächlich eine ganz eigene Qualität hat, die mit den reduktionistischen Naturwissen­schaften überhaupt nichts zu tun hat. Absolut nichts, weil es um eine lebendige, ganzheitliche Erfahrung geht, die sich in ihrem Wesen nach nicht reduzieren lässt. Ich habe das ja vorhin schon gesagt. Erfahrung jedes einzelnen Menschen in der Welt ist immer ein In-Sein, einschließlich aller atmosphärischen, klimatischen oder auratischen, wenn man so will, Zusammenhänge. Der Einzelne ist nie eine isolierte Zelle im Nirgendwo. Der Einzelne ist immer eingebettet in einen Gesamtzusammenhang, auch da, wo er, wie im Falle der wissenschaftlichen Apparate, diesen Zusammenhang ignoriert, wo dieser Zusammenhang gar keine Rolle spielt. Wenn Sie in irgendeinem riesigen Teilchenbeschleuniger arbeiten als Physiker, und Sie thematisieren die Psycho-Atmosphäre oder gar die Möglichkeit, dass hier sogar Ergebnisse bestimmt sein könnten, machen Sie sich einfach lächerlich. Weil, das ist kein Thema, kein eigenes Thema in diesem Kontext. Faktisch ist es aber so, dass diese Dinge ständig hineinspielen und auch jeden einzelnen Forscher in unvorstellbarer Weise Maße mitprägen, beeinflussen. Jedes einzelne Forschungsinstitut hat eine eigene psycho-atmosphärische Aura, die jeden einzelnen Teilnehmer dann ganz stark bestimmt. Tatsächlich, bis zum Teil jedenfalls, bis in die Ergebnisse hinein.

Es ist ein Mythos anzunehmen, dass all das jenseits dieser Psycho-Atmosphären geschieht und dass es die pure Objektivität gäbe, an der nicht zu rütteln ist. Allein schon diese strikte Aufteilung in das sogenannte Objektive und das sogenannte Subjektive ist bei Licht gesehen überhaupt nicht haltbar. Denn was sind sogenannte Tatsachen, wenn einer sagt, gut, das ist eine Tatsache? Ja, was sind Tatsachen? Ist der Tisch eine Tatsache, die Brille, die darauf liegt, ist eine Tatsache, Licht ist eine Tatsache. Dann ist die Trauer eines Menschen eine Tatsache, der Schmerz eines Menschen, die Eitelkeit, die Dummheit des Menschen, sind alles Tatsachen. Bloß, wie fasse, wie greife, wie bestimme, wie verifizierte ich diese sogenannten Tatsachen?

Also schon da wird es schwierig, das zu tun. Das heißt, vielleicht sogar kann man so weit gehen zu sagen, dass diese Aufteilung in Subjekthaftes und Objekthaftes in der in Jahrhunderten praktizierten Form so eine pure Illusion ist. Das lässt sich nie durchhalten. Es ist ein Postulat, eine Prämisse, die bis zu einem gewissen Grade auch erfolgreich ist. Darauf basiert ja zum Beispiel die gesamte Technik, dass [es] eben keine Rolle spielt, welche Qualitäten jeweils vorliegen und auch welche qualitativen Raum-Empfindungen vorherrschen, etwa im geometrisch-mathematisch-euklidischen Raum und im dreidimen­sionalen Raum oder ganz zu schweigen von mathematischen abstrakten Hyperräumen, ist es vollkommen egal, was der Einzelne fühlt, denkt und empfindet. Das wird abgespalten, abgetrennt. Das ist in diesem Sinne ein, wenn man das so nennen will, ein neurotisches Produkt, das ist ein wichtiger …, ein wichtiges Element, die Subjekthaftigkeit hier zurück­zubinden und tatsächlich in eigener Würde anzuerkennen, und das ist schon sehr viel mit dem gesamten Phänomenbereich, der dazu gehört. Ein letztes Zitat nochmal zum Leib aus dem Buch „Leib und Gefühl“ von Hermann Schmitz. Relativ anspruchsvolle, schwierige Texte, aber hochinteressante Texte. Wer mal den Versuch macht, sich da einzulesen, wird zunächst Schwierigkeiten haben, aber wenn er eingelesen ist, dann ist das wirklich kolossal erhellend und fruchtbar. Man kann man es dann gar nicht mehr ausklammern, wenn man mal den Blick dafür gewonnen hat.

Über den Leib nochmal: „Jeder spürt Schmerz, Hunger, Durst, Schreck, Wollust, Behagen, Frische, Mattigkeit, Ein- und Ausatmen. Das sind Beispiele leiblicher Regungen, die in der Gegend, Gesicht und tastbaren eigenen Körpers, auftreten, ohne selbst sichtbar und tastbar zu sein.“ Die Frische, die ich fühle oder die Müdigkeit oder die Langeweile sind ja keine sichtbaren, fassbaren Dinge, sind ja keine Gegenstände, keine Es-heiten. „Die herkömmliche Meinung, die sich an der Zerlegung des Menschen in Körper und Seele alias Bewusstsein, Mind, Geist, Gemüt, orientiert, zerlegt so auch die leiblichen Regungen in einer Weise, die sich in dem gängigen Ausdruck Organ-Empfindungen niederschlägt. Das Körperliche soll eine auf dem Weg über Besehen, Tasten zugängliche Veränderung an Körperteilen sein, das Seelische eine zugeordnete, vielleicht davon hervorgebrachte Empfindung. Nach meiner These handelt es sich dagegen um ein eigenständiges Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leib, das mit genuiner Struktur weit über diesen hinausreicht, unter anderem als Spielraum leiblicher Kommunikation zwischen Menschen, die ständig passiert. In jedem Gespräch mit einem anderen Menschen in Blickkontakt gibt es eine Art leibliche Kommunikation und erkenntnistheoretisch, anthro­pologisch, sozial, pathologisch und so weiter, von grundlegender Bedeutung. Diese Eigenart bekommt natürlich namentlich an dem die Funktion, Dynamik des spürbaren Leibes charakterisierenden Kategorien-System oder Alphabet der Leiblichkeit zum Vorschein, lässt sich aber schon vorher durch wenige hervorstechende Merkmale der Räumlichkeit des Leiblichen summarisch charakterisieren. Das eigenleiblich Gespürte ist stets räumlich ausgedehnt, wie an sich der tastbare Körper aber in wesentlich anderer Weise. Dieser Körper hat nach außen eine scharfe, flächige Grenze an der Haut. Der spürbare Leib hat keine Haut und keine Flächen. Man kann Flächen ebenso wenig am eigenen Leib spüren, wie man sie hören kann. Überhaupt hat die leiblich spürbare Räumlichkeit mit dem Hörbaren einiges gemein. Dazu gehört, dass in beiden Fällen trotz Flächenlosigkeit Volumen vorliegt.“ Und so weiter.

Ich werde darauf im Einzelnen noch eingehen. Es ist wichtig, dass diese sogenan­nten Psycho-Atmosphären, etwa eine beklommene Stille, eine peinliche Atmosphäre, eine gespannte Erwartung, eine gelangweilte Haltung, eine aufmerksame Haltung, eine belustigte kollektive Gemütsverfassung, eine höhnische kollektive Haltung. All das sind Wirklichkeiten, die tatsächlich sehr tiefgehen und sehr tief beeinflussen, von dem man sich nicht ohne Weiteres loslösen und befreien kann. Ich habe das ja an dem Beispiel der Podiumsdiskussion genannt, dass das bis ins fast Physische hineingeht, wie ein physischer Druck entsteht da, dass man plötzlich das Gefühl hat, das, was man sagen möchte, wird erschwert durch diesen Druck, der da entsteht, also in dieser Psycho-Atmosphäre.

Letztlich geht es ja um die Frage überhaupt in diesem Semester generell beim Denken, sonst ist ja Denken völlig müßig und auch im Grunde ein intellektuelles Sand­kastenspiel, wenn es nicht um Wirklichkeit geht. Und was ist sonst interessant außer der wirklichen Wirklichkeit? Denken kann nur dann sinnvoll sein, wenn es Wirklichkeit berührt. Und das ist letztlich das, worum es geht: Was ist Wirklichkeit? Man kann natürlich sagen, Schmitz macht das zum Beispiel, dass die dichteste, konkreteste, kompakteste Wirklichkeit immer dann vorliegt, wenn der Einzelne, wie er das nennt, in die primitive Gegenwart geschleudert wird, etwa durch einen massiven Schmerz, der stürzt und [sich] eine Schürfwunde zufügt. In diesem Moment, vollkommen reduziert auf diesen Moment des Schmerzes, der ihn vollkommen durchzuckt und alle seine übrigen Leibempfindungen zentral beeinflusst. Ist das ein höherer Grad an Wirklichkeit, etwa der Schmerz, der physische leibliche Schmerz, ist das ein höherer Grad von Wirklichkeit, und auch der Zahnschmerz und andere Schmerzen, wie Nierenkoliken ‒ sind das höhere Grade von Wirklichkeit als zum Beispiel eine distanzierte, objektivierende Betrachtung der Distanz von all dem, etwa im Denken oder in der Ich-Empfindung?

Ich meine, dass … die Ich-Empfindung entsteht ja aus einer gewissen Distanz, die das Tier nicht hat. Wenn Sie Tiere beobachten, dann stellen Sie fest, dass das Tier in gewissem Maße vollkommen identisch ist mit der eigenen konkreten Leiblichkeit. Es hat nicht die Möglich­keit, gleichsam zurückzutreten, in einer Art von Eskapismus sich zurückzunehmen aus der eigenen leiblichen Verhaftetheit, was der Mensch kann. Der Mensch kann jeder, fast jeder Situation in gewisser Weise sich rausnehmen, hat also diese Möglichkeiten, dieses Tor quasi des Eskapismus. Ja, ist das weniger wirklich, diese distanzhafte Haltung, die eine Beobachterhaltung ist, nicht unmittelbar festgenagelt, hineingezerrt, sozusagen in das Hier und Jetzt, wie etwa durch einen starken Schmerz oder auch einen seelischen Schmerz, eine überwältigende Emotion? Das ist ja so, dass viele Menschen, einer der ersten, der das klar beobachtet hat, war Schopenhauer, aber auch Spinoza und andere, dass festgestellt wurde, dass Menschen sich nur dann wirklich interessieren für irgendetwas, wenn ihre Subjekt­haftigkeit ins Spiel kommen darf, auch ihre Emotionen, ihre Befindlichkeiten, Wut, Hass, Freude. Wenn das gar nicht ins Spiel kommen darf, setzt Langeweile ein. Sozusagen die Langeweile stellt sich in dem Moment ein, wo der Einzelne das Gefühl hat, das alles hat mit mir nichts zu tun. Es ist sozusagen abgetrenntes, abgespaltenes Gerede und löst ein Gefühl der diffusen Langeweile aus, des Absinkens des Aufmerksamkeitspegels. Aber in dem Moment, wo der Einzelne sich als unmittelbar Betroffener fühlen kann und als unmittelbar Betroffener auch wirklich ernst genommen wird und nicht kleingemacht wird, als ob das alles keine Bedeutung habe, da ist die Aufmerksamkeit [vorhanden]. Insofern ist die Phänomenologie des Leibes etwas, was, wenn man es genau betrachtet, jeden Einzelnen vollkommen betrifft und erfüllt. Also keiner kann bei diesem Thema in gewisser Weise das draußen lassen, weil, wenn er es ernst nimmt, muss er es reinnehmen, weil sonst bleibt es einfach ein … das, was Goethe gern als Wortkram bezeichnet, ein abgetrenntes Reden über etwas, und dann ist es nicht wirkliche Phänomenologie. Die Phänomenologie kann nur dann einen Sinn haben, wenn sie ernsthafte Phänomenologie ist, wenn sie wirklich die Bewusstseinsphänomene in den Blick nimmt, beobachtend, spürend und auch mittels der Sprache. Das ist mir immer sehr wichtig, aber das habe ich auch in meinen letzten Büchern versucht durchzuhalten, den Einzelnen immer, wenn er denn überhaupt sich hinein nehmen lassen möchte, ihn direkt in seiner unmittelbaren Welt an Lebenserfahrung anzusprechen, nicht dieses Abgetrennte, Abgespaltene. Da ist die Phänomenologie des Leibes ein wunderbares Mittel, eine ganz andere Wahrnehmung zu gewinnen für das eigene In-der-Welt-sein. Gut, ich will das erstmal … , das soll für die Einleitung heute einfach reichen.


Ich will noch einmal einiges sagen zum Literaturverzeichnis und zum Gesamtkonzept des Semesters und heute keine Diskussion machen. Und, die Frage, die jetzt gestellt worden ist schon zwei, dreimal, ob ich das wieder ändern kann mit dem Zeitpunkt. Im Moment lasse ich das jetzt. Mir war klar gesagt worden, der Raum sei belegt, er ist es offenbar heute nicht gewesen, von sechs bis acht. Aber ich will jetzt keine weitere Konfusion stiften. Wir lassen das erst mal bei acht Uhr. Ja, das können wir dann machen. Ich kann ja auch. Wir können es ja auch anders machen. Ich kann ja auch darauf verzichten. Wir gucken mal. Es geht schon. Kriegen wir schon hin.


Können Sie mein Literaturverzeichnis mal hervornehmen, ich will da ein bisschen was zu sagen. Ich habe mir sehr genau überlegt, welche Literatur ich hier reinnehmen soll für das Thema, und ich habe wirklich sehr bedacht eine Auswahl getroffen, die ich für sinnvoll halte. Ich geh jetzt nicht die Punkte der Reihenfolge nach durch, ich fang mal im unteren Drittel an. Hermann Schmitz, das ist ein Autor, der ungeheuer viel geschrieben hat und ich greife nur zwei seiner Bücher hier raus „Der Leib, der Raum und die Gefühle“, ein schmales Bändchen von kaum hundert Seiten, das den Versuch macht, die Essenz dieser Phänomeno­logie zu bringen. Und dann „Leib und Gefühl“, eine Sammlung von Essays in der Reihe „Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften“, von Therapeuten herausgegeben, großer Verehrer von Schmitz sind und davon ausgehen, dass Schmitz‘ Leib-Phänomeno­logie auch psychotherapeutisch eine große Bedeutung hat. Also ein wunderbarer Band mit Essays zur Phänomenologie.

Dann der zweite Titel hat auch mit Phänomenologie zu tun, das ist ein Buch eines Anthroposophen, eines anthroposophischen Physikers, „Wäme, Urmaterie und Ich – Neue Beiträge zur Anthropologie und Kosmologie. Basfeld, ein anthroposophischer Physiker beschäftigt sich sehr intensiv mit Phänomenologie und da liegt dann auch die Stärke. Übrigens auch mancher anderer anthroposophische Autoren, auch wenn man deren Interpretationen nicht immer teilen kann, so sind sie doch im Beschreiben von Phäno­menen oft sehr stark. Und deswegen haben sie ihre Bedeutung. Also in der phänomeno­logischen Hinsicht, nicht unbedingt immer in der, sagen wir mal ideologischen Vorprägung, die dann Interpretationen liefert. Nicht, dass alle Interpretationen deswegen falsch sein müssen und wir sagen. Das ist erstmal nicht das Primäre. Aber die Phänomene sind es, die Phänomenologie.

Wichtig für uns, auch für dieses Semester sind die beiden Bände von Peter Sloterdijks „Sphären 1 und 2“. Das habe ich auch im Wintersemester gesagt und möchte das hier auch noch mal erwähnen. Zwei hochfaszinierende Bände, jetzt demnächst soll der dritte Band erscheinen. Es gibt drei Bände und in denen sehr viel auch von phänomenologischen Raum-Erfahrungen die Rede ist und auch von Leib-Erfahrungen bis hin zu möglichen Erinnerungen an pränatale, an intra-uterrine Geschehnisse. Also das spielt eine große Rolle, und das kann ich wirklich sehr empfehlen, bei allen sprachlichen Manierismen auch von Sloterdijk, in seiner auch wirklich oft überbordenden, manchmal auch geschwätzigen Form. Aber gleichwohl sind viele faszinierende Ansätze drin, die auch für das Thema wichtig sind.

Sloterdijk bezieht sich mehrfach auf einen Autor, denich hier auch drin habe am Schluss, ein HNO-Arzt, Alfred Tomatis. Eines seiner vielen Bücher habe ich angegeben. „Der Klang des Lebens“. Tomatis hat geforscht über die Klang-Wahrnehmungen im Mutterleib, also in der intra-uterinen Phase: Was wird wahrgenommen vom Fötus an Geräuschen der Mutter, an Klängen? Wann entwickelt sich das Ohr und so weiter? Davon wird in der Rede die Rede sein in der Vorlesung am 4. Juli.

Von mir selber habe ich meine beiden letzten Bücher aufgenommen, die auch viel enthalten zur Phänomenologie, das Letzte, „Räume, Dimensionen, Weltmodelle – Impulse für eine andere Naturwissenschaft“, vor allen Dingen naturwissenschaftlicher Natur, philo­sophisch-kosmologische Fragen, eine radikale Kritik an der Mainstream-Naturwissenschaft und der Versuch einer Alternative.

Zwei Aufsätze von mir habe ich hier angegeben. Einer in dieser Zeitschrift „Hagia Chora“ mit dem Titel „Wie ausgedehnt sind wir – Raum, Leib und Bewusstsein“, der sich mit der Frage beschäftig nach der Leib-Wahrnehmung außerhalb der Grenzen des phy­sisch-sinnlichen Körpers.

Und in dem anderen Essay in dem Sammelband steht, „Wissenschaft vom Lebendigen“ von Heiko Lassek herausgegeben, ein Beitrag zur Polarität von Schwere und Licht. Das wird uns auch beschäftigen in der Vorlesung vom 20.06, vor allem im Zusammenhang mit der Leib-Wahrnehmung: Wie nehmen wir den Leib bei Licht und in der Dunkelheit wahr? Nämlich anders.

Dann ist sie auch ja von der Zeit die Rede. In dieser Folge am 1.5. habe ich ein Buch aufgenommen, was ich sehr interessant finde. Hans Jörg Fahr, das ist der ein, zwei, drei, vier, fünfte Titel, „Zeit und kosmische Ordnung – Die unendliche Geschichte von Werden und Wiederkehr“. Hans Jörg Fahr ist Astrophysiker, Professor für Astrophysik an der Universität Bonn, einer der wenigen Physik-Professoren, der ein radikaler, prononcierter Gegener der Urknall-Hypothese der Urknall-Fiktion ist überhaupt, die moderne Kosmo­logie überhaupt scharf kritisiert. Und das ist ein hochinteressantes Buch, ein Versuch, die Zeitdimension, Ich, Leib usw. bleib kosmisch zu beleuchten, nicht einfach zu lesen. Relativ anspruchsvoller Stoff, manchmal in der Sprache auch etwas spröde von der Begrifflichkeit. Man muss sich wirklich einlesen, aber wenn man es geschafft hat, wenn man sich eingelesen hat, hat man kolossalen Gewinn. Also richtig starkes Buch über Zeit. Eines der besten Bücher, die es gibt darüber.

Gernot Böhme, der Autor, der davor auftaucht, ist ein Mann, der sich in dieser Frage der Leib-Philosophie auch einen Namen gemacht hat, hat viel geschrieben über die Leibfrage. Sein Bruder Hartmut Böhme ist hier an der Humboldt-Universität. Sie haben auch verschiedene zusammen was veröffentlicht. Gernot Böhme, viele Bücher geschrieben. Habe eins seiner Bücher hier aufgeführt. Suhrkamp Taschenbuch „Natürlich Natur“. Und da auch noch ein sehr interessanter Essay, auch mit dem Titel „Leib – Die Natur, die wir selbst sind“. Also Gernot Böhme ist ein wichtiger Mann, der sich auch intensiv mit Schmitz und Anderen beschäftigt hat.

Dann ein Buch, was ich für sehr wichtig halte, obwohl es kaum bekannt ist. Günter Schulte, das ist oberhalb von Sloterdijk, „Philosophie der letzten Dinge – Liebe und Tod als Grund und Abgrund des Denkens“ ist ein Philosoph aus Köln, der hier Essays zusammen­trägt, auch über die Frage der Leib-Wahrnehmung viel spricht. Und hochinterressant, kaum bekannt, aber faszinierend, was er zusammenträgt. Auch im Sinne der Grundthese, dass die Beziehung des Denkens zum Eros, zur Liebe bzw. zum Tod die Achse des Denkens überhaupt ist, und zwar die uneingestandene, die undurchschaute Achse des Denkens.

Der vorletzte Titel beschäftigt sich mit einer …, sagen wir mal, ist von einer eher feministisch orientierten Philosophin, die den Versuch macht, von der Leiblichkeit der Frau aus die ganze leib-philosophische Frage zu beleuchten. „Sophias Leib ‒ Entfesselung der Weisheit.“ Annegret Stopczyk. Sie wirft der ganzen Philosophie eben diese Leib-Fremdheit vor, die Leib-Vergessenheit vor, weil da von der Erfahrung der Leiblichkeit der Frau aus sich da ein neuer Zugang eröffnen könnte.

Ja, also diese Titel sind … so der erste Titel ist auch ein Anthroposoph, ein Physiker und Mathematiker. Eine Sammlung von Essays. Auch phänomenologisch hochinteressant, nicht immer in den Interpretationen so schlüssig. Gut.

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Der Leib, der Raum und die Gefühle – Hermann Schmitz

Vorlesungsreihe:

Das lebende Buch der Natur, Teil III
In-der-Welt-Sein, Im-Leib-Sein. Zur Philosophie und Phänomenologie des Leibes

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2000 Dozent: Jochen Kirchhoff

Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 36

Transkript als PDF:


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Ich habe dieses Semester ja gewidmet einem zentral wichtigen Thema: der Frage des menschlichen Leibes. Das soll ja in allen Vorlesungen eine wichtige Rolle spielen. Und heute im Speziellen will ich Ihnen einen Denker präsentieren, ich will sozusagen zurücktreten quasi. Natürlich kann ich das nicht vollständig. Ich muss da auch kommentierend als eigener Philosoph auch zu einem anderen Philosophen [auftreten]. Ich will Ihnen einen Denker vorstellen, der für diese Thematik wahrscheinlich heute der wichtigste ist, nämlich Hermann Schmitz.

Ich will ganz kurz einige Bemerkungen zu diesem Philosophen machen, wie ich zu ihm komme und was der mit dieser Thematik zu tun hat. Ich selber habe vor relativ Kurzem den Namen noch nicht einmal gekannt. Ich hatte immer mal wieder gehört, gelesen in verschiedenen Kontexten, es gäbe einen sogenannten Leib-Philosophen Hermann Schmitz, der sei Professor für Philosophie in Kiel. Immer mal wieder hat man Zitate irgendwo gefunden, die schienen mir fast durchgängig sehr interessant zu sein. Ich bin dann zum ersten Mal vor drei Jahren, also ‘97, über ein Buch eingehender auf Schmitz aufmerksam geworden, also relativ spät, Schmitz ist Jahrgang 1922, mittlerweile ist er 78, also sehr spät. Vor drei Jahren bin ich durch ein Buch aufmerksam geworden auf Schmitz, was auch im Literaturverzeichnis ist, Günter Schulte, ein Philosoph und Bildhauer, sehr interessanter Mann aus Köln. Günter Schulte, auch relativ unbekannt, aber ein sehr interessanter, pointierter Denker. Günter Schulte hat ein Buch geschrieben, das heißt, [er hat] viele Bücher geschrieben, aber ein Buch war mir in die Hände gefallen, hatte mir jemand geschenkt: „Die Philosophie der letzten Dinge“, bezogen auf einen Buchtitel von Otto Weininger mit dem Untertitel „Liebe und Tod als Grund und Abgrund des Denkens“. Generalthese: Alles Denken dreht sich bewusst oder unbewusst um die Frage: Was ist der Tod? Und was ist die Liebe? Auch, so weist Günther Schulte nach, bei Denkern, die das gar nicht im engeren und direkten Sinne thematisieren. Und in diesem Buch wird an mehreren Stellen, an mehreren prominenten Stellen Hermann Schmitz erwähnt, die Leib-Philosophie von Hermann Schmitz erwähnt. Da gibt es einen brillanten Essay, der beschäftigt sich mit dem eher makaberen Thema einer Ganzkörper-Transplantation und den schauerlichen und erkenntnistheoretisch äußerst verzwickten, um nicht zu sagen abgründigen, ja monströsen Konsequenzen, die ein derartiger Gedanke hat. Da taucht Hermann Schmitz auf. Und dann bin ich bei einem, später im Winter 98/99, bei einem anthroposophischen Physiker, Martin Basfeld, auch wieder auf Schmitz gestoßen. Also einem Anthroposophen, der sich sehr wohlwollend, kritisch, aber doch mit viel Respekt, viel Anerkennung, zu Hermann Schmitz äußert, und dann war ich im letzten Sommer, also ‘99, in dem dickleibigen Buch von Peter Sloterdijk „Sphären II – Globen“ auch noch mal zum dritten Mal auf Hermann Schmitz gestoßen. Sloterdijk verehrt Schmitz sehr. Er ist auch stark beeinflusst von ihm, obwohl er relativ selten direkt genannt wird im Buch.

Kurzum, es waren drei Bezüge, die mich dann irgendwann dazu veranlasst haben, mir mal einige Bücher von Schmitz zu besorgen und mich da rein zu vertiefen. Nun, das war ein spannendes Unterfangen und das ist es auch heute noch, denn diese Bemühungen sind keineswegs abgeschlossen. Ich habe festgestellt, dass dieser Hermann Schmitz wirklich ein faszinierender Denker ist, der wie kaum ein Anderer, die Frage des menschlichen Leibes, darüber haben wir ja schon in den drei vorherigen Vorlesungen gesprochen, versucht hat, sehr subtil, sehr differenziert, sehr tiefgründig und vieldimensional anzugehen. Also nicht die Frage des Körpers, also des menschlichen Körpers, sondern die Frage des Leibes. Ich hab das ja schon mehrfach anklingen lassen. Also, und das will ich Ihnen versuchen darzustellen. Ich habe dann natürlich versucht, das Umfeld von Schmitz ein bisschen zu erkunden. Woher kommt er? Wovon ist er beeinflusst? Man versucht ja immer heraus­zubekommen, wovon sind Denker beeinflusst? Was sind prägende andere Denker, die ihn in irgendeiner Form direkt oder indirekt geprägt haben?

Er selber nennt einen Denker, den er sich wie keinem anderen verwandt fühlt und als dessen Erbe er sich selbst begreift. Und das ist Ludwig Klages. Ludwig Klages, ein umstrittener, von manchen ja als faschistoid verdächtigter Denker, 1872 bis 1956 sind seine Lebenszeiten, sind seine Lebensdaten, hat ein riesiges philosophisches Werk hinter­lassen. Sein wichtigstes und voluminösestes Buch trägt den Titel „Der Geist als Wider­sacher der Seele“, einen provokativen Titel, in dem eigentlich schon die ganze Grundthese des Buches enthalten ist, 1929/1930 erschienen. Grundthese ganz vereinfacht: Der Geist ist der Widersacher der Seele. Es gibt einen, quasi einen transzendenten Dämon, den Geist, verstanden als abstrakten Intellekt, der den lebendigen Fluss stört, unterbricht, ja zerstört, der also als Widersacher von lebendigen Prozessen auftritt. Und Klages hat in einem anderthalbtausend Seiten Opus, eben dem „Geist als Widersacher der Seele“, faszinierend plausibel gemacht oder zu machen versucht, dass die Ur-Wahrnehmung des menschlichen In-der-Welt-Seins sich in Bildern vollzieht. Er hat also versucht, die Vorstellung des Bildhaften in der Weltwahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken. Die Wahrnehmung der Welt vollzieht sich in Bildern, in Atmosphären. Bei ihm taucht der Begriff dann in einer Weise auf, wie wir ihm dann auch bei Hermann Schmitz begegnen, in Atmosphären. Er hat also ein Element rausgegriffen, das in der üblichen Philosophiegeschichte ja eher unter­belichtet war ‒ Atmosphären ‒ das Herausspüren von ganzheitlich verstandenen Zusam­menhängen der Weltwahrnehmung und der Wahrnehmung anderer Menschen, von Tieren und Pflanzen war ja eher in der traditionellen Philosophie ein Feld, was dem Subjektiven zugewiesen wurde. Das habe ich ja Ihnen in der letzten Stunde versucht zu erläutern im Zusammenhang mit der Frage der Genesis, der Entstehungsgeschichte des sogenannten mentalen Selbst.

Nicht, also das Fühlen wurde zwar anerkannt als eine Wirklichkeit des Seins, aber hatte keine, gewissermaßen keine eigene ontologische Wirklichkeit. Denn was ist Fühlen? Was ist Trauer? Was ist Freude? Was ist Zorn? Was sind Stimmungen? Eine Abend­stimmung, eine Morgenstimmung, eine niedergedrückte Stimmung, eine gewittrige Stim­mung? Was sind das alles für Atmosphären, die den Einzelnen ja ganzheitlich-integral ergreifen und vollkommen durchwalten und durchstimmen? Und das hatte ja in der Antike vor der Herausbildung des mentalen Selbst dazu geführt, dass der Mensch sich, das habe ich ja erläutert, immer im Blickfeld numinoser Mächte sah. Er war immer der Angeblickte, der Mensch immer als der Angeblickte, von allen Seiten des Kosmos Durchstrahlte und Durchwaltete, während sein eigenes Ich, was ganz zaghaft, zart, rudimentär im Entstehen war, im 6., 5., 4. Jahrhundert vor Christus, ganz allmählich erst diese ontologische Kehrtwendung vollzog vom Angeblickt-werden zum Selber-blicken. Und damit war eine fundamentale Kehre eingeleitet in der Betrachtung.

Der Mensch ist nun der selber Blickende, und man kann hier, wie das ja auch Heidegger und Andere getan haben, einen Akt der Selbstermächtigung erblicken. Wie immer man das jetzt bewertet im Einzelnen. Das kann man ja erst einmal phänome­nologisch betrachten. Der Mensch ergreift quasi die eigene Ichhaftigkeit, er [er]greift die eigene Subjektivität, er löst sich von diesem numinosen Angeblickt-werden, Durchwaltet- und Durchstrahltwerden und blickt nun selber. Er ist selber der Blickende und damit verobjektiviert er die Welt. Damit wird die Welt verobjektiviert, sie wird vergegen­ständlicht. Die Welt wird zum Außen. Das ist wichtig. Die Welt war vorher in einem ganzheitlichen Sinne ein schwer definierbares Ineinander von außen und innen. Außen [und] innen war nie scharf getrennt. Der Mensch hat nicht eine sogenannte objektive Außenwelt scharf getrennt von einer so genannten rein subjektiven Innenwelt. Das ist ja die moderne Universaltrennung, die erst einmal Jeden von uns mehr oder weniger direkt oder intensiv bestimmt. Es gibt eine objektiv existierende Außenwelt, und es gibt eine Innenwelt, die mehr oder weniger in den vielfältigen subjektiven Innenräumen der je Einzelnen besteht, die aber immer eine gewisse Unverbindlichkeit haben, zumal dann, wenn Gefühle ins Spiel kommen. Und das ist die Ausgangsposition. Davon geht Schmitz aus. Er bezieht sich da auch auf Heidegger, ganz stark, ich sagte das schon, auf Klages und Andere. Und er sieht, wie das Nietzsche als erster erfasst hatte, dass mit Sokrates und Platon ungefähr eine Kehre einsetzt in der Geistesgeschichte. Und das zeigt er in einem wunderbaren Essay, den ich jetzt hier an den Anfang stellen möchte, wie sich der Prozess vollzog, den ich mit ganz anderer Sprache bezeichne, eben als diese Kehre vom Angeblickt-werden, also aus dem kosmischen Ganzen ständig Durchwaltetwerden, zum Selber-blicken. In einem brillanten Essay mit dem schlichten Titel, dem sehr abstrakt theoretisch wirken­den Titel „Leib und Seele in der abendländischen Philosophie“ versucht er zu zeigen, was sich damals abgespielt hat. Und ich will das mal Ihnen darstellen, weil es auch viele Zusammenhänge aufweist mit meinem eigenen Denken.

Vielleicht noch eine Bemerkung zuvor. Warum ich von Schmitz fasziniert war, war nicht nur, oder bin, war nicht nur der Versuch, den Leib zu denken. Ja, sehr schwierig, darüber haben wir schon gesprochen. Der Leib ist ja nicht der Körper, den Leib wirklich zu denken, ihn auf prägnante oder in prägnante Begriffe zu fassen, was wirklich im innerleib­lichen Spüren und im atmosphärischen Spüren passiert, das war das Eine. Und dann hatte mich fasziniert beim Schmitz, dass er wie wenige Andere versuchte, den Raum zu denken. Das ist ein Thema, was mich seit Jahrzehnten beschäftigt. Darüber habe ich viel geschrie­ben und auch viel gesprochen in der Öffentlichkeit. Was ist der Raum? Ein Mysterium im Grunde. Es gibt keine wissenschaftlich ausdifferenzierte, wirklich fundierte Theorie des Raumes. Der Raum ist nach wie vor ein großes Mysterium. Und Schmitz wirft der her­kömmlichen Philosophie mit ihrem, wie er das nennt psychosomatischen Dualismus im Grunde vor, dass sie die Seele raumlos macht, dass sie der Seele eigentlich den ontolo­gischen Ort im Raum und als Raum streitig macht. Und er geht dann sogar so weit, auch das war ja schon angeklungen, den Seelenbegriff überhaupt erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Er sagte, er habe aufs Ganze seiner Wirkungen gerechnet eher Verwirrung gestiftet. Der Begriff der Seele oder wie er das nennt, die Innenwelthypothese, die ja jedem von uns geläufig ist, weil wir sind ja alle Erben dieser Innenwelthypothese, die ja synchron zu sehen ist zur Vergegenständlichung der Außenwelt.

In diesem wunderbaren Essay heißt es zum Beispiel über diese Frage „Leib und Seele in der abendländischen Philosophie“: „Die leiblichen Regungen, um das einfachste und vielleicht wichtigste Gegenbeispiel zu wählen“ ‒ also gegen diesen psychosomatischen Dualismus ‒ „passen nicht in dieses Verteilungsschema, hier der Körper, dort eine raum­lose, ortlose, unausgedehnte Seele. Hunger, Durst, Schmerz, Kitzel, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit und vielerlei Benanntes oder noch Namenloses dieser Art aus dem Gegenstands­gebiet des Spürens am eigenen Leibe ohne Vermittlung durch Sehen, Hören und Tasten, ist unverkennbar auf eigentümliche Weise räumlich ausgedehnt und kann schon deshalb nicht der als raumlose Innenwelt gemeinten Seele zugerechnet werden. Ebensowenig darf es als Bestandteil des Körpers, als körperlich im herkömmlichen Sinn gelten, da man sonst mittelbaren oder unmittelbaren Zugang durch Sehen und Tasten zu ihm verlangen müsste.“ Also diese Gefühle wie Hunger, Durst, Schmerz und so weiter, meint er und macht er auch plausibel, haben einen räumlichen Charakter. Sie sind nicht raumlos, sie sind nicht ortlos, auch wenn sie nicht unbedingt in einem koordinatenmäßigen Sinne am Körper, am physischen Körper, jedenfalls nicht immer, zu fixieren sind. Weiter Schmitz: „Ich kenne nur einen Fall, in dem eine fremde leibliche Regung so unmittelbar geradezu wie Körper oder Farben gesehen werden kann, nämlich als begegnender Blick.“ Das spielt in seiner Philosophie eine große Rolle, das Blicken, der Ringkampf der Blicke. Er hat sich sehr intelligent zur Frage des Blickens, des sich Anblickens geäußert. Was passiert, wenn Menschen sich anblicken, nicht psychologisch, sondern leiblich, direkt, wirklich, in der leiblichen Kommunikation? Was geschieht in diesem Blicken? „Die dualistische Tradition sucht sich die leiblichen Regungen als Organempfindungen zurechtzulegen.“ Diese These kennen sie alle. „Organ soll die körperliche Empfindung, die seelische Hälfte sein, in die das schlichte Phänomen zerrissen wird. Es gibt keine Organempfindung, wie ich gezeigt habe.“ Immer wieder, sagt er: „habe ich widerlegt, habe ich gezeigt“. Nun, das ist der … , fast apodiktisch gesagt, das kann man jetzt auf sich beruhen lassen. Er glaubt, das gezeigt zu haben. Er glaubt wirklich, diese Innenwelthypothese widerlegt zu haben. „Erst indem ich die leiblichen Regungen aus diesem Versteck am Rande der herkömmlichen Wissenschafts­systematik befreite, konnte es mir gelingen, das große und wichtige Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leibe von der Wurzel her begrifflich zu rekonstruieren und in seiner Bedeutung für das Menschsein bestimmen. Unräumlichkeit versagt also als Kriterium des Seelischen beim Versuch einer Aufgliederung des Menschen in Körper und Seele.“ Also, eine wesentliche These seiner Überlegung ist immer wieder die von der Räumlichkeit der Gefühle, auch der Räumlichkeit der leiblichen Regungen. Er sagt immer wieder, darüber haben wir ja schon gesprochen, Gefühle sind Atmosphären. Wenn ich in dem Zusammen­hang schon in der ersten Vorlesung vor drei Wochen das Wort Psycho-Atmosphären verwendet habe, dann ist das nicht im Sinne von Schmitz, weil für Schmitz gibt es keine Psycho-Atmosphären, es gibt nur Atmosphären. Das ist also das, was wir als Psycho-Atmosphäre bezeichnen, ist darin eingeschlossen.

„Nicht besser steht es mit der Privatheit, die von denen, die jedem Menschen eine private Innenwelt im Gegensatz zur öffentlichen Außenwelt reservieren möchten, als Kenn­zeichen des Seelischen empfohlen wird.“ Wir wissen alle, dass mit der Entstehung der modernen Subjektivität natürlich auch die Privatheit entstand, die sogenannte Privat­sphäre. Jeder hat seinen privaten, nur eigenen und nur eigenen Innenraum. Die Innenwelt­hypothese: Seiner Überzeugung nach hat dieser Vorgang, den ich ja auch gekennzeichnet habe, vor einer Woche in meiner Sprache, bei ihm hat das drei entscheidende Kompo­nenten, die er folgendermaßen bezeichnet:

Die erste Komponente also, was sich vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren abgespielt hat. Erste Komponente: die menschliche Selbstermächtigung, wie er das nennt, in Anlehnung an bestimmte Begriffe, die man dann auch bei Martin Heidegger und anderen findet. Die menschliche Selbstermächtigung.

Die zweite Komponente ist der sogenannte Physiologismus, die Wahrnehmungs­theorie, dass über Sinnesrezeptoren der Hauptteil der Weltwahrnehmung als eine Außen­weltwahrnehmung dann in etwas Inneres, in die seelische Innenwelt hineinkommt und dort, wie das Kant gesagt hatte, mittels des Verstandes als in sich konsistente Wahr­nehmung interpretiert wird. Er meint, das stimmt nicht. Und stellt das in einem riesigen Gedankenbogen dar, dass wir immer schon vor all dieser Art von Aufteilung eine ganz­heitliche Wahrnehmung haben, jenseits der bloßen Ordnung von Sinnesempfindungen im Sinne von Kant und Anderen.

Die dritte Komponente ist die Objektivierung der Außenwelt. Also die menschliche Selbstermächtigung ist die eine Komponente, dann, was er den Physiologismus nennt, also die genannte sinnesphysiologische Lehre und die Objektivierung der Außenwelt.

Die menschliche Selbstermächtigung fungiert für ihn als der Versuch des Menschen, sich zu befreien von der ihn ständig bestimmenden und bedrohenden Überwältigung, was ich das Angeblickt-werden nenne. Der Mensch befreit sich von der Überwältigung. Es gibt ein interessantes Wort im griechischen Denken: „thymos“, was so viel wie Liebe, Zorn heißt, aber auch herrschen und frei sein, was als bewusster Gegenbegriff gesetzt wird zu Psyche, die er …. und zunehmend mehr dann mit dem Ich verbunden wird. Das heißt, er zeigt das sehr schön, noch bei Homer, dass der Mensch noch kein klar herauskonturiertes Ich entwickelt hat, dass er sich durchwaltet fühlt vom Thymos, von einer numinosen, ihn vollständig ergreifenden Macht, und dass alle Empfindungen, Stimmungen, Aura-Empfin­dungen und Ähnliches, letztlich eigene Wirkmächte und wirkliche Mächte sind, auch Eros als eine eigene Wirkmacht.

Die Seele ergreift sich selber in dieser Selbstermächtigung und distanziert sich von diesen sie durchwaltenden und durchwirkenden, überwältigenden Mächten. Aber sie müssen irgendwo bleiben, diese überwältigenden Mächte, müssen ja ihren Ort haben, sind ja nach wie vor da, sie müssen abgedrängt werden und werden auch abgedrängt. Sie werden nun zunehmend in eine quasi unverbindliche Innenwelt abgedrängt. Bis hin zu der berühmten Lehre der primären und sekundären Sinnesqualitäten von John Locke, dass das eigentlich Objektive nur die materielle Welt, die Ausdehnung sei, die Stofflichkeit, dann gefasst als Kausalität in der idealistischen Philosophie, und dass der Rest, Gefühle, Empfindungen, Farben und Ähnliches, der nur subjektiven Innenwelt angehört. „Der nun sich so ermächtigte, ermächtigt habende Mensch“, schreibt Schmitz sehr tiefsinnig, „sei nun formal vernünftig und emanzipiert, eben deshalb, welche grausige Ironie, aber inhaltlich ratlos geworden, letztlich auch inhaltleer.“ Darüber werden wir noch sprechen.

Der zweite Punkt ist nun, dass die Sinnesphysiologie, die ja bis heute eigentlich die dominierende ist, Grundthese: es gibt eine Außenwelt, es gibt einen Organismus, der über Sinnesorgane, Information, Kunde erhält von dieser Außenwelt und der nun in seinem Geist, in seinem Gemüt, wie Kant das nennt, diese Welt zu einer konsistenten Erfahrung fügt. Schmitz wendet dagegen ein und macht das an vielen Beispielen deutlich, dass der Mensch immer schon, bevor diese Trennung, diese, wie er meint, künstliche Trennung vorliegt, eine ganzheitliche Wahrnehmung von Situationen hat, bevor er überhaupt Zeit hat, bevor auch der Organismus gleichsam Zeit hat, überhaupt zu reagieren, reagiert der Mensch bereits in einer ganzheitlichen Situation. Er hat also eine Art Universalwahr­nehmung, eine integrale Wahrnehmung des Ganzen, gleich nachdem Platon, von dem stammt das, wissen viele nicht, diese Sinnesphysiologie in dem modernen Sinne geht auf Platon zurück. Gleich nachdem Platon im „Theaitetos“ durch Deutung der Augen, Ohren usw. als Sinnesorgane, das heißt Werkzeuge der Wahrnehmung von Qualitäten wie weiß, schwarz usw. den Physiologismus endgültig etabliert hat, begründet er den Rationalismus, indem er die Sachverhalte, das etwas ist, was es ist und wie es sich zu etwas verhält, aus der Wahrnehmung verweist und der Einsicht des Verstandes oder Urteilsvermögens überträgt.

Es ist so selbstverständlich für viele sogenannte moderne Menschen, dass sie gar nicht verstehen können erst einmal, was daran ernsthaft zu kritisieren wäre, weil wir sind ja alle, das habe ich ja letztes Mal auch schon gesagt, ja Erben dieser Selbstermächtigung und der Entstehung des mentalen Selbst. Dieses mentale Selbst ist ja die conditio der gesamten modernen Denkbewegung, unser aller Grundlage, erst einmal, unser aller, wenn man so will, Abstraktionsbasis. Insofern eine vollkommene Selbstverständlichkeit. Der Sinnesphysiologe heute würde ja gar nicht akzeptieren können, dass ein Mensch über die Sinnesorgane hinaus, ohne dass es deswegen übersinnlich wäre oder jenseitig oder transzendent, eine Gesamtwahrnehmung hat. Schmitz bringt ganz viele Beispiele von etwa Jemand, der einer Bedrohung ausweicht, der in einer ungeheuren Schnelligkeit ganzheitlich auf diese Bedrohung reagiert und seinen Körper entsprechend bewegen kann, bevor überhaupt im Sinne der sinnesphysiologischen Lehre diese Reaktion möglich ist. Darüber sprechen wir noch.

Der dritte Punkt ist die Objektivierung der Außenwelt, darüber habe ich schon gesprochen. „Der moderne Ingenieur als Endprodukt, der mit nüchterner Selbstdisziplin alles Begegnende auf das Zähl- und Messbare reduziert, schließt so den Bogen zwischen diesen beiden Säulen der psychosomatischen Anthropologie, der Selbstermächtigung der Person und der Objektivierung der Außenwelt.“ Dann zeigt Schmitz das sehr schön im Zusammenhang mit Äußerungen von Klages am Eros. Er sagt mit einigem Recht zu dieser Selbstermächtigung, Sie erinnern sich an das, was ich vor einer Woche gesagt habe, zu dieser Selbstermächtigung gehört auch ein Distanzverhältnis zu dem Überwältigenden, zu dem in einem numinosen Sinne Überwältigenden des Eros. Er zeigt das an einer promi­nenten Stelle von Platon in der „Politeia“. Er paraphrasiert das und kommentiert das. „Wie prekär am Höhepunkt und Abschluss der Seelengründungszeit dieser Versuch noch ist“, also diese Selbstetablierung des mentalen Selbst, wie ich das nenne, „zeigt das schauerliche Bild der Seele, das Platon in der Politeia entwirft. Der Mensch im Menschen, die für sich allein schwache, aber zur Herrschaft berufene Vernunft“ ‒ die Geburtsstunde auch des Rationalismus, Sokratismus ‒ „bewacht zusammen mit dem Löwen im Menschen, dem Herd der aggressiven Regungen, des Stolzes und Ehrgefühls, das vielköpfige, undurch­schaubare, unheimliche Ungeheuer im Menschen, das dort den meisten Platz einnimmt: den Herd der sinnlichen Regungen.“

Also, die sinnliche Regung als ein gewaltiges Meer, als ein quasi chaotisches Meer, was ständig anflutet und dem das mentale Selbst also eine Barriere errichtet. „Dieses Gleichnis hat der Folgezeit die verhängnisvolle Doktrin des Humanismus beschert.“ Das muss man hier im Kontext sehen, nicht, es wendet sich nicht gegen den Humanismus im üblichen Sinne, im Sinne eines Antihumanismus, um das nicht misszuverstehen, „beschert der den Menschen in einen eigentlichen Menschen, den Menschen im Menschen und einen Unmenschen im Menschen spaltet. Diese Spaltung hat sich besonders stark auf die Einordnung des Geschlechtslebens in das menschliche Selbstverständnis ausgewirkt. Der Geschlechtstrieb mit seiner spontanen und heftigen Entzündbarkeit galt als besonders gefährliche Bedrohung der personalen Emanzipation und Selbstermächtigung. Darüber haben wir ja auch ansatzweise im Zuge meiner Theorie der Bewusstseinsentwicklung gesprochen, dass natürlich die Sexualität, jetzt um einen modernen Begriff zu verwenden, immer die Bedrohung war, der Eros war immer das Bedrohende, dem sich natürlich das sich selbst ergreifende Subjekt immer konfrontiert sah in irgendeiner Form.

„In Platons ,Phaidros‘ ist einerseits, wie schon gesagt wurde, seine Erregung durch den Anblick schöner Knaben beim homosexuellen Mann gleichsam die unterste Stufe der erotischen Leiter, die den Aufstieg zu den Ideen in Aussicht stellt. Andererseits aber ist er dort das böse Seelenross, das den Seelenwagen aus dem Kurs zu bringen droht und nur mit Mühe und Not gebändigt werden kann gleich dem gegen die göttliche Vernunft im Kopf wie ein wütendes Tier rebellierenden männlichen Glied nach dem ,Timaios’“. Also der Phallus als ein Ungeheuer quasi, als ein kaum zu bändigendes Ungeheuer. „Die Bemühung, den Geschlechtstrieb in die abgegrenzte und zentrierte Innenwelt des Einzelnen Bewusst­habers einzuschließen, wurde aufgrund dieser Einschätzung seiner Wirksamkeit als gefährliche Störungsquelle personaler Emanzipation besonders stark. Mit der Folge, dass die Offenheit dieses Triebes für atmosphärische Gefühle, Eindrücke und Impulse verkannt oder geschädigt wurde.“ Auch in diesem Zusammenhang, auch zu diesen Dingen, habe ich mich ja im Einzelnen schon geäußert.

Eros war ganz eindeutig noch etwa bei Empedokles, gar nichts Personales, sondern war eine den Menschen ganzheitlich ergreifende, quasi kosmische Macht. Eros war eine numinose kosmische Macht und keineswegs eine personal zu begrenzende Form von Weltwahrnehmung, die man als Sexualität im engeren Sinne bezeichnen könnte.

Das also in ganz knapper Form zu dem Versuch von Schmitz, das von mir in der letzten Woche Dargestellte in seinen Worten zu begründen und abzuleiten.

Also, nun macht er einen kolossal gewagten Versuch, und das muss man einfach sagen, das ist gewagt, mit hohem Risiko. Ob ihm das gelungen ist, kann man auf sich beruhen lassen. Aber man sollte erst mal zur Kenntnis nehmen, was er macht. Er macht nun folgenden Versuch. Er versucht nun den Bogen zurückzuspannen, ähnlich wie Heidegger, aber vollkommen anders, in diese Phase vor zweieinhalbtausend Jahren, versucht herauszuspüren, was geschehen ist und versucht nun, diese ganzheitlich ergrei­fenden, im Sinne der Antike numinosen Mächte phänomenologisch zu bestimmen, also nicht im Sinne eines Rückfalls in einer vormentale Bewusstseinsverfassung, eine Regression. Das ist nicht der Fall. Es wäre ja eine Möglichkeit. Man könnte ja sagen, gut, diese mentale Entwicklung war ein Irrweg. Wir korrigieren diesen Irrweg und sagen: Gut, wir müssen das rückgängig machen. Das geht nicht, wie wir wissen, das ist illusorisch, das ist naiv, das ist illusionistisch. Aber es gibt ja diese Ansätze, unter anderem ja im ganzen Kontext des Prä-Faschismus und Faschismus ja auf rabiate Weise, Ergreifung des Vitalen, als das unmittelbar Lebendigen, angeblich nur Wirklichen, gegen das abstrakt Rationa­listische. Also das, in dieser vereinseitigten Form ist immer, zumal dann, wenn es sich politisch artikuliert, furchtbar.

Schmitz versucht nun phänomenologisch wieder die Atmosphären dieses ganzheit­lich jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung Existierende in den Blick zu nehmen, das ist wichtig. Es ist ein Etwas, das nicht im engeren Sinne subjektiv und nicht im engeren Sinne objektiv ist, sondern in dem und durch das die Subjekt-Objekt-Dichotomie immer schon aufgehoben ist, die Subjekt-Objekt-Dichotomie immer schon aufgehoben ist. Insofern in sich etwas zutiefst Dialogisches. Und kurz nochmal einen Rückblick auf Klages, auf den er sich ja bezieht, obwohl er sich von ihm abgrenzt und auch vieles von ihm für naiv hält. Klages hatte ja einen ähnlichen Versuch Jahrzehnte vorher unternommen. Ein Versuch, von dem man sagen muss, aufs Ganze gesehen, gesehen, dass er gescheitert ist, weil Klages ein Konstrukt eingebaut hat, was so nicht haltbar war. Klages hatte, wie das ja schon der Buchtitel seines voluminösen Werkes zeigt, einen abstrakten, lebensfeindlichen Geist, sozusagen als deus ex machina postuliert, der langfristig, wie er meint, alles Leben zerstört. So war ja Klages, wie einige von Ihnen ja auch wissen, einer der Gründerväter der ganzen Ökologiebewegung. Er war ja einer der Ersten überhaupt, der schon um die Jahrhundert­wende, da war er ja erst Ende zwanzig, also um die letzte Jahrhundertwende, der als einer der ganz frühen Mahner gegen den Industrialismus und seine Zerstörung der Erde auftrat, auch in seinen Vorträgen auf …, die er auf dem Hohen Meißner 1913 gehalten hat „Mensch und Erde“ und so weiter. Er war also ein früher Mahner dessen, was man später als Umweltzerstörung bezeichnet, ein Vordenker, wie man es ja so schön oft sagt, der ökolo­gischen Bewegung.

Also Klages fingiert einen Dämon, den lebensfeindlichen Geist-Intellekt, der alles Lebendige untergräbt, und das war fatal, in dieser Form fatal, weil er dann auf eine ungenaue und gefährliche Weise von einer lebensphilosophischen Strömung dann verein­nahmt werden konnte, die den Geist überhaupt und grundsätzlich ablehnt, ja verteufelt. Trotzdem oder gleichwohl enthält das Werk von Klages faszinierende Einsichten. So polemisiert Klages als einer der ersten in der neueren Denkbewegung gegen die bloße Subjektivität der Gefühle. Das ist wichtig, gegen die bloße Subjektivität der Gefühle, als ob diese Gefühle sozusagen nur subjektive Innenwahrnehmungen wären, denen überhaupt keine Gültigkeit, auch keine ontologische Wertigkeit in der Welt zukommt. Wogegen er scharf vorgeht. Und auch die sogenannten „Atmosphären“, den Begriff führt Klages hier ein, sind den Menschen als Ganzes ergreifende Wesenheiten, nun nicht mehr numinose Mächte, göttliche oder quasi göttliche Mächte, aber Wesenheiten, Wirklichkeiten der Welt.

Ich habe Ihnen das ja am Beispiel der Raumkonzeption erläutert, wie Schmitz aus dem leiblichen Weiteraum und dem Richtungsraum in einem langen Abstraktionsprozess dann der Außenraum wird, der euklidische dreidimensionale Raum, dann später der abstrakt-vierdimensionale Raum, den er als Ortsraum bezeichnet. Ich sage ja dazu Koordi­natenraum, also wo man ganz genau festlegen kann, hier ist dieser Punkt im Kontext ganz bestimmter Koordinatenfestlegungen, während diese Räumlichkeit der Atmosphären und auch des innerleiblichen Spürens zwar Ausdehnung hat, aber diese Ausdehnung hat keine klaren Grenzen. Diese Ausdehnung hat keine Flächen. Diese Ausdehnung ist, wie er das nennt, vordimensional, prädimensional. Es ist eine Ausdehnung, aber diese Ausdehnung ist nicht genau lokalisierbar. Sie ist randlos, sie ist flächenlos. Etwas, [das] zunächst einmal für den modernen Rationalismus schwer zu begreifen ist.

Nun beschäftigt sich Schmitz sehr eingehend mit dem, was eigentlich in der Welt­wahrnehmung des Menschen und zwischen Menschen passiert. Wenn Menschen mitein­ander kommunizieren: Was passiert eigentlich wirklich? Sind das zwei oder drei oder mehr oder eine Gruppe von Körpern, die über ihre jeweiligen Innenwelten nun die jeweiligen sinnesphysiologisch verstandenen Signale interpretieren, das alles spielt sich dann nur in dem Kopf ab, wie das die moderne Sinnesphysiologie ja bekanntlich behauptet, steht ja in allen Lehrbüchern, das ist sozusagen alles nur im Kopf. Wie kommt dann eigentlich diese doch für Jedermann sofort begreifbare, ja auch seine alltägliche Erfahrung bestimmende Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zustande? Jeder kennt das doch auf eine sofort, eine spontane, eine sekundenschnelle Art Atmosphären begreifen, dass wir menschliche Kom­munikation begreifen, dass wir ein Verständnis entwickeln für eine Situation, ohne dass wir uns darum eigentlich bemühen müssten. Er zeigt das zum Beispiel an den Blicken, das habe ich ja schon angedeutet, das ist besonders interessant. In der Antike waren ja …, wurde ja das Blicken, das Sehen immer noch verstanden als etwas nach außen Greifendes. Blicken war nicht nur einfach ein physiologischer Vorgang, dass irgendwelche elektromag­netischen Schwingungen auf der Netzhaut landen, dann weiterverarbeitet werden, irgendwann im Gehirn landen, sondern Blicken war immer etwas nach außen Gerichtetes. Es war immer ein Ausgreifendes in den Raum. Und das kann man immer noch merken, spüren, wahrnehmen im Blickkontakt.

Es gibt Kulturen, das wissen Sie, wo es als absolut unschicklich, ja unmöglich gilt, einen Menschen länger als zwei Sekunden anzuschauen, das ist schon unmöglich. Das ist bei uns nicht so. Aber Sie können das beobachten, wenn Sie in der U- oder S-Bahn fahren und Sie haben einen längeren Blickkontakt, gibt es immer die Möglichkeit, ist das jetzt peinlich, ist das eine pure Neugierde, kenne ich den oder die Betreffende? Oder ist das einfach ein Grundinteresse, weil der gefällt mir oder den finde ich interessant. Auf jeden Fall kommt sofort eine eigenartige Kommunikation in den Raum, die etwas Rätselhaftes hat, die man überhaupt nicht fassen und greifen kann. Dazu mal Schmitz, zu diesem Blicken, weil das ein hochinteressantes Feld ist, was ja zunächst einmal für die Philosophie überhaupt kein Thema war. Die meisten Philosophen, ob nur Kant oder Hegel oder Descartes und wie sie alle heißen, haben sich ja nicht mit der Frage beschäftigt: Was sind Blicke? Wie wirken Blicke? „Man kann niemals einem Anderen ins Auge schauen, ohne dass sich ein Ringkampf der Blicke, in Anführungszeichen, mit ganz derselben Struktur einspielt. Das liegt nicht an irgendeiner herrschsüchtigen Absicht, sondern an der Struktur des leiblichen Befindens, die den sich begegnenden Blicken als unteilbar ausgedehnten leibli­chen Richtungen eingeprägt ist“. Der Blick ist nach Schmitz eine leibliche Richtung. Das heißt zur Weltwahrnehmung, auch zu dem, was er dann das motorische Körperschema nennt, gehört der Blick als eine Komponente: das In-die-Welt-blicken. Vielleicht erinnern Sie sich auch die, die da waren, an das, was ich über das von meiner Philosophie aus, über das Sehfeld oder das Gesichtsfeld Ihnen versucht habe zu verdeutlichen. „Blicke, die ineinander tauchen, sind wie Speere im Turnier. Sie greifen tief ins leibliche Befinden beider Partner ein, die sich dadurch bedeutsame Signale geben, sind schwer auszuhalten, werden gern vermieden, wenn die Situation nicht das Besondere erfordert und entfalten sich im Drama des Augenblicks zu einem vielfältigen Wechselspiel“, wie jeder weiß, [das] ist eine elementare Grunderfahrung beim Menschen überhaupt: Was geschieht, wenn man sich anblickt, was da in blitzartiger Form an Kommunikation geschieht jenseits des rationalen und jenseits des Physiologismus. „Es handelt sich um ein Drama, des elementar leiblichen Betroffenseins, nicht um eine Beigabe von Bedeutungen, die erst das personale Erleben hineinlegte. Das zeigt sich daran, dass Blicke ebenso über Tiere wie über Menschen Macht ausüben.“ Es gibt ja ein interessantes Beispiel, was jeder Tierdompteur ja kennt, und jeder auch weiß, ist ja ein bekanntes, aber nicht erklärtes Phänomen: warum Dompteure in der Lage sind, durch Blickkontakt ein Tier, ein sogenanntes wildes Tier unter Kontrolle zu halten. Wenn der Blickkontakt weggeht, kann das Tier außer Kontrolle gera­ten. „Es fehlt uns heutzutage noch eine ausreichende Erklärung dafür, wie der Blick eines Menschen wirkt, zum Beispiel bei Tierbändigern. Tatsache ist, dass sobald diese ihren Blick abwenden, dann die Bestien nicht mehr im Zaum gehalten werden können. Wenn man etwa einem ruhig daliegenden und noch so majestätisch unverwandt geradeaus schauen­den Löwen in die Blicklinie tritt und ihn scharf fixiert, so hält er nicht stand, dreht vielmehr sein mächtiges Haupt mit blinzelndem Auge zur Seite.“ Also, aus dem elementaren Vorgang des einander Anblickens leitet Schmitz eine grundlegende, eine quasi ontologische leibliche Kommunikation ab, die sich ständig abspielt, ununterbrochen im Kontakt mit Anderen, ob das nun Tiere oder ob das Menschen sind. Schmitz erfindet jetzt einen Begriff, der für seine Philosophie entscheidend wichtig ist, ein Begriff, der wie ein Aperçu wirkt, aber doch tief ist, den Begriff der „Einleibung“, den hat er erfunden, den Begriff, den gibt es nicht im Lexikon. Einleibung: Was ist gemeint?

Man kennt die Einverleibung in einem direkten physiologischen Sinne, die Einver­leibung etwa [bei] der Nahrungsaufnahme, ich verleibe mir das ein, dieses wunderbare Stück Kuchen oder was immer. Die Einverleibung, was immer da an mysteriösen Vorgängen jetzt dann geschieht, das ist wieder ein eigenes Ding, oder auch im Sinne einer geistigen Einverleibung. Er benutzt den Begriff der Einleibung. Ganz kurz vereinfacht gesagt und vielleicht auch allzu simplifizierend gesagt, meint er, dass im Kontakt leben­diger Wesen, also Leibwesen, ein quasi-Leib entsteht, ein höherer oder anderer Leib, der die jeweils beteiligten oder involvierten Leiber überwölbt und durchdringt, ja bildet. Nicht, das kennt man ja auf einer eher platten Form, sagen wir mal in der Psychologie, auch in der Gebärdensprache. Also es gibt eine bestimmte, jeder hat eine bestimmte Art, wie … , ich auch und jeder von Ihnen auch, bestimmte Worte, Sätze, Gedanken mit einer Gebärdensprache zu unterstreichen, eine bestimmte Gestik oder bestimmte Körperhaltungen. Man weiß ja aus Erfahrung, dass es bestimmte Synchroni­sierung von Körperhaltungen gibt, die auch verblüffend sind. Schmitz interpretiert das im Sinne seiner Theorie der Einleibung. Zitat Schmitz: „Der in Einsamkeit und Gemeinsamkeit invariante“ ‒ also sich nicht ändernde ‒ „dialogisch kommunikative Charakter des leiblichen Befindens“ ‒ das ist wichtig. Das muss ich noch vorab sagen, dass das Leibliche, sagte ich vorhin, immer dialogisch ist, immer auch kommunikativ, auch immer polar ‒ des leiblichen Befindens ist nach Schmitz die von Enge und Weite. Enge, Engung und Weitung, gezeigt etwa am Atmen, also die ständige Pulsation von Engung und Weitung. „Der in Einsamkeit und Gemeinsamkeit invariante dialogisch kommunikative Charakter des leiblichen Befindens legt die spontane Bildung und Erhaltung übergreifender, quasi-leib­licher Einheiten nahe, die die Struktur des Leibes gemäß dem Alphabet der Leiblichkeit“ ‒ wie er das nennt ‒ „besitzen, aber über den einzelnen eigenen Leib, den unmittelbaren Gegenstand des eigenen leiblichen Spürens hinausgehen. So etwas bezeichne ich als Einleibung. Sie ereignet sich zunächst im Alltag unablässig als Verschmelzung aufeinander eingespielter oder sich einspielender Leiber, zum Beispiel beim Sich-anblicken, schon dem ganz flüchtigen unter Passanten, die einander auf bevölkerten Gehwegen ohne planmäßige Koordination entgegenkommen und erstaunlicherweise ihre Bewegungen so gut auf die zu erwartenden der anderen abzustimmen verstehen, dass Zusammenstöße selten sind und mit ausdrücklicher Entschuldigung bedacht werden. Ebenso beim Händedruck, der in Deutschland üblichen Begrüßungsgeste, beim Gespräch, beim Liebesspiel, zum Beispiel zwischen Mutter und Säugling, bei jeder Suggestion und Faszination und besonders auffällig durch Ko-Agieren ohne Reaktionszeit in gut eingespielter Kooperation bei gemein­samer Handwerksarbeit, gemeinsamem Musizieren, Wettkämpfen, Boxen, Fechten, Tennis, Rudern, Ballspiel in Paaren und Mannschaften und so weiter. Wie die Glieder usw. eines Leibes, etwa bei den Bewegungen und Gewichtsverlagerungen, die blitzartig einen drohenden Sturz abfangen. Die Blicke und Gliederbewegung des Autofahrers, der ebenso rasch in kritischen Augenblicken einen Unfall abwendet, so co-agieren ohne Reaktionszeit unter den angegebenen Bedingungen, die durch antagonistische“ ‒ also gegensätzliche ‒ „oder solidarische Einleibung in einer übergreifenden, quasi-leiblichen Einheit kooperativ verschmolzenen Partner ohne Reaktionszeit, also instantan“, also eigentlich augenblicklich ohne eine erkennbare Reaktionszeit. „Darüber hinaus gibt es Einleibung auch im Verhältnis zu Gegenständen der Wahrnehmung, die an sich nicht Leiber sind, wenn sie auch durch Gestaltverläufe, die mit eigenleiblich spürbaren Bewegungssuggestionen übereinstimmen und diese nahverwandte synästhetische Charaktere, eine sozusagen leibartige Physio­gnomie besitzen. Die unwillkürlichen Mitbewegungen des durch Faszination gefesselten Zuschauers, zum Beispiel mit beim Fußballspiel liefern Zeugnis von solcher Einleibung.“

Jetzt grundsätzlich. Ich sage es noch kurz vor der Pause. Er bringt es nochmal hier auf den Punkt: „Überhaupt ist normale Wahrnehmung, die ja die Sinnesphysiologie in dem bekannten Sinne interpretiert, also überhaupt ist normale Wahrnehmung nicht bloß Aufnahme und Verarbeitung von Signalen wie die Physiologie und die an dieser sich orientierende Psychologie nahelegen, sondern in erster Linie Einleibung.“ Nochmal, zum Sehen. „Eine einfache Beobachtung am Sehen macht das klar. Wenn die schnelle, bedroh­liche Näherung eines Gegenstandes gesehen wird, ist der Sehende gewöhnlich in der Lage, durch zweckmäßige Körperbewegungen unwillkürlich, oft sehr geschickt und ohne Über­legung auszuweichen, sei es, dass er zur Seite springt oder nur den Kopf von einer zum Schlag ausholenden Hand wegbiegt und so weiter. Dazu ist er ja nicht dadurch in der Lage, dass er den bedrohten eigenen Körper so gut wie das gefährliche Objekt sähe. Das tut er meistens gar nicht und sich überlagern und Abstände dieser Dinge Rechenschaft gäbe. Den eigenen Kopf zum Beispiel sieht er im Allgemeinen nicht. Vielmehr ist der eigene Leib im Sehen-ohne-gesehen-zu-werden dennoch mit wahrgenommen, weil Sehen Einleibung ist und daher ein Co-Agieren ohne Reaktionszeit mit dem andringenden Objekt ebenso gestattet wie in den vorher besprochenen Fällen. Wie wenig solches Geschick selbstver­ständlich ist, bemerkt man beim Vergleich des Sehens mit dem Hören, dem es fehlt.“ Nicht, beim Hören ist es vollkommen anders. „Wenn man das bedrohliche Objekt nur heran­brausen hört, ist man viel ratloser als beim Sehen, wie und wohin man sich wenden soll, um sich zu schützen. Das liegt nicht etwa daran, dass das Hören weniger als das Sehen zur Einleibung begabt wäre, aber es hat dafür andere Kanäle. Rhythmischer Schall aller Art, Gesang, Instrumentalmusik, Händeklatschen, anfeuernde Rufe ist der stärkste Zünder der Einleibung, fähig, diese wie eine Glocke über eine Menschenmenge zu stülpen, wodurch die bekannten massenpsychologischen Effekte ausgelöst werden“, die er auch so erklärt übrigens. Er gibt auch eine ganze hochinteressante Theorie massenpsychologische Effekte, die in der Form sehr originell ist, er interpretiert das mit seiner Theorie der Einleibung, „wodurch die bekannten massenpsychologischen Effekte ausgelöst werden, aber nicht nur sie. Wenn ein anregender Gesprächspartner den anderen mitreißt, nachdem er eine Hemmschwelle der Lustlosigkeit und des Widerstandes überwunden hat, bildet sich eine gemeinsame Situation und Atmosphäre, worin die Beteiligten miteinander warm werden und sich gleichsam die Bälle zuspielen, die Spannung und Schwellung in der leiblichen Ökonomie oder die Ballspiel-Mannschaften im schon erwähnten Beispiel des sportlichen Wettkampfs für Einleibung.“

Das erstmal vor der Pause. Also der Begriff der Einleibung ist ein Kunstwort. Ich will das noch einmal versuchen, auf den Punkt zu bringen, was es meint. Es meint eine spontane, ohne erkennbaren Zeitverlust sich abspielende Herstellung eines quasi-Leibes, der nicht zum Körper gerinnt und sich nicht verdichtet, materialisiert zum Körper eines quasi-Leibes, eines ganzheitlich atmosphärischen gemeinsamen quasi-Leibes, der elemen­tar und in rasender Schnelligkeit entsteht und auch wirkmächtig ist. Das kann man nur von einer ganz oberflächlichen, rationalistischen oder physiologistischen Sicht aus leugnen, dass das so ist. Und das sind ja bewegende Fragen, die ja die herkömmliche Philosophie überhaupt nicht klären konnte, wie so etwas überhaupt zustande kommt, wie so etwas in einer Gruppensituation zum Beispiel, in einer massenpsychologischen Situation geschieht. Und da liefert er eine ganze Reihe hochinteressanter Ansätze. Wer das zum ersten Mal hört, der ist vielleicht etwas verwirrt und verblüfft und denkt vielleicht: Was ist das hier? Aber wir sprechen doch darüber.

Wir machen eine kleine Pause, sagen wir mal 6, 7, 8 Minuten, so.

… bezogen auf einen Band, der auch im Literaturverzeichnis steht, „Leib und Gefühl“, Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, in einer psychotherapeutischen Reihe erschienen. Das ist interessant, weil Hermann Schmitz ist der einzige Philosoph, der auch von vielen Psychotherapeuten nicht nur geschätzt wird, sondern auch, wenigstens partiell, in die eigene Arbeit einbezogen wird. Also, er hat sich ein Renommee verschafft und viele seiner Überlegungen, das kann ich hier gar nicht darstellen, das kann ich nur andeuten, haben auch enorme therapeutische Auswirkungen. Er hat sich zum Beispiel sehr intensiv mit der Schmerzbehandlung beschäftigt. Was ist Schmerz? Ich habe nirgends und von niemandem so etwas Tiefsinniges und Intelligentes jemals gelesen über Schmerz. Was ist Schmerz? Auch vieles sehr Feinsinnige und Tiefsinnige gesagt, über den Umgang mit Schmerz. Schmitz hat eine Fülle von Phänomenen überhaupt in die Sprache gebracht, von denen man bislang kaum wusste, dass man sie präzise begrifflich fassen kann. Was ist Erschrecken? Was passiert beim Einschlafen? Was passiert beim Aufwachen? Was passiert in ganz bestimmten Situationen mit der Raum-Empfindung? Was ist Angst? Was passiert mit der eigenen Leib-Wahrnehmung in der Angst und Ähnlichem? Also ganz überraschend hat er die Sprache in einer ungeheuren Weise verfeinert und das auf Formeln gebracht, was gemeinhin entweder im reinen Physiologisch-Medizinischen bleibt oder im Meinen und Wägen und, sagen wir mal, eher dumpfen Gefühligen. Er hat das wirklich auf Begriffe gebracht.

Also, „Material zu einer philosophischen Therapeutik“. Eine Zusammenfassung seiner Philosophie in einem kleinen Bändchen, ‘98 erschienen, ist „Der Leib, der Raum und die Gefühle“. So habe ich das hier heute genannt. Das ist die knappste Zusammenfassung, die er vor einigen Jahren gegeben hat über seine eigene Philosophie. Ich will noch mal zwei Stellen Ihnen darstellen. Ich sagte, ich will heute als Philosoph in gewisser Weise ein bisschen zurücktreten und hier dem Schmitz das Feld quasi überlassen, deswegen zitiere ich länger, als es sonst üblich ist. Aber es ist wichtig für unseren Zusammenhang, weil wir auf Schmitz in anderen Zusammenhängen immer wieder stoßen werden. In der gesamten Vorlesungsreihe in diesem Sommersemester ist er eine wichtige Figur. Noch einmal zur Frage der Gefühle.

In einem wunderbaren Essay mit dem Titel „Die Autorität der Trauer“ schreibt er Folgendes, ich zitiere das mal: „Die herrschende Lehre behandelt Gefühle als bloß subjek­tive, private Zustände des Erlebens.“ Das ist ja nur Gefühl, nicht, die rationalistische Philosophie, das ganze rationalistische Denken wertet das ja im gemeinen ab, nur Philo­sophie, nur Gefühl, nur subjektives Gefühl. Also, „die herrschende Lehre behandelt die Gefühle als subjektive, private Zustände des Erlebens, so in der neuesten Psychologie sogar als kognitive Reaktionen, das heißt Weisen der Verarbeitung von Kenntnisnahmen. Was aber auf viele Gefühle, z.B. grund- und gegenstandslose Trauer ersichtlich nicht zutrifft. Für ein solches Gefühlsverständnis muss die Autorität von Gefühlen ein Rätsel bleiben. Was könnten meine privaten Zustände und Reaktionen mir zu sagen haben, in dem Sinn, dass sie mich zu einem Gehorsam verpflichten, eventuell sogar, im Fall verbindlicher Normen, ohne Rücksicht auf mein Belieben.“

Also das ist ja das, was man in der Antike als das Überwältigende und Ergreifende gesehen hat, also im Sinne von Empedokles: Der Eros ergreift den Menschen, der ist also weder subjektiv noch objektiv. Das ist ein Etwas, ein Etwas, was den Menschen ganzheitlich ergreift, was ihn packt, das ihn vollkommen durchwaltet und durchwirkt, wo sein Ich klein ist dagegen und kapituliert. „Das Rätsel löst sich erst, wenn man solche Gefühle richtiger als Atmosphären versteht“ ‒ den Begriff hat er von Ludwig Klages übernommen in dem Zusammenhang ‒ „die den Menschen umhüllen und einnehmen wie das phänomenale Wetter, das ja keineswegs ein Zustand der mehr oder weniger warmen und feuchten Luft ist, sondern eine eigenartig charakterisierte, einbettende Weite, die bloß am eigenen Leibe gespürt wird, aber nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als eine Art Gegenspieler, der über den Leib hinaus geht und auf ihn Macht ausübt wie in anderer Weise die reißende, niederziehende Schwere, der man sich im Fallen entgegenstemmt, obwohl man sie nirgends als am eigenen Leib spürt. Luft ist ein erdachter Körper, den man sich zurecht legt, um solche gespürten Atmosphären auf das für Berechnung und Prognose handlichere Festkörpermodell zu reduzieren, dem die Luft vollends gehorcht, wenn man sie als ein aus Molekülen oder Atomen, gleichsam wirbelnden Steinchen bestehendes Gas deutet. Den Phänomenen wird man besser gerecht, wenn man solche Atmosphären wie das Wetter mit den Gefühlen zusammenstellt.“ Es ist kein Zufall, dass Menschen mit solcher Begeisterung, mit solchem Interesse, mit solchem Engagement sich zum Beispiel über die jeweilige Wetterlage unterhalten. Das ist kein Zufall, das ist auch nicht banal, wenn man sagt, ach, das ist ja banal. Das ist gar nicht banal, weil das tief eingreift in diese leibliche Grund­kommunikation des menschlichen In-der-Welt-seins. „Ein Mittelglied bilden die optisch-klimatischen Atmosphären, die keineswegs aus einem optischen und einem klimatischen Anteil zusammengesetzt sind, wie ein physiologistischer Fehlschluss von den sensorischen Aufnahme-Organen auf die Phänomene nahelegen könnte, sondern ganzheitliche Eigenart besitzen.“ Hier trifft mal dieses Wort, was ich sonst, wie ja einige von Ihnen wissen, eher vermeide, dieses modisch abgeflachte Wort des „Ganzheitlichen“. Hier trifft es wirklich.

„Als erstes Beispiel erwähne ich die kühlfahle, in eigentümliche Fremdheit sich entziehende Atmosphäre des verbleichenden Tages, worüber Nietzsche seinen Zarathustra sprechen lässt“, jetzt Zitat Nietzsche: ,Die Sonne ist schon lange hinunter, sagte er endlich. Die Wiese ist feucht. Von den Wäldern her kommt Kühle. Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was? Du lebst noch, Zarathustra? Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht eine Torheit zu leben? Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mir fragt. Vergebt mir meine Traurigkeit.’“ Zitat Ende. „Hier geht die Atmosphäre der Dämmerung in die Atmosphäre der Trauer über, freilich einer besonderen, befremdenden Trauer, die man auch als Angst und Verzweiflung bezeichnen könnte, weil alle Erstrek­kungen des Strebens, die den Menschen normalerweise an seine Umgebung binden und ihm Halt und Orientierung geben, in dieser Atmosphäre wie ins Leere führen oder wie an eine glasige Wand, die durchsichtig ist, aber nichts mehr zu greifen gestattet, das heißt, die Lebensbezüge nicht mehr zu ihren Bezugspartnern durchlässt.“

Hochinteressante Beobachtungen, gerade heute Nacht ist mir das deutlich gewor­den. Wenn man viel Schmitz liest, dann nimmt man anders wahr. Ich war auch nachts um vier wach, hellwach und war längere Zeit auf dem Balkon draußen. Und das ist ja die Zeit, wo um diese Jahreszeit schon eine gewisse Helligkeit zu spüren ist. Die Nacht ist vorbei, aber der Morgen ist noch nicht gekommen. Und diese eigenartige, fahle, gespenstische, zwischen Farbigkeit und Farblosigkeit pendelnde, changierende Atmosphäre ist wirklich hoch faszinierend, wenn man das mal wirklich zulässt und das versuchen würde, in die Sprache zu bringen. Er macht das. „Verwandt ist jede Atmosphäre, die frösteln lässt wie das trübe, feucht-kühle Novemberwetter. Ganz im Gegensatz zu der trockenen Kühle unter einem blauen Himmel eines klaren Wintertages oder zu der lauen, dunstigen eröffnend-zerfließenden Atmosphäre des Frühlings.“ Und so weiter.

Und dann gibt es, durch sein ganzes Werk sich ziehend, immer wieder Betrach­tungen, zum Beispiel zur Stille. Also das fand ich, wenn ich Schmitz lese, immer wieder begeisternd und faszinierend. Ich habe noch nie etwas Besseres und Tieferes und Feinsinniger gelesen über Stille. Wir wissen ja alle, dass Stille vollkommen verschieden wirken kann. Stille ist etwas vollkommen anderes, wenn es vorher laut war. Stille kann sich plötzlich als peinliche Stille herausstellen, als beklemmende Stille, als beängstigende Stille. Man kann das ja beobachten, wenn man Menschen in der …, etwa in der S-Bahn beobachtet. Beim Fahrgeräusch, dann ist das ein ständig mitlaufendes Geräusch. Dann werden Zeitungen geblättert, dann knistern die Zeitungen, es werden Bücher vielleicht gelesen, Gespräche mehr oder weniger laut. Wenn dann plötzlich die Bahn auf der Strecke stehenbleibt und es alles vollkommen ruhig wird, dann kommt eine ganz eigenartige Stimmung im Abteil auf. Das Knistern der Zeitung ist ganz laut, was vorher leise war und man merkt nach einigen Minuten, wenn das also länger dauert, wie eine gewisse Unbehaglichkeit sich breit macht, die Menschen, denen ist also der Geräuschhintergrund genommen und die plötzliche Stille, die eintritt, hat etwas Gespenstisches. Man lacht verlegen, es gibt plötzlich Blickkontakt, den [es] vorher nicht gegeben hat. Und plötzlich ist ein ganz anderes Fluidum im Raum. Das ist nicht banal, sondern es ist wirklich, das ist ja lebendig. Das ist ja wirklich, das ist ja keine Fiktion.

Also über die Stille: „Ich meine, das braucht aber ihrer Autorität nicht im Wege zu stehen. Im Gegenteil, die Abstandnahme von dieser durch personale Emanzipation wird dadurch schwieriger als die von der Autorität eines bequem objektivierbaren Befehls­gebers generell für solche Atmosphären. Für solche Autorität von Atmosphärischem erwähne ich jetzt noch das Beispiel einer Atmosphäre, die genauso wenig wie das Wetter als Gefühl verstanden zu werden pflegt, ja im Gegensatz zu diesem nur selten als Atmosphäre überhaupt entdeckt wird, aber als solche und durch Autorität Gefühlen mindest nahesteht.“ Schmitz sagt immer wieder, diese Atmosphären haben Autorität. Es ist keine Fiktion, es hat sich keiner ausgedacht. Das ist weit das Subjektive übersteigend. „Ich meine die Stille, die physiologisch weiter nichts als Abwesenheit akustischer Reizung ist, phänomenologisch aber ein höchst aufdringlicher Gegenstand der Wahrnehmung sein kann, und zwar ohne jede Rücksicht auf akustische Sinnesdaten, nämlich sowohl bei deren gänzlichem Fehlen als auch in Konkurrenz mit gleichzeitig gehörtem Geräusch. Ich denke an feierliche oder zarte Stille in der Natur oder in einer hohen Halle, an dumpfe, lastende, bleierne Stille, an die brütende, panische Stille zum Beispiel des mediterranen Mittags, die den Griechen als Sirene, den Kirchenvätern unter anderem als Mittagsdämon erschien.“

Ja auch die Figur des Pan in der griechischen Mythologie ist ja so etwas, Pan ist ja eine wirkliche, im Sinne der antiken Befindlichkeit, eine wirkliche Größe, der Pan, der den panischen Schrecken verursacht, der in der Mittagshitze, wenn die Sonne senkrecht steht, auftaucht, als eine eigene numinose Gewalt, den Menschen vollständig durchwirkt und durchwaltet. „Solche ausgeprägte Stille hat Weite, Gewicht und Dichte, und im Falle der feierlichen oder zarten Stille eine Autorität, mit der sie dem für sie Empfänglichen, von ihr affektiv betroffenen Menschen die verbindliche, das heißt von seinem Belieben unabhängig geltende Norm auferlegt, sie zu schonen. Das heißt, nicht ohne triftigen Grund laut zu sprechen, zu schreien oder zu lachen oder auf andere Weise, die die Stille zerreißt, Getöse zu machen. Auf einen Menschen, der in einer solchen Atmosphäre unvermittelt ordinäre Musik vom Radio oder Band erscheinen lässt, werden sich gleich die strafenden Blicke Feinfühliger richten, strafend, weil sich der Betreffende gegen einen in ihrer Sicht für alle Anwesenden verbindliche Norm vergangen hat. Eine Norm, die niemand erlassen und sanktioniert hat, die vielmehr von der feierlichen oder zarten Stille ausstrahlt.“ Und so weiter, findet sich leitmotivisch in seinem gesamten Werk immer wieder. Es finden sich [in seinem Werk] immer wieder Betrachtungen über die Stille.

Und über das Phänomen der Faszination. „Faszination“, ein Wort, das ja eigentlich Fesselung bedeutet; übrigens der erste Denker, der die Faszination in diesem umfassenden Sinne als Fesselung verstanden hat, war der von mir ja, wie Sie wissen, sehr geschätzte Giordano Bruno, wenig bekannt. Giordano Bruno hat um 1589/90 eine kleine Schrift geschrieben. „De vinculis in genera“, über die Fesseln im Allgemeinen, wo er fast im Vorgriff auf die Jahrhunderte später erst entwickelte Leib-Philosophie von Hermann Schmitz, diese Vorgänge als Fesselung beschreibt, dass also leibliches Kommunizieren immer einer Fesselung entspricht und im Sinne Schmitzs eine Einleibung, zum Beispiel, dass Jemand beobachtet einen Seiltänzer, der also mit einer Stange balanciert und in atemloser Spannung gibt es eine, wie man trivial sagt, eine Identifizierung, aber im Grunde genommen, sagt Schmitz, ist es weniger eine Identifizierung als eine spontane, synchrone Einleibung. Ein quasi-Leib überwölbt und durchdringt den ganzen Kontext, die ganze Situation.

Kritisch, negativ könnte man sagen, das ist ja eine mythologische Denkfigur, die hier wieder aufgegriffen wird. Das ist nicht so, ich muss das noch mal klar sagen. Schmitz ist da sehr präzise. Es geht nicht darum, ich möchte das noch mal betonen, eine vormentale Form von Numinosität und allseits ergreifenden Mächten in unserer Zeit wiederzubeleben. So nicht. Aber es geht sehr wohl darum, dieser ohnehin uns ständig begleitenden und ständig bestimmenden und durchstimmenden Wahrnehmung eine Würde wieder zuzugestehen, eine eigene Dignität und eine Genauigkeit der Beobachtung und eine Genauigkeit der Sprache. Gerade damit wir nicht auf eine unkontrollierte und unreflektierte Weise hineinfallen in solche ergreifenden numinosen Vorgänge, wie das ja zum Beispiel, Sie kennen das vielleicht, der Psychologe C. G. Jung am Beispiel des Nationalsozialismus verdeutlicht hat, dass die Deutschen ergriffen worden seien, seine berühmte These, von einem Wotan-Archetypus, also einem gewaltig ergreifenden numinosen Etwas.

In der Psychotherapie und der Psychoanalyse findet man natürlich auch derartige ergreifende Wesenheiten, etwa unter dem Titel der Komplexe, der Minderwertigkeits­komplex zum Beispiel. Also, die Komplexe in der Psychoanalyse sind ja ähnliche, ergrei­fende, bestimmende Wesenheiten oder auch die Jung’schen Archetypen. Da taucht das ja auf mit anderer Sprache, in anderer Begrifflichkeit, aber da hat man das ja auch, dass also den Menschen etwas ergreift, was sein Ich weit übersteigt und was er eben nicht ohne Weiteres abschirmen kann, also wo er nicht seine kleine Ichhaftigkeit einfach so einzemen­tieren kann, dass das nicht durchdringt, sondern das ist immer da. Das durchwaltet uns ständig, das ist eigentlich unsere alltägliche Erfahrung. Und das ist der Grundansatz von Schmitz: unsere alltägliche Erfahrung, das was jeder kennt und jeden Tag ohnehin lebendig wirklich schaut, wahrnimmt, dem eine Sprache zu geben, und zwar keine verschwommene, keine fluktuierende und auch im engeren Sinne keine dichterische Sprache, obwohl es bestimmt Begriffe gibt, die auch etwas quasi-Poetisches haben, sondern eine sehr genaue, eine phänomenologisch genaue Begrifflichkeit. Und das mit Engung und Weitung hört sich zunächst sehr simpel an. Engung und Weitung als Grundpulsation des Lebendigen, es [ist] fast banal. Aber wenn man das weiterdenkt, dann hat das erstaunliche Konsequenzen für auch das eigenleibliche Spüren, was ist Engung, was ist Weitung. Das kann man ja im Atmen ganz genau spüren. Wo gibt es eine Weitung, die dann wieder umschlägt, eigen­tümlich, in eine gespannte Engung, die dann wieder in eine Weitung ausläuft, in der ständigen, lebendigen Pulsation. Das macht ja überhaupt den Prozess des Lebendigen hier aus.

Also, Phänomenologie in diesem Sinne: das Ernstnehmen, was sowieso uns alle bestimmt, da müssen wir nichts dazu erfinden. Und Schmitz baut auch keine Metaphysik an diese Stelle und will es auch gar nicht, sondern er betrachtet die Phänomene. In diesem Sinne ist es Phänomenologie und erhebt allerdings einen erheblichen Anspruch, wo ich sagen würde, den er in der Form nicht einlösen kann. Der ist vielleicht auch nicht einlösbar, einen neuen Schritt im Selbstverständnis des Menschen zu leisten. Den Anspruch erhebt er, also eine neue Anthropologie zu schaffen, den Menschen also nochmal ganz neu zu betrachten und alle Dogmen und Hypothesen, ja Fiktionen von Innen, Außen, Innenwelt, Außenwelt, Seele, Geist, Körper erst einmal zu den Akten zu legen und [zu] sagen, das ist ja nicht das, was beobachtet wird. Und da liegt die kolossale Faszination dieses Denkens, dass dieses Denken tatsächlich diese Beobachtung vollkommen ernst nimmt. Und das finde ich spannend und hochinteressant und das wird auch mich weiterhin beschäftigen.

Und wir haben jetzt noch ein bisschen Zeit, in zehn Minuten, ein paar Fragen zu stellen.

Ich bin hier mal heute als Jemand aufgetreten, der quasi den Schmitz in den Mittelpunkt gestellt hat. Hab mal mein eigenes Ding eher zurückgehalten, zurückgestellt, das war mir für heute wichtig. Ich will dann das nächste Mal jetzt mehr von meinen eigenen philos­ophischen Ansätzen aus die Frage der Zeit behandeln. Und zwar nicht Zeit in einem abstrakt philosophischen oder physikalischen Sinne, auch nicht im naturwissenschaft­lichen Sinne, sondern Zeit im Sinne der Leibes-Phänomenologie. Also wie wirkt Zeit? Was ist zum Beispiel die leiblich erlebte Gegenwart? Wie manifestiert sich das? Was ist für den Leib Vergangenheit ‒ und diesen ganzen Bereich, also der Zeitwahrnehmung in der Leibes-Phänomenologie mal darstellen am Prozess, am Prozesshaften, am Prozessualen, am Rhythmischen zeigen. Das ist ja eine wesentliche Komponente der Zeit, [das] ist ja nicht einfach das Fließen, das lineare Fließen, sondern [das] ist ja das Rhythmische, die Pulsa­tionsbewegung, das rhythmisch Prozessuale, wenn man das so nennen will. Gut.

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Die Frage des Leibes – Naturphilosophie als Leibphilosophie

Vorlesungsreihe:

Das lebende Buch der Natur, Teil III
In-der-Welt-Sein, Im-Leib-Sein. Zur Philosophie und Phänomenologie des Leibes

Humboldt-Universität zu Berlin
Sozialökologie als Studium Generale / Sommersemester 2000Dozent: Jochen Kirchhoff
Quelle: YouTube-Kanal Jochen Kirchhoff / Alle Audiovorlesungen Nr. 35

Transkript als PDF:


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Wie generell in den letzten drei, vier Jahren kehre ich in gewisser Weise aus dem Kosmos zurück auf die Erde im Sommer. Ich glaube, die letzten drei Wintersemester [habe ich] im weiten Sinne Fragen der Kosmologie behandelt: Mensch, Erde, neue Naturphilosophie, neue andere Kosmologie und in den letzten drei Sommersemestern weit gefasst Fragen von Ökologie, von Geomantie, von Polarität in der Erfahrung hier auf der Erde, eben auch in der Leib-Erfahrung. Insofern ist die Frage des Leibes uns immer wieder schon begegnet. Ich habe heute zum ersten Mal seit vielen Jahren die Leibfrage jetzt in den Mittelpunkt gerückt, also das lebende Buch der Natur, Teil 3 heißt jetzt „In der Welt sein, im Leib sein – Zur Philosophie und Phänomenologie des Leibes“.

In-der-Welt-sein, das ist ja ein Begriff, ein Terminus, der auf Heidegger zurückgeht. In seiner Zeit, 1927 taucht er auf und meint, kurz gesagt, kurz gefasst, eine elementare Grundgegebenheit der Existenz. Der Mensch ist nicht einfach im Nirgendwo. Er hängt nicht in einem Irgendwo, sondern er hat einen konkreten Ort. Der Mensch ist nicht ortlos, er ist nicht weltlos, sondern er hat einen Ort in der Welt. Ja, er ist seinem Wesen nach ein Wesen, was sich bestimmt durch das in-der-Welt-sein. Das mag sich fast banal anhören, ist aber keineswegs banal, denn die traditionelle Philosophie hat diesen Sachverhalt, der sich auch, wie wir sehen werden, über die Leiblichkeit vermitteln lässt, in großen Teilen ausge­klammert. Das In-der-Welt-sein wurde weitgehend eliminiert. Also In-der-Welt-sein ‒ ich spreche eher und vielleicht prägnanter noch in meinem Kontext von In-sein des Menschen. Also der Mensch ist ein In-sein-Wesen. Seinem Wesen nach ist er immer innerhalb absoluter und relativer Zusammenhänge. Es gibt ein Darin des Menschen und dieses Darin ist unter anderem der Raum und der Kosmos. Der Mensch ist ein Im-Kosmos-sein-Wesen, das ist wichtig.

Philosophie und Phänomenologie des Leibes. Was heißt das? Phänomenologie ist ein Begriff, das will ich kurz erläutern, der nicht selbstverständlich ist. Er geht auf die griechische Philosophie zurück und bezieht sich auf die Phänomene, auf das, was erscheint, also ein Phänomen ist etwas, was erscheint. Der Begriff „Welt der Erscheinungen“ als ein Begriff für die phänomenale Welt, die Welt der Erscheinung geht auf Kant zurück. Kant hat den Begriff erfunden, der bis heute übrigens auch in der Naturwissenschaft verwendet wird, die Welt der Erscheinungen. Ein sehr schwieriger, ein auch missverständlicher, ja geradezu diffuser Begriff, denn er wirft sofort Fragen auf: Wenn diese Sinnenwelt eine Welt der Erscheinungen ist, dann erhebt sich sofort die Frage: Was erscheint da? Was ist dieses Erscheinende, und für wen erscheint es? Und das hatte ja Kant ziemlich eindeutig beant­wortet: Diese Welt ist eine Welt der Erscheinungen für ein bestimmtes Subjekt, für das, was er das transzendentale Subjekt nannte, also nicht unbedingt für den je Einzelnen, sondern für das transzendentale Subjekt, was jeder Einzelne in sich trägt und ist. Und das hat große Verwirrung und ungeheuer viel Diskussion ausgelöst. Was erscheint da eigentlich? Und was verbirgt sich in dieser Erscheinungswelt? Und das wird uns also beschäftigen. Und Phänomenologie des Leibes bezieht sich auf das In-der-Welt-Sein im Hinblick auf die Frage, welche leiblich erfassbare, leiblich erfahrbaren Phänomene lassen sich in einen konsisten­ten philosophischen Zusammenhang bringen?

Das setzt voraus, dass man überhaupt diese Phänomene erkennt, dass man sie überhaupt zulässt und dass man eine Sprache dafür hat. Das ist ja nicht selbstverständlich, dass man eine Sprache findet für das eigene Im-Leib-sein, das eigene In-sein auch als Leib­wesen. Und wenn man die Philosophiegeschichte sich anschaut, dann stellt man fest, dass die Sprache, was diesen Bereich betrifft, eher unterentwickelt ist, dass sie also erst einmal in erster Lesung weitgehend nuancenlos ist, dass viele bedeutende Philosophen oder die als solche gelten, kaum etwas ausgesagt haben über die ungeheure Differenzierung, die unvorstellbare Subtilität der Leiberfahrung. Das findet man eigentlich erst in Ansätzen bei Schopenhauer, vorher fast überhaupt nicht. Bei Schopenhauer, bei Nietzsche und dann bei anderen, Husserl, Heidegger und andere, auch Sartre zum Teil, findet man also den Versuch, die Leiberfahrung auch sprachlich auszudifferenzieren.

Am extremsten und faszinierendsten bei einem zeitgenössischen Philosophen, der in diesem Semester eine große Rolle spielen wird, bei dem Philosophen Hermann Schmitz, einem mittlerweile emeritierten ehemaligen Philosophieprofessor aus Kiel, der in einem riesigen Werk wie kein anderer Leib-Philosophie betrieben hat, die er Neue Phänomeno­logie nennt, und wie kein anderer in einer ungeheueren Breite und auch sprachlichen Differenzierung und einem ungeheuren Nuancenreichtum Dinge philosophisch quasi in die Sprache, überhaupt in die philosophische Dignität gehoben hat, die bis dahin gar nicht sprachlich-philosophisch in Erscheinung getreten waren. Also auf faszinierendste Weise, bis in Kleinigkeiten hinein, bis in das Spüren der Gliedmaßen, das Spüren von Atmo­sphären. Also das ist ein ganz wichtiger Punkt im Kontext dieser Phänomenologie, und das will ich in diesem Semester versuchen zu entwickeln, dass wir ja alle, wenn wir erfahren, auf eine ganzheitliche Weise immer in bestimmten Psycho-Atmosphären stehen, auch in diesem Raum zum Beispiel, in diesem Moment. Wir sind ja immer in bestimmten Psycho-Atmosphären. Das hat die Philosophie weitgehend unbeachtet gelassen. Die Naturwissen­schaft auch, weil Psycho-Atmosphären sind kein Gegenstand der objektivierenden, exakten, der mathematisierenden Naturwissenschaften. Das ist sozusagen nur subjektiv in Anführungszeichen. Und da spiegelt sich eine uralte Trennung, die desaströs gewirkt hat, dass man auf der einen Seite das sogenannte Objektive, das Mathematisierbare, das technisch Umsetzbare vollkommen abgespalten hat von dem sogenannten Subjektiven, von dem sogenannten subjektiven Fühlen, von dem gesamten Bereich der Subjektivität über­haupt.

Sie kennen ja alle wahrscheinlich die berühmte Lehre von John Locke über die primären und sekundären Sinnesqualitäten. Da wurde ja gesagt, gut, die primären Sinnesqualitäten, das eigentlich Objektive sind die Dinge in ihrer Gegenständlichkeit in der Ausdehnung, Raum-Zeitlichkeit, in ihrer Bewegung, in ihrer Substanzhaftigkeit, in ihrer Materialität. Der Rest, Farben zum Beispiel, Empfindungen für Phänomene, ganzheitliche Zusammenhänge usw., Gefühle, all das ist subjektiv. Insofern ist es grundsätzlich nicht objektivierbar. Das hängt ja auch mit den Antinomien [nicht sicher] zusammen, die dann immer behauptet worden sind zwischen Männlichem und Weiblichem, die Frau, das Weibliche, die Frau hat das Gespür für die Psycho-Atmosphären, spürt intuitiv raus, was los ist, welche Atmo­sphäre vorherrscht, während der Mann in diesem eher objektivierenden Sinne eigentlich die Psycho-Atmosphäre von Vorgängen eher draußen vor lässt. Und das ist ein spannender Punkt. Und das will ich auch versuchen, in diesem Semester so darzustellen: das Klima, die Aura, die Psycho-Atmosphäre unserer Leib-Erfahrung ist tatsächlich konstituierend für Erfahrung überhaupt. Das geht bis in feinste Wahrnehmungen, auch jetzt im meteorolo­gischen Sinne, klimatischer Zusammenhänge, auch geographischer Zusammenhänge. Und das alles spielt in die Wahrnehmung von Welt ganz entscheidend mit hinein, also die Atmosphäre.

Ich will mal ein konkretes Beispiel nennen, wo das besonders deutlich geworden ist, was Psycho-Atmosphäre auch im Wissenschaftsapparat bedeutet. Damit ist man jetzt an einem konkreten Beispiel. Es war am 5. April in der Urania eine große Diskussion im Jahr der Physik 2000, das Jahr der Physik. Sie wissen es vielleicht. Die Urania hat ein großes Happening, kann man sagen, gemacht, mit hochkarätigen Physikern, „Reise zum Urknall“. Die Urania war voll mit Schaubildern, mit Physikern, die den Laien erklärt haben, wie das Weltall funktioniert in ihrer Sicht. Und dann gab es da eine Podiumsdiskussion an diesem 5. April mit Top-Physikern über den Urknall. Ich saß mit auf dem Podium, ich war eingeladen. Humboldt-Saal, 600 Leute im Saal. Was ich sagen will, ist Folgendes: Im Vorfeld saßen wir in einem Raum zusammen, das war eine Art Vorbesprechung über diese Fragen und ich spürte Psycho-Atmosphäre, sage ich mal, eine ganz dichte, schwierige Atmosphäre, was das Thema betrifft, denn ich spürte sofort, das wusste ich auch theoretisch, intellektuell, also mental, aber ich spürte es auch wirklich fast physisch, dass ein vollkommenes Einver­ständnis herrschte in diesem Kreise der Physiker über die Faktizität dieses ominösen Urknalls. Nun bin bin bekannt dafür, dass ich den Urknall für eine Fiktion halte und für schlecht gestützt. Und ich spürte also sozusagen einen fast physischen Druck in dieser Gruppe. Und ich spürte auch, dass das mich beeinflusste im Vorfeld dieser Diskussion, also eine merkwürdige Aura herrschte. Ich wusste auch, die würde im Saal herrschen, weil vorne, die ersten Reihen waren besetzt mit Physikern der Deutschen Physikalischen Gesell­schaft und viele auch aus dem Wissenschaftsministerium waren anwesend, da ja eine sozusagen Co-Produktion der Deutschen Physikalischen Gesellschaft mit dem Wissen­schaftsministerium [stattfand]. Und es bedurfte einiger sozusagen konzentrativer Übungen, um dann diese Psycho-Atmosphäre soweit abzustreifen, dass ich dann mit einer relativen Freiheit die Dinge dann auch wirklich sagen konnte, die nach meiner Überzeugung zu sagen waren. Und das gilt generell für solche Zusammenhänge.

Es gibt auch in den großen Wissenschaftsapparaten immer ganz bestimmte Psycho-Atmosphären, die bis in die Resultate der Experimente hinein gehen. So weit geht das. Es gibt also nicht nur einen Gruppendruck, dass ganz bestimmte favorisierte Theorien bestätigt werden müssen. Wenn dann Messwerte auftauchen, die sie widerlegen, dann wird es schwierig. Nein, es gibt auch ein gesamtes Klima, und das ist nicht Thema von Wissen­schaft. Das wird überhaupt nicht im eigentlichen Sinne philosophisch und wissenschaftlich thematisiert.

Also um diese Fragen soll es gehen: Phänomenologie des Leibes. Was ist Leib? Ich habe ganz bewusst diesen Begriff benutzt, der ja nicht Körper ist und will mal versuchen einleitend, das überhaupt klarzumachen. Körper im Sinne der Physik ist ein Etwas, ein raumzeitlich dringliches Etwas. Der Tisch ist ein Körper, dieses Gestühl, das sind Körper. Wir als Gestalten, als Leib-Wesenheiten sind auch, sofern wir physisch-sinnliche Körper sind, Körper, wir sind Körper wie andere Körper auch, der Gravitation unterworfen und damit der Gesamtheit dessen, was die physisch-sinnliche Welt physikalisch bestimmt. Das sind wir auf der einen Seite. Auf der anderen Seite aber sind wir gleichzeitig mal, unabhängig von der Frage, was wir als Seele sind, was wir als Geist sind, sind wir als Leib-Wesen nie identisch mit dem Körper. Das kann man mit einer ganz einfachen Grundwahr­nehmung sich vergegenwärtigen, wenn man mal den Versuch macht, bei geschlossenen Augen in den eigenen Körper hineinzuspüren. Was nimmt man wirklich wahr? Es ist erstaunlich, ich kann Ihnen das ja mal sozusagen als meditative Denk-Übung quasi nahe­legen. Man staunt, wenn man sich mal dieser Erfahrung überlässt, was man wahrnimmt, auch das, was man nicht wahrnimmt. Es ist nämlich verblüffend, dass man in keiner Weise sich selber in Gänze als Körper wahrnimmt. Man nimmt sich selber von innen als Leib eher undeutlich wahr. Das Ganze ist ein undeutliches Etwas, ein fast fließendes Gebilde, ein fluktuierendes Gebilde der Innenwahrnehmung, in dem sich, wie das Hermann Schmitz sagt, verschiedene sogenannte Leibes-Inseln befinden. Sie können das wirklich meditativ in der Selbsterfahrung versuchen rauszuspüren: Sie haben große Schwierigkeiten, eine klare Topografie ihres eigenen Körpers zu finden nur vom leiblichen Spüren aus.

Auf der anderen Seite haben sie eine Leib-Empfindung, eine Spürfähigkeit, die weit über den physischen Körper hinausreicht. Sie sind sozusagen leiblich immer viel mehr, sind viel weiter, sind viel ausgedehnter als der physische Leib. Anders als der physische Leib, als der Körper, andererseits wiederum weniger. Zum Beispiel die ganze organische Innenaus­stattung des Menschen, die inneren Organe sind im Normalfall nicht bewusstseinsfähig. Der Mensch läuft also gewissermaßen, um das mal etwas plakativ zu sagen, als Hohlraum durch die Welt. Innen ist er vollkommen hohl in der Selbstwahrnehmung. Das ist wichtig. Es geht hier um Bewusstseins-Phänomenologie, es geht nicht um Anatomie, es geht nicht um Physiologie, es geht nicht um Medizin. Es geht um die Selbstwahrnehmung. Und das hat der Hermann Schmitz auf eine wunderbare Weise in seinen Büchern zum Ausdruck gebracht, wie kein anderer. Also Leib ist Wahrnehmung, spürende Wahrnehmung von innen, die natürlich Berührungspunkte hat mit der physisch-sinnlichen Körperlichkeit. Aber das ist nicht deckungsgleich. Sie können das beobachten: etwa ein Schmerz, ein Kopfschmerz. Wo sitzt der Kopfschmerz? Sie können sagen, gut, das ist Pochen, das ist Ziehen, das ist bohrend, Sie können versuchen, diesen Kopfschmerz zu beschreiben. Sie werden aber feststellen, dass Sie immer in eine gewisse diffuse Form der Wahrnehmung hineinkommen, dass Sie Mühe haben, das Ganze streng organisch-sinnlich zu lokalisieren. Ganz zu schweigen davon, Traurigkeit, ist ja eine Gefühlsqualität, ist ja kein Wahn. Wer traurig ist, ist ja wirklich traurig. Wo sitzt die Traurigkeit? Was ist eine Bedrücktheit? Was ist eine freudige Erregung? Was ist eine erotische Erregung? Wo sitzt das? Das ist immer ganz leiblich und gleichzeitig sehr schwer im Einzelnen wirklich zu festzumachen. Man ist da also in einem schwierigen Bereich, der wirklich bis vor Kurzem überhaupt nicht philosophiefähig war.

Die Philosophen haben es überhaupt nicht für wert befunden, über diese Fragen ernsthaft nachzudenken. Das fanden sie überhaupt kein Thema, was sich lohnt, intellektuell theoretisch zu behandeln. Das ist schade und … denn es gibt da sehr, sehr viel Faszinie­rendes zu entdecken. Ich bringe mal ein kurzes Zitat aus einem Büchlein von Hermann Schmitz, ist auf der Literaturliste drauf, wo er in wunderbar knapper Form seine Definition des Leibes gibt. Also ich habe ja plakativ gesagt, Leib ist der Körper von innen, ist einerseits mehr als der physische Körper, auf der anderen Seite weniger als der physische Körper. Nicht, das geht ja bis in die Frage, das kennen wir, diesen Punkt, der Phantom-Gliedmaßen hinein. Phantom-Gliedmaßen etwa nach Amputationen werden ja wie reale Körperteile empfunden, ganz real empfunden, obwohl sie physisch-sinnlich nicht vorhanden sind. Also der Leib, Hermann Schmitz „Der Leib, der Raum und die Gefühle“. Zitat Hermann Schmitz: „Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und das perzeptive Körperschema, das heißt des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsgebildes vom eigenen Körper zu stützen.“

Das perzeptive Körperschema ist die ganzheitliche Körperempfindung, die jeder hat von sich selber. Jeder von uns hier im Raum hat eine ganzheitliche Grundvorstellung wie er aussieht, wie er im Raum ist. Das haben übrigens zum Teil auch Tiere, denken Sie an das ganze Phänomen der Mimikry. Also offenbar in irgendeiner Form ein Körperschema, das nennt Hermann Schmitz das perzeptive Körperschema. Also, „der eigene Leib ohne dieses perzeptive Körperschema und ohne die fünf Sinne. Der Leib ist besetzt mit leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteilbar, flächenlos ausgedehnt“ ‒ das will ich noch im Einzelnen erläutern wenn ich Schmitz behandle ‒ flächenlos, dieser innere Leib hat in dem engeren Sinne keine klar definierbare Flächen, keine Außenflächen. Er endet nicht bei der Haut­oberfläche, gar nicht. „Er ist unteilbar flächenlos ausgedehnt und als prädimensionales, das heißt nicht bezifferbar dimensioniertes, das heißt nicht-dreidimensionales Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt.“

Also das wird uns ja noch beschäftigen mit dem Raum. Dieser Raum des Leibes ist nicht im eigentlichen mathematisch-geometrischen Sinne oder euklidischen Sinne ein dreidimensionaler Raum. Das ist wichtig. Er ist, wie das Hermann Schmitz sehr schön sagt, vordimensional. Er ist also eine Art Raum, entsteht aus einem Raumgefühl vor der euklidischen Dreidimensionalität. „Man macht sich das leicht am leiblich spürbaren Einatmen klar. Es wird in Gestalt einer Insel in der Brust oder Bauchgegend gespürt, in der simultan Engung und Weitung konkurrieren, wobei anfangs die Weitung und später gegen Ende des Einatmens die Engung überwiegt. Kontraktion und Expansion. Diese Insel ist voluminös, aber weder von Flächen umschlossen, noch durch Flächen zerlegbar und daher auch nicht dreidimensional, sie ist nicht teilbar.“ Es ist wirklich eine Ganzheitlichkeit. „Da die Drei als Dimensionszahl nur aufsteigend von der Zwei hier sinnvoll eingefügt werden kann. Solch ein prä-dimensionales Volumen kommt auch in anderen Erfahrungsbereich vor, etwa im Wasser für den Schwimmer, der nicht auf die Oberfläche blickt und als Schallvolumen, das beim schrillen Pfiff scharf, spitz und eng ist, beim dumpfen Gong oder Glockenschlag aber ausladend, weit und weich. Der Leib ist fast immer, auch zum Beispiel [beim] heftigen Schreck von solchen Leibes-Inseln besetzt. Ein Gewoge verschwommener Inseln, die sich ohne stetigen Zusammenhang meist flüchtig bilden, umbilden und auflösen. In einigen Fällen aber auch mit mehr oder weniger konstanter Ausrüstung verharren, dies besonders im oralen und analen Bereichen und an den Sohlen. Also erstaunlich, der erste Philosoph der Geschichte, der auch die analen Empfindungen für philosophiewürdig hält ‒ erstaunlich.

„Solche Leibes-Inseln kommen auch außerhalb des eigenen Körpers vor, zum Beispiel als Phantomglieder der Amputierten. Seine Einheit erhält der Leib nicht durch einen stetigen Umriss, seine Haut kann man besehen und betasten, aber nicht am eigenen Leib spüren. Die Weckung von Aufmerksamkeit auf die eigene Haut in der Vorstellung anhand des perzeptiven Körperschemas kann allerdings die Sensibilität für das Spüren von Leibes-Inseln steigern. Die Einheit des Leibes ist einerseits dynamisch durch die Gebun­denheit an die Enge in Gestalt einer Engung oder Spannung, die entweder aktuell gespürt wird oder in Abwesenheit indirekt aufdringlich.“ Also … und so weiter. Also, wir haben in dem, was hier als Leib bezeichnet wird, eine innerleibliche Erfahrung des Spürens. Diese ist nicht, ich sage es noch mal, im euklidischen Sinne dreidimensional und auch nicht mathe­matisch-geometrisch zu fassen. Es hat eine Unschärfe. Wenn Sie das versuchen, werden Sie immer große Schwierigkeiten haben, dieses Volumen in irgendeiner Form räumlich präzise zu bestimmen.

Warum das wichtig ist, warum solche Fragen überhaupt wichtig sind, ist nahe­liegend. Wenn man mal einen Blick wirft auf die geistige Gesamtsituation und auf das, was man seit 20, 25 Jahren als ökologische Krise bezeichnet, dann ist das ganz eindeutig. Es ist ja in den letzten zwanzig Jahren unendlich viel diskutiert und geschrieben worden über die Frage: Was ist eigentlich diese sogenannte ökologische Krise? Wie kommt es eigentlich, dass der Mensch, das tut er ja offenbar unaufhaltsam, seine sogenannten natürlichen Lebensgrundlagen zerstört? Er tut es unaufhaltsam, Tag für Tag. Er mag als Einzelner das ablehnen, ja geradezu moralisch verurteilen. Aber das Gesamte, die gesamte sogenannte Megamaschine rollt, wie man vermuten muss, vollkommen ungebremst weiter, und alle Bemühungen, das zu verstehen oder gar zu modifizieren oder zum Stoppen zu bringen, sind bislang gescheitert. Man hat den Verdacht, dass etwas fundamental gar nicht verstan­den worden ist, dass wir offenbar gar nicht verstanden haben, was wirklich passiert. Und es ist ja eine von vielen Interpretationen, die immer mit einigem Recht abgegeben worden sind, sozusagen: Der Mensch hat eine Abspaltung vollzogen. Und wenn von Abspaltung die Rede ist, dann wird häufig ins Spiel gebracht, ich habe das ja auch in verschiedenen Zusam­menhängen gesagt, eine Abspaltung auch von der eigenen Leiblichkeit. Wenn [es] seit ebenfalls 20, 25 Jahren einen ungeheuren Boom sogenannter Körpertherapien gibt, dann ist das ja ein Symptom dafür, dass eine zunehmende Zahl von Menschen einfach begreift, dass es darum geht, was Ken Wilber sagt [nennt] „to reown the body“, den Körper in gewisser Weise wiederzufinden, also Körpertherapien als Versuch, in diesem Sinne den Leib oder den Körper bzw. den Leib zurückzugewinnen.

Ich spreche im Zusammenhang mit der ökologischen Krise von einer kollektiven Neurose, einer kollektiven Abspaltung, die passiert ist, und zwar eine kollektive Abspaltung in doppelter Hinsicht durch die, ich will das nicht im Einzelnen hier ausführen, ich werde das in vierzehn Tagen nochmal darstellen im Zusammenhang mit der Entstehung des mentalen Selbst. Im Zuge der Entwicklung der Genesis, der Evolution des mentalen Selbst hat sich ein Ich herausgebildet, das erst einmal weitgehend von allem Leiblichen sich frei wähnt, ja seine eigentliche Würde darin zu finden glaubt, wo der Leib nicht ist. Nicht, wenn man Natur im allgemeinsten Sinne als das verstehen möchte, was von sich aus ist, im Sinne auch einer anerkannten antiken Definition, also der Natur das von sich aus Seiende, dann ist ja ein Problem des Menschen als Natur und Leibwesen die Frage: Wo ist das von sich aus Seiende im eigenen Leib? Sind wir … wie kommen wir, wenn wir denn Ich-Wesen sind, quasi leiblose Ich-Wesen, wie kommen wir denn hinein in diese konkrete Leiblichkeit? Das ist eine Frage, die in der ganzen Evolution des Ichs eine ungeheure Rolle gespielt hat und auch natürlich hineinspielt in die ganzen Fragen von männlich-weiblich. Das habe ich in meinem Buch „Was die Erde will“ ja eingehend dargestellt, die Entwicklung also auch der ganzen Geschlechterproblematik in dem Zusammenhang. Auf jeden Fall ist eine Abspaltung passiert, was ich eine kollektive Neurose nenne.

Eine ganz andere Frage ist, ob das notwendig war, ob das vermeidbar war, ob das ein Irrweg war, eine Fehlentwicklung, das kann man auf sich beruhen lassen. Fakt ist, es ist passiert, und es hat eine ganz bestimmte Form des In-der-Welt-Sein des Menschen ausge­löst, an deren Folgen wir heute, mit den ungeheuren Trägheitskräften in der Folge, (wir heute) alle leiden. Und das ist ein wesentlicher Punkt, warum natürlich die Frage wichtig ist: Wie steht es eigentlich mit dem, was ich das In-sein des Menschen nenne? Worin ist der Mensch in seiner eigentlichen existenziellen Wesenheit? Und das ist natürlich dann auch eine Frage, was der Mensch überhaupt ist. Und das spielt ja auch in diese ganze Thematik mit hinein: Was ist der Mensch? Ist der Mensch, als der er ja generell von vielen gesehen wird, ein höheres Tier? Ist er letztlich so zu definieren? Oder ist er anders und von einer höheren Ebene aus zu definieren und zu bestimmen, das ist ganz zentral wichtig. Die Frage: Was ist der Mensch? Ist der Mensch ein höheres Tier, was ja eine mögliche Betrachtungs­weise ist, oder ist der Mensch eine Geist-Seele-Gestalt, eine Geist-Seele-Leib-Gestalt in einem ganzheitlich verstandenen Kosmos, der ihn trägt, bestimmt und ermöglicht. Aller­dings mit der Freiheit, sich auch geistig-mental von all dem zu trennen, denn das muss als Möglichkeit ja im Menschen liegen, sonst würde es nicht passiert sein. Da kommt das Mysterium der Freiheit ins Spiel. Der Mensch hat über die Freiheit die Möglichkeit, sich auch gegen das Ganze zu entscheiden. Die Größe und auch die Tragik des Freiseins im Menschen. Diese Entwicklung, was ich die kollektive Neurose nenne, geht bis in die feinsten Verzweigungen auch der Sprache hinein und hat unsere gesamte Begrifflichkeit in ent­scheidender Weise mitgeprägt. Und das muss man wissen, um überhaupt eine Wahr­nehmung dafür zu gewinnen, was hier an Terrain wiederzugewinnen ist, wenn von Leib die Rede ist, was an ungeheuerem Nuancenreichtum wiederzugewinnen ist.

Auch hier nochmal kurz ein Zitat von Schmitz aus diesem Büchlein „Der Leib, der Raum und die Gefühle“. Er nennt seine Sichtweise „Neue Phänomenologie“ und grenzt sie ab zu Heidegger und Husserl. Also „Neue Phänomenologie“. Er schreibt hier ganz am Anfang: „Die Neue Phänomenologie widmet sich der Aufgabe, die Abstraktionsbasis der Theorie und Bewertungsbildung tiefer in die unwillkürliche Lebenserfahrung hineinzulegen. Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe ich“ ‒ Hermann Schmitz ‒ „die zäh prägende Schicht vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, die zwischen der unwillkürlichen Lebens­erfahrung einerseits, den Begriffen, Theorien und Bewertungen andererseits den Filter bildet. Die Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was so wichtig genommen wird, dass es durch Worte und Begriffe, Eingang in Theorien und Bewertungen findet. Deshalb sind gegensätzliche Theorien und Bewertungen derselben Abstraktionsbasis möglich. Die Abstraktionsbasis einer Kultur wird teilweise durch die Suggestionskraft sprachlicher Strukturen, zum anderen Teil durch epochale geschichtliche Prägungen bestimmt.“ Wir wissen es oft gar nicht mehr, wie sehr wir ganz zentral durch epochale Prägungen der Sprache, der Begrifflichkeit auf suggestivste Weise geprägt sind, dass wir einen Filter, wie einen Bewusstseinsfilter aufhaben, was [ist] überhaupt ein bewusstseinswürdiges Phänomen, ein denkwürdiges Phänomen und was wird von vornherein ausgeblendet, in den Nebelraum bloßer Subjektivität.

Nicht, das ist ja, viele Menschen fühlen sich ja auch heute in diesem technisch- abstraktionistischen Gesamtsystem in ihrer eigenleiblichen Form und ihrem Subjektiven in der Weltzeit völlig alleingelassen. Sie haben das Gefühl, das zählt überhaupt nicht. Es gilt nichts. Es hat keine Würde. Es ist letztlich geistig-philosophisch nichts wert. „Wir stecken gleichsam in einem Urwald geschichtlicher Vorprägungen, der nicht durch den bloßen Entschluss zur Unbefangenheit in freies Feld verwandelt werden kann.“ Das geht nicht. Man kann nicht sagen, ich möchte das jetzt, ich will das, sondern das ist harte geistige Arbeit, das wirklich zu leisten, ganz tief auch in die Begriffe reingehen und versuchen zu zeigen, woher stammt das, in welchem geschichtlichen Kontext ist das entstanden, und was heißt das für hier und jetzt? Viel mehr muss man sich durch den Urwald durchschlagen, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen, um in hinlänglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzung zu werden.“ Was sehr schwer ist, weil Jeder von uns natürlich selbstverständlich in einer Fülle von Voraussetzungen steckt. Jeder Einzelne von uns steckt wirklich in dieser Art Urwald von Prämissen, dem, was wir ständig unhinterfragt voraussetzen. Viele wissen das gar nicht mehr, was sie ständig voraussetzen. Das kann man aber hinterfragen. Da kann man nachfragen. Und es ist hochinteressant und einen Punkt, der mich seit vielen Jahren immer wieder beschäftigt, die Frage: Was setzen Menschen voraus, ohne darüber nachzudenken?

Viele, im normalen Sprechen, stellen Theorien auf, sind Anhänger von Theorien, von Weltanschauungen, von religiösen Überzeugungen und so weiter und sind sich oft über­haupt nicht darüber im Klaren, was sie bis in die Feinheiten ihrer Begrifflichkeit ständig schon voraussetzen. Also das ist ein ganz entscheidender Punkt, der hier bedacht werden muss. Setze ich also voraus, dass ich ich bin, dass ich eine eigene, gleichsam metaphysische Entität bin, oder gehe ich von vornherein davon aus, dass ich ich bin eigentlich keine Rolle spielt, zum Beispiel. Und das wird uns auch beschäftigen, im Zusammenhang mit dem Leib ist das entscheidend wichtig, die Ich-Frage. Was ist das Ich? Wo sitzt das Ich im Kopf, in der Brust, in den Beinen, oder ist es hinten, ergreift mich quasi von Außen. Wo ist das Ich? Auch das ist eine Frage, die, wenn man der mal versucht auf den Grund zu gehen, abgründig ist. Wo ist der ontologische Ort des Ich? Hat es solchen Ort? Gibt es den Ort des Ich? Oder ist das Ich quasi ortlos, raumlos, gleichsam auch weltlos? Also die Frage ist auch für diese ganze Thematik zentral wichtig. Wo sitzt eigentlich das Ich?

Da ist übrigens Hermann Schmitz sehr radikal. Man kann auch sagen: zu radikal, weil in gewisser Weise einseitig, weil er versucht, erst einmal diese Ichhaftigkeit des Menschen und das was er die „Innenwelt-Hypothese“ nennt von Seele, Geist, Bewusstsein zu demontieren. Er versucht konsequent phänomenologisch bei dem zu bleiben, was tat­sächlich wahrgenommen wird, ohne nun noch ein ichhaftes Substrat dahinter, eine sogenannte Seele, ein Geist, ein Gemüt ‒ wie Kant sagt ‒ ein Bewusstsein zu unterstellen. Das ist nicht konsequent durchführbar, meine ich, und da verwickelt sich auch Schmitz in Widersprüche und Zirkelschlüsse. Aber das kann im Moment mal draußen vor bleiben. Wichtig ist auf jeden Fall die Ich-Frage: Wo ist der Ort des Ich? Der ontologische Ort aber auch der leibliche Ort? Sind wir identisch als Leib mit dem Ich? Kaum. Es wird kaum einer ernsthaft behaupten, dass er in Gänze als physisch-sinnlicher und von innen gespürter Leib dieses Ich ist. Wir haben ja bis in den Sprachgebrauch des Alltags hinein die Vorstellung, dass der Einzelne einen Körper, womit ja eigentlich der Leib gemeint ist, einen Körper hat und nicht dieser Körper ist, auch wenn in einigen Ansätzen der modernen Körpertherapie bis hin in Buchtitel hinein Anderes behauptet wird, etwa ein Buchtitel, ist mir mal vor Augen gekommen: „Ich bin mein Körper“. Ein absurder Satz. Natürlich ein Satz, der ganz bewusst sich wendet gegen eine Abspaltung, die damit demontiert werden soll, als lebensfeindlich denunziert ‒ hier ist das Ich, ein abstraktes Gebilde, ein Geistwesen, das von oben herab irgendwie in die Niederungen des Physischen, Leiblichen sozusagen hinab schaut und von oben das Ganze steuert. Also ganz konsequent und radikal zu sagen: ich bin mein Körper, also ich bin identisch mit alledem. Das würde bei einer vertieften philosophischen Reflexion unmöglich sein, also diese Identität ist so nicht möglich.

Also die Frage „Wo ist das Ich?“ ist zentral wichtig. Wo ist der Geist, der er ja nicht unbedingt das Ich selber ist? Wo ist die Seele, und wo ist der Wille? Oder sind das alles nur Begriffsungetüme, mit denen wir letztlich überhaupt keinen konkreten Wahrnehmungs­inhalt verbinden können? Auch da ist es sinnvoll, mal wirklich in die Tiefen reinzugehen und nicht von vornherein mit Begriffshülsen zu operieren, als ob das Selbstverständlich­keiten seien. Insofern ist es wichtig: Was wird vorausgesetzt?

Was ich gerne und oft auch in meinen Büchern und vielen Vorträgen immer wieder als Subjektblindheit der Naturwissenschaft bezeichne, berührt ja diesen Punkt. Jede Wahrnehmung von Welt, jedes Reden über Welt, jedes Theoretisieren, jedes Diskutieren, jede Wissenschaft, jede Kunst, was auch immer, setzt das lebendige Subjekt voraus. Zu sagen, dieses lebendige Subjekt ist immer der Hase, der schon da ist, so sehr der Hase auch sich abstrampelt, um den Igel zu überholen, er kommt am anderen Ende an, und der Igel, in diesem Falle die Frau des Igels, die aber genauso aussieht wie er, insofern kann er es nicht unterscheiden, sitzt schon da. Das heißt, das lebendige Subjekt ist im Grunde genommen der Igel, der immer schon da ist, so sehr der Hase sich auch halbtot und schließlich wirklich tot läuft. Weil, das ist das Nichthintergehbare, weil alles Denken, Forschen, Meinen, Disku­tieren, Streiten, wie immer, setzt lebendige Subjekte voraus. Und es war eine Tragödie in gewisser Weise, dass in der neuzeitlichen Denkbewegung, vor allen Dingen in den Natur­wissenschaften, das Subjekt vollkommen eliminiert wurde. Natürlich gab es das Subjekt. Es gab nicht nur die einzelnen Forschersubjekte mit ihren ganz speziellen und die spezi­fischen, auch emotionalen Befindlichkeiten, auch ihrem Geltungsdrang, ihrem Bedürfnis nach Preisen, Anerkennung durch andere usw. Es gab auch natürlich immer das Über­subjekt, das unberührte Übersubjekt, was das Ganze wie von außen betrachtet. In Physik-Lehrbüchern, schauen Sie in ein normales Physik-Lehrbuch rein: Man nehme, man tue, man mache, es ist immer ein anonymes „man“. Sie oder ich, der Einzelne in seiner je anderen Spezifik wird überhaupt nicht angefragt, sondern das anonyme „man“, das anonyme Subjekt ist gefragt. Und weil dies so ist, kann man auch von allen Subjektivitäten abstra­hieren. Das macht einen Teil des ungeheuren Erfolges auch dieser Art von Subjektblindheit aus, denn dieser Erfolg ist immens. Das muss man einfach sehen. Dieser Erfolg ist immens. Es war ein ungeheuer erfolgreiches Projekt, das Subjekt erst einmal auf diese Weise zu eliminieren.

Das Subjekt, was hier einbezogen wird in den Fokus der Beobachtung, ist ja nicht das konkrete, lebendige Subjekt, sondern ebenfalls ein anonymes „man“, letztlich eine Art es-haftes Subjekt, nicht der lebendige Einzelne, um den geht es genauso wenig wie auch sonst. Also: „Vielmehr muss man sich durch den Urwald durchschlagen, noch einmal kurz zurück zu Schmitz, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen und in hinlänglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzungen zu werden.“ Sehr schwer. Ich sage es nochmal, das ist wirklich harte Denkarbeit, um dieser Voraussetzungen Herr zu werden, wenn das überhaupt der richtige Begriff ist, wenn das überhaupt rein mental geht. Wahrscheinlich geht es gar nicht. „Deswegen ist Phänomenologie nur im Zusammenhang mit kritisch-historischer Einstellung sinnvoll. Diese muss für die Zwecke der Neuen Phäno­menologie hauptsächlich den für die Prägung der dominanten europäischen Intellektual­kultur entscheidenden Paradigmenwechsel bei den Griechen in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhundert ins Auge fassen.“ Das ist naheliegend. Es wird immer wieder gemacht, das tue ich in anderem Zusammenhang auch.

„Die meisten Versuche, sich durch das Labyrinth der Verkünstelungen des Denkens und Wollens durchzutasten, brechen viel früher ab, nämlich bei den großen Barock-Denkern des 17. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Hobbes, Galilei, Descartes und Leibniz. Das ist kurzsichtig. Diese Denker haben keine neue Abstraktionsbasis gelegt, sondern auf der ersten weitergebaut und durch Formulierung des Prinzips und der Methode der Welt­bemächtigung“ ‒ ein Begriff von Heidegger, der hier nicht in Anführungszeichen steht ‒ „in der Methode der Weltbemächtigung, das in der längst etablierten Perspektive schlum­mernde Potential zu der folgenden Explosion des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts zu befreien, indem man sich davon mitreißen ließ“ ‒ Heidegger spricht ja vom „Fortriss“ ‒ „indem man sich davon mitreißen ließ, ist die Verkünstelung inzwischen so weit gediehen, dass das Denken den Spezialisten der Computer-Manipulation und das Zeugnis vom Sich-befinden und Zumute-sein der Menschen dem nahezu ausgestorbenen Volk der Dichter überlassen werden muss. Diese Scherung ist gefährlich, weil es unter der ..“ ‒ ist ein sehr schönes Argument, starkes Argument von Schmitz ‒ „diese Scherung ist gefährlich, weil sich unter der Oberfläche der Rationalisierung die ungesichtete Dynamik des affektiven Betroffensein staut.“ Notwendig staut sie sich, weil sie muss ja sich Raum schaffen, sie ist ja eine Bewusstseinsqualität, eine Gefühlsqualität, sie muss ja ihren Raum haben, also „unkontrollierbar staut und irgendwann unkontrollierbar durchbricht. Zum Beispiel in Deutschland unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Deswegen ist die Neue Phänomenologie darum bemüht, die klaffende Spanne zwischen Begreifen und Betroffensein durch Gedanken zu durchleuchten, der unwillkürlichen Lebenserfahrung mit genauen und geschmeidigen Begriffen zu füllen und dadurch das Betroffensein der Besinnung anzueignen.“

Ein sehr starkes Argument, finde ich, weil Schmitz sagt mit einigem Recht, dass gerade weil das sogenannte affektive Betroffensein, der ganze Bereich der sogenannten Gefühle in dem Wissenschaftsklima, was von Objektivität und Abstraktionismus bestimmt ist, praktisch keine Rolle spielt, aber trotzdem da ist. Als lebendige Wirklichkeit jedes Einzelnen, neigt es natürlich dazu, sich zu stauen, weil es ja keinen Raum dafür [gibt]. Beobachtungen haben ja keinen Wert. Einwände aus der elementaren Leib-Erfahrung, etwa gegen eingefahrene, etablierte Theoriegebäude, werden ja schnell abgebügelt als irre­levante, letztlich ignorante Beobachtung. Das ist wichtig, und das finde ich einen kolossal entscheidenden Punkt hier in dieser Wahrnehmung wieder ein Stück Geist und philoso­phischer Würde reinzubringen. Und das setzt, das habe ich vorhin schon gesagt, Genauigkeit in der Wahrnehmung voraus und an der mangelt es überall. Das kann man sehen. Ganz wenige, die diese, sagen wir mal, diese Genauigkeit der Selbstwahrnehmung was das sogenannte leibliche Befinden betrifft, haben, sind die Homöopathen, weil in der homöopathischen Arzneimittelprüfung zum Beispiel oder auch in der Beschreibung von Zuständen von Krankheitsbildern eine ganz präzise Form gefunden werden muss. Wann verstärken sich die Schmerzen ‒ bei Feuchtigkeit, bei Kälte, morgens oder abends, nachts oder mittags usw. Da wird eine genaue Beobachtung vorausgesetzt und kann auch geschult werden. Also das geht, man kann tatsächlich, wenn man mal den Schlüssel gefunden hat für diese Zusammenhänge überhaupt, erstaunlich weit kommen in der Beobachtung dieser Vorgänge. Vielen geht schon von einem bestimmten Punkt an, sage ich mal, die Differen­zierung verloren, weil Begriffe fehlen, weil Kategorien fehlen, weil man überhaupt gar nicht weiß, wie man das irgendwie, sprachlich, geistig überhaupt fassen soll, was da passiert. Das ist ein sehr schwieriges Feld.

Ich glaub ich mach noch mal ne kleine Pause, ein paar Minuten und Sie können sich in der Zwischenzeit mal hier auch noch das Literaturverzeichnis holen, wenn es nicht schon ganz herumgegangen ist. Wir machen 6, 10 Minuten Pause.


[Die Definition] von Schmitz finde ich sehr schön: „Phänomenologie ist das Bestreben, durch systematische Abschälung aller vom Belieben abhängigen Annahmen den harten Boden der Phänomene freizulegen, nämlich der Sachverhalte, die man jeweils als Tat­sachen anerkennen muss, weil man sie nicht im Ernst bestreiten kann.“ Das ist wichtig. Es geht wirklich um den harten Boden der Phänomene und den kann man nur erschließen durch eine große Genauigkeit der Beobachtung und durch eine hohe Differenzierung in der Sprache. Das ist nicht willkürlich, nicht beliebig, gerade das ist es nicht. Es ist nur nicht üblich, nicht verbreitet. Es wird häufig nicht für würdig befunden, überhaupt in die philosophische Reflexion einzugehen.

Und noch kurz, weil es wichtig ist für die gesamte Vorlesung. Ich habe das genannt: „Die Frage des Leibes ‒ Wie lässt sich Naturphilosophie als Leibphilosophie betreiben?“ Weil es immer wieder gefragt wird, nach dem grundlegenden Zusammenhang auch von Naturphilosophie, wie ich sie verstehe und Naturwissenschaft. Ich will das noch mal ganz kurz sagen, obwohl ich das in verschiedenen Zusammenhängen auch immer wieder angedeutet habe. Im strengen Sinne einer vertieften Betrachtung von Natur lassen sich Naturwissenschaft und Naturphilosophie überhaupt nicht voneinander trennen. Punkt 1. Nicht zufällig, auch das sage ich ja öfter, hat sich einer der bekanntesten Naturforscher, nämlich Newton, primär als Naturphilosoph bezeichnet und nicht als Physiker. Das ist also im Grunde gar nicht streng zu trennen. Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied, der sich, geschichtlich gesehen, zuweilen darin gezeigt hat, dass Naturwissenschaftler mit einer gewissen Freude und Inbrunst verkünden, sie seien eben keine Philosophen. Das kann man bis in Gespräche…, oder das habe ich häufig in Gesprächen mit Naturwissenschaftlern, Physikern usw. festgestellt. Von einem bestimmten Punkt an kommt der Rückzieher in die Rede: Ja, ich bin kein Philosoph, also das kann und will ich in der Form nicht durchdenken. Hat die Naturphilosophie überhaupt einen eigenen Anspruch? Oder ist sie nicht letztlich nur eine Art Magd der Naturwissenschaft, wie das früher war? [wie auch die] Magd der Theologie? Muss nicht die Naturphilosophie letztlich immer ein Augenmerk richten auf das, was in den Naturwissenschaften passiert und dadurch natürlich ihre eigene Würde, ihren eigenen Zugang vernachlässigen? Ja und nein.

Ich will das mal an einem Zitat eines Naturwissenschaftlers erläutern, [Bernulf] Kanitscheider, in seinem Buch „Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum“. Der streitet ausdrücklich, und das ist eine Position, die man häufig hören kann, den Eigenanspruch der Naturphilosophie, der Philosophie als eigener Welterfahrung überhaupt ab. Kanitscheider schreibt: „Die Idee einer autonomen philosophischen Welterfahrung“ ‒ die ich ja letztlich auch voraussetze ‒ „die genuine Erkenntnisse der Realität jenseits der wissenschaftlichen Rationalität hervorbringt, ist ein Irrtum, ist eine Illusion. Es gibt kein einziges Beispiel eines absolut analyseresistenten Sachverhalts, der durch unmittelbar erlebte Erfahrung gewonnen wurde. Wir haben nur die historische Abfolge von Theorien und ihren verschiedenen Repräsentanten der Natur und ihre Bewährungsgrade zur Verfügung. Was wir vernünftigerweise als existierend ansehen, ist der Objektbereich, über den die zum gegenwärtigen Zeitpunkt besten Theorien sprechen. Es gibt keine speziell philosophische Erkenntnisquelle, die diese ontologische Relativität durchbrechen kann.“ Also vollkommen eindeutig eine Zurückweisung eines eigenständigen philosophischen Anspruchs.

Wenn man dann die Argumentation sich im Einzelnen anschaut, dann weiß man auch, warum das so ist. Das wird ja hier auch schon in dem kurzen Zitat deutlich. Die Grundrichtung der Naturwissenschaft ist eine reduktionistische. Sie versucht ständig Phänomene, Qualität, zu reduzieren, zurückzuführen auf jeweils das, was ihnen als das eigentlich Reale zugrunde liegt. Die Naturwissenschaft ist im Grunde genommen immer das, was Max Planck mal genannt hat, die Suche nach dem endgültig Realen. Das heißt: immer weiter zurückführen auf das, was in den Erscheinungen den letzten Grund darstellt, den zu fassen. Und dieser letzte Grund ist in weiten Bereichen der modernen Natur­wissenschaft einfach die mathematische Form, das ist die Auflösung des Stofflichen bis hin zur mathematischen Form, also eine Mathematisierung und eine Reduktion. Und wenn man das absolut setzt, kann natürlich der philosophischen Betrachtung etwa des Leibes gar keine Eigenwürde zugesprochen werden. Dann ist das, was Hermann Schmitz macht, und andere machen in dem Punkt oder was auch in diesem Falle versucht wird, letztlich naturwissenschaftlich-reduktionistisch gesehen nichts weiter als qualitatives Reden auf einer bestimmten Ebene der Phänomene, die letztlich nicht weiter reduziert werden, weil man noch nicht dahin gelangt ist. Man wird und kann es, aber sollte man es auch? Das glaube ich nicht.

Nun kann man das mit aller Vorsicht sagen, man muss keine Rückzugsgefechte führen, das ist immer schwierig, wenn das philosophische Denken sich im Rückzugsgefecht behaupten muss. Rückzugsgefechte sind ja, werden ja geführt, wenn die Schlacht eigentlich schon verloren ist. Man kann aber feststellen, dass diese Phänomenologie des Leibes tatsächlich eine ganz eigene Qualität hat, die mit den reduktionistischen Naturwissen­schaften überhaupt nichts zu tun hat. Absolut nichts, weil es um eine lebendige, ganz­heitliche Erfahrung geht, die sich ihrem Wesen nach nicht reduzieren lässt. Ich habe das ja vorhin schon gesagt. Erfahrung jedes einzelnen Menschen in der Welt ist immer ein In-sein, einschließlich aller atmosphärischen, klimatischen oder auratischen, wenn man so will, Zusammenhänge. Der Einzelne ist nie eine isolierte Zelle, nirgendwo. Der Einzelne ist immer eingebettet in einen Gesamtzusammenhang, auch da, wo er wie im Falle der wissenschaftlichen Apparate, diesen Zusammenhang ignoriert, wo dieser Zusammenhang gar keine Rolle spielt. Wenn sie in irgendeinem Teilchenbeschleuniger, in irgendeinem riesigen Teilchenbeschleuniger arbeiten, als Physiker, und Sie thematisieren die Psycho-Atmosphäre oder gar die Möglichkeit, dass hier sogar Ergebnisse bestimmt sein könnten, machen Sie sich einfach lächerlich. Es ist kein Thema, kein eigenes Thema in diesem Kontext. Faktisch ist es aber so, dass diese Dinge ständig hineinspielen und auch jeden einzelnen Forscher in einem unvorstellbaren Maße mit prägen, beeinflussen.

Jedes einzelne Forschungsinstitut hat eine eigene psycho-atmosphärische Aura, die jeden einzelnen Teilnehmer dann ganz stark bestimmt. Tatsächlich, bis zum Teil jedenfalls, bis in die Ergebnisse hinein. Es ist ein Mythos anzunehmen, dass all das jenseits dieser Psycho-Atmosphären geschieht und dass es die pure Objektivität gäbe, an der nicht zu rütteln ist. Allein schon diese strikte Aufteilung in das sogenannte Objektive und das sogenannte Subjektive ist bei Licht gesehen überhaupt nicht haltbar. Denn was sind sogenannte Tatsachen, wenn einer sagt, gut, das ist eine Tatsache. Ja, was sind Tatsachen? Der Tisch, eine Tatsache, die Brille, die [dort] liegt, ist das eine Tatsache? Licht ist eine Tatsache. Dann ist die Trauer eines Menschen eine Tatsache. Der Schmerz eines Menschen, die Eitelkeit, die Dummheit eines Menschen, das sind alles Tatsachen. Bloß, wie fasse, wie greife, wie bestimme, wie verifiziere ich diese sogenannte Tatsachen? Also schon da wird es schwierig, das zu tun. Das heißt, vielleicht sogar kann man so weit gehen zu sagen, dass diese Aufteilung in Subjekthaftes und Objekthaftes in der in Jahrhunderten praktizierten Form, so eine pure Illusion ist. Das lässt sich nie durchhalten. Es ist ein Postulat, eine Prämisse, die bis zu einem gewissen Grade auch erfolgreich darauf basiert, dass zum Beispiel die gesamte Technik … , dass eben keine Rolle spielt, welche Qualitäten jeweils vorliegen und auch welche qualitativen Raum-Empfindungen vorherrschen, etwa in geo­metrisch-mathematisch-euklidischen Raum, in diesem dreidimensionalen Raum oder ganz zu schweigen von mathematischen, abstrakten Hyperräumen. Es ist vollkommen egal, was der Einzelne fühlt, denkt und empfindet ‒ das wird abgespalten, abgetrennt, ist in diesem Sinne ein, wenn man das so nennen will, ein neurotisches Produkt. Das ist ein wichtiges Element, die Subjekthaftigkeit hier zurückzubinden und tatsächlich in eigener Würde anzuerkennen. Und das ist schon sehr viel mit dem gesamten Phänomenbereich, der dazu gehört.

Ein letztes Zitat noch mal zum Leib aus dem Buch „Leib und Gefühl“ von Hermann Schmitz; relativ anspruchsvolle, schwierige Texte, aber hochinteressante Texte. Wer mal den Versuch macht, sich da einzulesen, wird zunächst Schwierigkeiten haben, aber wenn er eingelesen ist, dann ist es wirklich kolossal erhellend und fruchtbar. Man kann es dann gar nicht mehr ausklammern, wenn man mal den Blick dafür gewonnen hat. Über den Leib noch mal: „Jeder spürt Schmerz, Hunger, Durst, Schreck, Wollust, Behagen, Frische, Mattigkeit, Ein- und Ausatmen. Das sind Beispiele leiblicher Regungen, die in der Gegend, des sicht- und tastbaren eigenen Körpers auftreten, ohne selbst sichtbar und tastbar zu sein.“ Die Frische, die ich fühle, oder die Müdigkeit und die Langeweile sind ja keine sichtbaren, fassbaren Dinge, sind ja keine Gegenstände, keine Es-heiten. „Die herkömmliche Meinung, die sich an der Zerlegung des Menschen in Körper und Seele, alias Bewusstsein, Mind, Geist, Gemüt orientiert, zerlegt so auch die leiblichen Regungen in einer Weise, die sich in dem gängigen Ausdruck ,Organ-Empfindungen‘ niederschlägt. Das Körperliche soll eine auf dem Weg über Besehen, Tasten zugängliche Veränderung an Körperteilen sein, das Seelische eine zugeordnete, vielleicht davon hervorgebrachte Empfindung. Nach meiner These handelt es [sich] dagegen um ein eigenständiges Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leib, das mit genuiner Struktur weit über diesen hinausreicht, unter anderem als Spielraum leiblicher Kommunikation, der auch zwischen Menschen und ständig passiert. In jedem Gespräch mit einem anderen Menschen, im Blickkontakt gibt es eine leibliche Kommunikation, die erkenntnistheoretisch, anthropologisch, sozial, pathologisch und so weiter, von grundlegender Bedeutung ist. Diese Eigenart bekommt natürlich namentlich an dem die Funktion Dynamik des spürbaren Leibes charakterisierenden Kategorien-System oder Alphabet der Leiblichkeit zum Vorschein, lässt sich aber schon vorher durch wenige hervorstechende Merkmale der Räumlichkeit des Leiblichen summarisch charakterisieren. Das eigenleiblich Gespürte ist stets räumlich ausgedehnt.“ Wie der ertastbare Körper, aber in wesentlicher Weise. „Dieser Körper hat nach außen eine scharfe flächige Grenze an der Haut. Der spürbare Leib hat keine Haut und keine Fläche. Man kann Flächen ebenso wenig am eigenen Leib spüren, wie man sie hören kann. Überhaupt hat die leiblich spürbare Räumlichkeit mit dem Hörbaren einiges gemein. Dazu gehört, dass in beiden Fällen trotz Flächenlosigkeit Volumen vorliegt.“ Und so weiter.

Ich werde darauf im Einzelnen noch näher eingehen. Es ist wichtig, dass diese soge­nannten Psycho-Atmosphären, etwa eine beklommene Stille, eine peinliche Atmosphäre, eine gespannte Erwartung, eine gelangweilte Haltung, eine aufmerksame Haltung, eine belustigte kollektive Gemütsverfassung, eine höhnische kollektive Haltung: All das sind Wirklichkeiten, die tatsächlich sehr tief gehen und sehr tief beeinflusst, von denen man sich nicht ohne Weiteres loslösen und befreien kann. Ich habe das ja an dem Beispiel dieser Podiumsdiskussion genannt, dass das bis ins fast Physische hinein … wie ein physischer Druck entsteht da, dass man plötzlich das Gefühl hat, das, was man sagen möchte, wird erschwert durch diesen Druck, der da entsteht, also in dieser Psycho-Atmosphäre.

Letztlich geht es ja um die Frage überhaupt in diesem Semester generell beim Denken, sonst ist ja Denken völlig müßig und auch im Grunde ein intellektuelles Sand­kastenspiel, wenn es nicht um Wirklichkeit geht. Und was ist sonst interessant außer der wirklichen Wirklichkeit? Denken kann nur dann sinnvoll sein, wenn es Wirklichkeit berührt. Und das ist es, worum es geht. Was ist Wirklichkeit? Man kann natürlich sagen ‒ Schmitz macht das zum Beispiel ‒ dass die dichteste, konkreteste, kompakteste Wirk­lichkeit immer dann vorliegt, wenn der Einzelne, wie er das nennt, in die primitive Gegenwart geschleudert wird, etwa durch einen massiven Schmerz, [wenn einer] stürzt und sich eine Schürfwunde zufügt. [Er ist] in diesem Moment vollkommen reduziert auf diesen Moment des Schmerzes, der ihn vollkommen durchzuckt und alle seine übrigen Leib-Empfindungen zentral beeinflusst. Ist das ein höherer Grad an Wirklichkeit, etwa der Schmerz, der physische, leibliche Schmerz, ist das ein höherer Grad von Wirklichkeit, auch der Zahnschmerz und andere Schmerzen, oder Nierenkoliken. Sind das höhere Grade von Wirklichkeit, als zum Beispiel eine distanzierte, objektivierende Betrachtung der Distanz von all dem, etwa im Denken oder in der Ich-Empfindung?

Ich meine, die Ich-Empfindung entsteht ja aus einer gewissen Distanz, die das Tier nicht hat. Wenn Sie Tiere beobachten, dann stellen Sie fest, dass das Tier in gewisser Weise vollkommen identisch ist mit der eigenen konkreten Leiblichkeit. Es hat nicht die Möglich­keit, gleichsam zurückzutreten in einer Art von Eskapismus, sich zurückzunehmen aus der eigenen leiblichen Verhaftetheit ‒ was der Mensch kann. Der Mensch kann in jeder, fast in jeder Situation in gewisser Weise sich rausnehmen. Hat also diese Möglichkeit, dieses Tor quasi des Eskapismus. Ja, ist das weniger wirklich, diese distanzhafte Haltung, die eine Beobachterhaltung ist, nicht unmittelbar festgenagelt, hineingezerrt, sozusagen, in das Hier und Jetzt, wie etwa durch einen starken Schmerz oder einen seelischen Schmerz, eine überwältigende Emotion? Es ist ja so, dass viele Menschen, einer der ersten, der das klar beobachtet hat, war Schopenhauer, aber auch Spinoza und andere, dass festgestellt wurde, dass Menschen sich nur dann wirklich interessieren für irgendetwas, wenn ihre Subjekt­haftigkeit ins Spiel kommen darf, auch ihre Emotionen, ihre Befindlichkeiten, Wut, Hass, Freude. Wenn das gar nicht ins Spiel kommen darf, setzt Langeweile ein. Sozusagen setzt die Langeweile in dem Moment ein, wo der Einzelnen das Gefühl hat, das alles hat mit mir nichts zu tun. Das ist sozusagen ein abgetrenntes, abgespaltenes Gerede und löst ein Gefühl der diffusen Langeweile aus, des Absinkens des Aufmerksamkeitspegels. Aber in dem Moment, wo der Einzelne sich als unmittelbar Betroffener fühlen kann und als unmittelbar Betroffener auch wirklich ernst genommen wird und nicht kleingemacht wird, als ob das alles keine Bedeutung habe, da steigt die Aufmerksamkeit.

Insofern ist die Phänomenologie des Leibes etwas, das, wenn man es genau betrachtet, jeden Einzelnen vollkommen betrifft und erfüllt. Also keiner kann bei diesem Thema in gewisser Weise das draußen lassen, weil, wenn er es ernst nimmt, muss er es reinnehmen, weil sonst bleibt es einfach das, was Goethe gern als Wortkram bezeichnet, ein abgetrenntes Reden über etwas. Und dann ist es nicht wirkliche Phänomenologie. Die Phänomenologie kann nur dann einen Sinn haben, wenn sie ernsthafte Phänomenologie ist, wenn sie wirklich die Bewusstseinsphänomene in den Blick nimmt, beobachtend, spürend und auch mittels der Sprache. Das ist mir immer sehr wichtig, ich habe das auch in meinen letzten Büchern versucht durchzuhalten, den Einzelnen immer wenn er denn überhaupt sich hineinnehmen lassen möchte, [ihn] direkt in seiner unmittelbaren Selbst- und Lebens­erfahrung anzusprechen. Nicht, dieses Abgetrennte, Abgespaltene, und da ist die Phäno­menologie des Leibes ein wunderbares Mittel, eine ganz andere Wahrnehmung zu gewinnen für das eigene In-der-Welt-sein. Gut, ich will das erstmal … , das soll für die Einleitung heute einfach reichen.

Ich will noch mal einiges sagen zum Literaturverzeichnis und zum Gesamtkonzept des Semesters und heute keine Diskussion machen.


Und die Frage, die jetzt gestellt worden ist, schon zwei, dreimal, ob ich das wieder ändern kann mit dem Zeitpunkt. Im Moment lasse ich das jetzt. Mir war klar gesagt worden, der Raum sei belegt, er ist es offenbar heute nicht gewesen, von sechs bis acht. Aber ich will jetzt keine weitere Konfusion stiften. Wir lassen erst mal bei der Acht Uhr Zeit. … Ja, das können wir dann machen. Ich kann ja auch. Wir können es ja auch anders machen, ich kann ja auch darauf verzichten. Wir gucken mal. Das geht schon. Wir kriegen das schon hin.
Können Sie mal ein Literaturverzeichnis vornehmen? Ich will da ein bisschen was zu sagen. Ich habe mir sehr genau überlegt, welche Literatur ich hier reinnehmen soll für das Thema. Ich habe wirklich sehr bedacht eine Auswahl getroffen, die ich für sinnvoll halte. Ich gehe jetzt nicht die Punkte der Reihenfolge nach durch, ich fange mal im unteren Drittel an.

Hermann Schmitz, das ist ein Autor, der ungeheuer viel geschrieben hat, und ich greife nur zwei seiner Bücher hier raus, „Der Leib, der Raum, die Gefühle“, ein schmales Bändchen von kaum 100 Seiten, das den Versuch macht, die Essenz dieser Phänomenologie zu bringen. Und dann „Leib und Gefühl“, eine Sammlung von Essays in der Reihe „Inno­vative Psychotherapie und Humanwissenschaften“, von Psychotherapeuten herausge­geben, die große Verehrer von Schmitzs sind und davon ausgehen, dass Schmitz‘ Phäno­menologie auch psychotherapeutisch eine große Bedeutung hat. Also ein wunderbarer Band mit Essays zur Phänomenologie.

Dann der zweite Titel hat auch mit Phänomenologie zu tun, das ist ein Buch eines Anthroposophen, eines anthroposophischen Physikers, „Wärme, Urmaterie und Ich-Leib ‒ Beiträge zur Anthropologie und Kosmologie“. Basfeld, also ein anthroposophischer Physiker, beschäftigt sich sehr intensiv mit Phänomenologie, und da liegt dann auch die Stärke. Übrigens auch mancher anderer anthroposophischer Autoren, auch wenn man deren Interpretationen nicht immer teilen kann, so sind sie doch im Beschreiben von Phänomenen oft sehr stark, und deswegen haben sie ihre Bedeutung, also in der phänomenologischen Hinsicht, nicht unbedingt immer in der, sagen wir mal, ideologischen Vorprägung, die dann Interpretationen liefert. Nicht dass alle Interpretationen deswegen falsch sein müssen, will nur sagen, das ist erstmal nicht das Primäre, aber die Phänomene sind es, die Phänomenologie.

Wichtig auch für dieses Semester sind die beiden Bände von Peter Sloterdijk „Sphären I“ und „Sphären II“. Das habe ich auch im Wintersemester gesagt und möchte das hier auch noch mal erwähnen, zwei hochfaszinierende Bände, jetzt demnächst soll der dritte Band erscheinen, es gibt drei Bände, und … in denen sehr viel auch von phäno­menologischen Raum-Erfahrungen die Rede ist und auch von Leib-Erfahrungen bis hin zu möglichen Erinnerungen an pränatale, an intra-uterine Geschehnisse. Also das spielt eine große Rolle, und das kann ich wirklich sehr empfehlen, bei allen sprachlichen Manierismen, auch von Sloterdijk, seiner wirklich oft überbordenden, manchmal auch geschwätzigen Form, aber gleichwohl sind viele faszinierende Ansätze drin, die auch für das Thema wichtig sind.

Sloterdijk bezieht sich mehrfach auf einen Autor, den ich hier drin habe am Schluss, einen HNO-Arzt, Alfred Tomatis. Eines seiner vielen Bücher habe ich angegeben „Der Klang des Lebens“. Tomatis hat geforscht über die Klang-Wahrnehmungen im Mutterleib, also in der intra-uterinen Phase. Was wird wahrgenommen vom Fötus an Geräuschen der Mutter, an Klängen? Wann entwickelt sich das Ohr und so weiter? Davon wird in der Regel noch die Rede sein in der Vorlesung am 4. Juli.

Von mir selber habe ich meine beiden letzten Bücher aufgenommen, die auch viel enthalten zur Phänomenologie, das letzte „Räume, Dimensioen, Weltmodelle – Impulse für den andere Naturwissenschaft“, vor allen Dingen naturwissenschaftlich-naturphiloso­phisch-kosmologische Fragen, eine radikale Kritik an der Mainstream-Naturwissenschaft und der Versuch einer Alternative.

Zwei Aufsätze von mir habe ich hier angegeben, einer in dieser Zeitschrift „Hagia Chora“ mit dem Titel „Wie ausgedehnt sind wir? Raum, Leib und Bewusstsein“, wo ich mich mit der Frage beschäftige mit der Leibwahrnehmung außerhalb der Grenzen des physisch-sinnlichen Körpers.

Und im anderen Essay, der im Sammelband steht „Wissenschaft vom Lebendigen“, von Heiko Lassek herausgegeben, ein Beitrag zur Polarität von Schwere und Licht. Das wird uns auch beschäftigen in der Vorlesung am 20.6., vor allem im Zusammenhang mit der Leibwahrnehmung. Wie nehmen wir den Leib bei Licht und in der Dunkelheit wahr? Nämlich anders.

Dann ist ja auch von der Zeit die Rede in dieser Vorlesung am 30.5., da habe ich ein Buch aufgenommen, was ich sehr interessant finde, Hans Jörg Fahr, das ist der fünfte Titel, „Zeit und kosmische Ordnung – Die unendliche Geschichte von Werden und Wiederkehr“. Hans Jörg Fahr ist Astrophysiker, Professor für Astrophysik an der Universität Bonn, einer der wenigen Physikprofessoren, der ein radikaler prononcierter Gegner der Urknall-Hypothese, der Urknall-Fiktion ist, überhaupt die moderne Kosmologie scharf kritisiert. Und das ist ein hochinteressantes Buch, ein Versuch, die Zeitdimension, Ich-Leib kosmisch usw. zu beleuchten, nicht einfach zu lesen, relativ anspruchsvoller Stoff, manchmal in der Sprache auch etwas spröde in der Begrifflichkeit. Man muss sich wirklich einlesen, aber wenn man es geschafft hat, wenn man sich eingelesen hat, hat man kolossalen Gewinn. Also ein richtig starkes Buch über Zeit. Eines der besten Bücher, die es gibt darüber.

Gernot Böhme, der Autor, der davor auftaucht, ist ein Mann, der sich in dieser Frage der Leibphilosophie auch einen Namen gemacht hat. Er hat viel geschrieben über die Leibfrage. Sein Bruder Hartmut Böhme ist ja hier an der Humboldt-Universität, die haben auch Verschiedenes zusammen veröffentlicht. Gernot Böhme, viele Bücher geschrieben, habe nur eines seiner Bücher hier aufgeführt: Suhrkamp Taschenbuch „Natürlich Natur“. Und da taucht ein sehr interessanter Essay auf mit dem Titel „Leib – die Natur, die wir selbst sind“. Also Gernot Böhme ist ein wichtiger Mann, der sich auch intensiv mit Schmitz und anderen beschäftigt hat.

Dann ein Buch, was ich für sehr wichtig halte, obwohl es kaum bekannt ist. Günter Schulte, ist oberhalb von vorteilhaft „Philosophie der letzten Dinge – Liebe und Tod als Grund und Abgrund des Denkens“. Das ist ein Philosoph aus Köln, der hier Essays zusammenträgt, auch über die Frage der Leibwahrnehmung viel spricht und hochinter­essant, kaum bekannt, aber faszinierend, was er zusammenträgt, auch im Sinne der Grundthese, dass die Beziehung des Denkens zum Eros, zur Liebe bzw. zum Tod die Achse des Denkens überhaupt ist; und zwar die uneingestandene, die undurchschaute Achse des Denkens.

Der vorletzte Titel beschäftigt sich mit einer, sagen wir mal, ist von einer eher feministisch orientierten Philosophin, die den Versuch macht, von der Leiblichkeit der Frau aus die ganze leibphilosophische Frage zu beleuchten. „Sophias Leib, Entfesselung der Weisheit“, Annegret Stopczyk. Sie wirft der ganzen Philosophie eben diese Leibfremdheit vor, die Leibvergessenheit vor. Sie meint, das von der Erfahrung der Leiblichkeit der Frau aus da ein neuer Zugang sich eröffnen könnte.

Der erste Titel ist auch ein Anthroposoph, ein Physiker und Mathematiker. Eine Sammlung von Essays, auch phänomenologisch hochinteressant, nicht immer in den Interpretationen so schlüssig.

Gut, ich will dann in einer Woche wieder um 20 Uhr sprechen über die Frage des Raumes, Räumlichkeit des Lebendigen, ich will den Raum der Physik gegenüberstellen dem Raum des Leibes und versuchen von dort her erste Einsichten zu vermitteln oder zu gewinnen über den inneren Raum des Leibes, von dem schon einleitend die Rede war. Das will ich in den Mittelpunkt stellen der nächsten Vorlesung.

Wenn Sie also andere haben, die auch in die Vorlesung kommen, sagen Sie bitte, dass Ihnen mit der Zeit, dass ich die Zeit also jetzt auf 20 Uhr verlagert hat, dass das sich einpendelt. Und wir lassen es erst mal bei dieser Zeit, 20 Uhr aus. Für manchen Berufstätigen ist vielleicht sogar gar nicht schlecht.

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